Treffpunkt Washington - Katherine V. Forrest - E-Book

Treffpunkt Washington E-Book

Katherine V. Forrest

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Beschreibung

Es bedarf schon eines Tricks, um Kommissarin Delafield von L.A. zu einem Vietnam-Veteranentreffen nach Washington D.C. zu locken. Nichts scheut Kate mehr als die Konfrontation mit ihrer Vergangenheit. Und ihre bösen Ahnungen bewahrheiten sich – auf ungeahnte Weise. Kaum haben Kate und Lebensgefährtin Aimee ihr Hotelzimmer bezogen, fallen Schüsse. Doch das Wochenende hält noch einen weiteren Alptraum bereit. Meilen von ihrem Zuständigkeitsbereich entfernt, muss Kate ermitteln: Wer von ihren alten KameradInnen wandelt als lebende Zeitbombe auf Amerikas Straßen?

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Katherine V. Forrest

Treffpunkt Washington

Kate Delafields 5. Fall

Aus dem Amerikanischen von

Anke Grube und Silvia Mayer

Ariadne Krimi 1107

Ariadne Krimis

Herausgegeben von Else Laudan

www.ariadnekrimis.de

Romane mit Detective Kate Delafield:

1. Fall: Amateure (Ariadne Krimi 1015)

2. Fall: Die Tote hinter der Nightwood Bar (Ariadne Krimi 1007)

3. Fall: Beverly Malibu (Ariadne Krimi 1029)

4. Fall: Tradition (Ariadne Krimi 1037)

5. Fall: Treffpunkt Washington (Ariadne Krimi 1107)

6. Fall: Kreuzfeuer (Ariadne Krimi 1113)

7. Fall: Knochenjob (Ariadne Krimi 1125)

8. Fall: Vollrausch (Ariadne Krimi 1155)

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Liberty Square

© 1996 by Katherine V. Forrest

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 1998

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-86754-890-8

Für Jo

Dank an ›Louise‹ vom United States Marine Corps für technische Einzelheiten bezüglich Kate Delafields Zeit im Corps und in Vietnam. Es ist eine Schande für diese Nation, dass ich die wahre Identität einer amerikanischen Staatsbürgerin nicht enthüllen darf, die zwanzig Jahre ihres Lebens damit verbracht hat, ihrem Land zu dienen.

An Jo Hercus, Komplizin und Lebenspartnerin, für kreative Überlebenstipps und emotionale Unterstützung.

An Montserrat Fontes, hervorragende Romanautorin und wunderbare Freundin, deren leidenschaftliches Engagement für Aimee und die Ganzheit Kates geholfen hat, diesem Roman den richtigen Schwung zu verleihen.

An Cath Walker für ihr entscheidendes Feedback, als es wirklich darauf ankam.

An Diane Bennison von Madwoman Press dafür, dass sie mich zu ›Louise‹ geführt hat.

An meinen Schriftsteller-Bruder Michael Nava.

An den unschätzbaren Richard LaBonte.

An Mitch Grobeson für das, was er für uns alle getan hat.

An Natalee Rosenstein für ausgezeichnete Lektoratsvorschläge.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Dank

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 1

Kate Delafield wartete ungeduldig an der Kreuzung Pennsylvania Avenue und Neunte Straße und suchte den vorbeirauschenden Stoßverkehr nach einem rotbraunen Chevy Cavalier ab. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr: 17:15 Uhr. Fünfzehn Minuten später als verabredet, und Aimee würde kein bisschen sauer sein – was Kates Gereiztheit nur noch verstärkte.

Sie wünschte, sie könnte einen der Taxifahrer anhalten, die sie aus den vorbeifahrenden Wagen beäugten, wünschte, sie hätte nicht auf einem Mietwagen bestanden. Sie wollte den Chevy Cavalier, und zwar sofort, wollte den Schutzpanzer eines Autos um sich herum. Sie fühlte sich ausgeliefert, unsicher und aus dem Gleichgewicht an diesem Novembertag des Jahres 1994 in Washington D.C. Unauslöschliche Eindrücke aus Bilderbüchern ihrer Kindheit und schemenhafte Erinnerungen an Besuche während ihrer Ausbildung, die sie Jahrzehnte zuvor in der nahe gelegenen Marine Corps-Basis absolviert hatte, kollidierten mit den verwirrenden Veränderungen, die dieser Ort erfahren hatte; dem vertrauten Patchwork einer Stadt war ein Chaos neuer Flicken hinzugefügt worden.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erhoben sich die griechischen Granitsäulen des Justizministeriums, in geringer Entfernung zu beiden Seiten die heiligsten Wahrzeichen dieser Stadt: das Weiße Haus und die alles überragende Kuppel des Capitols. Doch hinter ihr lag der Lego-Bau des FBI-Gebäudes, aus dem sie gerade kam – einer der neuen Flicken in der Patchworkdecke. Ebenso neu wie das Thema des Seminars, an dem sie teilgenommen hatte: Verhaltensprofile von Psychopathen, die Amerikas Städte heimsuchten. Allein in dieser Stadt hatte die Zahl der ›normalen‹ Morde die Kapazitäten der Metropolitan Police Force bei weitem überholt. Und obwohl jede große Stadt Gefahren birgt, war sie mit denen in den Straßen ihrer Stadt Los Angeles zumindest vertraut.

Nach den morgendlichen Regenschauern war der Wind schneidend kalt und fegte ein paar verlorene goldene Blätter über die Bordsteinkante. Unter ihrem Regenmantel zog Kate schaudernd die Schultern zusammen. Ihr Blick streifte die jämmerlichen Überreste der herbstlichen Fülle eines Ahornbaums, der an eine alte Dame mit Rougeflecken auf den Wangen erinnerte. Sie dachte an die Herbste ihrer Jugend in Michigan, das schimmernde Gold und Rot der Ahornbäume, Eichen und Ulmen, widerstrebend fallen gelassen, um reifüberzogene Äste freizulegen, die vor dem Hintergrund abgeernteter, brachliegender Felder und reifbedeckter roter Scheunen wie mit Klöppelspitze verziert in die grauen Winterwolken ragten … Sie schaute nach oben, wo sich Wolken zusammenballten und einen milchigen Himmel verdunkelten. Wo blieb Aimee bloß?

