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Angeschossen, wiederbelebt, Gedächtnis verloren – kein guter Start in den Tag für Max. Wirklich schockierend ist allerdings die Tatsache, dass alle ihn für den schwulen Travestiestar Maxime de Millefleur halten. Dabei hasst er Glitter und Gesang ebenso wie tuntiges Getue. Auch seine Schwellkörper sind definitiv hetero. Als der zweite Mordanschlag auf ihn verübt wird, die Bullen nix checken und die Tuntenhysterie eskaliert, ist klar, dass er den Täter selbst stellen und nebenbei herausfinden muss, wer er wirklich ist. Rotzfrech, respektlos und urkomisch mischt er mit seinen Ermittlungen die Kölner Schwulenszene auf.
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Jutta Profijt
Tote Tunte
Kriminalromänchen
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Tote Tunte
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Über die,ses Buch
Über die Autorin
Impressum
Impressum tolino
Jutta Profijt
Kriminalroman
Dass irgendwas nicht stimmte, war mir aber so was von superklar. Ich wusste weder, wer ich war, noch wo, aber dass es ein Problem gab, das war sicher. Vielleicht lag es am Geruch. Ich bin ja schon oft mit diesem wattigen Gefühl in meiner Denkschüssel aufgewacht, aber dann waren die Aromen, die meine Riechzellen kitzelten, restalkoholisch oder erinnerten an kalte Pizza. Hier roch es nach Desinfektion, matschigem Gemüse und Bratensoße aus der Glutamatwürfelmanufaktur. Außerdem taten mir alle möglichen Körperteile weh, am wenigsten aber der Kopf. Dabei wäre das der Lieblingsplatz des Katers, der sich zwischen Schädeldecke und Hirnrinde räkelt, mit seinem puscheligen Schwanz von innen gegen die Schläfen klopft und die Krallen in die Rückseite der Netzhaut gräbt. Aber nix. Watte ja, Kater nein.
Und dann die Hand an meiner Hand. Das war die einzig angenehme Wahrnehmung: Es ging mir absolut unterirdisch, und jemand strich mir mit sanften Fingern über den Handrücken und murmelte Worte, die wohl Trost spenden sollten. Jedenfalls vermutete ich das, denn ich nahm nur die Tonlage wahr, die Worte selbst waren undeutliches Gebrabbel.
Die Sache mit dem Händchen war erfreulich, aber, ich muss es zugeben, völlig unerwartet. Die Perlhühner, mit denen ich sonst nach einem Systemabsturz erwachte, streichelten nicht meine Hand. Sie streichelten meist gar nichts, sondern filzten meinen Geldsack, üblicherweise erfolglos, oder Kühlschrank und Kaffeevorrat – mit dem gleichen Resultat. Dann stießen sie ein paar schrille Verwünschungen aus, als wäre ich allein schuld daran, dass wir die Nacht oder was auch immer miteinander verbracht hatten, und rauschten davon. Ende der romantischen Morgen-danach-Zeremonie.
Jetzt also Händchenhalten, Tätscheln, zärtliches Säuseln. Mal was Neues, dachte ich erst, und hielt die Sehdeckel geschlossen. Aber bald setzte sich die Neugier durch. Ich blinzelte vorsichtig. Gleißendes Licht, eine über mir baumelnde Triangel, eine von Kopf bis Fuß in babyblau gekleidete Tussi, deren eindeutig weibliche Figur sogar unter dem offenbar aus Bettlaken zusammengetackerten Kleidersack erkennbar war. Wichtige Funktionen meines Körpers schalteten von Null auf Hundert und lösten die beglückende Erkenntnis aus, dass, was auch immer mir geschehen war, meine Schwellkörper nicht beeinträchtigt hatte.
Schnell allerdings schob sich ein Störgeräusch in dieses erquickliche Bild, eine Art interner Feueralarm, der lauter wurde, je länger ich die Wohlgerundete beobachtete. Sie hantierte am Fußende meines Bettes herum. Mit beiden Händen. Logischerweise konnte sie also nicht diejenige sein, die meine Hand mit langen Fingernägeln hauchzart kraulte. Also lenkte ich meine Pupillen nach rechts. Sah eine große Hand mit hochglanzlackierten Nägeln. Ließ meinen Blick den Arm, der in einem flauschigen weißen Fleeceshirt mit schwarzen Ärmeln steckte, entlangwandern zu den Schultern, die mir recht eckig erschienen. Vielleicht war die Tussi an meinem Bett eine Olympiaschwimmerin. Weiter ging der Blick den Hals hinauf, wo ein Adamsapfel aufgeregt hüpfte, die Wangen entlang, auf denen ein dunkler Bartschatten lag, über das rundliche Gesicht, das überwiegend weiß, um die Augen aber von verlaufener Schminke großflächig geschwärzt war, bis zu den überraschend blauen Augen, die sich nun weit öffneten. Eine zweite Hand wurde vor den Mund geschlagen, dann wieder weggezogen, der Mund lachte jetzt, und dann kam dieses Gesicht näher, mit gespitzten Lippen und eindeutiger Absicht: Der Kerl wollte mich küssen! Ich schrie, wie ich noch nie in meinem Leben geschrien hatte.
