Kreuzfeuer - Katherine V. Forrest - E-Book

Kreuzfeuer E-Book

Katherine V. Forrest

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Beschreibung

Die ›Polizeifamilie‹ von Los Angeles krankt am Trauma des Rodney-King-Debakels, auch O.J. Simpson hat Spuren hinterlassen. Argwohn prägt die Stimmung zwischen den Revieren. Die allseits verhasste Abteilung 'Internal Affairs', die Polizei der Polizei, spürt jeder Disziplinschwäche nach und bringt kompromisslos Cops zur Strecke. Nun soll die gesundheitlich schwer angeschlagene Kommissarin Kate Delafield einem kriminellen Streifenpolizisten beistehen. Das bringt ihr nicht gerade Pluspunkte bei den anderen Cops …

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Seitenzahl: 373

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Katherine V. Forrest

Kreuzfeuer

Kate Delafields 6. Fall

Aus dem Amerikanischen von

Monika Brinkmann

Ariadne Krimi 1113

Ariadne Krimis

Herausgegeben von Else Laudan

www.ariadnekrimis.de

Romane mit Detective Kate Delafield:

1. Fall: Amateure (Ariadne Krimi 1015)

2. Fall: Die Tote hinter der Nightwood Bar (Ariadne Krimi 1007)

3. Fall: Beverly Malibu (Ariadne Krimi 1029)

4. Fall: Tradition (Ariadne Krimi 1037)

5. Fall: Treffpunkt Washington (Ariadne Krimi 1107)

6. Fall: Kreuzfeuer (Ariadne Krimi 1113)

7. Fall: Knochenjob (Ariadne Krimi 1125)

8. Fall: Vollrausch (Ariadne Krimi 1155)

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Apparition Alley

© 1997 by Katherine V. Forrest

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 1999

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-99040-154-5

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Danke

Für Eugenia Lowe

1. Kapitel

»Alle Luken dicht, Kate«, sagte Sergeant Fred Hansen und schob sich an ihr vorbei, die Neunmillimeter nach unten gerichtet, dicht am Körper, den Abzugsfinger an den Lauf gelegt. Er blieb an der Wand stehen und spähte den Korridor entlang, ein nicht zu verfehlendes Ziel noch für den schlechtesten Schützen, fand Kate Delafield, Kriminalpolizistin der Mordkommission von Los Angeles: Sein Körper, durch die kugelsichere Weste noch massiger, füllte den Türrahmen des Hausflurs nahezu aus.

Das Einsatzteam schlich leise weiter durch den schmuddeligen, schlecht beleuchteten Gang im ersten Stock des baufälligen Fünfziger-Jahre-Wohnhauses, dessen schnörkeliger, vergilbter Deckenstuck wehmütig an vergangene Eleganz erinnerte.

Kates Adrenalinspiegel stieg, als sie nach der Waffe im Halfter unter ihrer Polizeijacke tastete und noch einmal den Griff ausprobierte, den ihre Weste ihr erschweren würde. Sie nickte Hansen und ihrer Partnerin Torrie Holden zu und stellte sich vor Officer Alicia Perez. »Los«, sagte sie zu Torrie.

»Schnappen wir uns den Mistkerl«, sagte Torrie mit der Großspurigkeit der ehemaligen Streifenpolizistin, die Hand in der Umhängetasche, in der sich ihre Waffe befand. Kate langte ebenfalls in ihre Umhängetasche, aber nur um nach dem Haftbefehl zu fühlen.

Als sich vor ihnen eine Tür öffnete, ging sie in Stellung, griff nach ihrer Waffe. Der Duft von zwiebeligen Suppenschwaden drang auf sie ein, und polternd trat eine weißhaarige alte Frau in knöchelhohen Schnürschuhen auf den Gang. Alicia Perez ging rasch auf sie zu und redete leise mit ihr.

Die alte Frau mit Hängebacken und paillettenbesetzter Fünfziger-Jahre-Brille, einen fadenscheinigen gelben Pullover über ein Hauskleid gezogen, dessen Farben vom Waschen längst verblichen waren, sah Perez böse an. »Machst hier Männerarbeit, eine Schande ist das«, stieß sie mit zitternden Backen hervor und stampfte in ihre Wohnung zurück.

Perez zwinkerte, als Torrie und Kate an ihr vorbeigingen. »Hatte wohl vergessen, dass meine Oma hier wohnt.«

Torrie und Hansen postierten sich zu beiden Seiten der Tür von Apartment 9, dann streckte Hansen den Arm aus und klopfte. Kate schob eine Hand unter die Jacke und legte den Daumen an die Schließe ihres Achselhalfters.

»Wer ist da?«, fragte eine missmutige Frauenstimme.

»Hier ist die Polizei, Ma’am. Bitte öffnen Sie die Tür.«

»Wenn Sie zu Darian wollen, der ist nicht –«

Kate hörte ein Klicken und begriff in einem eiskalt zuschnappenden Sekundenbruchteil, was es war und dass es von hinten kam.

Ihr Adrenalin schoss himmelhoch, aber die nächsten Ereignisse schienen schrittweise abzulaufen, Bild für Bild, wie ein Film im Zeitlupen-Vorlauf. Wie sie noch während des Geräuschs herumwirbelt und zugleich Perez beiseitestößt, die zwischen ihr und dem Geräusch steht. Wie sie ihr Schulterhalfter aufreißt, die hinderliche Weste, wie sie dann ihre Achtundreißiger packt und aus dem Halfter zerrt.

Auf ihrer Netzhaut eingebrannt wie ein Flutlicht-Szenario: wässrig blaue Augen, die unter einer blassen Stirn zwischen dunklen, fettigen Haarsträhnen hervorstarren. Ein weißes Hemd, so makellos, dass Crockett es eben erst angezogen haben muss. Jeans mit riesiger silberner Gürtelschnalle. Neue weiße Turnschuhe mit knallrotem NIKE-Emblem. Die Waffe in seiner linken Hand silbern, wie ein Spielzeug.

Von irgendwoher ein Aufschrei: »Polizei!« Dann ein Bündel explodierender Feuerwerkskörper peng! peng! peng! peng!, deren Knallen den Korridor erfüllt.

»Scheiße!«

»Du lieber Gott!«

Ein Schrei.

Crockett, wie er zurückprallt, rote Blumen, die auf seinem schneeweißen Hemd erblühen, Nikes erheben sich vom Boden, Gips regnet herab, als seine Waffe Feuer an die Decke spuckt, sein fettiges Haar fliegt nach vorn, sein Kopf nach hinten, als wollte er sich von den Schultern lösen.

Dann Schmerz, der in ihrer Schulter explodiert, der Einschlag der Kugel so heftig, dass sie einmal um die eigene Achse gewirbelt wird und wieder Crockett vor sich hat, der mit einem harten Rums auf dem Korridorfußboden aufschlägt.

Ihre Beine, die nachgeben, der Boden, der auf sie zurast, bevor sie ihre Schusshand freibekommt, um sich abzufangen, der dunkle Fußboden, fleckig und voll irgendeiner klebrigen Flüssigkeit, in der ihr Gesicht hart landet …

Ein Augenblick der Stille brauste wie Donnerhall in ihren Ohren.

»Scheiße, Scheiße, verfluchte Scheiße –« Hansen.

»Kate! O Gott, Kate!« Torrie.

Torrie auf den Knien neben ihr, ihr Gesicht von solcher Panik erfüllt, dass Kate auf einmal spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte vor Angst über das mögliche Ausmaß ihrer Verletzung.