Ein Polizeiauto fuhr langsam vorbei. Kate registrierte seine Insassen, eine afroamerikanische Frau und einen weißen Mann, und betrachtete dann den Wagen selbst – weiß, mit einer rotblauweißen Lichtleiste auf dem Dach, einem breiten aquamarinfarbenen Streifen an der Seite und einem goldenen Wappen an der Tür. Die Anwesenheit einer Polizeistreife in einer Stadt, in der es von Polizisten, die für die Sicherheit einiger der berühmtesten Staatsmänner der Welt zuständig sind, nur so wimmelt, vermittelte ihr keineswegs ein Gefühl von Sicherheit oder Geborgenheit – ebenso wenig wie die Tatsache, vor dem Gebäude zu stehen, das die renommierteste Polizeiorganisation der Welt beherbergt. Washington D.C. war im Niedergang begriffen, die Behörden steckten in einer Finanzkrise, kurz vor dem Kollaps. Trotz all der massigen Bauwerke und Marmordenkmäler schien ihr diese majestätische Stadt genauso gefährlich wie die tödlichsten Gassen von Los Angeles.

Aus einem neuen Schwung Wagen, die auf dem breiten Boulevard grünes Licht bekommen hatten, scherte endlich der rotbraune Chevy Cavalier aus und hielt am Bordstein.

»Du musstest hoffentlich nicht zu viele Runden drehen«, sagte Kate, warf Schultertasche und Aktenkoffer auf den Rücksitz und zerrte den Sicherheitsgurt zurecht. Sie strich mit der Hand über Aimees Oberschenkel und ließ sie dort liegen. »Entschuldige, ich bin spät dran. Das Sweatshirt gefällt mir.« Die Farbe war komisch – verbranntes Orange – und das Vereinslogo nicht leicht zu erkennen, aber es hing verführerisch von Aimees schmalen Schultern, die Ärmel bis zu den Ellbogen aufgerollt. »Schönen Tag gehabt?«

Aimee warf Kate ein schnelles Grinsen zu und drückte deren Hand auf ihrem Schenkel. »Wir waren im Raumfahrtmuseum. Ich brauche hier mindestens noch zwei Wochen!« Mit einer gekonnten Kopfbewegung warf Aimee eine dunkle Locke zurück, die ihr über die Augen gefallen war. »Alles ist besser, als einen Tag an dem Ort zu verbringen, der nach dem Arschloch des Jahrhunderts benannt ist.«

»Hochhacken-Hoover«, zitierte Kate die vernichtende Aussage ihres Freundes Joe D’Amico bezüglich des Doppellebens von J. Edgar Hoover, dem ersten Direktor des FBI. »Was wussten wir denn schon.«

»Sein Gebäude sieht genauso aus wie er – vierschrötig, hässlich, unheimlich.«

Kate murmelte Zustimmung. Durch die Hochsicherheitsschranken des FBI-Gebäudes zu kommen, erforderte Scan und Registrierung, eine kodierte Ausweis-Plastikkarte, dann ging man durch ein Drehkreuz und eine Sperre, die mit der Karte geöffnet werden konnte – und schon war der Videokamera-überwachte Zutritt zu einem Labyrinth erschreckend gleichförmiger Korridore offen.

Aimee packte das Steuer fester. »Der Mann hat so viele Leben vergiftet …«

Kate nickte. Worte waren überflüssig. Sie und Aimee hatten sich während einer polizeilichen Untersuchung kennengelernt, die ein lebendiger Beweis für diese immer noch fortdauernde schleichende Vergiftung war.

Aimee fragte: »Und, wie lautet die offizielle Parteilinie? Geniert sich das Büro wenigstens?«

»In deren Augen ist er nur ein verschrobener, exzentrischer Urahne.«

Dass sich Hoovers Erben kaum von ihrem historischen Vorbild unterschieden, erwähnte sie nicht – die gleichen, in dunklen Anzügen steckenden Körper und dasselbe puppenhafte Gehabe; die Männer und Frauen – verschwindend wenigen Frauen – waren immer noch aus dem gleichen Guss.

Aimee bog in die Massachusetts Avenue ein. Kates Blick wanderte über die vielgestaltige Architektur dieser Straße, berühmt als Sitz zahlreicher ausländischer Konsulate, gesäumt von Häusern, deren Baustil von modern bis zu weiß-marmornem Renaissancestil und von schlichtem Ziegelbau bis zu reich verzierten viktorianischen Gemäuern reichte. Was für ein Unterschied zu dem Stuck und den Pastellfarben ihres geliebten Los Angeles, den roten spanischen Ziegeldächern, der verschwenderischen, immergrünen Vegetation und den Graffiti, die sich ihren Weg durch die ganze sonnenüberflutete Stadt bahnten und auch die wohlhabendsten Viertel so wenig verschonten wie Kudzu-Ranken die Südstaaten.

»Wie war die Sitzung heute?«

Kate zuckte die Schultern. »Anderer Ort, gleiches Thema. Wurde anschließend von einer Schwester aus Chicago gekrallt, die wissen wollte, ob im Los Angeles Police Department weniger Homophobie herrscht, seit Daryl Gates weg ist und Mitch Grobeson seinen Diskriminierungsprozess gewonnen hat.«

»Was hast du geantwortet?«

»Dass Chief Williams erst noch beweisen muss, ob er Rückgrat hat, und dass Mitch Grobeson in der Hollywood Division immer noch versucht, das Rote Meer zu teilen.«

Aimee kicherte. »Ist Chicago etwa besser?«

»Ach wo.«

Die Windschutzscheibe beschlug. Mit einem schnellen An- und Ausschalten der Scheibenwischer machte Aimee die Sicht wieder frei. »Also, was hast du heute gelernt?«

»Noch mehr Trends, noch mehr Statistiken. Haufenweise Zahlen.« Aimees Misstrauen gegenüber Polizeiarbeit war schwer genug zu ertragen, auch ohne Einzelheiten über das Seminar zu verraten, in dem es um Ritualfolter und ekelhafte Verstümmelungspraktiken ging. Wieder ließ Kate ihre Hand über Aimees Schenkel wandern. »Was steht heute Abend an?«

Aimee stellte die Scheibenwischer an und aus. »Wenn’s nicht gerade regnet, Abendessen in dem indischen Lokal unten an der Straße, ein Spaziergang um den Dupont Circle. Wie klingt das?«

»Toll.« Sie konnte Aimees Begeisterung für die Stadt nachvollziehen – ihr war es einst genauso ergangen –, aber sie war nicht scharf auf eine weitere Sightseeing-Tour mit einer unersättlichen Aimee. Das bevorstehende Treffen würde genug Gefühle aus ihr herauszerren, auch ohne tiefere Griffe in die Schatzkiste ihrer Erinnerungen.

