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Wo vor vierzigtausend Jahren Teergruben zur tückischen Falle für Bisons und Säbelzahntiger wurden, steht heute – mitten in L.A. – das Museum von Rancho La Brea. Touristen und Schülergruppen pilgern in Scharen zu den Grabungsstellen, wo Wissenschaftler perfekt konservierte Knochen zu Tage fördern. Doch die Idylle wird empfindlich gestört, als eines Morgens ein Toter auf dem Gelände liegt. Ein Mord aus Willkür? So scheint es – bis Detective Kate Delafield und ihr neuer Partner noch am gleichen Tag zu einem weiteren Aufsehen erregenden Fund bei den Teergruben gerufen werden: hominide Fossilien, die für diese Gegend ein paar Millionen Jahre zu alt sind? Auf die hart gesottene Kate Delafield wartet ein Knochenjob, der ihre Loyalität auf die Probe stellt. Und dies nicht nur in beruflicher Hinsicht.
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Seitenzahl: 359
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Katherine V. Forrest
Knochenjob
Kate Delafields 7. Fall
Aus dem Amerikanischen von Britta Dutke
Ariadne Krimi 1125
Argument/Ariadne
Ariadne Krimis
Herausgegeben von Else Laudan
www.ariadnekrimis.de
Romane mit Detective Kate Delafield:
1. Fall: Amateure (Ariadne Krimi 1015)
2. Fall: Die Tote hinter der Nightwood Bar (Ariadne Krimi 1007)
3. Fall: Beverly Malibu (Ariadne Krimi 1029)
4. Fall: Tradition (Ariadne Krimi 1037)
5. Fall: Treffpunkt Washington (Ariadne Krimi 1107)
6. Fall: Kreuzfeuer (Ariadne Krimi 1113)
7. Fall: Knochenjob (Ariadne Krimi 1125)
8. Fall: Vollrausch (Ariadne Krimi 1155)
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Sleeping Bones
© 1999 by Katherine V. Forrest
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2000
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016
ISBN 978-3-86754-894-6
Cover
Titel
Impressum
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Danksagungen
Für Jo –
und in Erinnerung
an Cassie
Einige Schauplätze sowie die historischen Ereignisse um die Pekingmensch-Fossilien und die historischen Figuren, die mit ihnen zu tun hatten, sind authentisch. Die hier erzählte Geschichte und alle Figuren, die darin vorkommen, wurden von der Autorin frei erfunden.
Der Tümpel, nicht tiefer als ein Felsbrocken und schwarz wie ein Grab, spiegelt den verblassenden Mond und die Sterne, nicht jedoch das umstehende Schilf. Über seine Oberfläche – bedeckt mit Blättern, kleinen Zweigen und Rindenstückchen, Federn und winzigen Knochen – ziehen Kreise.
Eine große schwarze Blase steigt allmählich aus den Tiefen des Tümpels empor, dehnt sich langsam und gleichmäßig bis an ihre Grenze, verschwindet dann mit einem Plock des Verendens; nur ein weiterer sich ausbreitender Kreis auf der Wasseroberfläche erinnert noch an sie.
Die heraufziehende Dämmerung enthüllt am Horizont die runden Konturen entfernter Hügel. Sie begrenzen ein weites Tal, hier und da mit Nebelschwaden bedeckt, eingenommen von einem unbeirrbaren Heer aus Bärentraube, Holunder, Beifuß, Ambrosien, Wacholder, Hartriegel, Giftsumach und Disteln, dazwischen aufragend Kiefern und Zwergeichen. Die nächtlich kühle Erde, fett von verwesten Pflanzen und Tieren, klamm vom Tau, verströmt den Gestank von Tod und Fäulnis.
Eine riesige schwarze Gestalt bahnt sich behutsam einen Weg durch den Schilfgürtel zum Wasser. Im schwachen Licht ist ihre Silhouette zu erkennen: Es ist eine Büffelkuh, ein Koloss, der höchste Punkt ihrer muskelbepackten Schultern gut zwei Meter hoch. Sie geht schützend vor ihrem Jungen her, einem vier Monate alten Kalb, das hinter ihr herspringt; unbeholfen und unschuldig, aber schon wachsam knabbert es an zarten Grashalmen im niedrigen Gebüsch.
Weiteres Leben erwacht. Der erste zaghafte Ruf eines Vogels hallt mit scharfer Klarheit quer durch das Tal. Ein ängstliches Rascheln von Ratten, Eichhörnchen und Hasen, die zaghaft ihre Umgebung erkunden. Im dichten Unterholz hält sich ein Säbelzahntiger versteckt und schläft.
Noch ein Geräusch: Das Kalb schlabbert und schlürft Wasser, trottet am Ufer des Tümpels entlang. Seine Mutter folgt ihm, schiebt ihren wuchtigen Körper weiter in das seichte Gewässer, wo sie ihre Hufe fester aufsetzt. Wachsam und bewegungslos steht sie im ebenholzfarbenen Wasser, beobachtet ihr Kalb, lauscht, den Kopf erhoben, die gekrümmten Hörner aufgerichtet. Hier lauern anscheinend keine Gefahren. Beruhigt stillt sie ihren Durst.
Schon bald klettert das Kalb, auf der Suche nach dem saftigen, taufeuchten Gras, die Uferböschung wieder hinauf. Da hört es angsterfülltes Platschen, bemerkt, dass seine Mutter ihm nicht folgt, und hält an, macht kehrt auf seinen dünnen Beinen.
Die Büffelkuh hat sich nicht vom Fleck gerührt – sie kann nicht. Ihre Hufe stecken fest. Sie versucht wieder und wieder, mit aller Gewalt aus dem scheinbar harmlosen, seichten Tümpel zu gelangen. Ihr Kalb tänzelt nervös umher. Sie nimmt all ihre Kraft zusammen, und es gelingt ihr, einen teerverschmierten Huf herauszuziehen. Zum Befreien der übrigen fehlt ihr jedoch ein Hebel. Sie ist in eine vom Wasser verborgene Masse eingesunken. Die ist zwar dünn, so dass sie sich allmählich Bewegungsfreiheit verschaffen kann, doch ohne Ergebnis. Die Büffelkuh muss machtlos mit ansehen, wie ihr Kalb panisch wird. Sein Blöken und seine unregelmäßigen Hufschläge sind deutliche Signale für die Raubtiere.
Im Unterholz erwacht mit einem Ruck der Säbelzahntiger und kriecht, die Ohren für die Laute der Verzweiflung gespitzt, aus seinem Versteck. Geschmeidig und lautlos springt er in großen Sätzen durch das Gras, zielstrebig auf den Ort des Aufruhrs zu.
Die Anstrengungen der Büffelkuh werden zur Raserei, als das gelbbraune, gefleckte Raubtier durch die taufeuchten Binsen in ihr Blickfeld kriecht, seine gelben Augen auf ihr Kalb fixiert, seine gewaltigen gebogenen Reißzähne schimmernd im zunehmenden Licht der Dämmerung.
Die Raubkatze, auf Beute aus, beurteilt das Kalb mit kalter, flinker Berechnung als verirrtes Tier; die erste Mahlzeit des Tages wird schnell und leicht zu töten sein. Sie kauert auf den Hinterläufen, lauert. Die Büffelkuh brüllt, rasend in ihrer Qual.