Ein Vernebeln ihrer Sinne, kein Versinken in Bewusstlosigkeit, sondern eine weniger scharfe Wahrnehmung ihrer Umgebung. Sie suchte nach Kraft in ihren Beinen und produzierte nur ein Zucken und noch mehr Angst: Ihre Beine schienen unverletzt, aber sie konnte beim besten Willen nicht aufstehen. War sie gelähmt? Sie konzentrierte all ihre Willenskraft auf ihren rechten Arm und rollte sich auf den Rücken. Fand ihre Stimme wieder. »Was –«

»Kate, nicht, ganz ruhig, nicht bewegen –«

Es gelang ihr, den Kopf zu drehen, sie sah den rasant dunkler werdenden Fleck auf der linken Seite ihrer hellbraunen Jacke. Wie schwer bin ich verwundet?, fragte sie sich. Und dann: Aimee wird ausflippen.

Sie konnte Torries Gesicht nicht klar erkennen, sah aber, dass sie unverletzt war. »Sonst noch jemand … getroffen?«

»Wir sind alle unverletzt.« Mit Nachdruck fügte Torrie hinzu: »Nicht bewegen. Das wird schon wieder, Kate.«

Das Knacken des Polizeifunks: »… eine Ermittlerin niedergeschossen. Haben Sie verstanden?« Perez’ Stimme war von solcher Wut erfüllt, dass Kate sie kaum erkannte. Von irgendwoher das schrille Wehklagen einer Frauenstimme. Aufgehende Türen. Rufe, von Männern und Frauen. Noch mehr Männerstimmen, Befehlsgebrüll.

»Crockett«, stieß sie hervor.

»Das Schwein hat’s erwischt.« Das wilde Knurren kam von irgendwo über ihr. Hansen.

Sie schloss die Augen. Sie empfand keine Befriedigung. Nur harten, schweren Druck in der Schulter.

Sirenen heulten einen heranstürmenden Chor. Noch mehr Lärm und Aufregung auf dem Gang.

Als der glattgesichtige junge Afroamerikaner neben ihr kniete, merkte Kate, dass sie ohnmächtig geworden war und jedes Zeitgefühl verloren hatte. »Sie kommen durch«, sagte er mit rauer, leiser Stimme. Sie erkannte das dunkelblaue Uniformhemd: ein Sanitäter. Seine Partnerin, klein und blond, schnitt mit einer gewinkelten Schere effizient Stoff weg und verpasste ihrer Schulter einen Druckverband.

»Sieht mir nach einer Fleischwunde aus«, sagte sie zu ihrem Partner, während sie arbeitete.

Fast gegen ihren Willen grinste Kate die Sanitäterin an, die zurückgrinste und ihr aufmunternd zunickte. Torrie sagte mit erleichterter Stimme: »So schlimm kann es ja nicht sein, wenn du schon wieder lächelst, Kate.«

»Eine Fleischwunde«, stieß sie hervor, nachdem sie zischend eingeatmet hatte; bei Torries Worten hatte der Schmerz mit voller Wucht zugelangt, bohrende, quälende Schmerzen, die sich mit jedem Herzschlag zu verschlimmern schienen. »Als ich klein war … haben sie das jedes Mal gesagt … wenn der Gute verwundet wurde … in jedem Western.« Aber sie hätte tot sein können, Crockett hätte sie ebenso gut tödlich treffen können …

»Wir werden uns gut um Sie kümmern«, sagte der Sanitäter. »Wir hängen Sie an einen Tropf, um Ihnen mit den Schmerzen zu helfen.«

»Die Schmerzen brauchen gar keine Hilfe«, scherzte Kate mit zusammengebissenen Zähnen. Sie würde es überleben. Sie war am Leben.

»Torrie«, sagte sie.

»Ich bin hier, Kate«, sagte Torrie neben der Sanitäterin.

»Sag Aimee Bescheid. Sag du es ihr. Niemand sonst. Sag ihr, dass es mir gut geht.«

»Wird gemacht. Ich bleibe bei dir. Ich bleibe hier bei dir.«

»Schaff alle Leute hier raus, der Tatort muss abgesperrt werden. Sichere das Gelände. Ruf die Kollegen von Raub/Mord, die sollen –«

»Ich denke, ich habe das schon im Griff, Kate.« Eine Männerstimme über ihr.

»Lieutenant«, sagte sie, schockiert, die breitschultrige Gestalt von Mike Bodwin über sich zu sehen.

Er kauerte sich neben den Sanitäter. Sie sah Bodwin nur ganz selten in solch lässiger Kleidung – Jeans und ein verblichenes blaues Polohemd unter einer kurzen Jeansjacke; er hatte wohl den Funkspruch gehört und war auf direktestem Weg hergekommen. »Die sagen, Sie werden wieder.« Die Augen in seinem von Akne gezeichneten Gesicht waren schmal vor Sorge, doch der Klang seiner Stimme war liebevoll und warm. »Machen Sie sich keine Sorgen, Kate. Denken Sie jetzt nur an sich. Sie haben alle Zeit der Welt, um wieder so gut wie neu zu werden.«

So gut wie neu werde ich mit Sicherheit nicht werden, dachte sie, nie wieder. Sie würde ein Symbol sein für den Alptraum jedes Kollegen, eine niedergeschossene Polizistin … und als Nächstes würde sie im Parker Center einem Untersuchungsteam für Schusswechsel im Dienst gegenübersitzen.

Sie wurde auf eine Trage gehoben. Nach unten gebracht, ein Meer von blauen Uniformen und mitfühlenden Gesichtern säumte den ganzen Weg, man rief ihr ermutigende Worte zu. Draußen war die dunkle, kalte Straße mittlerweile hell erleuchtet von den Lichtern der Polizeifahrzeuge und so weit ihre Augen blicken konnten bevölkert von blauen Uniformen. Mein Gott, die ganze Sippe ist hier, dachte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Meine ganze Polizeifamilie ist hier.

Sie wurde in den Krankenwagen gehoben. Torrie, die mit ihr einstieg, holte ein Handy aus der Umhängetasche und hockte sich auf die Bank neben Kates Liege. Als die Türen zugeschlagen wurden und die Sirene aufheulte, riefen die Schmerzen eine vorübergehende Waffenruhe aus, und Kate versank im Dunkel.

2. Kapitel

»Heute ist der 5. Februar 1996. Anwesend im Revier Wilshire sind die Ermittler Wayne McMillan und Jim Phillips, um eine Befragung von Kriminalkommissarin Kate Delafield durchzuführen. Detective Delafield hat auf die Anwesenheit eines Vertreters der Polizeigewerkschaft verzichtet. Würden Sie das bitte bestätigen, Detective?«

»Das ist richtig«, antwortete Kate.

Die drei Beamten saßen allein im Büro von Lieutenant Bodwin, der ihnen den Raum freundlicherweise überlassen hatte. Auf dem Tisch vor McMillan lagen ein Stapel Akten und ein Kassettenrecorder, dessen Spulen sich bereits drehten. Jeder blutig endende Schusswechsel im Dienst zog eine amtliche Überprüfung nach sich, und McMillan und Phillips gehörten zum OIS-Untersuchungsteam (OIS für Officer Involved Shooting) des Raub/Mord-Dezernats im Parker Center, dem größten Revier von Los Angeles. Nach der Besichtigung des Tatorts in der Gramercy Street, wo Kate ihnen rasch die Vorfälle um die Erschießung von Darian Crockett erläutert hatte, waren sie hierhergekommen.

McMillan sagte: »Detective, wir möchten Sie bitten, auf dieser Zeichnung genau zu markieren, wo alle Beteiligten standen, als Crockett aus der Wohnung kam.«

Kate nickte dem heiseren blonden Mann mit dem viereckigen Gesicht zu, der sie von der anderen Seite des kleinen, runden Tisches her ansprach. Rechts neben ihm lehnte sich sein Partner aufmerksam auf seinem Stuhl vor. Er war ein beträchtliches Stück kleiner als McMillan, und die Bürolampen ließen das schwarzfellige Scheitelkäppchen auf seinem Kugelkopf glänzen wie lackiert.