Aimee sagte: »Morgen ist also der große Tag.«

Kates Laune sank sofort auf den Nullpunkt. Sie schwieg. Wenigstens hatte Aimee bislang keinen Besuch der Gedenkwand vorgeschlagen, dachte sie ungnädig.

Das unscheinbare Schild des im Kolonialstil erbauten Inn on Liberty kam in Sicht, und Aimee bog lächelnd in den überdachten Eingang zum Parkhaus an der Rückseite des Hotels ein. »Endlich lerne ich ein Stück deiner Vergangenheit kennen.«

»Nicht nur du, ich auch«, sagte Kate und versuchte, ihre Gelassenheit wiederzugewinnen.

Beim Aussteigen sah sie sich Aimees neues Sweatshirt genauer an und enträtselte das Logo: ein Basketball auf einer Art Schussbahn durch ein Netz. Die Washington Bullets. Pistolenkugeln, gütiger Himmel. Dieses Leichenschauhaus von Stadt nannte auch noch eine ihrer Sportmannschaften Die Kugeln.

Mit ihrem magnetischen Zimmerschlüssel öffnete Aimee die Doppeltüren, die vom Parkhaus in eine kleine, schlichte Lobby führten, und steckte denselben Schlüssel in ein anderes Schloss, um den Fahrstuhl zu holen. Kate knöpfte ihren Regenmantel auf und betrachtete sich in dem Spiegel an der Rückwand des Fahrstuhls, um griesgrämig zu konstatieren, dass ihre Hose und Jacke durch das stundenlange Herumsitzen hoffnungslos zerknittert waren. Vielleicht waren zum Abendessen Jeans und eine Jacke elegant genug.

Die Fahrstuhltür öffnete sich im zweiten Stock. Ein großer, schlaksiger Mann in ausgewaschenen Jeans und Jeansjacke schritt über den Gang auf sie zu. Kate erkannte ihn und grüßte kühl: »Noch mal hallo, Woody.«

Sie hatten sich am Morgen schon kurz in der Lobby begrüßt. Ihre frühere Abneigung gegen ihn war unvermindert zurückgekehrt, und sie vermutete, dass es ihm ebenso ging. »Aimee, das ist Woody Hampton, einer der Männer, mit denen ich stationiert war in –«

»Es ist mir ein Vergnügen, schöne Frau«, unterbrach Woody, »wirklich ein Vergnügen.« Er schüttelte Aimees Hand wie einen Pumpenschwengel.

»Nett, Sie kennenzulernen«, sagte Aimee und befreite ihre Hand. »Wir sehen uns auf der Party.« Sie ging auf dem mit marineblauem Teppich ausgelegten Korridor weiter.

Kate folgte ihr lächelnd und überlegte, wie oft sie sich schon gewünscht hatte, Aimee wegen der Aufmerksamkeit, die sie erregte, eine Papiertüte über den Kopf zu stülpen. Jetzt nicht. Aimee hatte sie beide in diese Lage manövriert, folglich geschah Woody Hampton ihr recht und überhaupt alles, was dieses Wochenende passieren würde.

Kate legte den Sicherheitsriegel der Zimmertür vor, durchquerte den Vorraum und warf Aktenkoffer und Schultertasche aufs Bett. Dann schälte sie sich aus ihrem Regenmantel, ging zurück zur Garderobe und hängte ihn auf. Aimee streckte die Arme nach ihr aus. »Hallo, Brummbär«, sagte sie und schmiegte sich an ihren Hals.

Kate seufzte, ihr Widerstand schmolz dahin. »Hallo, Liebling.« Sie nahm sie in die Arme, küsste ihre Stirn und sog den Duft ihres Haares ein.

KRACH!

Gleichzeitig zersplitterndes Glas. Ihr Hotelzimmerfenster.

Aimee riss sich los. »Was –«

»Runter!«

Der Befehl war nur ein Reflex; Kate hatte Aimee längst auf den Fußboden gezogen. Sie bedeckte Aimee mit ihrem Körper und fuhr zusammen, als sie dreimal in schneller Folge Glas splittern hörte.

Aimee zappelte unter ihr. »Was zum Teufel –«

»Stillhalten«, zischte Kate.

Nach mehreren langen Augenblicken der Stille hörte Kate eine Tür sich öffnen und eine tiefe Männerstimme auf dem Gang. Vorsichtig rollte sich Kate von Aimee in Richtung Tür ab.

»Kriechen, Aimee. Ins Badezimmer.« Das Bad war direkt neben ihnen.

Aimee kroch hinein, stellte sich auf die Füße und steckte den Kopf in den Flur. »Scheiße! Jemand hat das Fenster weggeschossen!«

»Kopf zurück!« War sie von allen guten Geistern verlassen? »Um Gottes willen, Aimee!«

Kate robbte zum Bett, zu ihrer Tasche, zu ihrer Pistole.

Hämmern an der Tür. »Da drin alles okay?« Erneutes Hämmern.

Aimee rannte aus dem Bad und machte sich am Türriegel zu schaffen.

»Aimee!«, brüllte Kate. Sie hechtete nach ihrer Tasche, zog den Revolver heraus und wirbelte, die Waffe in beiden Händen, geduckt zur Tür herum, als Aimee sie aufriss.

