9,99 €
Sein Leben in Sydney hinter sich lassen: Das war alles, was Kian wollte, als er zurück nach Bath und zu June kam. Doch schon bald wird ihm klar, dass er vor seiner Vergangenheit nicht fliehen kann und dass June sich ihm nicht geöffnet hat, nur damit er sich vor ihr verschließt. Denn ganz gleich, wie verschieden June und er sich entwickelt haben: Die Liebe zu ihr ist das Wichtigste für ihn, wichtiger als aller Ruhm dieser Welt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
WAS, WENN DU ZWEI TRÄUME HAST … WAS, WENN BEIDE IN ERFÜLLUNG GEHEN, UND DU DICH FÜR EINEN ENTSCHEIDEN MUSST?
Seit vier Monaten ist Kian zurück in Bath, seit einem ist er mit June zusammen. Das Glück ist beinahe perfekt. Bis dieser eine Song im Pub läuft. Bis Kians Leben aus Sydney plötzlich an die Tür klopft, und alles auf den Kopf stellt. Kann er June glauben, wenn sie sagt, dass sie an seiner Seite bleiben wird? Schafft Kian es, seine beiden Träume miteinander zu verknüpfen?
Für alle die noch nicht aufgegeben haben.
Früher
Seine Finger tanzten
über die Saiten der Gitarre
Er tauchte in eine andere Welt ein
eine Welt, die ihm allein gehörte
Die Regung seines Gesichts
verriet, was er fühlte
Nur beim Spielen
kehrte er seine Emotionen
nach außen
Er legte seine Seele offen
Die Kraft des Songs war zum Greifen nah
Früher
Ein schwerer Körper presste sich auf meinen. Ich hatte keinerlei Erinnerungen an die letzte Nacht oder die Party, auf der ich gewesen war.
Super.
Mit angehaltenem Atem schlug ich die Augen auf.
Erleichtert ließ ich die Luft entweichen. Meine Beine waren mit denen von June verschlungen, und ihr langes Haar lag ausgebreitet auf meiner Brust.
Ich war nicht in Sydney, sondern in Bath. Ich hatte keine Erinnerungen an eine Party, weil es keine gegeben hatte.
Wir waren gestern Abend einfach eingeschlafen. Nackt. Miteinander. Ganz ohne Alkohol.
Ich sollte mich endlich daran gewöhnen.
Langsam malte ich Muster auf ihre Haut, holte sie aus der Welt der Träume zurück in meine Arme. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, als sie aufwachte.
Ich beugte mich vor, um sie zu küssen, doch eine laute Stimme unterbrach uns.
»Hilfe, meine Augen! Ich bin blind!«
Ich hielt in meiner Bewegung inne und sah auf. Theatralisch hielt Pekka sich die Hand vor die Augen. Stöhnend ließ ich meinen Kopf zurück in die Kissen fallen.
Arschloch.
Er versaute uns den perfekten Morgen danach.
»Halt die Klappe«, schnaubte June. Sie streckte sich, um an ihr T-Shirt zu kommen, das wir gestern irgendwo auf dem Wohnzimmerboden zurückgelassen hatten.
Ich war froh darüber, dass wir aneinandergekuschelt waren und so das meiste vor Pekkas Augen verborgen blieb. Sonst hätte ich ihn auf eine noch qualvollere Weise umgebracht, als ich ohnehin vorhatte.
»Leute, das ist widerlich.«
Ich rollte die Augen. Bitte nicht auch noch Simon. Junes beiden Mitbewohner hatten sich den denkbar schlechtesten Zeitpunkt ausgesucht, um das Wohnzimmer benutzen zu wollen.
Simon bückte sich und hob das T-Shirt auf, an das June noch immer nicht herangekommen war.
»Wozu habt ihr ein Schlafzimmer?«
Immerhin benötigten wir keine schalldichten Wände, so wie Pekka.
Junes Kopf war hochrot, als sie das Shirt entgegennahm, ich dagegen schmunzelte nur.
»Der Weg war zu weit.«
Simon verdrehte nur die Augen.