Die Krankenschwester ließ etwas sehr laut Schepperndes fallen, was ich aber nur am Rande mitbekam, denn meine gesamte Aufmerksamkeit richtete sich auf den Typen, der aufsprang, dabei den Stuhl umwarf, sich in einer dramatischen Geste an die Brust griff – ich schaute zweimal hin, eindeutig eine flache Männerbrust – und die andere Hand wieder vor den Mund schlug. Die manikürten und transparent lackierten Nägel an seinen nicht gerade zarten Griffeln brannten zehn feurige Löcher in meine Netzhaut. Mein Versuch, mich ans entgegengesetzte Ende der Matratze zu flüchten, entriss mir einen weiteren Schrei, diesmal vor Schmerz.
»Wie schön, dass Sie wieder bei uns sind«, sagte die Wohlgerundete im Krankenschwesterntonfall, während sie von links ans Bett trat. Sie begriffelte meine Stirn, meine Hand, schob ihr Gesicht vor meine Augen und nickte leicht, als sie feststellte, dass ich meine Pupillen auf sie fokussieren konnte. Wenig überrascht bemerkte ich die hohen Wangenknochen, meist nahe Verwandte der beachtlichen Hupen, die die Perlhühner aus dem Reich von Vodka und Väterchen Frost von ihren westlichen Schwestern unterscheiden. Auch ihre Aussprache verriet die Herkunft aus dem Wilden Osten, was mich immer schon angemacht hatte. Leider konnte ich der Tussi nicht meine geballte Aufmerksamkeit schenken, denn das, was da an der rechten Seite meines Bettes stand, war immer noch da. Und es machte mir Angst. Zumal es jetzt, wie ich mit einem schnellen Seitenblick bemerkte, weinte. Ein Typ. Mit lackierten Fingernägeln. Der meine Hand patschte. Und mich küssen wollte. Flennte. Und ich lag hier und konnte nicht weg.
»Maxi«, flüsterte der Kerl, der mich mit seinem schwarz-weißen Gesicht an diesen emotional gestörten Pandabär aus dem Kino erinnerte, und streckte eines seiner abartigen Greifgeräte wieder in meine Richtung. »Beruhige dich doch. Ich bin ja bei dir.«
Das ist ja das Problem, wollte ich sagen, aber noch bevor ich die zusammengepressten Kiefer so weit lockern konnte, dass an Sprechen zu denken gewesen wäre, stockte ich. Maxi? Sollte das etwa mein Name sein? Ein Wort, ach, was sag ich, ein Geräusch, das klang wie etwas, das sich in dem Moment aus der Stimmritze schiebt, in dem man den Monsterniesreiz nicht mehr unterdrücken kann. Das war ja wohl ein Witz! Aber ein Blick in seine tränenumspülten Pupillen sagte mir, dass es ernster gar nicht ging. Wenn ich Glück hatte, war es ein Kosename, wenn es wirklich schlimm um mich stand, war dieses Geräusch der Name, unter dem die Welt mich kannte. Die Welt vielleicht – aber nicht ich. Und damit kam ich zur entscheidenden Frage.
Wer, zum Teufel, war ich?
Der Panda hüpfte und zappelte aufgeregt neben meinem Bett herum, versuchte, mir die Hand auf die Stirn zu legen, goss Wasser in ein Glas, das außerhalb meines Sichtbereichs stand, hielt mir das Glas hin und flennte wieder los, als ich den Kopf schüttelte. Vermutlich reagierte er nicht auf das Kopfschütteln, sondern auf meinen Gesichtsausdruck, von dem ich mal annehme, dass er klar zum Ausdruck brachte, was ich von dem Vorschlag hielt, Wasser zu trinken. Menschen brauchen Wasser zum Duschen, Enten zum Poppen. Das war‘s. Trinkbar wird das Zeug erst, wenn es eine Brauerei durchlaufen hat.