Der Säbelzahntiger bricht den Angriff ab, springt zurück, knurrt, wappnet sich gegen die sicherlich ungestüme Verteidigung seines geplanten Opfers durch das Muttertier.
Das wütende Brüllen hält an, aber der Büffel bricht nicht aus dem Tümpel hervor. Die Raubkatze, tief auf ihren Hinterläufen, mit schlagendem Schwanz, schleicht vorsichtig vorwärts, die Augen auf den Büffel geheftet. Warum verteidigt er sein Junges nicht – warum nicht sich selbst? Der erwachsene Büffel ist eine viel verlockendere Beute, bei weitem nicht zu groß für das Jagdvermögen der Raubkatze, ein üppiges Festessen für diese und viele weitere Mahlzeiten.
Die Raubkatze knurrt herausfordernd. Der Büffel, der mit aller Macht darum ringt, sich zu befreien, kann nur aufsässig und wütend brüllen.
Weitere Raubtiere tauchen auf. Fünf durch das Knurren und Wüten von Jäger und Gejagten angelockte Schreckenshunde kreisen im Gras hinter dem Säbelzahntiger das verängstigte Kalb schnell ein, blecken riesige, spitze Zähne in ihren mächtigen Mäulern.
Wieder brüllt die Büffelkuh in Todesangst. Am Rand des Tümpels reckt sich der Säbelzahntiger zu voller Größe auf, spielt mit seiner bewegungsunfähigen Beute. Mit triumphierendem Gebrüll schlägt er eine Schleife am Ufer des Tümpels, von der Büffelkuh weg, als wolle er sie verschonen, macht dann plötzlich kehrt, duckt sich und springt. Er schlägt seine Klauen in ihren Rücken, rammt die beiden säbelgleichen Zähne in ihren Nacken, zieht sie heraus, sticht wieder zu und wieder. Das Raubtier springt leichtfüßig in den Tümpel, vollendet seinen Sieg, indem es den massigen Körper am Kopf herunterzieht.
Das Leben der Büffelkuh verebbt in einem purpurroten Strom im schwarzen Wasser, sie sieht nicht das leuchtend rote Blut, das aus der knurrenden, sich keilenden Meute der Schreckenshunde spritzt, die ihr Kalb in den sich schnell rötenden Tümpel reißen, wo sie es gierig verschlingen.
Nach einigen Minuten ebben die Fressgeräusche ab. Die Raubkatze, gesättigt, eine Pfote auf ihrer grausam zerrissenen, übel zugerichteten Beute, hebt ihren blutverschmierten Kopf und brüllt ihre Überlegenheit heraus. Im Begriff, großspurig aus dem Tümpelzu schreiten und die Reste ihrer Beute zu ihrem Bau zu schleifen, muss sie feststellen, dass ihre übrigen drei Beine feststecken. Sie zerrt vergeblich, knurrt wütend, stemmt sich mit allen vier Pfoten in den Tümpel, um einen Hebel anzusetzen, doch dadurch sinkt sie gänzlich ein, noch weniger bewegungsfähig als ihre Beute zuvor. Vier der fünf Schreckenshunde sind ebenfalls in Not, sitzen fest wie die Raubkatze, nur einer von ihnen kann sich in die Sicherheit des Schilfs retten.
Während das Kämpfen, Heulen und Brüllen im Tümpel unvermindert anhält, tauchen Koyoten und Wiesel auf, von dem Aufruhr und dem metallischen Blutgeruch angezogen, daneben weitere Schreckenshunde, ein Luchs und ein Puma. Sie sichten furchterregende Feinde, die zur hilflosen Beute geworden sind, und greifen an, zerrend, reißend. Ein paar Geier ziehen immer niedrigere Kreise über dem Gemetzel; doch abgeschreckt vom Beißen und Knurren der gefangenen Tiere und der gierigen, opportunistischen Brutalität der Neuankömmlinge, flattern sie wieder empor, warten geduldig, bemerken nicht die teerige, erstarrende Masse, die ihnen bei der Keilerei der Opfer und Angreifer auf die Federn geschleudert wird.
Als sie schließlich an der Reihe sind und sich daranmachen, Tote wie Lebende zu fressen, hüpfen sie in den Tümpel, um beim Reißen und Ziehen am Fleisch eine gute Position zu haben: Damit sind auch sie gefangen, außerstande zu entkommen.
Und so kommen alle um, die das Schlachtfeld betreten haben, um die Hilflosen zu morden. Eine siebeneinhalb bis zehn Zentimeter dicke, tödliche, zähe Asphaltschicht, hervorgequollen aus den Tiefen der Erde, hat Opfer und Räuber gleichermaßen in ihrer Gewalt.
Der schwarze Tümpel schließt sich allmählich, unaufhaltsam über ihnen allen, begräbt sie in seinem teerigen Konservierungsmittel, bewahrt ihre Knochen und die Geschichte dieses Gemetzels – für die kommenden fast vierzigtausend Jahre.
Ungefähr vierzigtausend Jahre später
Auf zu den Gruben.« Detective Joe Cameron ließ den Hörer auf die Gabel fallen und grinste Detective Kate Delafield über den Schreibtisch der Mordkommission hinweg an. »Den weltberühmten La Brea-Teergruben.«
Er schob den Untersuchungsbericht, an dem er gerade arbeitete, in eine seiner vier Ablagen, rappelte sich auf und streckte seine schlaksige Gestalt, um sein Jackett von einem Bügel am Garderobenständer zu angeln. »Leiche hinter einer Parkbank. Da sie weniger als zehntausend Jahre alt ist, meint Sergeant Hansen, wir sollten sie uns mal ansehen.«
»Typisch«, sagte Kate, schlug die Akte des Mordfalls Gonzales zu und legte die blaue Mappe in eine Schreibtischschublade. Sie griff nach ihrer Umhängetasche, dankbar, dass sie und Cameron an der Reihe waren, auch wenn die Leiche höchstwahrscheinlich eines natürlichen Todes gestorben war. Alles war besser als ihre Selbstzerfleischung wegen des Fiaskos um Aloysius Gonzales.
Außer ihnen saß niemand am Tisch der Mordkommission. Bis auf ein gedämpftes Gespräch am Tisch der Einbruchkommission war die ganze Ermittlungsabteilung relativ ruhig, die Männer und Frauen an den Schreibtischen in Papierkram vertieft. Im Los Angeles Police Department herrschte die Devise: Schreibe pünktlich deine Berichte, oder du bist weg vom Fenster.
Auf dem Parkplatz hinter dem Wilshire-Revier stieg Cameron zu Kate in den Dienstwagen. »Hier drin kannst du dir die Eier braten«, murmelte er und zerrte am Knoten seiner Krawatte.
Es war vollkommen harmlos gemeint. Nach drei Wochen mit ihrem jüngeren Partner wusste Kate, dass Cameron weder zu Sexismus noch zu Homophobie neigte. Er ließ seine Tür weit offen, während er darauf wartete, dass sie Motor und Klimaanlage in Gang setzte; er zog den Staub der Hitze vor. Der allgegenwärtige Staub, ein feiner pulvriger Sand, wehte in Böen von der angrenzenden Baustelle herüber, wo ein neues Gebäude weitere Beschäftigte des Polizeihauptquartiers West beherbergen und zusätzliche Parkprobleme schaffen würde.