»Ich werde nie wieder ruhig schlafen können.« Pekka fuchtelte mit der freien Hand in der Luft herum, während er Richtung Tür stolperte und die Hand als Stoßdämpfer gegen sämtliche Möbelstücke nutzte. Simon folgte ihm grinsend. »Ich werde nie wieder auf diesem Sofa sitzen können«, konterte er.
June riskierte einen Blick zu mir. Obwohl ich mir große Mühe gab, konnte ich mein Lachen nur schwer unterdrücken.
Ihr Gesicht stand in Flammen, als sie es an meiner Brust vergrub.
»Sehr witzig«, murmelte sie. Ich grinste.
Sie rollte sich von mir herunter und stand auf. »Vielleicht sollten wir das nicht wiederholen«, schlug sie vor und reichte mir die Hand, um mir hochzuhelfen. Schockiert sah ich sie an.
Ihr Haar fiel in langen braunen Wellen um die Schultern. In ihren Augen lag ein Funkeln. Ich musste mir wirklich Mühe geben, mir nicht jeden Zentimeter ihrer nackten, zarten Haut anzusehen.
»Wir sollten das auf jeden Fall wiederholen«, stellte ich klar und ließ mich ins Sitzen ziehen. »Nur vielleicht in einem Zimmer, das man abschließen kann.«
Ich nahm ihr das T-Shirt ab und streifte es ihr vorsichtig über den Kopf. Dann zog ich sie daran näher an mich und holte mir endlich den Kuss, bei dem wir vorhin unterbrochen worden waren.
Ich sehnte mich schon jetzt nach unserer nächsten Nacht. Weil ich mich an jedes einzelne Detail jeder einzelnen Nacht erinnern konnte. Weil meine Sinne weder von Alkohol noch von irgendwelchen anderen bewusstseinsverändernden Drogen benebelt gewesen waren.
Ich spürte alles.
Bei ihr konnte ich ganz ich selbst sein.
Ich könnte ganz ich selbst sein.
Ich könnte ihr von meiner Vergangenheit erzählen, und ich könnte meine Dämonen mit ihr teilen.
Weil sie es auch getan hatte.
Weil sie ein Teil meiner Seele war.
Aber ich war ein Feigling und versteckte mich lieber hinter blöden Sprüchen.
Eine Woche war es her, dass ich mir geschworen hatte, eine Möglichkeit zu finden, sie in mein Leben zu lassen.
Aber alle Wege, die ich in Betracht zog, waren entweder verschüttet oder zu schmal, um darauf zu gehen.
»Kommst du nachher vorbei?«, fragte ich, als ich mich wie jeden Morgen von June löste und wieder den Lenker meines Fahrrads umfasste. Wir standen an der Ecke, an der wir in unterschiedliche Richtungen abbiegen mussten. Sie antwortete mir mit einem Nicken. Ihr Sommerkleid bauschte sich im Wind, und als sie abbog, starrte ich eine Weile auf die Stelle, an der ich sie zuletzt gesehen hatte.
Mir war klar, dass ich sie irgendwann verlieren würde.
Meine Tage in Bath waren gezählt.
Es brach mir das Herz.
Ich setzte die Sonnenbrille, die ich bei jedem Wetter trug, zurück auf meine Nase, kramte meine Kopfhörer aus der Jackentasche und ging meine Musik durch. Ich hatte einfach weiterscrollen wollen, aber wie immer blieb mein Finger fast von selbst an der Band hängen.
Shattered Tears.
Die Worte kamen mir viel größer als alle anderen vor, und ein Schauer lief meinen Rücken hinunter. Ich musste diese verfluchte Musik endlich von meinem Handy löschen. Aber ich konnte nicht.
Bilder aus Sydney tauchten vor meinem inneren Auge auf, und immer lief im Hintergrund diese Musik.
Immer.
Ich wedelte mit der Hand, um die Gedanken zu verscheuchen, und scrollte weiter.
Ich entschied mich für das letzte Album von Bon Jovi und seufzte bei dem vertrauten Klang auf.