»So, das ging ja schneller als erwartet!«
Die sich da so erfreut zeigte, war mindestens zwei Meter groß und trug einen weißen Kittel. Dort, wo bei einer anständigen Tussi die Oberweite das Kittelchen gestrafft hätte, baumelte ein Namensschild am Revers. Ich machte mir nicht die Mühe, draufzusehen, dafür war die Präsentation zu dürftig.
»Wie fühlen Sie sich?«
Mann, wo sollte ich da anfangen? Ich wusste nicht, wer ich war, wurde von einem liebestollen Panda gestalkt und hatte irgendein ernstes Problem im gesamten linken Brustkorb, denn dort hatte inzwischen ein unangenehmes Pochen und Ziehen eingesetzt.
»Sie haben wirklich Glück gehabt, wir hatten Sie schon fast aufgegeben …«
Der Panda schluchzte.
»Schicken Sie den mal als Erstes raus!«, verlangte ich.
Seine Schluchzer kollidierten mit der Schnappatmung, das Gehickse machte mich wahnsinnig.
»Sind Sie sicher?«, fragte die Weißgestärkte, die man mir nackt auf den Bauch hätte binden können, ohne dass ich an Doktorspiele gedacht hätte.
»Raus!«, bellte ich. Mit einem letzten Quieken rauschte der Monsterteddy aus dem Raum. Erst jetzt erlaubte ich mir einen Augenblick der Entspannung.
»So, dann mal von vorn«, wandte ich mich an die Ärztin. »Was, zum Teufel, mache ich eigentlich hier?«
Ihr Gesicht hatte jede Freundlichkeit verloren, sie wirkte genervt. »Sie wurden angeschossen, wir mussten notoperieren, aber jetzt sieht alles sehr gut aus.«
»Angeschossen?«, fragte ich verdutzt. Ich war angeschossen worden und hatte nichts davon mitbekommen? »Wann?«
»Vorgestern Nacht.«
»Wo?«
»Das fragen Sie besser Ihren Freund.«
»Er ist nicht mein …«
Sie zuckte die Schultern und wandte sich zur Tür. »Was immer er ist: Er sitzt seit vierundzwanzig Stunden an Ihrem Bett. Vielleicht sollten Sie einfach mal Danke sagen.«
Zicke.
Ich verdrängte die Klugscheißerei der Kittelschnitte und versank in angestrengtes Grübeln. Hieß ich wirklich Maxi? Oder womöglich Maximilian? Klang bairisch. Himmelsakra!, probierte ich in Gedanken, aber nie im Leben hatte ich so geflucht, das war mir klar. Wer also war ich? Vielleicht wäre es einfacher, wenn ich mich sehen könnte. Gute Idee, nur leider hatte man mir diverse Schläuche an die Hände getackert, durch die – Ha! Ich weiß nicht, ob ich wirklich geschrien habe, aber der Anblick meiner Hände versetzte mir einen derartigen Schock, dass mein Herz in unkontrollierte Zuckungen verfiel. Meine Hände waren nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Irgendwie hatte ich angekaute Nägel mit variablen Mengen von grauschwarzem Zeugs darunter erwartet. Stattdessen strahlten mir zehn gelackte und gestylte Fingernägel entgegen. In knalligem Pink. Pink!
Ebenso erschöpft wie entsetzt ließ ich meinen Kopf zurück ins Kissen sinken. Noch ein Versuch, dachte ich in der Hoffnung, dass das gerade nur eine Halluzination war, ein Pillendelirium, wie es ja nach großzügigem Gebrauch von Schmerzmitteln in Verbindung mit schwierigen Operationen aufgrund von Schussverletzungen im Brustbereich sicher gelegentlich vorkommt. Also: Sehdeckel hoch, Griffel vor die Augen.
Ende aller Hoffnungen. Die Fingernägel waren pink, die Hände weich wie ein Babybauch, nicht ein einziges Härchen auf den Fingern oder dem Handrücken. Ich wollte es nicht wirklich wissen, gleichzeitig wollte ich doch, also schlug ich auch noch die Bettdecke zurück und hob ein Bein so weit an, dass ich es sehen konnte. Glatt wie der Hals des Pfaffen am Sonntag. Entweder hatte der verheulte Panda sich die Zeit an meinem Bett damit vertrieben, mich zu seinem Dekozwilling zu machen, oder ich hatte schon so ausgesehen, als wer-auch-immer mir die Kugel in die Brust gejagt hatte. In dem Fall, dachte ich, hätte er gern besser zielen dürfen.