Vorsichtig tastete Kate das Lenkrad nach einer Stelle ab, wo sie es anfassen konnte, und lehnte sich in den glutheißen Sitz zurück, als wolle sie die geballte Hitze ihre Arme hinaufleiten. Die Wärme löste ihre Steifheit, eine wohl bleibende Erinnerung an die Kugel, die bei einer verpfuschten Festnahme vor anderthalb Jahren ihre linke Schulter getroffen hatte.
Als sie vom Parkplatz auf den Venice Boulevard fuhr, zog Cameron eine Pilotensonnenbrille aus der Brusttasche seines Jacketts und studierte die Karte des Bezirks Wilshire. Er nannte den Abschnitt, in dem die La Brea-Teergruben lagen: »Sieben-zwei-zwei.«
»Gut«, sagte sie kurz. Cameron, erst kürzlich aus Devonshire hierher versetzt und in die Mordkommission befördert, musste sich mit Wilshire noch vertraut machen, ein Gefühl für das Territorium entwickeln, das bei weitem heterogener war als sein vorheriger Arbeitsbereich im entlegensten LAPD-Revier im San Fernando Valley. Sollte sich dieser Fall als Mord entpuppen, würde er als Teil seiner Einarbeitung erstmals die Ermittlungen leiten; er würde nominell die Verantwortung tragen, unter ihrer Anleitung und Aufsicht. Aber heute war sie nicht in Stimmung für die sonst üblichen Hinweise und laufenden Rückmeldungen.
Als es im Auto kühler wurde, zog der sonst so gesprächige Cameron seine Krawatte wieder enger und starrte durchs Seitenfenster. Sich selbst überlassen blickte Kate finster auf den Verkehr, während sie immer noch über das Gonzales-Debakel grübelte.
Beim Einbiegen in den Wilshire Boulevard begriff sie, dass Camerons Zurückhaltung an ihrer schlechten Laune lag. Es war unfair, ihren Ärger an ihm auszulassen. Er hatte mit dem Fall Gonzales nichts zu tun.
»Hätte nie gedacht, dass ich die Teergruben auf diese Weise zu sehen bekomme«, begann sie.
Er schob sich die Sonnenbrille zurück auf die Nase und drehte sich ungläubig zu ihr um. »Du warst noch nie an dem berühmtesten Ort im gesamten Bezirk?«
Gereizt durch diese Reaktion auf ihr Entgegenkommen erwiderte sie: »Das Berühmteste in meinem Bezirk sind für mich die Columbia Studios. Und vielleicht der Farmer’s Market.«
»Nur in Amerika berühmt«, gab er zurück. »Wie lange wohnst du schon in L.A.?«
»Schon ewig.« Ein grünes Schild mit weißen Lettern über dem Mittelstreifen des Wilshire Boulevard kündigte den Museumsweg an der Miracle Mile, der Wundermeile, an. Das Wunder ließ in diesem unspektakulären Streifen von Wilshire noch auf sich warten, aber das Kunstmuseum des Regierungsbezirks L.A. war wirklich ein Juwel und ein echtes Museum. Sie erinnerte sich, wie Mitte der Siebzigerjahre das neue Museum der La Brea-Teergruben eröffnet wurde. Nicht besonders aufsehenerregend. Es gab keinen Grund, jetzt anders darüber zu denken, auch wenn in irgendeinem blöden Film kürzlich ein Vulkan aus den Tiefen der Gruben hervorbrach und halb Los Angeles vernichtete.
»Die Teergruben sind interessanter, als du denkst. Sie sind was Besonderes.« Cameron schüttelte den Kopf. »Ich wette, du bist schon tausendmal daran vorbeigefahren.«
»Zehntausendmal«, sagte sie ohne Bedauern. »Und jedes Mal wieder habe ich die Nachbildungen dieser prähistorischen Tiere von der Straße aus gesehen. Teergruben und Fossilien machen mich nun mal nicht an.«
»Mein Dad hat sie mir gezeigt, noch bevor das Museum überhaupt gebaut wurde. Er fand sie toll. Genau wie ich.«
Noch ein Grund, nicht hinzugehen, dachte sie. Eltern und kreischende Kinder.
»Die Leiche ist hinter der großen Grube«, sagte er. »Du nimmst also am besten die Curson Avenue.«
»Roger«, sagte sie, amüsiert, dass er sie jetzt in ihrem eigenen Bezirk herumdirigierte.
Sie parkte in der Curson Avenue hinter vier Streifenwagen. Ihre kreisenden Blaulichter ließen den strahlenden Sonnenschein noch greller erscheinen, und die Funkgeräte übertrugen das permanente Stakkato heiserer Stimmen.
Camerons Bemerkungen hatten ihre Neugier geweckt, und als sie aus dem Auto stieg, hielt sie kurz inne, um das Museum in Augenschein zu nehmen. Ein in die Konturen eines kurz gemähten grünen Hügels eingefügtes Gebäude, ein gutes Stück von der Straße zurückgesetzt. Es war gedrungen und eckig, schlicht, aber nicht unbeeindruckend. Das Dach, von der übrigen Konstruktion durch ein massives Steinfries mit prähistorischen Tierszenen in Brauntönen abgesetzt, schwebte auf einer komplexen Konstruktion aus Säulen und gekreuzten Trägern. Sie folgte Cameron unter einen Baldachin aus schattenspendenden Bäumen und auf den kurvigen Gehweg, der am Museumsgebäude entlangführte. In der heißen, schweren Luft lag der stechend-süßliche Geruch von Petroleum. Eine Horde Touristen strömte auf einem breiten gepflasterten Weg im Zickzack auf die Glastüren des Museums zu, auf denen eine fett gedruckte Schrift verkündete:
GEORGE C. PAGE MUSEUM
LA BREA AUSGRABUNGEN
Auf der anderen Seite des Wegs bevölkerten Kinder eine erhöhte Aussichtsplattform aus massivem Granit. Von ein paar überforderten Erwachsenen wirkungslos beaufsichtigt, schubsten und drängelten sie sich um die besten Plätze, kreischend vor Aufregung über das, was sie von dem Polizeieinsatz erspähen konnten.
»Was denken sich diese Erwachsenen bloß heutzutage?«, schimpfte sie. »Das Fernsehen ist eine Sache. Aber an einem echten Mordschauplatz haben Kinder nichts zu suchen.«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte Cameron. »Vielleicht können Kinder durch einen fremden Toten schmerzlos erfahren, was der Tod bedeutet.«
Sie antwortete nicht. Es war wohl kaum der richtige Zeitpunkt für einen Streit. Hinter den Parkbänken, die den Weg säumten, hatte sie die erste Absperrung aus gelbem Polizeiband ausgemacht, davor drängten sich ein paar Dutzend Schaulustige. Cameron war ein Narr, wenn er glaubte, man könne sich in irgendeiner Weise auf die harte Realität eines endgültigen Verlustes vorbereiten – niemand wusste das besser als sie.
Sergeant Fred Hansen wartete an dem abgeriegelten Rasenstück. Officer Pete Johnson, der neben ihm stand, hielt den Zeitpunkt ihrer Ankunft in seinem offiziellen Logbuch fest. Sie nickte ihnen zu und zog Notizbuch und Stift aus ihrer Tasche. Hinter Hansen sah sie vier weitere Polizisten, die den Tatort bewachten, und – für einen kurzen Augenblick – die Gestalt, die mit dem Gesicht nach unten ausgestreckt im Gras lag.
»Was Besonderes, Fred?« Die heiße, von Petroleumdämpfen erfüllte Luft lag erdrückend auf ihr.