McMillans und Phillips’ dunkelgraue Anzüge, ihre blauen Hemden und dunklen Krawatten waren auch eine Art Uniform, dachte Kate flüchtig. Dann beschwerte sie das Blatt mit ihrem ansonsten unbrauchbaren linken Arm und setzte den Stift an. Die Männer sahen ihr zu, Notizbücher auf den Knien; sie selbst hatte keinerlei Aufzeichnungen, kein Notizbuch als Gedächtnisstütze. »Erzählen Sie uns einfach, woran Sie sich erinnern können«, sagte Phillips.

Erinnern konnte sie sich, und ob. Die Ereignisse der Nacht des 1. Februar – vier Tage war das her – waren ihr so präsent wie große Farbfotos.

Sie wies mit dem Stift auf zwei Kästchen, die sie in die Zeichnung eingetragen hatte, und sagte zu McMillan: »Sergeant Hansen stand hier, links von der Wohnungstür von Apartment 9, meine Partnerin, Detective Holden, hielt sich rechts davon.« Sie deutete auf ein drittes Kästchen und setzte ihre Initialen hinein. Und auf ein viertes: »Officer Perez stand hier. Wollen Sie auch die Positionen der Verstärkungstruppe?«

McMillans kantiges Gesicht war gelassen, als er fragte: »Konnten Sie die sehen?«

»Die Verstärkungstruppe stand in direktem Kontakt mit Hansen.«

»Wir wollen nur wissen, was Sie selbst tatsächlich gesehen und getan haben«, sagte Phillips.

Die Höflichkeit in Person, dachte sie, und doch hätten die beiden jedes Wärmesuch-Projektil abschütteln können.

»Also befanden sich alle an dem ihnen zugedachten Platz«, sagte McMillan. »Korrekt?«

»Korrekt.«

Phillips fragte: »Würden Sie sagen, dass rückblickend gesehen irgendetwas Anlass gab zu glauben, dass dieser Einsatz nicht routinemäßig ablaufen würde?«

»Nein. Die Verhaftung von Simms hatten wir unauffällig inszeniert und mit einem Spezialkommando abgesichert. Für die Festnahme von Crockett bestand hingegen kein erhöhtes Risiko. Seine Vorstrafen beschränkten sich auf Drogenbesitz, er war kein Dealer. Das Ganze sah nach einer Routineaktion aus. Trotzdem war alles minutiös vorbereitet, jeder Schritt strategisch bedacht.«

»Was geschah als Erstes?«, fragte McMillan.

»Bevor wir den Haftbefehl vollstrecken konnten, kam eine Frau aus Apartment 12. Officer Perez bat sie, in die Wohnung zurückzugehen; sie kam dieser Aufforderung nach.«

Phillips blätterte in seinem Notizbuch einige Seiten zurück. »Dabei dürfte es sich um die charmante und liebenswürdige Mrs. Corsella handeln. Fahren Sie fort.«

»Wir näherten uns der Wohnung der Zielperson, Apartment 9. Sergeant Hansen klopfte an, erhielt eine mündliche Reaktion und gab sich als Polizeibeamter zu erkennen.« Sie fuhr ernst fort: »Dann trat die Zielperson, wie Sie wissen, aus Apartment 7. Direkt hinter uns.«

»Warum stand kein uniformierter Beamter am Ende des Ganges?«

Kate war überrascht. »Sie meinen, da stand keiner?«

»Sagen Sie es uns, Detective.«

»Dort stand jemand«, versicherte sie. »Wenn Hansen grünes Licht gibt, ist auch alles korrekt vorbereitet.«

»Aus diesem Winkel wurden keine Schüsse abgefeuert.«

»Der Kollege ist wahrscheinlich in Deckung gegangen – ich weiß es nicht. Hören Sie«, sagte sie entschieden. »Ich arbeite seit Jahren mit Fred Hansen zusammen. Er kennt die Routine in- und auswendig. Seine Taktik ist sehr, sehr gut.«

»Was so viel heißt wie: So etwas ist vorher noch nie passiert.«

Nicht in die Defensive gehen, sagte sie sich. Sie antwortete gelassen: »Was so viel heißt wie: Die Taktik war wasserdicht.«

»Detective Delafield. Haben Sie persönlich hinter Detective Holden und dem Verdächtigen einen Beamten gesehen? Können Sie uns einen Namen nennen?«

Kate senkte den Kopf, um sich zu konzentrieren. Hatte sie in dem ganzen Durcheinander irgendjemanden hinter Crockett auf dem Gang gesehen, irgendetwas, irgendeine Bewegung? Und ebenso wichtig – und mit aller nötigen Objektivität: Hatten die Umstände dieses Falles sie dazu verleitet, irgendetwas vorauszusetzen, irgendetwas für gegeben zu nehmen? Sie erinnerte sich, wie sie noch beim Betreten des Hauses in der Gramercy Street gedacht hatte, dies würde reine Routine sein. Crockett konnte nicht wissen, dass Willie Simms ihn mit einem Fall in Verbindung gebracht hatte, bei dem es keine Zeugen gab. Auch wenn man auf dem Glastresen einen Fingerabdruck gefunden und ihn mit Hilfe der AFIS-Computerdatenbank dem Berufsverbrecher Simms zugeordnet hatte, war dies für sich gesehen als Beweismittel nicht ausreichend; jeder Verteidiger würde anführen, dass Simms den Abdruck vor dem Überfall dort hätte hinterlassen können. Und so waren seit dem Raubüberfall auf Petes Spirituosenladen zwei ganze Monate ins Land gegangen, eine Verzögerung, die aufs Konto der Special Photography Unit des FBI ging; die konnten aber trotz allem noch schneller mit Resultaten aufwarten als das völlig überlastete Labor in L.A. – sofern Piper Tech überhaupt das nötige Equipment zur Durchführung solcher Untersuchungen zur Verfügung gestanden hätte.

Simms hatte die Überwachungskamera des Spirituosengeschäfts weggepustet, und zuvor erschoss er das Opfer, das den Fehler beging, statt des Bargelds eine Achtunddreißiger aus der Kasse zu nehmen. Aber Simms hatte Pech, und Crockett, der Fahrer des Fluchtwagens, auch: Simms’ Schuss zerstörte die Kamera und versengte den Film, aber Kate hatte ihn ins FBI-Labor geschickt. Dem Labor war es gelungen, vier brauchbare Bilder zu rekonstruieren und mit Hilfe des Computers eines davon so zu verbessern, dass ein identifikationstaugliches Bild von Simms dabei herausgekommen war: Sein weißes Kopftuch umrahmte sein Gesicht genau, als er direkt in die Kamera schaute, die Achtunddreißiger in der Hand. Um die Anklage auf vorsätzlichen Mord und die drohende Todesstrafe abzuwenden, hatte Simms Crockett verpfiffen.

»Ich kann nicht behaupten, dass ich einen Beamten dort gesehen habe«, sagte sie zu McMillan. »Aber ich kenne Hansen, deshalb weiß ich, dass dort einer stand.« Auf keinen Fall würde sie auf das älteste aller Klischees zurückgreifen, sie habe nichts bemerkt, weil alles so schnell ging.