»He!« Ein groß gewachsener Afroamerikaner im Trainingsanzug stand da und starrte mit aufgerissenen Augen in die Mündung der 38er. »Lieber Gott im Himmel.« Seine Stimme war ein tiefer Bass. Er hob die Hände, Innenflächen nach vorn, und seine nackte Brust glänzte im Flurlicht. »He.«

Kate senkte den Revolver und zielte auf seine Kniescheibe; die Waffe immer noch mit beiden Händen gepackt, bewegte sie sich zur Tür. »Aimee«, brüllte sie im Kommandoton, »ruf 900 an. Sag, im Hotel ballert jemand rum.«

Aimee stand mit offenem Mund vor den Löchern in der Tür und in den Fenstern. »Die Tür … die Kugeln gingen geradewegs durch die Tür und durchs Fenster wieder raus –«

»Schnell.«

Aimee hastete zum Telefon.

Kate spähte erst nach links und schob sich dann in den Korridor. Sie wusste, dass sich rechts von ihr eine Treppe befand; ihr Zimmer war das letzte auf dem Gang. Inzwischen waren mehrere mehr oder weniger bekleidete Leute aus ihren Zimmern gekommen, aber niemand aus der Veteranengruppe oder zumindest kein Kate bekanntes Gesicht. Sobald sie Kate und ihre Pistole sahen, verschwanden sie in ihren Zimmern und knallten die Türen zu.

»Was haben Sie gesehen?«, fragte sie den Afroamerikaner.

»Nichts. Niemanden.«

»Gar nichts?«

»Keine Menschenseele. Ich wohne direkt gegenüber, höre die Schüsse, komme aus meinem Zimmer, sehe die Einschusslöcher in Ihrer Tür –«

Sie hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, und suchte im Gehen den Flur nach Schmauchspuren ab, inspizierte die blauweiß gesprenkelte Tapete, die dunkelblauen Zimmertüren, die Decke.

Sie drehte sich zu dem Afroamerikaner um. »Wie heißen Sie?«

Mit einem weiteren Blick auf ihren Revolver antwortete er: »John Stafford.«

»Mr. Stafford, Sie sind ein mutiger Mann«, sagte Kate und schob die Pistole in ihren Hosenbund. Ein mutiger Mann, dachte sie bei sich, aber ein dummer.

Mit seiner tiefen Stimme sagte er: »Da, wo ich herkomme, passiert so etwas nicht.«

»Und wo ist das?«

»Oklahoma City.«

Sie streckte die Hand aus. »Kate Delafield. Polizistin. Aus Los Angeles.«

Er schien erleichtert. Und überrascht. Während er ihr die Hand schüttelte, forschte er in ihrem Gesicht. »Was ist los? Ist jemand in Washington hinter Ihnen her?« Er brachte eine Art Grinsen zustande. »Bin ich in eine Filmaufnahme geraten?«

»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte sie mit einem gezwungenen Lächeln und drehte sich um, um schnell den Schaden an ihrer Zimmertür zu inspizieren. Als sie Sirenen hörte – mindestens vier oder fünf, schätzte sie –, ging sie den Gang hinunter bis zu dem beleuchteten AUSGANG-Zeichen und der Tür zum Treppenhaus. Die Tür hatte zum Öffnen und Schließen eine Art Riegel, und Kate duckte sich in größtmöglicher Entfernung vom Türrahmen und zog den Riegel vorsichtig zurück. Den Revolver wieder in der Hand, stieß sie die Tür mit dem Knie auf. Das Treppenhaus sah leer aus. Sie ließ die Tür wieder zufallen und steckte den Revolver zurück in den Hosenbund.

»Ist da runter gerannt, was«, äußerte John Stafford.

Kate nickte. »Wahrscheinlich. Oder in eins der Zimmer auf dem Gang.«

»Nicht anzunehmen. Hatte nicht genug Zeit, es sei denn, er wohnt im Zimmer gleich neben Ihnen.«

Dort war Melanie Shaw untergebracht. Sie hatte den Tag zusammen mit Aimee verbracht. Entweder war Melanie gerade nicht da oder sie war trotz des Lärms nicht herausgekommen. Während Kate nachdenklich die Zimmertür betrachtete, rief Aimee: »Die Polizei ist gerade vorgefahren.« Sie kam aus dem Hotelzimmer. »Ich hab vergessen, ihnen zu sagen, dass du Polizistin bist. Sie werden nicht begeistert sein, wenn sie die Pistole sehen.«

Scheiße, dachte Kate. »Schon okay«, sagte sie. Sie konnte das gurgelnde Geräusch des Fahrstuhls hören. »Ihr beide geht jetzt zurück in eure Zimmer.«

Kate wandte sich mit ausgestreckten Armen dem Lift zu und hoffte, die D.C. Metropolitan Cops waren nicht allzu schießwütig.

Die Fahrstuhltüren öffneten sich und ein Mann und eine Frau in dunkelblauen Uniformen und hellblauen Hemden stiegen aus. Beide Polizisten waren Afroamerikaner, beide hatten die Hand am Abzug einer ungesicherten Waffe. Sie warfen sich sofort mit dem Rücken gegen die Wand und zogen ihre Revolver, als Kate mit lauter, klarer Stimme rief: »Polizei! LAPD, Wilshire Division, Morddezernat.«

Die Waffe leicht nach unten gerichtet, schob sich die Frau langsam und vorsichtig vor, wobei sie dem Mann Deckung gab. Als die Beamten auf sie zukamen, zeigte Kate ihnen ihr leeren Handflächen. Dann sagte sie: »Wenn Sie mir einen Augenblick Zeit geben, hole ich meine Ausweispapiere aus dem Hotelzimmer.«

Die Polizistin ging auf Kate zu und entwand ihr mit schnellem Griff die Pistole aus dem Hosenbund. »Tun Sie das«, erwiderte sie.

Kapitel 2

Die Polizistin nahm Kates Ausweis und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen erst das Foto, dann Kate.

Die Tür zum Treppenhaus wurde aufgestoßen, und zwei Polizisten mit gezogener Waffe spähten in den Flur. »Hier alles unter Kontrolle«, sagte die Polizistin zu ihnen.

»Wir durchsuchen jedes Stockwerk, Jill«, sagte einer der Beamten und zog sich ins Treppenhaus zurück.

Die Frau gab Kate den Revolver zusammen mit ihrem Ausweis zurück und steckte ihre eigene Pistole in den Schulterhalfter.

Kate verstaute die Waffe wieder in ihrem Hosenbund. Die untadelige Erscheinung und die Ausstrahlung dieser jungen Frau gefielen ihr, und ganz besonders ihre gute Menschenkenntnis.