Hansen zuckte mit den Schultern. »Tja, Kate, ich denke, vielleicht schon.«
Sie notierte Uhrzeit und Datum, 10:35 Uhr, 21. August, und die ungefähre Temperatur, gut dreißig Grad. Dann fragte sie: »Was haben Sie bis jetzt?«
»Vier Neuseeländer haben ihn gefunden, direkt nachdem das Museum geöffnet wurde, kurz nach zehn. Sind in den Souvenirladen gerannt. Die Frau vom Informationsschalter hat uns angerufen. Eine Minute nach uns kamen die Sanitäter, erklärten ihn für tot. Weiß, männlich, dem Aussehen nach in den Siebzigern.«
»Und?«
»Sonst nichts, bis auf sein Aussehen.«
Kate ignorierte die Geste, mit der er auf die Leiche zeigte. Sie wollte sich nicht von ihrer Methode abbringen lassen. »Personalien?«
»Bisher nichts bekannt.«
»Wer hat ihn berührt?«, fragte Cameron, der in sein Notizbuch schrieb. Er war Linkshänder, sein breiter Ehering glänzte in der Sonne.
»Die Sanitäter. Die Kiwis haben nur einen Blick auf ihn geworfen – mehr muss man auch nicht.«
»Stimmt, man kann es von hier aus sehen«, sagte Cameron.
Hansen sagte: »Sie sind weggegangen, ziemlich verstört. Bis Freitag wohnen sie im Mondrian. Ich hab ihre Namen und Zimmernummern, falls wir eine Aussage brauchen. Keine Zeugen bisher. Wir laufen herum, versuchen jemanden zu finden, der etwas gesehen hat, aber das hier ist das reinste Tollhaus – lauter Touristen und Kinder. Tja, Leute, das ist alles, was ich habe.«
Kate nickte. Nach vielen Jahren der Zusammenarbeit wusste Hansen, wie sie vorging. Er würde nun mit weiteren Anweisungen warten, bis sie den ganzen Tatort unter die Lupe genommen hatte.
Viel gab es nicht zu untersuchen. Auf einer neuen Seite in ihrem Notizbuch zeichnete sie, ausgehend von ihrem Blick nach Westen, die Himmelsrichtungen ein, dann machte sie sich eine schnelle, grobe Skizze von dem länglichen Rasenstück, vielleicht fünfzehn mal neun Meter, begrenzt von kreuzenden Fußwegen, von denen zwei auf eine Art Park zuliefen. Für die vier grauen Holzbänke entlang der Wege zeichnete sie Rechtecke ein, Gabeln standen für die drei Bäume mit der dünnen, bleichen, von Initialen verunzierten Rinde. Vom westlichen Rand des Gebietes zeichnete sie die Geländestruktur ein, ließ den Blick dann nach oben schweifen, zu den buschigen Palmkronen über ein paar entfernten Bäumen und der hellgrünen Fassade des Kunstmuseums. Ihr kam der ketzerische Gedanke, dass die Skulpturen auf dem Museumsdach aussahen wie ein Haufen Surfbretter. In Richtung Norden stand jenseits des Fußwegs auf einem weißen Sockel die Büste eines Mannes in Jackett und Krawatte. Hinter ihm, zu ihrer Rechten, bildeten die orangefarbenen Wohnblöcke des La Brea-Parks die entfernte Kulisse des Page Museum. Südlich des Tatorts, links von dem Weg, auf dem sie stand, lief ein Maschendrahtzaun vor einem Tümpel entlang, dessen dunkle, geriffelte Oberfläche sie durch Schilf und Gebüsch sehen konnte. Die Rasenfläche vor der hintersten Bank schraffierte sie leicht und fügte schließlich an der Stelle, wo die Leiche im Gras lag, ein Kreuz in ihre Skizze ein. Das Rasenstück war weder abgeschlossen noch weit abgelegen vom gewöhnlichen Touristenpfad um den großen See; alle, die sich in irgendeiner Richtung über das Gelände bewegten, hätten die Leiche finden, möglicherweise ihren Tod herbeiführen können.
»Seine Hände«, sagte Cameron neben ihr.
»Einen Moment noch«, sagte sie ruhig, aber sie war verärgert über die Störung ihrer Konzentration. Es war äußerst anstrengend, mit einem neuen Partner zusammenzuarbeiten. Der stinkfaule Ed Taylor hatte die längste Zeit ihrer gemeinsamen fünf Jahre gebraucht, um ihre Methoden zu respektieren, und Torrie, zu deren Fehlern nicht Taylors Schlampigkeit gehörte, hatte ein Jahr gebraucht, um sich Kates Stil anzupassen. Jetzt musste wieder jemand anderes kommen. Nicht dass sie sich Ed Taylor oder Torrie Holden zurückwünschte …
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung und nahm den Toten in Augenschein. In einer dunklen, ausgebeulten Hose und einem rostbraunen Polohemd lag er bäuchlings im sommerlich vergilbten Gras. Die Leiche wirkte in dieser harmonischen Umgebung außergewöhnlich grotesk, ein Arm war auf Taillenhöhe stark zurückgebogen, der andere ragte von der Schulter quer über den Rücken, die zu Klauen gekrümmten Finger wiesen ohne erkennbaren Grund zur Mitte des Rückens.
»Es war klug, uns sofort herzurufen, Fred«, sagte sie, und ein dünnes Lächeln erhellte Hansens verdrossenen Blick. Er hob das Band an, als Kate Anstalten machte, den Tatort zu betreten.
Sie ging, aufmerksam einen Fuß vor den anderen setzend, zur Leiche hinüber, Cameron in ihrem Kielwasser. Viel war nicht durcheinanderzubringen; anscheinend lag bis auf ein paar hergewehte Blätter nichts im Gras. In vorsichtiger Entfernung von der Leiche ging sie in die Hocke. Die Endgültigkeit dieses Todes stand im bedrückenden Gegensatz zum Duft der sonnengewärmten Wiese und Erde, gemischt mit den Petroleumschwaden der Teergruben.
Der Mann hatte graue Kopf- und Barthaare, dünnes Haar, streng zurückgekämmt und nur leicht zerzaust, sein Bart etwa zweieinhalb Zentimeter lang und gepflegt. Sein Gesicht hatte sich im Todeskampf in den Boden gebohrt, aber ein glasiges, starres Auge war teilweise sichtbar. Sie berührte die Wange des Toten mit ihrem Handrücken. Die Wärme seiner Haut konnte zwar von der Sonne stammen, aber wahrscheinlich entsprach sie seiner Körpertemperatur. In einigen Teilen von Los Angeles konnte eine Leiche stundenlang auf der Straße liegen, während die Leute an ihr vorübergingen, aber diese Gegend, voller Touristen, die mit den unliebsamen kulturellen Marotten der Stadt nicht vertraut waren, war weniger verkommen. Dieser Mann war innerhalb der letzten Stunde gestorben.
Im Bewusstsein, dass sie Camerons Anleiterin war, fragte sie: »Was meinst du, Joe?«
Neben ihr hockend schrieb er in sein Notizbuch. »Er versucht nach dem zu greifen, was ihn umgebracht hat. Es war also kein Herzanfall, es sein denn, sein Herz ist an einem sehr merkwürdigen Platz.«
Sie linste auf das dicht gewobene rostbraune Hemd. »Wenn er Blut verloren hat, kann ich es jedenfalls nicht sehen.«
»Es könnte aber welches da sein – das Hemd hat die gleiche Farbe wie Blut.«
»Frisches Blut könnte man sehen«, widersprach sie.