McMillan sagte in geradezu mitfühlendem Ton: »Es ging alles sehr schnell, nicht wahr?«

Kate konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Stimmt.«

»Was geschah dann, Detective?«

Sie war sofort wieder ernüchtert. »Ich hörte ein Klicken. Ich erkannte das Geräusch als das Entsichern einer Handfeuerwaffe. Ich drehte mich um, sah den Verdächtigen. Dann war die Hölle los.«

»Woher wussten Sie, dass das Klicken nicht von dem Polizeibeamten kam, von dem Sie behaupten, er habe am Ende des Ganges gestanden?«

»Ich wusste es einfach.«

»Haben Sie gehört, wie die Tür von Apartment 7 geöffnet wurde?«

»Nein. Das Apartment hat ein Fenster nach vorn. Crockett muss uns auf der Straße gesehen haben. Er hat die Tür wohl lautlos geöffnet und dachte, er könnte sich davonstehlen oder – was weiß ich, was er dachte.«

»Woher wusste er, dass Sie von der Polizei sind?«

»Wir hatten Polizeijacken an.«

»Trugen Sie diese Polizeijacken schon, bevor Sie das Gebäude betraten?«

»Wir haben sie erst im Gebäude angelegt.« Dann fiel ihr etwas ein. »Als Crockett herauskam, rief einer von uns sogar ›Polizei!‹«

»Wer war das?«

»Ich weiß es nicht. Einer von uns.«

»War es eine Männer- oder eine Frauenstimme?«

Sie prüfte ihr Gedächtnis. »Eine Männerstimme. Muss wohl Hansen gewesen sein.«

McMillan nickte, hakte etwas in seinem Notizblock ab. »Wer hat als Erster geschossen?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, wofür das wichtig sein soll.«

McMillan lehnte sich zurück und kreuzte die Arme vor der Brust. »Ach, nein? Warum nicht?«

Sie sagte mit ruhigem Nachdruck: »Ich weiß, dass eine Untersuchung erforderlich ist. Ich will nicht den Eindruck vermitteln … in diesem speziellen Fall – was gibt es da zu erklären? Der Verdächtige hatte eine Waffe, er eröffnete das Feuer. Es ist nicht unsere Aufgabe, uns einem Bewaffneten höflich vorzustellen und abzuwarten, bis er einen von uns niederschießt, auch wenn genau das passiert ist.«

Phillips sagte: »Sie haben Ihre Waffe nicht abgefeuert, Detective?«

Sie richtete ihren Blick auf den Kassettenrecorder: »Nein, das habe ich nicht.«

»Sie hatten keine Gelegenheit, einen Schuss abzufeuern, richtig?«

Schwache Befragungstechnik für jemanden vom erlesensten Morddezernat der Stadt, dachte sie. Besonders in diesem so entscheidenden Punkt der Untersuchung. Kam ihr allerdings zugute. »Ja.« Rein formal gesehen war das die Wahrheit.

»Sie hatten Ihre Waffe in der Hand. Sie fielen auf die Waffe.«

»Korrekt.«

»Darauf kommen wir noch zurück«, sagte McMillan.

Seine Augen, dachte sie, waren so eisblau, dass man auf ihnen Schlittschuh laufen konnte. Phillips wirkte trotz seiner Skinhead-Frisur harmloser als sein Kollege.

McMillan fragte: »Woran erinnern Sie sich im Zusammenhang mit dem Schuss auf Sie?«

»Es tat weh«, sagte sie mit einem Lächeln. »Es war ein mächtig harter Einschlag. Ich habe mich einmal um mich selbst gedreht.« Sie berührte den verblassenden Bluterguss auf ihrer Wange. »Und bin mit dem Gesicht zuerst aufgeschlagen.«

McMillan fragte langsam: »Wie haben sich die unter Ihrem Kommando stehenden Beamten Ihrer Meinung nach verhalten?«

»Vorbildlich«, sagte sie prompt. Sie fügte hinzu: »Hinterher fallen einem immer Dinge ein, die man hätte noch besser machen können.«

»Als da wären?«

»Ich bin nicht in der Position, ein Urteil abzugeben. Ich war viel zu rasch außer Gefecht, aber es gibt immer etwas, das man kritisieren kann. Ich bin mir sicher, dass Detective Holden und Sergeant Hansen diesbezüglich auch etwas zu sagen haben.«

»Sie hatten verdammtes Glück«, sagte Phillips.

»Da haben Sie verdammt recht«, stimmte Kate ihm inbrünstig zu. »Man sagte mir, nur ein halber Zentimeter Abweichung der Flugbahn und mir wäre ein Knochen zerschmettert worden oder es hätte bleibende Schäden am Nervensystem gegeben.«

McMillan warf ein: »Sie waren nicht so außer Gefecht gesetzt, dass Sie keine Befehle geben konnten.«

Sein Lächeln war zu dürftig, als dass man es als solches hätte bezeichnen können, dachte Kate, aber zumindest versuchte er es, deshalb lächelte sie zurück. »Solange ich bei Bewusstsein war und zumindest ansatzweise funktionstüchtig, lag die Verantwortung bei mir. Zumal der Schauplatz zum Tatort eines Verbrechens geworden war. Ich erhielt allerdings jede Menge Hilfe – Lieutenant Bodwin traf ein.«

McMillan wies auf die Zeichnung. »Zeigen Sie uns jetzt bitte, wo Crockett sich befand, als die Schießerei losging.«

»Genau hier.« Sie malte ein fünftes Kästchen auf.

»Detective, auf dieser Zeichnung steht Officer Perez zwischen Ihnen und dem Täter. Und doch wurden Sie getroffen und nicht Officer Perez.«

Kate wappnete sich. »Ich habe sie beiseitegestoßen.« Sie ging davon aus, dass Perez und die anderen die Vorgänge ebenfalls wahrheitsgetreu wiedergegeben hatten.

Phillips nickte. »Aha. Warum?«

»Reiner Instinkt«, sagte sie.

»Wollten wohl den Helden spielen?«, schlug Phillips vor.

»Wohl kaum. Ich wollte überhaupt nichts spielen. Das Ganze lief in Sekunden ab. Was immer ich getan habe, geschah instinktiv.«

»Detective Delafield.« McMillan hob eine blassblonde Augenbraue. »Was für ein Instinkt sollte Sie veranlassen, eine bewaffnete Kollegin beiseitezustoßen?«

Kate breitete die Hände aus. »Es war unbewusst. Ich war nicht sicher, ob sie das Klicken gehört hat. Sie ist neu in der Abteilung –«

»Detective, sie hat in den härtesten Vierteln Streifendienst gemacht; seit sieben Jahren ist sie auf der Straße, bei den großen Krawallen war sie mittendrin, sogar bei der Massenschießerei in der Normandie Street …«

Kate nickte, während er sprach. »Das weiß ich alles. Und ich bin nie im Streifendienst gewesen, wenn Sie darauf abzielen.« Sie blickte betont auf die Akten, die vor McMillan lagen. »Wie Sie wissen, wurde ich aus der Abteilung für Jugendkriminalität zur Kriminalkommissarin befördert.«

»Warum bringen Sie dann als Entschuldigung vor, sie sei neu?«

»Ich bringe überhaupt keine Entschuldigungen vor«, sagte sie gereizt. »Mir war sie neu. Gewöhnlich arbeite ich mit meiner Partnerin, die ist Detective wie ich, und wir wissen genau voneinander, wie wir Situationen einschätzen, wann wer wie reagiert. In dem Moment wusste ich nur, dass ich das bei ihr nicht wusste.«

»Sie ist eine an der Akademie ausgebildete Polizeibeamtin, sie ist –«, begann Phillips, dann fragte er unvermittelt: »Wollten Sie den Kavalier spielen?«

»Wie bitte?« Mit unverhüllter Verachtung sagte sie: »Das ist lachhaft.«

Er sagte fast träge: »Tatsache ist und bleibt, dass drei der vier beteiligten Beamten Frauen waren.«

»Was genau soll das heißen?«

Phillips sagte mit konziliantem Lächeln: »Ich habe lediglich eine Feststellung gemacht.«

Der Mistkerl legt mir Schlingen. Sie rang mit ihrem Zorn auf Phillips und auf sich selbst, dass sie in eine derartig simple Falle getappt war.