Lieber tot als Tunte.
Ich schloss die Augen und suchte in meiner Denkschüssel nach einer Erinnerung. Irgendeiner Erinnerung. Müsste ich nicht wenigstens meinen Namen wissen? Oder den Einschlag der Kugel spüren? Ein blitzlichtartiges Aufscheinen eines wie auch immer gearteten Bildes, das meine Netzhaut in den vergangenen Tagen eingefangen hatte, wäre ja schon ein Anfang. Oder ein Bild, das meine Glotzkugeln IRGENDWANN mal auf der Hirnrinde gespeichert hatten. Aber nein, ich konnte nichts, absolut gar nichts abrufen. Trotzdem blieb mein Gefühl, dass die ganze Sache eine Verwechslung war. Dieser Körper fühlte sich nicht wie meiner an. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass und wie ich mir die Fingernägel manikürte. Oder in einem dieser affigen Nagelstudios saß und sie mir maniküren ließ. Von einer Beinrasur ganz zu schweigen!
Mitten in diese Überlegungen platzte der Panda wieder rein. Er hatte sich das Gesicht gewaschen und sah daher nicht mehr ganz so bescheuert aus wie vorhin, aber wenn ich den sehr demonstrativ zur Schau getragenen Ausdruck in seinem Gesicht mal interpretieren sollte, würde ich sagen, dass er sowohl besorgt als auch verletzt war. Ja, verletzt ist das richtige Wort. Nicht beleidigt oder sauer, wie es einem echten Kerl zugestanden hätte, sondern verletzt.
»Geht es dir jetzt besser?«, fragte, nein, wimmerte er.
Blöde Frage! Aber ich hielt meine spontane Reaktion mannhaft zurück und dachte stattdessen strategisch. Der Typ wusste, wer ich war. Er konnte mir meine Fragen beantworten. Also musste ich die Arschbacken zusammenkneifen und mich zumindest so lange beherrschen, bis ich wusste, was Sache war.
»Ich habe keinerlei Erinnerung«, sagte ich. »Weiß nicht mal meinen Namen. Also, spuck aus, was du über mich weißt!«
Er betrachtete mich wieder mit diesen Augäpfeln, die er offenbar nach Bedarf aufpumpen konnte. Momentan wirkten sie doppelt so groß wie normal. Gru-se-lig!
»Du, du – redest so seltsam!«, brachte er hervor.
»Ich fühl mich auch irgendwie seltsam, so angeschossen und ohne Gedächtnis«, pampte ich zurück. Mein Gott, wollte er erst einen Stuhlkreis bilden und eine Runde sabbeln, wie es uns allen ging in dieser Situation, oder wollte er mir, verdammt noch mal, meine Frage beantworten?
Die Augen schrumpften wieder auf Normalmaß, er fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht, was die Hochglanzhornhufe in mein Gesichtsfeld und mich kurz aus der Fassung brachte, aber dann holte er Luft und hockte sich – auf meine Bettkante! Mein Arm schoss reflexartig vor und stieß ihn weg. Nur mit Mühe hielt er das Gleichgewicht, dann ließ er sich auf den Stuhl fallen. Dafür stand der schließlich da!
»Diese Aggressivität kenne ich gar nicht an dir«, jammerte der flauschige Wicht.
Ich wollte ihn darauf hinweisen, dass sie steigerungsfähig wäre, wenn er nicht endlich die Quatschklappe aufriss und mir ein paar Informationen rübertextete, aber im letzten Moment hielt ich mich zurück.
»Also, du bist Maxime de Millefleurs …«
»Ich bin was?«, brüllte ich.
»Dein Künstlername, natürlich«, sagte der zu einem erschreckten Mäuschen geschrumpfte Panda. »Aber den benutzt du doch jetzt immer, weil die Leute dich unter diesem Namen kennen und dich damit ansprechen. Du bist so stolz darauf!«
Das wurde ja immer besser! Ein Künstlername, der schon nach süßem Parfüm und tuntigem Getue klang, ohne dass man überhaupt einen Blick auf pinkfarbene Fingernägel oder totalenthaarte Beine werfen musste. Und darauf sollte ich stolz sein? In den Boden schämen würde ich mich, wenn mich die Leute so nennen! Aber ich hielt mich zurück, es konnte ja nur besser werden.