»Vielleicht ist seine Niere geplatzt.«
Sie bedachte Camerons Bemühen um Leichtigkeit mit einem Lächeln. »Eine interessante Hypothese.« Cameron war relativ jung und – welche Polizeilaufbahn er auch hinter sich haben mochte – unerfahren in der Pflicht, Leichen zu untersuchen, Angehörige und Kinder zu benachrichtigen, deren Leben sich durch die Katastrophe eines Todesfalls für immer ändern würde. Nach dem Alter dieses Toten zu urteilen, könnte es eine beachtliche Familie geben, sogar Enkelkinder …
Cameron sagte: »Es könnte irgendwas Ausgefallenes sein, wie ein Bienenstich – vielleicht hatte er einen anaphylaktischen Schock.«
»Also das ist wirklich eine interessante Hypothese«, sagte Kate, »da könntest du sogar recht haben.«
Sie streckte die Hand nach dem Toten aus, nahm ein Stück seines Hemdes zwischen Daumen und Zeigefinger und benutzte es, um eine der zu Klauen gekrümmten Hände anzuheben. Der Tote trug einen Ehering, mit den Jahren dünn geworden und zerkratzt, und eine Seiko-Uhr mit abgenutztem Lederarmband. Sie sah, dass die Handfläche kreuz und quer von dünnen schwarzen Streifen verschmiert war und untersuchte die Finger, einen nach dem anderen, wobei sie schwarze Ränder unter einigen Nägeln bemerkte. Sie legte die Hand wieder ab, stand auf und ging zur Bank hinüber.
Eigentlich war es eine ganz gewöhnliche Parkbank mit abgestoßener grauer Farbe, nur war sie mit verwitterten Teerstreifen überzogen, genauso wie der gepflasterte Boden um sie herum. Der Teer sah alt und trocken aus, es schien recht ungefährlich, sich darauf zu setzen, vor allem in Freizeitkleidung, wie sie der Tote trug.
»Die Bank sieht aus wie eine Leinwand, mit der Jackson Pollock gerade angefangen hat«, bemerkte Cameron.
In ihre eigenen Beobachtungen versunken, überquerte sie den Weg zum Maschendrahtzaun und blickte durch ihn hindurch auf den See. Über die dunkle Oberfläche zogen zahlreiche Ringe – von aufsteigenden Teerblasen, nahm sie an. Sie erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, dass speziell diese Grube regelmäßig mit Wasser gefüllt wurde, um ihre Feuergefährlichkeit zu mindern. Die Oberfläche zeigte gebrochene Reflexionen der Gewächse ringsherum, die Kronen einiger Kaiserpalmen am Wilshire Boulevard und die geometrische Form eines Gebäudes. Sie konnte auf dem Wasser die langen, gebogenen Stoßzähne eines gigantischen prähistorischen Mammuts ausmachen, eine der Nachbildungen, für die die Teergruben berühmt waren und die im und um den See herum standen.
»Absurd«, sagte Cameron neben ihr. »Dieser Ort ist so …«, er suchte nach einem Wort, »ursprünglich. Dieses ganze prähistorische Zeug mitten in dieser Stadt, so modern und auf dem allerneuesten Stand …«
»Du hast recht«, murmelte sie und starrte auf das Gebäude, das sich in der Teergrube neben den Stoßzähnen des Mammuts spiegelte. »Es ist eine unglaubliche Konstellation.«
»Ich stelle mir immer vor, dass Jimmy Hoffa vielleicht hier liegt.«
»Warum nicht? Zusammen mit Richter Crater.«
»Und vielleicht Amelia Earhart.«
»Das ist ein bisschen weit hergeholt.« Kate ging zurück zur Parkbank. Sie untersuchte die schwarzen Streifen und meinte: »Vor langer Zeit hat ein heftiger Wind den Teer vom Tümpel auf die Bank geweht.«
»Klingt logisch.« Cameron zeigte auf einige verwischte Kratzer in den Teerflecken. »Vielleicht saß das Opfer hier, als ihm zustieß, was immer ihm zustieß. Zuerst hat er sich an die Bank geklammert, dann ist er auf die Füße gestolpert. Das würde auch das Zeug auf seinen Händen und unter seinen Nägeln erklären.«
»Vielleicht«, sagte Kate, erfreut, dass Cameron die Ränder unter den Nägeln des Opfers auch bemerkt hatte. Als sie wieder Kinderstimmen von der Aussichtsplattform hinter ihnen hörte, dachte sie daran, dass man einen Ort wie diesen, im Gegensatz zum Kunstmuseum, nicht alleine besuchte. Hatte jemand diesen alten Mann begleitet? Könnte ein Enkelkind verloren über das Gelände irren?
Der Tote könnte durch natürliche Ursachen umgekommen sein. Aber wie Hansen roch sie hier etwas Merkwürdiges, und es war nicht nur der Teer. Sie sagte zu Cameron: »Tun wir, was wir tun können, solange wir auf den Gerichtsmediziner warten.«
Nicht rennen!«, befahl eine hochgewachsene, grauhaarige Frau Hände klatschend einer Horde aufgedrehter Kinder, die sie durch die Eingangshalle des George C. Page Museum führte.
Vor dem Eingang der Ausstellungsräume befanden sich ein Informationsschalter und der helle Souvenirladen, durch dessen Glaswand die Pflanzen und Bäume des Innenhofs hindurchschimmerten. Hinter der Kasse, an der Erwachsene sechs Dollar Eintritt bezahlen mussten, erspähte Kate das geduckte, dunkelbraune Skelett eines Raubtiers. Rechts von ihr gab es ein paar stoffbezogene Bänke, Toiletten, öffentliche Telefone und etwas Undefinierbares in einem sechseckigen Schaukasten, umringt von lauten, begeisterten Kindern, die an Handgriffen zerrten. Der Souvenirladen, ein bescheidenes, aber attraktives Halbrund, stellte seine Waren in gläsernen Theken und Vitrinen aus, darunter Plastiknachbildungen von Fossilien, Brettspiele und Puzzles, Spielsachen, Kaffeebecher, Karten, Kugelschreiber und Bleistifte, eine Auswahl an Büchern und die bei Touristenattraktionen allgegenwärtigen T-Shirt-Ständer. Ein paar Dinosaurierposter hingen an den Wänden.
»Gibt es hier Dinosaurierknochen?«, fragte sie Cameron. Das würde sie interessieren, besonders da sie und Aimee neuerdings eine Videokassette von Jurassic Park besaßen.
»Nicht in diesem Museum.«
Die Antwort auf ihre Frage kam von einer jungen Japanerin am Informationsschalter, adrett gekleidet in weißer Bluse mit schwarzer Fliege. »Das fragen alle«, sagte sie lächelnd. »Unsere Fossilien sind bis zu vierzigtausend Jahre alt. Die Dinosaurier sind vor fünfundsechzig Millionen Jahren ausgestorben. Wir führen die Dinosaurierposter, weil wir so viele Nachfragen haben.«
Kate nickte, jetzt beeindruckten die Teergruben sie noch weniger.