McMillan hatte sich Notizen gemacht. »Aber Ihre eigene Reaktionszeit kannten Sie«, sagte er zu Kate, als habe er den Wortwechsel zwischen ihr und Phillips gar nicht mitbekommen.

»Ja, die kannte ich«, sagte sie.

»Glauben Sie, dass Sie das Beiseitestoßen von Officer Perez einen Schuss gekostet hat?«

»Nein, das glaube ich nicht.« Weil sie zu diesem Zeitpunkt noch dabei gewesen war, ihre Waffe aus dem Halfter zu reißen. Eine Tatsache, die nur ihr bekannt war, und einem Toten. Hansen und Torrie hatten vor ihr gestanden, ihre Aufmerksamkeit völlig auf die Tür von Apartment 9 konzentriert. Perez hatte keine Chance gehabt, irgendetwas genauer mitzubekommen. Sie hatte hinter Kate gestanden, und dann hatte Kate sich umgedreht und sie beiseitegestoßen.

»Aber Sie haben nicht gefeuert«, sagte McMillan.

»Das musste ich auch nicht, wie sich herausstellte.«

»Aber Ihre Waffe haben Sie gezogen.«

»Sie wissen sehr gut, dass ich das getan habe.« Aber erst, als sie Crockett schon vor sich hatte …

»Niemand hat sie nach den fraglichen Vorgängen für Sie gezogen?«

»Ist die Frage ernst gemeint?«

»Beantworten Sie sie, Detective.«

»Nein.«

»Hatte Detective Holden ihre Waffe in der Hand?«

»Ja.«

»Das entspricht aber nicht ihrer eigenen Aussage.«

»Meiner Erinnerung nach hatte sie die Hand in der Umhängetasche, wo sie ihre Waffe trägt.«

»Detective, das ist nicht dasselbe wie die Waffe in der Hand halten.«

»Sie haben recht. Das ist es nicht. Sie hatte ihre Waffe nicht in der Hand.« Natürlich war es nicht dasselbe. Eine Waffe aus der Umhängetasche holen hieß diesen Bruchteil einer Sekunde verlieren. Dasselbe galt, wenn man die Waffe aus dem Achselhalfter ziehen musste.

»War es bei Ihnen genauso – hatten Sie die Hand an der Waffe in Ihrer Umhängetasche?«

»Nein.«

Tatsächlich hatte sie kurz zuvor die Hand in ihrer Umhängetasche gehabt, und zwar am Haftbefehl. Aber diesen beiden Ermittlern hatte sie nichts mehr zu sagen. Als Torrie an jene Tür klopfte, hätte Kate ihre Waffe in der Hand halten müssen. Für dieses Fehlverhalten hatte sie eine Kugel kassiert, das geschah ihr recht. Das Ganze hätte viel übler ausgehen können, sie war dankbar, dass es nicht schlimmer gekommen war. Auch so war der Preis schon hoch genug. Sie würde sich nicht öffentlich anprangern lassen, nur weil den beiden Herren hier der Gedanke zusagte.

»Warum versuchen Sie, Detective Holden zu decken?«

»Das würde ich niemals tun, und das hat sie auch nicht nötig«, sagte sie mit Nachdruck. »Sie hatte ihre Hand an der Waffe – das ist doch reine Wortklauberei.«

McMillan sagte: »Wortklauberei? Ich hoffe nur, Sie verschleiern die Antworten auf unsere anderen Fragen nicht durch solche Manöver.«

Sie starrte ihn mit unverhüllter Abneigung an. Er hielt ihrem Blick stand. Sie hatte im Laufe ihrer Karriere selbst Hunderte von Verhören und Befragungen durchgeführt, hatte aggressivste Kreuzverhöre von Verteidigern erlebt und durchgestanden. Doch sie hätte es sich nie träumen lassen, von ihren eigenen Leuten so gehässig in die Mangel genommen zu werden. Sie sagte: »Ich bin Polizistin –«

»Ein Mann starb durch Polizeikugeln«, entgegnete McMillan scharf. »Polizisten sind von harten Fragen nicht ausgenommen und das sollten sie auch unter keinen Umständen sein. Sie sollten noch gründlicher verhört werden als Zivilisten.«

»Da haben Sie recht«, räumte sie ein, und ein Hauch von Respekt schimmerte durch ihre Abneigung.

Phillips sagte mit einem halben Lächeln: »Es ist immer schwer, mit Kritik fertig zu werden, ob sie nun konkret ist oder indirekt.«

»Irgendetwas stimmt bei alldem nicht«, sagte McMillan.

Kate schüttelte den Kopf. »Ich muss sagen, ich weiß beim besten Willen nicht, worauf Sie hinauswollen.« Sie schaute auf den Kassettenrecorder, dann fuhr sie fort. »Natürlich müssen Sie jeden Schusswechsel im Dienst genauestens prüfen. Aber dies hier ist eine sonnenklare Sache.«

»Na schön«, sagte McMillan aufgeschlossen, »Sie hatten ein paar Tage Zeit, um alles durchzudenken. Erklären Sie uns, wie sonnenklar es ist.«

Sie wies auf die Zeichnung. »Wir standen alle bereit, mit einem vorschriftsmäßigen Haftbefehl. Sergeant Hansen bat um Einlass in Apartment 9. Der Täter kam aus Apartment 7 hinter uns auf den Gang. Ein Cousin wohnt in diesem Apartment. Das konnten wir nicht wissen. Crockett hatte eine Waffe, er spannte den Hahn, ich hörte das. Ich drehte mich um, er schoss mir in die Schulter, Hansen und Torrie Holden erschossen Crockett.«

McMillans Gesichtsausdruck blieb unverändert. »Sofern das möglich ist, würden Sie sagen, dass dies ein guter Schusswechsel war?«

Kate seufzte, schaute hinunter auf ihren nutzlosen linken Arm. »Darian Crockett war siebzehn Jahre alt.«

»Ganz genau siebzehn«, sagte Phillips. »Es war sein Geburtstag. Das weiße Hemd war ein Geschenk seiner Mutter.«

Er klang beinahe väterlich, mit einem traurigen Unterton. Kate sah ihn scharf an und bemerkte, dass er einen Ehering trug.

»Beantworten Sie die Frage, Detective«, sagte McMillan. »War es ein guter Schusswechsel?«

Kate fiel auf, dass McMillan ebenfalls einen Ehering trug. Sie fragte sich, was für eine Frau einen so roboterhaften Mann heiraten mochte und ob er Kinder hatte. Sie sagte: »Alles lief vorschriftsmäßig. Crockett feuerte seine Waffe auf uns ab. Also, vergleichsweise – wenn es so etwas überhaupt geben kann – war es wohl ein guter Schusswechsel.«

»Was, wenn ich Ihnen sage, dass es nicht Crockett war, der Sie angeschossen hat?«

Sie saß vollkommen reglos da.

»Der Schuss ging durch Ihre Schulter. Der Notarzt sagte uns, dass die Kugel hinten eingetreten und vorn wieder herausgekommen ist. Holden, Hansen und Perez bestätigen Ihre Aussage in dem Punkt, dass sie alle hinter Ihnen standen, als Sie den Täter vor sich hatten. Sie wurden von einer Kugel aus den eigenen Reihen getroffen.«

Sie war fassungslos. Es war ihr keine Sekunde in den Sinn gekommen, die behandelnden Ärzte bezüglich der Beschaffenheit ihrer Wunde zu befragen. »Sie wollen mir sagen, dass Fred Hansen oder Torrie Holden mich angeschossen haben?«

»Oder Alicia Perez. Trotz Ihrer Maßnahme hat auch sie ihre Waffe abgefeuert.«

»Wissen die drei davon?«

»Natürlich wissen sie das. Sie sind ein wenig besorgt, wie Sie wohl auf diese Information reagieren werden. Also«, McMillan senkte die Stimme und fragte im James-Cagney-Ton: »Werden Sie sich rächen?«

»Die sind so gut wie tot«, parierte Kate unverzüglich.