»Was geht hier vor?«, fragte der Beamte und schob seinen Revolver in den Halfter.

»Wir – Aimee und ich – waren den ganzen Tag unterwegs«, sagte Kate. »Kaum waren wir eine Minute zurück, hörte ich den ersten Schuss und splitterndes Glas. Drei weitere Schüsse, alle ins Zimmer. Vielleicht zehn Sekunden später klopft der Typ von gegenüber an die Tür. Ich geh raus in den Flur. Sehe nur ihn und ein paar mutmaßlich unbeteiligte Zuschauer. Er behauptet, er habe niemanden im Flur gesehen, als er rauskam.«

»Schüsse aus anderen Teilen des Hotels gehört?«

»Nein.«

»Von der Straße?«

»Nein.«

»Ich bin Jill Manners, Kate«, sagte die Polizistin unvermittelt. »Mein Kollege heißt Rudy Doyle.«

Ehe Kate etwas erwidern konnte, ging Jill Manners schon den Gang hinunter. An der Tür zu Kates Zimmer bedeutete sie Kate und Rudy Doyle mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen. »Ist Ihnen an diesen Einschusslöchern was Besonderes aufgefallen?«, fragte sie.

»Groß«, sagte Rudy. »Großes Kaliber.«

»Sie sind weit oben«, sagte Kate.

Jill hob ihre Hand, bis sie auf gleicher Höhe mit den Einschusslöchern lag – ein gutes Stück oberhalb ihrer Köpfe. »Ja. Hoch.«

»Also hat der Kerl nach oben gezielt«, sagte Rudy und hakte die Daumen in seinen Pistolengurt.

»Schau hin, Rudy, die Tür hat einen Hohlraum. Der Schaden ist erheblich, aber man kann immer noch sehen, dass sich Eintritts- und Austrittsloch der Kugel auf gleicher Höhe befinden. Jemand hat eine Pistole hoch über den Kopf gehalten. Diese Schüsse hätten keinen Menschen treffen können, außer der wäre über zwei Meter groß.«

Gefolgt von Kate und Rudy, ging Jill ins Zimmer, durch den Vorraum und geradewegs auf das Fenster zu. Aimee, die nach hinten auf die Ellbogen gelehnt auf dem Bett saß, schaute interessiert zu. »Aimee Grant«, stellte Kate vor.

»Nur ein paar Minuten, Ms. Grant, dann kommen wir zu Ihnen«, sagte Jill höflich.

Aimee warf Kate ein schwaches Grinsen zu. »Ich glaube, die Vorgehensweise ist mir vertraut.«

Nicht vertraut genug, dachte Kate wütend, als ihr Aimees unüberlegtes Verhalten einfiel, nachdem die Schüsse gefallen waren.

Jill untersuchte das große Loch und die Sprünge im Glas ringsherum. Kate bemerkte, dass Rudy Doyle, die Hände auf die ausladenden Hüften gestützt, Aimee begutachtete. Mit einem Nicken zu Aimee führte Jill die Gruppe aus dem Zimmer.

John Stafford stand im Gang. »Dieser Herr ist John Stafford«, stellte Kate ihn vor.

Jill Manners sagte: »Würden Sie wohl so freundlich sein, auf Ihr Zimmer zurückzugehen, Mr. Stafford, wir sprechen uns gleich.«

Stafford zog sich langsam in sein Zimmer zurück, wobei er Jill Manners mit einem anerkennenden Lächeln von Kopf bis Fuß musterte, bis sich seine Tür schloss.

Kate und die beiden Polizisten gingen den Gang hinunter, weg von den beiden Hotelzimmern und außer Hörweite von Stafford oder Aimee. Jill Manners zog einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus ihrer hinteren Hosentasche. »Sagen Sie bitte Jill und Rudy zu uns«, sagte Jill, während sie eifrig Notizen machte.

Rudy nickte zustimmend. Kate entspannte sich ein wenig; sie wusste diese Geste zu schätzen, mit der sie – wenn auch eingeschränkt – als Kollegin akzeptiert wurde.

»Irgendwelche Vermutungen, Kate?«, frage Rudy und kratzte sich seinen bleistiftdünn rasierten Schnurrbart.

Kate zuckte die Schultern. Ein zielloser Gewaltakt, nahm sie an, wie er jeden überall in diesem Land treffen konnte. Aber es war nicht ihre Sache, das diesen D.C. Cops zu erklären.

»Jemand sauer auf Sie?«, schlug Rudy vor. »Jemand, den Sie hinter Gitter gebracht haben?«

»Warum ein Flugzeug nach Washington nehmen und durch eine Hotelzimmertür schießen?« Sie beantwortete ihre Frage selbst: Vielleicht wollte jemand vorher ein bisschen mit ihr spielen. Hier war es einfacher, außerhalb ihres eigenen Territoriums, dazu der Überraschungseffekt … Nein, rief sie sich zur Ordnung, das war verrückt, ihre Phantasie ging mit ihr durch.

»Was machen Sie in D.C.?«, fragte Jill mit gezücktem Stift.

»FBI-Seminar über Persönlichkeitsprofile von Kriminellen.« Einige dieser Profile hatten ihre Vorstellungskraft in der Tat unerhört angeregt. »Außerdem ein Kriegsveteranentreffen.«

»Golfkrieg?«

»Vielen Dank«, sagte Kate lächelnd. »Vietnam.«

»Ehrlich? Mein Vater war dort. Mit wem?«

»Zweites Bataillon, Erste Marines.«

»Mein Dad war Army«, sagte Jill Manners. »Chu Lai.«

»Da Nang«, sagte Kate. »Welches Jahr?«

»Achtundsechzig.«

Kate nickte. »Ich auch, und ein bisschen von neunundsechzig. Die schlimmste Zeit.«

»Ja. Man hat ihm ein Bein weggeschossen.«

»Ich kam gleich nach Tet hin. Ihr Vater hat geholfen, es sicherer zu machen. Wo –«

»Spielt einer von den Ex-Marines noch mit Pistolen?«, unterbrach Rudy ungeduldig.