»Du bist der Star der ›Paradiesvögel‹ und …« Das heulende Elend schluchzte theatralisch. »Und du bist mein Mann!«
So, dachte ich bei mir, jetzt flippt er aus. Wenn ich einen Brustschuss hatte, hatte der einen Kopfschuss. Mein Mann! Ha! Als ob wir verheiratet …
»Nicht einmal daran erinnerst du dich?«, fragte er verzweifelt.
»Daran am allerwenigsten«, stellte ich klar. »Weiter. Warum wurde ich angeschossen?«
Er rang die Hände. »Wir wissen es nicht, aber du bist nicht der Einzige. Nur wenige Minuten nach dir wurde Richy …« Ein Schluchzen schüttelte ihn. »Er hat es nicht geschafft.«
Richy? Wer war Richy?, wollte ich fragen, aber der Tränensack neben mir redete schon weiter.
»Es war vermutlich derselbe Schütze, und er dachte wohl, du wärst tot, also ging er ein paar Hundert Meter weiter und erschoss den nächsten.«
Ich schluckte alle Fragen nach Details herunter und konzentrierte mich stattdessen auf das Wesentliche: »Was sagt die Polizei?«
Der Typ zuckte die Schultern. Dann blickte er mich plötzlich freudig erwartungsvoll an. »Sag mal, soll ich dir einen Kakao holen? Der schmeckt hier wirklich gut.«
»Kaffee«, orderte ich. »Sehr stark, mit viel Zucker.«
Er runzelte die Stirn, sah aber nach einem Blick in mein Gesicht von Nachfragen ab, erhob sich einfach und schlurfte zur Tür.
»Hey!«, rief ich ihm hinterher.
Er drehte sich mit hoffnungsvollem Blick um.
»Wie heißt du eigentlich?«
Er musste zweimal ansetzen, bevor er »Lilo« herausquetschte. Zum Glück war er im nächsten Moment weg, sonst hätte er noch gesehen, wie ich ihm mit offenem Mund hinterherstarrte. Lilo und Maxime, Traumpaar der Woche. Ich drehte den Kopf zur Seite, riss die Rosen aus der Vase und kotzte in das bauchige Glas, bis nicht einmal mehr Galle kam.
Der Besuch der Kripo erlöste mich von Lilos Gegenwart, denn der Panda hatte den Kommissar bereits kennengelernt und mochte ihn nicht. So ging er nach Hause ‒ er nannte es unser Nest, was mich reflexartig wieder zur Vase greifen ließ –, um sich frisch zu machen.
Der Kommissar stellte sich ans Fußende des Bettes und starrte mich einen Moment lang an. Ich starrte zurück. Und zwar ziemlich unentspannt, denn ich hatte den Eindruck, dass ich ihn kannte. Seine etwas zu langen Haare, die Lederjacke, die Jeans, die Biker-Boots, die auf dem Linoleumboden zu hören gewesen waren, bevor er überhaupt mein Zimmer betreten hatte - alles an ihm kam mir vertraut vor. Zum ersten Mal überhaupt klingelte etwas. Ausgerechnet beim Anblick eines Kriminalhauptkommissars. Man konnte das interessant finden. Oder beunruhigend. Ich hatte mich noch nicht entschlossen, zu welcher Einschätzung ich tendierte.
»Können Sie sich an irgendwas erinnern?«, fragte er.
»Ihren Namen zum Beispiel? Nein«, sagte ich möglichst cool. Vielleicht fiel mir ja wieder ein, woher ich ihn kannte, wenn ich wusste, wie er hieß. Falls ich ihn kannte. Vielleicht sah er auch nur einfach jemandem ähnlich, den ich kannte. Oder er verkörperte einen Typ, den man überall traf, sogar auf Werbetafeln, ähnlich dem Marlboro-Mann. Oder ich stand auf ihn. Für diesen Gedanken hätte ich mir am liebsten gleich selbst eine geledert. Ich wusste zwar nichts, aber dass ich nicht schwul war, das wusste ich.
Zumindest war ich mir ziemlich sicher.