McMillans anerkennendes Lachen war leise, tief und seltsam sympathisch.

Sie versuchte noch, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. »Wer –?«

»Wir wissen noch nicht, wer Sie angeschossen hat. Wir haben den gesamten Gang nach Kugeln abgesucht. Die Tests laufen noch. Alle drei haben mit einer Neunmillimeter geschossen. Crocketts Waffe war eine Achtunddreißiger, wie Ihre.«

»Schätze, ich bin ein wenig altmodisch«, murmelte Kate. Die Smith & Wesson war immer ihre einzige Waffe gewesen; sie hatte nicht mitgezogen, als die Kripo zu immer stärkerer Feuerkraft überging, um mit der Aufrüstung auf den Straßen Schritt zu halten. Nachdenklich sagte sie: »Ich weiß nicht, warum ich so überrascht bin. Ich weiß nicht, warum ich diese Möglichkeit nie in Betracht gezogen habe … Ich schätze, man geht immer davon aus, dass es der Schurke gewesen sein muss. Von den eigenen Leuten angeschossen werden ist … allerdings … tja, ich stand genau im Kreuzfeuer.«

McMillan lehnte sich vor. »Jetzt, wo Sie davon Kenntnis haben – sind Sie hundertprozentig sicher, dass es ein Versehen war?«

Sie setzte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Meinen Sie das im Ernst? Wollen Sie andeuten, dass einer meiner eigenen Leute die Gelegenheit genutzt hat, eine Rechnung zu begleichen?«

»Ihr Vietnam-Veteranen kennt das doch, wenn ein Kamerad durch eigene Granaten zerfetzt wird«, sagte Phillips und trommelte mit seinen stumpfen Fingern auf die Tischplatte, bis McMillan die Stirn runzelte und in Richtung des Kassettenrecorders nickte.

»Ich kann Ihnen mit ziemlicher Bestimmtheit versichern, dass es nichts dergleichen war«, sagte Kate sachlich.

»Man weiß nie«, sagte McMillan. »Jeder Mensch hat Feinde.«

Und Ihre könnten in einem Doppelring dieses Gebäude umstellen, dachte sie. Niemand vom OIS würde jemals einen Beliebtheitswettbewerb gewinnen.

McMillan fragte: »Wie empfinden Sie jetzt Ihrer Partnerin gegenüber? Ganz zu schweigen von Hansen und Perez?«

»Ich wünschte, irgendwer von ihnen hätte besser gezielt«, sagte Kate.

McMillan gönnte ihr wieder ein kleines Lachen. Er klopfte auf die oberste Akte des Stapels vor ihm. »Vierzehn Jahre bei der Mordkommission, kaum Beschwerden. Viele Belobigungen.«

McMillan schien ihre trockenen Scherze zu mögen, deshalb versuchte sie es weiter. »Ich bin nur die nette Allerweltspolizistin von nebenan.«

Aber McMillan reagierte nicht darauf. Er lehnte sich vor und schaltete den Kassettenrecorder ab. »Sie haben verdammtes Glück. Die haben endlich aufgehört, uns jedes Mal zu holen, wenn ein Polizist den Abzug durchdrückt, ganz gleich ob dabei jemand getroffen wird. Die Abteilung Internal Affairs steckt trotzdem bis zum Hals in hirnlosen Beschwerdeanträgen. Heutzutage bleibt niemand davon verschont.«

Kate nickte. Beschwerden von Zivilisten gegen Streifenpolizisten und Ermittlungsbeamte häuften sich auf allen Ebenen. In diesen Zeiten beständiger politischer Schadensbegrenzung – Rodney King und O.J. Simpson hatten ihre Spuren hinterlassen – war das Los Angeles Police Department gewappnet, aber Beschwerden über Polizeibeamte waren eine heikle Sache, und die Internal Affairs-Abteilung ging selbst den hanebüchensten Anschuldigungen nach. Manche Leute nutzten den Beschwerdeweg auch für einen Rachefeldzug gegen die Polizei. Wurde in der polizeilichen Personalakte eine Untersuchung erwähnt, so haftete das den Betroffenen für immer an, selbst wenn er oder sie entlastet wurde.

Phillips sagte: »Sie haben sich nicht ein einziges Mal wegen Überlastung beurlauben lassen.«

»Sie wissen doch, was wir bei der Mordkommission für eine ruhige Kugel schieben«, sagte sie. Was wollte er von ihr hören? Ihre Schulter fing an zu schmerzen.

»Ja, Sie sollten mal die Jungs in unserem Dezernat hören«, murmelte McMillan.

Kate ging darauf nicht weiter ein, das musste sie auch nicht. Es war bekannt, dass die Moral der Beamten des Elite-Morddezernats im Parker Center absolut im Keller war nach dem Rundumschlag der Verteidiger in der O.J. Simpson-Sache gegen die zuständigen Ermittler.

Phillips schaltete den Kassettenrecorder wieder ein. »Sie sind schon so lange Polizistin, und nicht wenigstens ein Mal wegen Überlastung beurlaubt?«, sagte er.

Tja, dachte sie bissig, da hast du eine der drei selbstverständlich minderwertigen Frauen, die am Schusswechsel in der Gramercy Street beteiligt waren.

»Die Straßen sind ziemlich gefährlich heutzutage«, sagte Phillips.

Diese Bemerkung verdiente keine Antwort. Und der Schmerz in ihrer Schulter wurde zusehends stärker, und sie würde lieber sterben als vor diesen beiden Knilchen ein Schmerzmittel einnehmen.

»Sie wirken etwas defensiv, Detective.«

»Natürlich sind die Straßen gefährlich«, bellte sie. »Denken Sie, ich verbringe meine Tage in einer heimeligen Schreibtischschublade?«

»Sie sagen Dinge, die sich von selbst verstehen, Detective.«

»Darin haben Sie viel mehr Übung als ich.«

McMillan nahm lächelnd eine Akte, öffnete sie und schrieb etwas hinein. »BSS wird eine weitere Beurteilung Ihrer Person liefern.«

»Was soll das heißen?«, wollte sie wissen. »Was versuchen Sie mir da anzutun?«

»Wir versuchen, uns Ihrer anzunehmen, Detective. Vielen Dank für Ihre Zeit. Sie bleiben weiterhin bei voller Bezahlung beurlaubt.«

»Wie lange?«

Er sah sie ausdruckslos an. »Bis Sie wieder zum Dienst bereitgestellt werden.«

McMillan schaltete den Recorder aus und stand auf. Phillips beeilte sich, es ihm nachzutun, und sammelte hastig die Akten ein.

Kate blieb am Tisch sitzen, während McMillan und Phillips das Büro verließen.

Ihren nächsten Termin hatte sie bei der Abteilung für Verhaltensforschung und therapeutische Dienste, wo sie psychologische Betreuung erhalten würde. Scheiße, dachte sie, ein Seelenklempner.

3. Kapitel

Die Therapeutin, eine Afroamerikanerin, erhob sich hinter ihrem Schreibtisch zu imposanter Größe und kam mit großen Schritten auf Kate zu, um sie zu begrüßen. »Ich bin Dr. Calla Dearborn. Aber nennen Sie mich Calla. Soll ich Kate sagen? Wie werden Sie am liebsten genannt?«

Kate antwortete der Form halber »Kate ist in Ordnung«, schüttelte ihr fest die Hand und ließ ihren Blick durch das Büro wandern, um ihre Erwartungshaltung der Umgebung anzupassen. Sie war sicher gewesen, dass der Therapeut »irgend so ein dürrer kleiner gefühlsduseliger Hohlkopf« sein würde, wie sie zu Aimee gesagt hatte.