Ich stopfte das Handy in meine Hosentasche und schwang mich endlich auf mein Rad. Bis zu Olafs Café waren es nur noch wenige Straßen. Ich kannte jeden Winkel der Stadt seit meiner Kindheit, und doch hatten sich so viele kleine Dinge verändert. In der Hausnummer zwölf wohnte keine alte Dame mehr, sondern eine junge Familie, die Tür der Hausnummer sieben war nicht mehr blau, sondern braun gestrichen. Ich seufzte. Genauso hatte auch ich mich verändert.
Trotzdem würden Bath und seine honigfarbenen Fassaden für immer mein Zuhause bleiben.
An meinem Ziel angekommen, schloss ich mein Rad an eine Laterne an und betrat meinen Arbeitsplatz. Auf die kleine Tafel neben der Tür war noch nichts geschrieben worden, denn seit ich hier arbeitete, war das meine Aufgabe. Ich nahm die Kreide von der Ablage und überlegte einen Moment. Inzwischen hatte die Musik gewechselt, und ein Song von Yellowcard erklang in meinen Ohren.
Lächelnd schrieb ich: Höre mal wieder deine alte Lieblingsband.
Es war nicht direkt eine Lebensweisheit, aber dieser Begriff ließ sich schließlich sehr weit dehnen.
Ich betrat das kleine Café, und der vertraute Kaffeegeruch stieg mir in die Nase. Wie immer gab es diese eine Sekunde, in der ich glaubte, wieder klein zu sein. Das Café und Olaf, der auf mich zukam, erschienen mir riesig. Freundlich begrüßte ich ihn, als er vor mir zum Stehen kam. Inzwischen überragte ich ihn fast um einen ganzen Kopf und musste mir eingestehen, dass ich vierundzwanzig und kein kleines Kind mehr war.
»Ist Betty schon da?«, fragte ich, während ich mich auf den Weg nach hinten machte. Olaf bejahte, und ich verschwand in dem kleinen Hinterraum.
»Hey«, begrüßte ich Betty. Ich bekam nur einen genervten Blick. Sie kämpfte mit der Schleife ihrer Schürze.
»Brauchst du Hilfe?«, fragte ich, während ich meine Tasche ablegte und mein T-Shirt aus dem Regal zog. Beim Arbeiten trugen wir T-Shirts, auf denen der Name des Cafés stand. »Ja.« Betty wandte mir den Rücken zu, damit ich die Schleife binden konnte. Ich verkniff mir ein Grinsen. Sie bedankte sich artig und verließ den Raum. Schweren Herzens nahm ich die Sonnenbrille ab und verstaute sie in meiner Tasche. Olaf hatte mir verboten, sie während der Arbeit zu tragen, obwohl ich sie am liebsten an keinem öffentlichen Ort abgenommen hätte. Ich trauerte meinen langen Haaren nach. Bevor ich zurück nach Bath kam, konnte ich mir meine braunen Locken vors Gesicht fallen lassen, wann immer ich nicht gesehen werden wollte.
Kopfschüttelnd zog ich mein T-Shirt aus.
Der alte Lukas war der erste Kunde, der uns an diesem Morgen besuchte. Er trank seinen Kaffee schwarz, mit einem Stück Zucker, setzte sich immer an denselben Tisch am Fenster und las seine Zeitung. Punkt sieben Uhr fünfzehn traf er hier ein, und manchmal machte ich seinen Kaffee schon, bevor er da war. Auch heute stellte ich ihn gerade auf seinem Tisch ab, als er durch die Tür kam.
»Danke, mein Junge«, sagte er und setzte sich. Ich lächelte höflich und leierte mein Kann ich Ihnen sonst noch etwas bringen? herunter, obwohl ich genau wusste, dass er nichts mehr dazu wollte. Es war erschreckend, wie viel ich, nur dadurch, dass ich den Menschen am Morgen ihren Kaffee machte, über sie erfuhr.