Rüder Rudy, dachte Kate. »Ich habe seit über zwei Jahrzehnten keinen von denen gesehen«, sagte sie. Und das hätte sie auch diesmal nicht, wäre da nicht Aimee gewesen.

»Dann ist das hier eine Art Witz, stimmt’s? Ein Kriegskamerad, der einen Willkommens-Salut schießt?«, wandte sich Rudy an Kate.

»Toller Witz«, presste Kate hervor. Sie mochte Rudy Doyle nicht und erst recht nicht, was er eben von sich gegeben hatte. »Niemand, den ich da drüben kennengelernt habe, würde so etwas tun.« Mehr als haarscharf an der Wahrheit vorbei. Damals hätten sie. Aber heute doch nicht …

»Sie erzählen mir, dass dieses Hotel von Ex-Marines wimmelt, da hat doch der eine oder andere bestimmt ’ne Feuerwaffe einstecken –«

»Vielleicht ein Durchgeknallter, der auf Glasbruch steht«, sagte Jill. »Gönnt sich mal was.«

Kate nickte. »Die Kids heutzutage – benutzen die Welt als Zielscheibe.« Sie wollte Jills Theorie gern Glauben schenken. Notfalls auch Rudys. Um das ungute Gefühl zwischen den Schulterblättern loszuwerden.

»Haut nicht hin«, sagte Rudy. »Ein Durchgeknallter hätte den ganzen Flur kaputtgeschossen, nicht bloß diese Tür. Für mich sieht es danach aus, als hätte jemand auf Ihre Rückkehr gewartet. Nehme an, jemand will Ihnen hallo sagen. Oder sonst eine Botschaft übermitteln.«

Jill und Kate im Schlepptau, ging er breitbeinig auf das AUSGANG-Schild über dem Treppenhaus zu und schob die Tür auf, ehe Kate noch den Mund öffnen konnte. Mehr als ein erstickter Ton kam nicht heraus.

»Rudy, du Oberarsch«, sagte Jill.

»Ach, richtig«, sagte er und schlug sich vor die Stirn. »Wir kriegen den Täter über seine Fingerabdrücke. Und dann werden wir es beweisen, ganz ohne Zeugen.« Geringschätzig wischte er mit der Hand über den Türgriff. »Vielleicht hat die LAPD Zeit genug, durch einen Kamin zu furzen …«

Kate betrachtete ihn schweigend. Die überhebliche Körpersprache, die ungeputzten Schuhe, die Krawatte, die schief unter dem Hemdkragen heraushing, die zu langen Hosenbeine, weil der Bauch über dem Pistolengürtel die ganze Hose nach unten schob. Seine Partnerin dagegen – der Kragen des hellblauen Uniformhemdes frisch gestärkt und gebügelt, die Uniform faltenlos an dem vollschlanken, gut trainiert wirkenden Körper. »Was ist mit Ihrem Zimmernachbarn, diesem Stafford?«, fragte Rudy Kate.

»Einer von den Immer-Hilfsbereiten«, antwortete sie. »Sieht nicht aus, als hätte er was mit der Sache zu tun.«

»Trotzdem reden wir mit ihm. Und mit Ihrer … Freundin.«

»Natürlich«, sagte Kate und konnte ihn noch weniger leiden.

»Wie unter Kollegen üblich,«, sagte Jill, »rechnen wir natürlich –«

»Das überlasse ich Ihnen und Ihrem Kollegen«, sagte Kate. Sie beabsichtigte, die Sache ohne Hilfe oder Einmischung der einen oder des anderen zu untersuchen.

Jill sagte: »Wir durchsuchen das Gebäude, halten draußen nach versprengten Kugeln Ausschau und kämmen die Nachbarschaft durch, obwohl da wahrscheinlich nicht viel zu holen ist.« Sie zog eine Visitenkarte aus einem Fach ihres Notizbuches. »Wir melden uns, sobald wir etwas wissen. Aber rufen Sie mich an. Jederzeit.« Kate hörte aus ihrem Tonfall die Entschuldigung heraus. »Wenn ich irgendwas für Sie tun kann, solange Sie in der Stadt sind, wenden Sie sich an mich.«

»Gern«, sagte Kate. »Ich hole Ihnen schnell eine von meinen Visitenkarten. Und lasse die Pistole verschwinden. Ich verstaue sie immer, sobald ich nach Hause komme. Ich hatte nur nicht genügend Zeit, bevor die Schießerei losging.«

»Verdammt unbequem, damit rumzureisen, hab ich gehört«, ließ Rudy verlauten.

Kate nickte. »Die Sicherheitsbeamten am Flughafen verlangten einen Schrieb von meinem Vorgesetzten, dass ich zum Tragen einer Waffe berechtigt bin, die Pistole musste ungeladen in einem Pistolenreisekoffer in einem abgeschlossenen Hartschalendokumentenkoffer verstaut sein, der dann von der Flughafenpolizei untersucht und mit einem orange-schwarzen Klebeband gekennzeichnet wurde.«

»Recht so«, sagte Jill, »damit jeder Terrorist an Bord ihn sofort findet.«

Kate stimmte in das Gelächter der beiden ein. »Derzeit dürfen keine Pistolen nach New York City eingeflogen werden. Leider war ich nicht dorthin unterwegs.« Nein, das nahm sie zurück. Sie war froh, dass sie ihre Pistole nach Washington D.C. mitgebracht hatte.

Die Hände in die Hüften gestemmt, erkundigte sich Rudy: »Wie lang schon im Morddezernat?«

»Zwölf Jahre.«

Er quittierte diese Information mit hochgezogenen Augenbrauen und fragte dann: »In der O.J. Simpson-Untersuchungskommission?«

Sie unterdrückte ein Stöhnen. Fragen nach der Simpson-Geschichte hatte sie satt bis zum Erbrechen. »Dieses Affentheater spielt in der Führungsetage der West L.A. Division.« Und im Parker Center. Vannater und Lange, die Ärmsten … in deren Schuhen wollte sie nicht stecken, nicht mal für sechs Richtige im Lotto.

»Kennen Sie welche von den Cops, die man immer im Fernsehen sieht? Der Drecksack Fuhrman, ist er –«

»Er ist pensioniert, ich kannte ihn nur vom Sehen«, sagte sie in der Hoffnung, damit jeder Vermutung, sie könnte Insiderklatsch verbreiten, den Boden zu entziehen. Großer Gott, alle waren wie besessen von dem Fall, vor allem die Polizisten, die sie kannte.