»Aber wir haben weltweit die reizvollste und größte Sammlung von Fossilien, die in Asphalt präserviert wurden«, fuhr die junge Frau fort, als hätte sie Kates Gedanken gelesen und versuchte nun, sie umzustimmen.
»Was denn zum Beispiel?«, fragte Kate höflich, seufzte innerlich und griff in ihrer Umhängetasche nach dem Lederetui mit der Polizeimarke und ihrem Ausweis. Sie und Cameron hatten das bisschen, was sie am Tatort tun konnten, getan, und sie hatte Hansen ihr Handy gegeben, damit er beim Eintreffen des Gerichtsmediziners ihren Pieper anrufen konnte.
»Säbelzahntiger«, sagte die junge Frau. »Schreckenshunde, Büffel. Riesige Mastodonten, zottelige Mammuts –«
Kate wusste, dass man die vielbeschäftigten Gerichtsmediziner nicht zur Eile antreiben konnte und dass jeder Versuch durch absichtliches Herumtrödeln gerächt würde. Bis ein Ermittler der Gerichtsmedizin sich die Leiche dieses Mannes hinter der Parkbank angesehen und bestimmt hatte, ob dieser Todesfall weitere Ermittlungen erforderte, war sie zu Untätigkeit verdammt.
»Kamele, Bären, so groß wie Elefanten. Insekten, Pflanzen, riesige Vögel. Von der La Brea-Frau ganz zu schweigen –«
»Beeindruckend«, unterbrach Kate sie und zeigte ihr den Ausweis. »Ich bin Detective Delafield. Mein Partner ist Detective Cameron. Wenn wir Ihnen ein paar Fragen stellen dürften …«
Auf dem Gesicht der jungen Frau erschien ein erschrockener Ausdruck; sie fuhr sich mit der Hand durch ihr glänzendes schwarzes Haar. »Wegen dem toten Typ da draußen, stimmt’s?«
Kate nickte, amüsiert, dass die junge Frau mit dem Themenwechsel einen umgangssprachlichen Tonfall annahm. »Dürfen wir Ihren Namen erfahren?«
»Ja. Klar. Joanne Takani.« Sie starrte auf Kates Notizbuch und buchstabierte ihren Nachnamen.
Cameron fragte freundlich: »Was können Sie uns über den Mann da draußen sagen, Joanne?«
»Über ihn? Hab nicht die leiseste Ahnung. Wir hatten gerade aufgemacht, da kamen ein paar Touristen reingerannt und haben was von einem Toten gebrüllt, den sie gefunden hätten, und ich hab den Notruf gewählt. Das ist alles. Hatte er einen Herzanfall?«
»Möglich. Wir sind noch nicht sicher. Danke, Joanne«, sagte Kate und wandte sich ab.
»Joanne erwähnte die La Brea-Frau«, sagte Cameron. »In einem der Schaukästen ist eine Nachbildung von ihrem Skelett. Sie ist an einem Schädelbruch gestorben, vor zehntausend Jahren.«
»Tatsächlich«, erwiderte Kate mit einem Grinsen. »Dann ist sie umgebracht worden? Das erste Mordopfer von L.A.?«
Cameron grinste zurück. »Mit einer Axt kaltgemacht, schätze ich.«
»Also genau hier fand der erste unaufgeklärte Mord von L.A. statt?«
»Es sei denn, es war eine Art Zeremonie, sie hier zu begraben, das kann auch sein. Weißt du, warum man hier so viele Fossilien gefunden hat?«
Kate zuckte ungeduldig die Schultern bei dieser scheinbar offensichtlichen Frage. »Der Teer war wie Treibsand, und die Tiere sind darin eingesunken.«
»Sie sind nicht eingesunken. Zumindest nicht sofort. Der Teer ist nicht so tief, höchstens zehn Zentimeter. Sieh dir das hier mal an.« Er führte sie zu dem sechseckigen Schaukasten, wo Kinder mit aller Kraft an Handgriffen zerrten – sie versuchten sie aus dem Teer zu ziehen.
»Das verdeutlicht, wie klebrig das Zeug ist«, sagte Cameron. »Es war so: Wenn ein Tier zu einer der Teergruben kam, dachte es, es hätte Wasser vor sich und ging in die Falle. Wenn ein Raubtier es brüllen hörte, rechnete es mit leichter Beute. Dann ging es ebenfalls in die Falle. Dann kamen noch mehr Raubtiere, um bei dem Festmahl dabei zu sein, und auch die gingen in die Falle, dann stießen die Geier herab und wurden gefangen –«
»Die Bewohner dieser Stadt haben sich anscheinend nicht sehr verändert«, bemerkte Kate.
Cameron deutete hinter sich auf den Schalter, wo die Eintrittskarten verkauft wurden. »Wollen wir uns die Ausstellung ansehen, während wir warten?«
»Lass uns nachsehen, was die Kollegen bei ihren Befragungen herausgefunden haben«, entgegnete sie. Sie war auf Ermittlung eingestellt, nicht auf Tourismus, und die verdammte Ausstellung hätte ihr nicht gleichgültiger sein können.
Ihr Pieper ging an. »Das kann nicht sein«, sagte Cameron.
»Auf gar keinen Fall«, stimmte Kate zu, als sie und Cameron aus dem Museum traten. Der Ermittler der Gerichtsmedizin konnte unmöglich schon den Weg aus der Innenstadt bis hierher zurückgelegt haben.
Aber es war tatsächlich jemand eingetroffen, Walt Everson höchstpersönlich, der eine fröhliche Unterhaltung mit Hansen führte, während ein Fachmann den Tatort fotografierte.
»Wie aufmerksam von der Polizei von Los Angeles, zwei Aufträge hintereinander in einem so netten Teil der Stadt für uns zu arrangieren«, begrüßte Everson sie.
»Wie geht’s, Walt?«, fragte Kate lächelnd. Sie und Everson hatten bei vielen Ermittlungen zusammengearbeitet und ihrer Meinung nach war er einer der Besten in seiner überarbeiteten Abteilung. »Kennen Sie Joe Cameron aus Devonshire?«
»Ich glaube nicht, dass ich bereits das Vergnügen hatte.«
»Hatten Sie«, sagte Cameron kurz.
»Tut mir leid«, erwiderte Everson mit offensichtlicher Unaufrichtigkeit, den Blick auf den Fotografen geheftet, der die Kamera in schneller Folge aufblitzen ließ. »Ihr Mordermittler seht alle gleich aus.«
Cameron antwortete knapp: »Und ich dachte, ich wäre hübscher als Kate.«
»Walt«, sagte Kate, verwundert über Camerons gereizten Ton, »wieso zwei Aufträge?«
»In West L.A. Junger Kerl mit sechzehn Stichwunden in einem hübschen Muster rings um seine Brustwarzenpiercings.« Er wies mit einem Nicken auf den verdrehten Körper. »Interessant. Wenn er nicht schon tot wäre, würde ich sagen, sein Rücken bringt ihn um.«
Kate sagte: »Detective Cameron hat eine geplatzte Niere diagnostiziert.«
»Detective Cameron ist ein vielversprechender Pathologe.« Der Fotograf begann seine Ausrüstung einzupacken, und Everson duckte sich unter dem Polizeiband hindurch.