Ich lief den gesamten Tag umher. Trug Geschirr von einer Ecke in die andere, nahm Bestellungen auf und machte Getränke. Gegen drei Uhr gönnte ich mir selbst einen Kaffee und ließ Betty kurz alleine arbeiten. Sie warf mir nur einen genervten Blick zu.
»Willst du auch einen?«, fragte ich, doch ihre Antwort war lediglich ein Schnauben. Seelenruhig trank ich einen Schluck und lehnte mich gegen die Ablage.
June ließ ewig auf sich warten. Obwohl mir klar war, dass sie erst gegen Abend vorbeikommen würde, wurde ich mit jeder Stunde, die verging, hibbeliger. Ich kam mir vor wie ein Teenager, der zum ersten Mal verliebt war. Das Schlimmste daran war, dass es mir absolut nichts ausmachte.
Kurz nach sechs schob Betty mir einen Zettel rüber, auf dem die nächsten Getränke aufgelistet waren. Ein Tee und ein Kaffee mit Vanillesirup. Ich wirbelte so schnell herum, dass ich Betty beinahe umgestoßen hätte; die Augen rollend, trat sie einen Schritt zur Seite. Ich achtete nicht auf sie. Es gab nur eine Person, die einen so ekelhaften Kaffee bestellte, und diese Person liebte ich.
June hatte sich gerade an unserem kleinen Tisch niedergelassen. Ihr gegenüber saß ihre Chefin Ms Louis. Wieder erschien dieses dümmliche Grinsen auf meinem Gesicht. Ich beeilte mich, die Getränke der beiden zuzubereiten und zu ihrem Tisch hinüberzugehen.
Zuerst stellte ich den Tee vor Ms Louis ab und begrüßte sie höflich, dann gab ich June ihre Tasse und beugte mich zu ihr hinunter.
»Du hast so lange gebraucht, Büchernerd«, murmelte ich und sah, wie sich eine Gänsehaut in ihrem Nacken ausbreitete. Meine Mundwinkel zogen sich nach oben.
»Ich hab dich vermisst.«
Eine Sekunde lang bewegte sie sich nicht, dann griff sie in ihre Tasche, die über dem Stuhl hing, und zog ein Buch heraus.
»Es gab Neuerscheinungen«, sagte sie, als wollte sie sich verteidigen. Ich lächelte noch ein wenig breiter.
»Na, dann kann ich dir ja heute Abend vorlesen«, sagte ich. Das Cover zeigte den zweiten Teil einer Reihe, die sie vor einiger Zeit begonnen hatte. Tatsächlich empfand ich ein wenig Vorfreude. Junes Bücherliebe hatte schon immer auf mich abgefärbt, und dieses Buch interessierte mich, denn das vorherige hatte mit einem üblen Cliffhänger geendet. Ich küsste ihre Wange und wollte mich schon zum Gehen wenden, da beugte ich mich noch einmal nach vorne. Viel näher als noch gerade eben. Sie hielt die Luft an.
»Fang nicht ohne mich an«, flüsterte ich leise. Ich richtete mich auf, grinste sie an und machte mich wieder auf den Weg zu meiner Theke. Hinter mir hörte ich sie schnauben, und meine Mundwinkel zuckten nach oben.
Erst ein paar Minuten später riskierte ich wieder einen Blick zu den beiden. June hatte ihren Laptop vor sich aufgebaut und tippte fleißig, vermutlich tat sie irgendwas für die Uni. Ms Louis war in ein Buch vertieft. Es sah so friedlich und normal aus, dass sich mein Herz zusammenzog.
»Wir machen Schluss für heute.« Olaf klopfte mir auf die Schulter. Ich sah mich um und runzelte die Stirn. Ich hatte nicht bemerkt, dass June und Ms Louis die Einzigen waren, die noch an einem der Tische saßen.