»Also was ist? Ist O.J. schuldig?«

»Die DNA-Beweise gegen ihn stapeln sich bis zur Decke.« Sie zuckte die Schultern. »Was nicht heißt, dass er schuldig gesprochen wird.«

»Ja, stimmt. Bei Rodney King war nicht mal eine Videoaufnahme ausreichend. Irgendwas mit den Unruhen zu tun gehabt?«

»Das hatten wir alle«, sagte sie mit Nachdruck. »Jeder Polizist in der ganzen Stadt war in Bereitschaft.«

Sie war in der Abenddämmerung einberufen worden, als die Nachrichten über den Äther flimmerten und eine Rauchwolke sich über die Stadt legte. In Uniform plus Katastrophenausrüstung hatte sie, begleitet von drei weiteren Beamten, einen schwarzweißen Einsatzwagen gefahren, Maschinengewehre auf dem Schoß, um sich selbst und die Stadt zu beschützen. Ihr Auftrag war, in den östlichen Randbezirken der Wilshire Division Streife zu fahren. Die ganze Nacht und der nächste Tag waren ein Alptraum aus loderndem Horizont und dem Verfolgen der Durchsagen über die fortschreitende Zerstörung im Polizeifunk gewesen.

Als sie nach Hause kam, fand sie eine von Sorge und Schlafmangel hohläugige Aimee vor … »Eine schreckliche, grauenhafte Zeit, eine riesige schwa–« Sie konnte gerade noch umschalten; in Erinnerung versunken, hatte sie ganz vergessen, dass die beiden Polizisten schwarz waren. »Eine schlimme Geschichte, die uns alle sehr mitgenommen hat. Wir haben uns noch nicht davon erholt, ich weiß nicht, wann oder ob uns das gelingt.«

»Ein Irrenhaus, die Stadt, in der Sie leben«, sagte Rudy freundschaftlich.

Ohne eine Spur Ironie erwiderte Kate: »Absolut kein Vergleich zu Ihrer Musterstadt.«

Jill lachte, und Kate war ihr dankbar dafür. Ihrem Aussehen nach war die Frau in den Zwanzigern – zu jung für diese angespannte Wachsamkeit in der Körperhaltung, diese Müdigkeit in den Augen und diesen Zynismus in den Mundwinkeln.

»Komm, wir reden mit Mr. Stafford«, sagte Jill zu ihrem Kollegen.

»Nein«, sagte Aimee. Sie stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, während Kate ihre restlichen Kleidungsstücke einpackte.

»Wir könnten tot sein.« Kate ließ mit Nachdruck das Kofferschloss einschnappen. »Du hast schon viel von der Stadt gesehen –«

»Ein Bruchstück!«

»Das Seminar ist vorbei, lass uns einen Flieger nehmen und hier verschwinden. Wir kommen wieder her, das verspreche ich dir – im April, zur Kirschblüte.«

»Keine zehn Zentimeter von der Stadt hab ich gesehen und du so gut wie gar nichts, es war schon diesmal ein Staatsakt, dich herzubekommen, wir fahren nie wieder nach Washington und das weißt du –«

Kate drehte sich zu ihr um. »Ich kapiere einfach nicht, was dir im Kopf rumgeht. Auf uns wurde geschossen.« Und mit einer heftigen Armbewegung zur Tür: »Warum lässt dich das kalt?«

»Komm schon, Kate. Uns ist nichts passiert. Wer immer das getan hat, kommt nicht zurück –«

»Woher weißt du das?«

»Jemand wollte einen Witz machen. Vielleicht hat einer von deinen Kameraden zu tief ins Glas geguckt. Das ist, was die Cops denken – und das solltest du auch«, beharrte Aimee. »Ich kauf es ihnen ab.«

»Kauf es ihnen ab, wenn du willst. Ich nicht.«

»Kate, Schatz«, bettelte Aimee, »welche Erklärung gibt es sonst?«

»Es könnte jemand sein, an dessen Verurteilung ich beteiligt war.«

»Wie soll er wissen, dass du hier bist?«

»Er könnte uns verfolgt haben.«

»Du meinst, jemand folgt uns bis nach Washington D.C.? Das ist doch lächerlich. Warum schnappt er dich nicht einfach in L.A. und macht dich dort kalt?«

Aimee warf die Schultern zurück, eine Geste, die Kate nur zu gut kannte. »Das ist nicht der Grund, warum du abreisen willst«, warf Aimee ihr vor. »Du willst dich vor dem Treffen drücken. Du hast die Hosen randvoll, weil du diesen Leuten aus deiner Vergangenheit wieder begegnest.«

»Hör auf damit«, schnauzte Kate. »Ich bin hier, oder etwa nicht?«

»Vielleicht ist das deine neueste Taktik, um dich abzusetzen«, erwiderte Aimee schneidend. »Vielleicht hast du diesen Widerling Woody dazu angestiftet –«

»Aimee.« Kate sprach den Namen mit Eiseskälte. »Spiel nicht herunter, was hier passiert ist.« Sie wies auf die durchlöcherte Tür. »Du warst zwischen mir und der Tür. Du könntest tot sein. Wären diese Kugeln ein bisschen tiefer geflogen –«

»Sind sie aber nicht. In Ordnung, Kate. Fahr nach Hause. Ich bleibe hier und erkläre den hart gesottenen Marines und Sanitäterinnen, die damals mit dir im Einsatz waren, wie irgendein Blödmann, der nicht mal geradeaus schießen kann, der großen bösen Polizistin so viel Angst eingejagt hat, dass sie gleich bis nach L.A. rennt.«

Kate seufzte. Sie fürchtete sich tatsächlich vor diesem Treffen. Aber wie konnte sie Aimee davon überzeugen, dass ihr Fluchtinstinkt nichts damit zu tun hatte, sondern einzig mit den Alarmglocken, die wegen dieser Schießerei in ihr schrillten …

»Gut«, sagte sie, griff zum Telefon und wählte die Rezeption. »Hier ist Kate Delafield von Zimmer 222 … Ja. Wir nehmen das Angebot an … Zimmer 416? Vielen Dank.«

Kapitel 3

Während Aimee unter der Dusche ihres neuen Zimmers stand – einer Suite im obersten Stockwerk auf Kosten des Hauses – schob Kate ihre Brieftasche in die Hosentasche und machte leise die Tür hinter sich zu.