»Ein richtiger Klugschwätzer«, murmelte Cameron, als Everson den durch das Band vorgegebenen Weg zur Leiche nahm, die schwarze Tasche in der Hand. »Ich weiß, wir machen alle Witze über diese Sachen, aber ich glaube, er findet daran wirklich Gefallen.«
Kate tauschte einen Blick mit Hansen, der die Augen verdrehte. In all den Jahren, die sie mit Everson zusammenarbeitete, hatte er sich nach demselben Muster verhalten; je grausiger der Tatort, desto mehr witzelte er herum. So hart auch einige Aspekte ihrer eigenen Arbeit waren, sie konnte sich nicht vorstellen, welche Abschottungen sie nötig hätte, welche Distanzierungen und Schutzwälle, um so wie Everson jeden Tag von morgens bis abends Leichen zu untersuchen, einige von ihnen Kinder, einige von ihnen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt oder verwest. Sie sagte zu Cameron: »Wir alle – tun einfach, was wir tun müssen.«
Everson zog zwei Paar Latexhandschuhe über seine Hände und kniete sich ins Gras. Die Tasche offen an seiner Seite, saß er zunächst auf den Fersen, um einen Eindruck von der Leiche zu gewinnen, bevor er sie berührte. Dann zog er Stück für Stück das rostbraune Hemd des Mannes aus dem Hosenbund und schob es zu den Schultern hoch. Er winkte Cameron und Kate heran und wartete, während sie sich unter dem Polizeiband hindurch zu ihm hin manövrierten.
Unter dem rostbraunen Hemd war die kalkweiße Haut des Toten mit Sommersprossen und großen Leberflecken übersät; sie schien jahrelang der Sonne ausgesetzt gewesen zu sein. Doch im unteren Teil des Rückens überdeckte ein faustgroßer, rosafarbener Fleck die Sommersprossen, und innerhalb dieses Flecks befand sich ein kleiner Klumpen geronnenes Blut. Cameron hat recht, dachte Kate. Es ist ein Bienenstich.
»Detective Cameron, Sie hatten recht«, sagte Everson.
Kate sah Everson völlig verblüfft an. Niemand hatte ihm gegenüber einen Bienenstich erwähnt.
»Seine Niere ist wirklich geplatzt«, sagte Everson. »Wesentlich begünstigt durch das Gerät, das hineingejagt wurde.«
Cameron fragte ungläubig: »Er ist erdolcht worden?«
»Wohl eher mit einem Eispickel erstochen.« Everson zog einen eleganten, dünnen goldenen Stift aus seiner Brusttasche und benutzte ihn als Zeigestock. »Sehen Sie genau hin. Sie können den Abdruck eines Instruments sehen, das bis zum Heft hineingestoßen wurde.«
Kate ging in die Hocke und linste auf den kleinen Höcker geronnenen Bluts. Er war nicht nur von der unregelmäßigen rosa Verfärbung umgeben, sondern lag auch exakt in der Mitte eines in die Haut eingedrückten Kreises, vielleicht zweieinhalb Zentimeter im Durchmesser. Sie hatte schon Eispickel-Morde gesehen, aber jene Wunden waren Folgen blutiger Bandenkämpfe oder, nach einem Mord aus Leidenschaft, viele Stiche gewesen, aus denen das Blut überallhin gespritzt war.
»Er kann doch nicht erstochen worden sein«, protestierte Cameron. »Es ist ja kaum Blut zu sehen.«
»Wenn man keine Vene oder Arterie trifft und bei einer einzigen Punktierung mit einer spitzen, dünnen Klinge ist eine ganz geringe äußerliche Blutung nicht ungewöhnlich. Die Klinge ist wahrscheinlich innen abgebrochen und versiegelt damit zusätzlich die Wunde.«
»Man würde aber doch annehmen, dass etwas Blut durch sein Hemd dringt.«
»Ist es vielleicht auch.« Everson drückte den Stoff des Hemdes zusammen. »Das Material ist ziemlich dicht gewebt …« Er ließ das Gewebe los und hielt seine behandschuhten Finger hoch; sie waren rosa verschmiert. »Das Hemd hat einiges davon aufgesogen.« Mit seinem goldenen Stift beschrieb er einen großen Kreis über dem Rücken des Mannes. »Innerlich ist dieser Kerl eine einzige heftige Blutung. Wenn man ihn herumrollt, sieht er aus, als wäre er im sechsten Monat schwanger. Innerlich ist er ein blutgefüllter Ballon.«
»Sehen Sie sich seine –«
Cameron brach ab, als Kate ihn kräftig mit dem Ellbogen stieß. Sie wusste, dass er die Hände des Toten erwähnen wollte.
»Sehen Sie sich was an?«, fragte Everson aufblickend.
»All diese Leberflecke«, sagte Cameron. »Der Mann war ein Kandidat für Hautkrebs.«
»Eine Todesursache, die einem Eispickel vorzuziehen wäre. Ist es das, was in Ihnen bohrt, Detective? Verzeihen Sie das Wortspiel.« Everson gab ein kurzes gackerndes Lachen von sich. Er hob eine Hand des toten Mannes an, zog ein Vergrößerungsglas aus seiner schwarzen Tasche und blickte hindurch. »Sieht aus, als hätte er in den Teergruben gespielt.«
Kate sagte mit einer Geste: »Die Bank da drüben ist voller alter Teerspuren.«
»So, so« sagte Everson und sah sie vielsagend an. »Ich schätze, Sie beide haben einen ziemlich genauen Blick auf den Verstorbenen geworfen, bevor ich hier war.«
Kate sagte vorsichtig: »Es ist uns sehr bewusst, dass das Berühren der Leiche in Ihren Kompetenzbereich fällt.«
»Erfahrene Kriminalbeamte der Mordkommission wie Sie gewöhnen sich manchmal zu viel Eigenmächtigkeit an in der Frage, was sie an einem Tatort tun dürfen«, sagte Everson und nahm ein Aufnahmegerät und einen Notizblock aus seiner schwarzen Tasche. »Ich möchte nicht, dass jüngere Ermittler, wie unser Joe hier, denken, das sei eine gute Idee.«
»Verstehe, Walt«, sagte sie.
Er nickte. »Wir packen seine Hände ein, um genau zu untersuchen, was unter seinen Nägeln ist. Wenn Ihre Experten die Bank auf Fingerabdrücke untersucht haben, oder was immer Sie veranlassen wollen, setzen Sie oder Ihr Partner sich mal dort drüben hin. Überlegen Sie, wie Sie einen Eispickel unter der Banklehne durchschieben können, etwa an der Stelle, an dieser arme Kerl ihn abgekriegt hat.«
»Ich glaube Ihnen jetzt schon, Walt«, sagte sie.
Cameron sagte: »Sie denken, jemand schlich sich von hinten an ihn heran, führte die Tat aus, und er ist dann aufgestanden, hierher getaumelt und abgekratzt?«
»Wir wollen lieber sagen, er ist verschieden. Aber ja, ich wette, jemand wusste genau, wo man einen Eispickel ansetzen muss. Hat sich vielleicht sogar neben ihn gekniet, um einen guten Winkel und den nötigen Schwung zu haben, und vollführte dann einen irischen Volkstanz mit dem Eispickel, riss ihn im Körper herauf und herunter und drehte ihn herum, so dass er alles durchstach und zerfetzte, auch seine Lungen und sein Herz, bevor die Klinge abbrach. Das Opfer schaffte es, auf die Füße zu kommen. Und dann, wie Sie so schön sagten, kratzte er ab.«
Kate wurde übel. Cameron, eine Spur blasser als sonst, fragte leise: »Könnte eine Frau das ebenso gut tun wie ein Mann?«
»Sicher. Man braucht überhaupt keine Kraft, um mit einem dünnen, spitzen Instrument in den menschlichen Körper einzudringen, solange man nicht durch die Knochen bohrt.«
»Sieht mir nach einem Profi aus«, murmelte Cameron zu niemand Bestimmtem. »Als ob es ein Auftragsmord ist.«
»Unser Opa hier war bei der Mafia, was?«, spottete Everson.