Das Büro war ästhetisch höchst ansprechend in verschiedenen Blau- und Dunkelbrauntönen gehalten, denen man die fehlenden Mittel nicht ansah. Der Schreibtisch aus Walnussfurnier und das Sideboard passten optisch perfekt zu Aktenschrank, Couch- und Beistelltisch; das blaue Sofa passte zu den beiden Sesseln, deren Bezug den Anschein von Korbgeflecht gab; eine hohe, gesunde Birkenfeige stand in einem weißen Keramiktopf auf einem braun getupften Berberteppich neben einem Fenster mit Blick auf einförmige Dächer und triste Fassaden. Bis auf ein großes grau-blaues abstraktes Aquarell und ein halbes Dutzend Diplome und Zertifikate an der Wand hinter dem Schreibtisch gab es kaum etwas, das Rückschlüsse persönlicher Natur auf die Inhaberin dieses Büros zuließ.

»Bitte nehmen Sie Platz, wo Sie wollen, Kate.«

Sie fragte sich, ob die Frau von ihr erwartete, dass sie sich ganz in Beichtstimmung auf der Couch ausstreckte. Sie nahm ihre Umhängetasche von der bewegungsunfähigen linken Schulter und warf sie in eine Ecke des Sofas, ehe sie einen mit Rollen versehenen Sessel heranzog und sich setzte. Als sie an den Schreibtischbeinen dunkle, stumpfe Stellen entdeckte, fragte sie sich, ob das Trittspuren waren.

Calla Dearborn machte es sich auf ihrem Stuhl mit hoher Rückenlehne bequem, öffnete eine schwarze Ledermappe, in der ein gelber linierter Schreibblock lag, und sagte: »Zuallererst muss ich Ihnen einige Informationen darüber geben, warum Sie hier sind und was Sie von unseren Unterredungen erwarten können.«

Kate nickte. Die einzige Information, die sie wirklich brauchte, war, wie lange sie diesen Quatsch über sich ergehen lassen musste.

»Ich habe natürlich gehört, was geschehen ist. Wenn Sie genauso sind wie die meisten Polizeibeamten, dann möchten Sie sicher nicht hier sein, und vielleicht gehören Sie zu den Menschen, die ein so traumatisches Erlebnis schnell wegstecken. Aber wir haben durch unsere Arbeit mit Polizeibeamten beträchtliche Erfahrungen sammeln können und wissen, dass die seelische Belastung nach einem traumatischen Erlebnis ganz normal ist, dass es dabei viele Abstufungen und Symptome gibt und die Reaktion durchaus mit einiger Verzögerung einsetzen kann. Deshalb ist es für Sie wichtig, so schnell wie möglich über den Vorfall zu reden, damit Sie lernen, Ihre eigenen Reaktionen zu erkennen und zu verstehen. Sie sind von Berufs wegen Expertin in Strategien physischen Handelns. Was wir hier zu erreichen hoffen, ist, Ihnen Strategien emotionaler Bewältigung zu vermitteln, damit Sie bei einer verspäteten Reaktion nicht völlig aus der Bahn geraten.«

Kate nickte. Auf dem Gebiet des Traumas war sie wahrlich keine Anfängerin. Und nach den vielen Verhören, die sie durchgeführt hatte, kannte sie sich mit Psychologie auch ganz gut aus.

Dearborn fuhr fort: »Einige Reaktionen können körperlicher Natur sein. Alle Erfahrungen, die Sie in dieser Hinsicht machen, sind eine ganz normale Reaktion auf das, was Ihnen widerfahren ist. Von Übelkeit über Durchfall, Schlafstörungen und Müdigkeit bis hin zum großen Zittern. Vielleicht verspüren Sie den Drang, mehr zu essen oder mehr zu trinken. All diese Dinge sind völlig normal.« Sie sah Kate erwartungsvoll an.

»Diese Symptome habe ich alle nicht«, sagte Kate. Und wenn, würde ich es dir nicht auf die Nase binden.

»Ich bin nicht hier, um Ihre beruflichen Leistungen zu beurteilen«, versicherte Dearborn ihr. »Damit habe ich überhaupt nichts zu tun. Am Ende unserer gemeinsamen Zeit bin ich verpflichtet, Ihrem Captain einen telefonischen Bericht zu geben. Unsere Sitzungen sind in dieser Hinsicht also nicht hundertprozentig vertraulich. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich mich ihm gegenüber kurz fassen werde, nicht mehr als ein oder zwei Sätze, und selbst die werde ich Ihnen vorher mitteilen, damit wir darüber diskutieren können. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass in diesem Büro andere Dinge gesagt werden als später Ihrem Captain gegenüber. Nachdem ich meinen mündlichen Bericht abgegeben habe, werden unsere nachfolgenden Sitzungen, sollten Sie welche wünschen, vollkommen vertraulich sein.«

Während sie nickte, dachte Kate: Ehe ich freiwillig zur Therapie gehe, gibt’s in der Hölle eine Schneeballschlacht.

Kate musterte Dearborn, als diese einen schmalen grünen Kugelschreiber aus Malachit in die Hand nahm und etwas notierte. Dunkles, mit frostigem Grau durchsetztes Haar, vielleicht fünf Zentimeter lang, umrahmte wie ein Heiligenschein das ausdruckslose, beherrschte Gesicht, das nichts preisgab als offensichtliche, oberflächliche Details. Sie war mindestens sieben bis acht Zentimeter größer als Kate und jünger, Ende dreißig vielleicht, obwohl das schwer zu schätzen war. Ihre kräftige, ordentlich gepolsterte Gestalt steckte in einem gut sitzenden karamellfarbenen Kostüm. Um den Hals hing eine dünne Goldkette. An der linken Hand, die im Augenblick den Malachitstift hielt, trug sie einen Ehering und einen bescheidenen Verlobungsring mit Diamant.

Kate sagte, wie sie hoffte, entwaffnend: »Die einzigen körperlichen Beschwerden bereitet mir meine Schulter.«

»Wie geht es Ihrer Schulter jetzt?«

»Gut«, sagte Kate nachdrücklich, denn sie wollte nicht, dass diese Frau sie wegen körperlicher Versehrtheit für dienstuntauglich erklärte. »Bin in guter Verfassung. Ich hatte Glück. Die haben gesagt, ich werde wieder so gut wie neu.«

»Das freut mich. Andere Reaktionen können kognitiver Natur sein: Geistesabwesenheit, Konzentrationsschwierigkeiten, beständiges Hadern mit dem, was passiert ist, Flashbacks, ein Gefühl von Verletzbarkeit, sich der Umgebung extrem bewusst sein, Argwohn und Misstrauen –«

Kate schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts von alldem.«

»Träumen Sie schlecht, Kate?«

»Bisher schlafe ich ganz ausgezeichnet.«

»Ich bin froh, dass Sie ›bisher‹ gesagt haben. Ein Schusswechsel im Dienst ist besonders hart. Für manche Beamte ist es, als hätte sie ein Zug überrollt. Ins Kreuzfeuer der eigenen Reihen zu geraten macht den Fall noch prekärer –«

»Es war einfach Pech.« Und die gottverdammte Dummheit von wer immer mich getroffen hat. »Ein Unfall in Bruchteilen von Sekunden. Das ist mir bewusst«, sagte sie. »Und ich kann damit leben.« Nur nicht damit, dass ich deswegen hier hocken muss.