»Kriminalhauptkommissar Kreidler. Die Ärztin sagt, dass Sie keinerlei …«
»Da hat die Ärztin ganz recht«, unterbrach ich ihn. »Ich kann mich nicht mal an meinen Namen erinnern, geschweige denn an irgendwas, was gestern oder vorgestern oder in den vergangenen zwanzig Jahren meines Lebens so passiert ist.«
»Zwanzig? Haben Sie denn Erinnerungen an etwas, was vor mehr als zwanzig Jahren passiert ist?«
Ich stutzte. Die zwanzig Jahre waren mir spontan über die Lippen geflutscht, weil ich annahm, dass ich Mitte zwanzig war und man sich an die ersten drei oder vier Jahre seines Leben sowieso nicht erinnert, oder? Aber dann wurde mir erst heiß und dann kalt. Ich hatte nicht einmal einen Plan, wie alt ich war! Ich fragte Kreidler.
Er schaute auf seinen Notizblock, wurde dort nicht fündig, studierte stattdessen irgendwas am Fußende meines Bettes. »Zweiundfünfzig.«
Vor Schock fiel mir die Kauleiste herunter. Mein Kopf fühlte sich kurzzeitig an wie restentleert. Dann kam der Geistesblitz: Ich hatte die letzten fünfundzwanzig Jahre meines Lebens vergessen, vielleicht auch verdrängt, weil damals, also vor fünfundzwanzig Jahren, etwas Grässliches geschehen war. Mein Coming-out? Das wäre denkbar. Mein Bewusstsein war zurückgegangen bis zu einem Datum vor diesem Trauma. Deshalb fühlte es sich auch so falsch an, dass ich eine rasierte, lackierte Tunte war.
»Nun?«, fragte Kreidler.
»Aber warum kann ich mich dann nicht mal an meinen richtigen Namen erinnern?«, fragte ich ihn.
Er starrte mich verwirrt an. Okay, er hatte ja meinen Gedankengang nicht mitbekommen.
»Sie können sich also nicht an Ihren Namen erinnern?«
»Nein. Diese Heulflitsche sagte, ich heiße Maxime von Übelwürg, aber diesen Schwachsinn habe ich noch nie zuvor gehört. Ich schwöre!«
Kreidler grinste. Der Typ war okay. Trotzdem hätte ich gern gewusst, ob wir schon mal miteinander zu tun hatten. Und ob das für mich gut oder schlecht ausgegangen war. Immerhin war er nicht offen unfreundlich, allzu schlimm konnte unsere frühere Begegnung also nicht gewesen sein.
»Was haben Sie an dem Abend gemacht, bevor Sie niedergeschossen wurden?«
Hörst du nicht zu?, wollte ich fragen, ließ es aber lieber sein. Mit der Kripo legt man sich nicht an. Also suchte ich krampfhaft nach einer freundlichen Formulierung. »Mann, ich weiß nichts, verstehen Sie? N.I.X.!«
Meine Antwort schien ihn nicht zu verärgern. Cool.
»Haben Sie überhaupt irgendeine Erinnerung? Ihren Namen wüssten Sie nicht, sagten Sie. Ihren Partner? Haben Sie den erkannt?«
Ich versuchte zu erkennen, ob er sich über mich lustig machte, aber es schien nicht so. »Nein.«
»Sagt Ihnen der Name Richard Kentemich etwas?«
»Lilo hat erzählt, dass auch ein gewisser Richy erschossen wurde. Ist er das?«
»Ja.«
»Nie gehört.«
Kreidler starrte mich an. Was erwartete er von mir? Dass ich um jemanden heulte, den ich gar nicht kannte?
»So, jetzt würde ich auch gern mal ein paar Fragen stellen«, sagte ich, um den seltsamen Moment zu beenden. »Wer hat mich umgenietet und warum?«
»Das wissen wir noch nicht.«
»Wo ist es denn passiert?«
»Vor dem Paradiesvogel, in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Der Schuss muss aus ungefähr fünfzig Metern Entfernung abgegeben worden sein.«
»Und was ist der Paradiesvogel?«
»Ihr Variété, in dem Sie als Maxime de Millefleurs auftreten.«
»Ich bin eine Travestie-Tunte?«, fragte ich entsetzt.
Kreidler nickte grinsend.
»Aber warum ballert jemand auf mich?«, fragte ich. »Singe ich so schlecht?«
»Keine Ahnung, ich war nie in Ihrer Show.«
Das hätte mich vielleicht ärgern sollen, tat es aber nicht. »Und dieser Richy?«
»Türsteher im Karpi Diem.«
»Schwul?«, fragte ich.
Kreidler nickte.
»Macht da einer Jagd auf Schwule?«, fragte ich.
Kreidler zuckte die Schultern.
Es wäre blöd genug, für das gekillt zu werden, was man ist, aber noch blöder wäre es, für etwas gekillt zu werden, was man definitiv nicht ist.
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