Cameron zuckte die Schultern, seine Lippen zusammengepresst. Everson sagte zu Kate: »Seine Temperatur ist messerscharf normal, entschuldigen Sie den Ausdruck, Todeszeitpunkt also innerhalb der standardmäßigen drei Stunden. Aber das wissen Sie ja schon – unmöglich, dass er hier mehr als ein paar Minuten liegen könnte, ohne dass einer dieser braven Bürger ihn finden würde.«
Kate nickte und schrieb die offizielle Angabe der Todeszeit pflichtgemäß in ihr Notizbuch.
»Scheußlich, aber schnell«, sagte Everson. »Ein schönerer Tod als durch ein Melanom«, fügte er hinzu und nahm sein Aufnahmegerät. »Also, wenn ihr beiden Schnüffler mich jetzt entschuldigen würdet, ich muss arbeiten.«
»Walt, würden Sie nachsehen, ob er einen Ausweis dabeihat?«
Er sah sie an und tat überrascht. »Sie wollen mir weismachen, Sie haben tatsächlich keinen genaueren Blick auf ihn geworfen, bevor ich hier war? Was ist bloß aus den Kriminalbeamten geworden?« Er griff nach dem Gürtel des Toten und hob die rechte Seite seines Körpers leicht an, tastete die vordere Tasche ab, griff dann hinein und zog eine dünne, schäbige Brieftasche heraus. Er stand auf und gab sie Kate.
Der Führerschein steckte hinter einer gelben Plastikfolie. »Herman Layton«, las sie Cameron vor. »Geburtsdatum elfter elfter einundzwanzig.« Das Opfer war fünf Monate jünger, als ihr Vater jetzt wäre, wenn er noch lebte. »Eine Adresse in der Tilden Avenue, West Los Angeles.« Während sie laut vorlas, schrieb er mit.
»Da komme ich gerade her«, sagte Everson. »Nicht genau die Straße, aber ganz in der Nähe, Veteran Avenue. Drüben bei der Universität von Los Angeles. Hätte ich das gewusst, hätte ich für Sie die Angehörigen benachrichtigen können.«
»Ich wünschte, das hätten Sie«, sagte Kate. Verwandte waren im Schockzustand meist eher unvorsichtig und freigiebig mit Informationen, daher erfuhr sie oft Wesentliches dabei, aber diesmal grauste ihr vor der Benachrichtigung der nächsten Angehörigen. Sie inspizierte das Scheinfach der Brieftasche und zählte drei Zwanziger und vier Eindollarscheine. Zumindest war es kein Raub, es sei denn, der Angreifer war gestört worden. Dem Führerschein gegenüber steckte das vergilbte Foto einer jungen, blonden, aristokratisch aussehenden Frau in der schwarzen Robe und dem Doktorhut einer College-Absolventin.
»Wir beschlagnahmen das Foto«, sagte sie zu Everson.
Er nickte, notierte es sich, und sie nahm das Bild aus der Brieftasche und schob es in die Brusttasche ihres Blazers. Im selben Fach der Brieftasche steckte eine einzelne weiße Karte. Unter der gedruckten Zeile ›Im Notfall zu benachrichtigen‹ stand handgeschrieben: Dr. Peri Layton, mit zwei Telefonnummern. Eine davon gehörte zur Universität von L.A., die andere zu einer Adresse am Ophir Drive, ebenfalls in West Los Angeles.
Everson, der eine Plastiktüte für die Brieftasche hervorholte, fragte: »Wann haben Sie zuletzt so eine ›Zu benachrichtigen‹-Karte in einer Brieftasche gesehen?«
»Kann mich nicht erinnern«, sagte Kate. »Vielleicht noch nie.«
»Sehr aufmerksam von ihm.«
»Peri Layton«, sinnierte Everson und studierte die Karte über ihre Schulter hinweg. »Der Name kommt mir bekannt vor.«
»Ja, mir auch«, sagte Cameron. »Ganz bestimmt.«
Kate sah beide an.
»Verdammt, es fällt mir nicht ein«, sagte Cameron.
Everson zuckte mit den Schultern. »Mir auch nicht. Ich gehe alle Bekannten durch, aber keiner schreit ›hier‹.« Er hockte sich wieder neben die Leiche ins Gras. »Gehen Sie und fangen Sie den, der diesen armen Hurensohn allegemacht hat«, sagte er zum Abschied.
Bougainvillea, ganz in Purpur, Orange und Weiß, erhob sich weit über die Dächer der Tilden Avenue, einer Straße südlich des Sunset Boulevard mit üppig angelegten Gärten, überquellend von Rosen und Fleißigen Lieschen. Sie lag nördlich der Montana Avenue, wo Kate früher gewohnt hatte, zwischen der Bentley und der Veteran Avenue, die an dem ausgedehnten Veteranenfriedhof mit seinen weißen Kreuzen und stillen grünen Flächen entlangführte. Die Adresse auf Herman Laytons Führerschein gehörte zu einem kleinen Gästehaus hinter einem weißen Gebäude im Ranch-Stil mit einem Dach aus rohen, übergroßen, dunkelbraunen Schindeln. Als Kate und Cameron auf einen bemoosten Plattenweg zugingen, der sich um gut geschnittene Büsche schlängelte, bewegte sich im vorderen Haus ein Vorhang.
Jedes einzelne Fenster des hinteren Häuschens, ebenfalls weiß und mit einem Dach im gleichen Stil, war zusätzlich zu den Fensterläden mit Gittern verrammelt. Kate klopfte mehrmals, obgleich ihr Instinkt ihr sagte, dass sie keine Antwort erhalten würde.
Sie und Cameron gingen auf demselben Weg zurück zum Haupthaus. Sie klingelte. Aufgrund der verräterischen Bewegung des Vorhangs klingelte Kate hartnäckig.
Schließlich befahl eine missmutige männliche Stimme mit starkem jiddischem Akzent: »Gehen Sie, ich hab schon eine Religion. An Ihrer bin ich nicht interessiert.«
»Polizei«, rief Kate zurück. »Bitte schauen Sie durch Ihren Spion, Sir, ich zeige Ihnen meine Dienstmarke.«
In das geräuschvolle Aufschließen einer ganzen Reihe von Schlössern murmelte Cameron: »Das ist das erste Mal, dass ich für einen Zeugen Jehovas gehalten wurde.«
Ein bärtiges Gespenst von einem Mann schob die Tür auf, Hosenträger liefen von einer ausgebeulten Hose über seine gekrümmten Schultern. Kate stellte sich und Cameron vor; der Mann nickte, antwortete aber nicht. Sie fragte höflich: »Dürfen wir hereinkommen, Sir?«
Der Mann schüttelte energisch ablehnend den Kopf. »Warum kommt die Polizei zu meinem Haus?«
»Der Mann in dem Häuschen hinter Ihrem –«
Wieder schüttelte der Mann heftig den Kopf. »Ich weiß nichts über meinen Mieter.«