»Auf intellektueller Ebene können Sie das, da bin ich sicher. Aber Sie könnten trotzdem eine ganze Palette von Emotionen erleben: Kummer, Benommenheit, Angstzustände, intensivere emotionale Reaktionen auf Dinge, die Ihnen im Alltag widerfahren …« Sie hielt inne und sah Kate über die Stahlfassung ihrer Brille hinweg an.

»Sie haben Recht – es war ein schlimmes Erlebnis«, sagte Kate vorsichtig. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, das Gefühlsspektrum eines Roboters zu haben. »Aber ich scheine doch ganz gut damit klarzukommen.«

»Gewisse Reaktionen im Verhalten können sehr subtil sein. Zurückgezogenheit. Oder das Gegenextrem – das Geschehene herunterspielen, übermäßiger Tatendrang. Wutanfälle …«

Kate schüttelte den Kopf. »Bisher ist nichts dergleichen vorgekommen.«

»Kate, es ist wichtig, dass Sie eines verstehen: Sie sind nicht hier, weil Sie irgendetwas falsch gemacht haben. Jedwede Reaktion, die Sie aufgrund dieser Vorfälle erleben, ist weder falsch noch schlecht. Jedwede Reaktion, die Sie erleben, ist eine normale Reaktion auf ein anormales Geschehen. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ich verstehe Sie.« Calla Dearborns Taktik war geschliffen gut, dachte Kate. Das Ganze glich dem Verhalten eines erfahrenen Ermittlers, der versucht, in einem Gespräch mit einem Verdächtigen eine gewisse Harmonie herzustellen.

»Ich möchte, dass Sie mir von dem Vorfall erzählen«, sagte Dearborn.

Der Vorfall. Die Attacke, die Kränkung traf Kate im Innersten und sie versuchte, ihre Wut nicht durchklingen zu lassen. »Ich bin mir ganz sicher, dass Sie bereits alles wissen. Es stand in allen Zeitungen.«

Dearborn schaute sie scharf an. »Natürlich, mit Bildern und allem. Aber nur Sie wissen, was Ihnen passiert ist, und ich würde gern in Ihren Worten hören, was Sie gesehen und gehört haben.«

Kate lehnte sich resigniert im Sessel zurück und berichtete, was auf dem Gang in der Gramercy Street geschehen war. Ihre Darstellung war identisch mit dem Bericht, den sie am Morgen McMillan und Phillips gegeben hatte.

Dearborn hörte aufmerksam zu, dann machte sie sich eine Notiz und sagte: »Wir werden auf das Geschehene später zurückkommen. Wie lange sind Sie schon bei der Mordkommission?«

»Vierzehn Jahre«, antwortete Kate, zog eine Visitenkarte aus einem Acrylhalter auf dem Schreibtisch und sah sie sich genauer an:

Calla Dearborn, Ph.D.

Approbierte Psychologin

Liz.-Nr. PSY 705536

Se Habla Español

Sie steckte die Karte in ihre Jackentasche. Nun, da Calla Dearborn Ph.D. mit den Spielregeln und mit den grundlegenden Fakten der Schießerei so weit durch war, stellte sie Fragen, deren Antworten sie aus Kates Akte kannte – was darauf hinwies, dass sie einer Standardprozedur folgte, die Kates geistige Gesundheit bestätigen sollte. Schon jetzt deutete sich an, dass Kate ein kaum zu ertragendes Verhör vor sich hatte, eine unfassliche Verletzung ihrer Privatsphäre.

»Eine rhetorische Frage«, sagte die Psychologin. »Aber irgendwo muss ich ja anfangen. Vierzehn Jahre sind eine lange Zeit für die Mordkommission.«

Kate antwortete nicht.

In Calla Dearborns dunklen Augen blitzte Belustigung auf. »Erfahrene Polizisten – ihr Leute seid so an Vernehmungen vor Gericht gewöhnt, dass ihr immer nur ganz knappe Antworten gebt. Wie viele Todesfälle, würden Sie sagen, haben Sie in diesen vierzehn Jahren erlebt?«

Wie viele Polizeibeamte haben Sie im Laufe Ihrer Karriere über heiße Kohlen laufen lassen?, wollte sie ihr entgegenschleudern. Sie sagte: »Ich weiß es nicht.«

»Dutzende?«

Kate zuckte mit den Schultern. »Sicher.« Sie hasste das. Hasste es.

»Hunderte?«

»In dieser Zeitspanne werden es logischerweise mehr als hundert gewesen sein.«

»Vielleicht zweihundert?«

Sie kämpfte mit ihrer Verärgerung. »Ich weiß es nicht.«

»Wissen Sie es nicht, Kate, oder wollen Sie es nicht sagen?«

»Ich weiß es. Ich kann nur keinen Nutzen darin erkennen, sie zusammenzuzählen.«

Die Psychologin machte sich eine so kurze Notiz auf ihrem gelben Block, dass Kate vermutete, dass sie Steno schrieb. Sie sagte: »Vielleicht wollen Sie einfach nicht.«

»Würden Sie wollen?«

»Möchten Sie bitte meine Frage beantworten?«

Möchte ich nicht. Aber habe ich eine Wahl? »Sie zusammenzählen heißt sich erinnern.«

»Warum wollen Sie das nicht?«

Gott, wie sie das hasste. Es war noch schlimmer, als sie gedacht hatte. Sie sagte: »Wären Sie so nett, mir zu sagen, wie lange das hier noch gehen soll?«

Calla Dearborn schaute auf die Uhr. »Noch fünfunddreißig Minuten. Für diese Sitzung.«

Kate gelang es, ihr Temperament zu zügeln. Sie sagte: »Ich meine, alles in allem.«

»Wann Sie Ihre Arbeit wieder aufnehmen können? Ihr Captain hätte Sie gern möglichst schnell zurück, wie Sie sich sicher denken können. Ich lege es absolut nicht darauf an, Sie von Ihrer Arbeit fernzuhalten, Kate, aber wir müssen einige Punkte abhandeln, besonders bei einem Schusswechsel im Dienst. Wir werden eine Sitzung nach der anderen angehen. Jede einzelne Sitzung wird bestimmen, wie die nächste angegangen wird.«

Kate schaute sie an, abschätzend, wie sie eine feindselige Verdächtige während eines Verhörs zu mustern pflegte.

Die Gesichtszüge, das musste sie widerwillig zugeben, waren interessant. Hohe Stirn, weiche nussbraune Haut, die auf Höhe der Wangen und der breiten Nase einen warmen rosa Schimmer bekam, dunkler in einer Hautfalte auf den Augenlidern und in den winzigen Linien, die sich später zu dauerhaften Furchen um ihren Mund vertiefen würden. Breite, volle Lippen, von blassem, pflaumenblauem Lippenstift leicht akzentuiert. Augenbrauen, als hätte eine Fingerspitze einen kaum sichtbaren Bogen gezogen, so dass die weit auseinanderstehenden schwarzbraunen Augen, grün gefleckt und von einem stählernen Brillengestell umrahmt, das Gesicht mit ihrer Intelligenz dominierten.

Die Psychologin sah ruhig zu, wie Kate sie eingehend musterte. »Sie beantworten nicht gern Fragen.«

»Sagen wir einfach, ich bin es gewöhnt, die Fragen zu stellen.«

»Sie beantworten nicht gern Fragen«, wiederholte die Psychologin. »Und Sie reden nicht gern über Ihre Arbeit.«

»Keine dieser Mutmaßungen ist völlig richtig«, sagte Kate liebenswürdig.

Calla Dearborn lächelte und ein winziges Grübchen erschien auf ihrer rechten Wange. »Mit wem reden Sie über Ihre Arbeit?«