Sie betrat das Treppenhaus am Ende des Gangs und ging langsam eine schmale Eisentreppe hinab, deren Stufen mit derben braunen Plastikstreifen ausgelegt waren. Auf jedem Stockwerk untersuchte sie die Tür. Vor dem Fenster war auf jeder Etage eine Feuerleiter zu sehen, deren diamantfarbenes Metall vom Regen glänzte. Sie roch schalen Zigarettenrauch; hier war jemand gewesen, vor nicht allzu langer Zeit.

Am Fuß des Treppengeländers betrat sie die Lobby, menschenleer, abgesehen vom Empfangschef, einem jungen blonden Mann mit schwarzer Schleife über einem gestärkten weißen Hemd, nicht derselbe Angestellte, der Dienst hatte, als sie und Aimee sich eintrugen. Sie nickte ihm zu und nahm, im Türrahmen stehend, die Anlage der Lobby in Augenschein.

Die L-förmige Rezeptionstheke, links von ihr an der Wand, lag genau gegenüber dem Vordereingang. Neben der vorderen Eingangstür mit ihren Spiegelglasscheiben, an denen das Regenwasser hinabrann, standen ein Podest für den Kofferträger und zwei Gepäckwagen. Rechts von der Rezeption befand sich der Durchgang zu den Aufzügen, und von diesem Gang zweigten verschiedene Türen ab, eine davon zum Hotelrestaurant, auf deren Glastür in roten, weißen und blauen Buchstaben The Patriot stand. Die andere Tür war aus solidem Kirschbaumholz mit einer Schnitzerei von Trommel und Waldhorn unter einem weißen Pappschild mit der Aufschrift The Concord Room. Das war der private Speiseraum des Hotels, in dem morgen das Treffen stattfand.

Das Hotel, dachte sie, ist wirklich recht hübsch. Bei ihrer Ankunft waren sie und Aimee beide von der Lobby bezaubert gewesen – von der blauweißen Blümchentapete, den schlichten weißen Bodenfliesen, dem mit Troddeln versehenen königsblauen Teppich unter einem Sofa in hellerem Blau samt zwei passenden Sesseln, dem Cocktailtischchen aus Kirschbaumholz, der hohen weißen Säule, auf der eine schmale, filigrane Vase mit stilisierten künstlichen Blumen stand.

Der Angestellte hatte aufgehört, Computerausdrucke zu sortieren, und beobachtete sie. Sie ging zur Rezeption hinüber, zog ihre Brieftasche hervor und zeigte ihm ihre Polizeimarke und ihren Personalausweis.

Er blätterte alles durch. »Officer Delafield, äh, äh –«

»Kate.«

»Ich hoffe, unsere luxuriöseste Unterbringungsmöglichkeit bietet Ihnen und Ihrer Freundin einen kleinen Trost. Ich versichere Ihnen, so etwas ist im Inn noch nie vorgekommen.«

»Das neue Zimmer ist sehr gemütlich, wir wissen es zu schätzen.«

Hoffnungsvoll fragte er: »Hat die Schießerei da oben etwas damit zu tun, dass Sie bei der Polizei sind?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie, »aber möglich ist alles. Wie heißen Sie?«

»David Olson.«

»Mr. Olson, dieses Treppenhaus ist das einzige auf dieser Seite des Gebäudes?«

»Richtig.« Mit seinen langen, knochigen Fingern glättete er das Computerpapier, schob es zu einem ordentlichen Stapel zusammen und sah darauf nieder, als wäre die Beschäftigung damit einem Gespräch mit ihr bei weitem vorzuziehen. Kate vermutete, dass seine kühle Ausstrahlung und das Abstand gebietende Verhalten kaum auf die Tatsache zurückzuführen waren, dass sie Polizistin war; er besaß einfach nicht die Ungezwungenheit, die man von jemandem erwartet, dessen Aufgabe es ist, sich in einem kleinen, guten Hotel um die Gäste zu kümmern.

»Wie viele andere Treppenhäuser gibt es noch?«, fragte sie.

»Noch eins, es führt zum Parkhaus.«

Aus seinen dunklen blauen Augen sprach Intelligenz, und seine Aussage war präzise, doch Kate bohrte nach. »Theoretisch könnte also jemand die Treppe zur Lobby nehmen, aber auf einem anderen Stockwerk herauskommen.«

»Nein, das ist nicht richtig«, korrigierte er sie pedantisch. »Sobald man im Treppenhaus ist, gibt es keinen Weg zurück, bis man unten in der Lobby ist. Die Türen schließen automatisch.«

Genau das hatte sie auch festgestellt. Sie verkniff sich den Hinweis, dass man etwas dazwischen schieben oder eine Tür mit Klebeband präparieren kann, um sich den Rückweg vom Treppenhaus her offen zu halten. »Ist das nicht gefährlich? Kann man nicht eingeschlossen werden?«

»Ein bisschen kompliziert, weiter nichts. Das Hotel hat nur drei Stockwerke mit Gästezimmern.« Er strich sich eine bleiche Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wer im Treppenhaus stecken bleibt, geht hinunter in die Lobby und nimmt den Aufzug zurück zum Zimmer. Sollte es brennen – die Fensterscheiben auf jedem Treppenabsatz lassen sich einschlagen und führen zu einem Notausgang.«

Sie nickte. »Und was ist mit der anderen Treppe, der zum Parkhaus?«

»Ebenso. Man nimmt diese Treppe und kommt in der kleinen Lobby neben dem Parkhaus heraus. Wer keinen Schlüssel hat, um wieder reinzukommen, muss ums Haus herum zum Vordereingang gehen.«

»Aber jemand könnte durch die Parkhaustür hereinkommen«, gab Kate zu bedenken. »Reingehen, wenn jemand rauskommt, und dann warten, bis jemand anderes aus dem Fahrstuhl steigt.«

»Na ja, theoretisch …« Der Empfangschef zögerte und blickte wieder auf seine Papiere.