Ich folgte Betty in den kleinen Raum, um mich umzuziehen. Anschließend gingen wir zu den anderen. Olaf stellte den vom Tag übrig gebliebenen Kuchen auf den Tisch und forderte alle auf, sich etwas zu nehmen. Er schmiss niemals etwas weg. Wenn Kuchen übrig blieb, verschenkte er ihn am nächsten Tag oder verkaufte ihn für wenige Pence. Ich zog einen Stuhl vom Nachbartisch heran und stellte ihn so dicht neben den von June, dass wir uns berührten, als ich mich setzte.
Olaf küsste Ms Louis’ Haar. Sie legte den Kopf in den Nacken, um ihn selig anzulächeln. Betty grinste zum ersten Mal an diesem Tag und häufte sich ein großes Stück Kuchen auf den Teller. Olaf setzte sich. Ich legte einen Arm um June und zog sie an mich. Leider konnten wir nicht lange in dieser Position verweilen, denn schon eine Sekunde später nahm ich eine mir nur allzu vertraute Stimme wahr.
»Entschuldigt, ich habe es nicht früher geschafft.«
»Ellie!«, rief June und wand sich aus meiner Umarmung, um unsere beste Freundin zu begrüßen. Die beiden fielen sich in die Arme, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen.
Ella begrüßte Ms Louis und Olaf, umarmte Betty kurz und küsste meine Wange. Grinsend rieb ich mir über die Stelle. Sie zog sich ebenfalls einen Stuhl vom Nachbartisch heran und erkundigte sich, ob der Kuchen vegan war. Olaf bejahte, und sie stürzte sich darauf.
Es wurde ein netter Abend. Ms Louis und Olaf erzählten alte Geschichten, ich hing an ihren Lippen. Jedenfalls manchmal, denn die meiste Zeit galt meine Aufmerksamkeit June. Es fiel ihr mit jedem Mal leichter, in größeren Runden ebenfalls zu reden, Fragen zu stellen und sich zu entspannen. Wenn ich daran dachte, wie wenig sie noch vor ein paar Monaten in einer Gruppe dieser Größe geredet hatte, breitete sich Stolz in mir aus. Ella schien dasselbe zu denken, denn von Zeit zu Zeit wanderte auch ihr Blick zu June. Irgendwann war mir der Abstand zu groß, und ich beugte mich zu June hinüber, um sie zu küssen.
Olaf seufzte. »Ich wünschte, wir hätten uns so früh wiedergefunden wie ihr.«
Schweren Herzens löste ich mich von June, um ihn anzusehen. Liebevoll betrachtete er zuerst Ms Louis und dann uns.
»Ihr habt alles richtig gemacht.«
Ich erstarrte. Seine Worte waren ein Fausthieb in meine Magengrube.
Ich hatte nichts richtig gemacht.
June hatte keine Ahnung, wer ich war.
Ich lehnte mich neben den Fahrradständern an die Mauer und tippte nervös mit dem Fuß auf den Boden. Noch waren kaum Studenten zu sehen. Das Unigelände lag fast verlassen vor mir. Ich starrte auf die Eingangstür. Jedes Mal, wenn ich hier war, verspürte ich diesen Drang, das Innere des alten Gebäudes zu betreten und mir einen der Hörsäle genauer anzusehen, mir eine Vorlesung anzuhören und dazuzulernen.
Hätte ich June gefragt, hätte sie mir mit Sicherheit alles gezeigt. Sie hätte mich durch die Seminarräume geführt, hätte mir die Bibliothek gezeigt und mir alles erklärt, worauf es bei einem Studium ankam.
Aber ich fragte June nicht.
Ich hatte zu große Angst davor, dass mein armseliger Kindheitstraum, studieren zu wollen, dann noch unerreichbarer schien. Dass ich noch größere Schwierigkeiten haben würde, ihn aus meinem Kopf zu verbannen.
Du bist Kian Winter. Du brauchst nicht zu studieren. Deine Zukunft ist abgesichert.
Ich zuckte zusammen, als mir die Worte meiner Mutter durch den Kopf schossen, und presste meine Lippen aufeinander.
Ich wollte keine abgesicherte Zukunft. Ich wollte spontan entscheiden, in welche Richtung ich morgen gehen würde.
Wütend kickte ich einen Stein in die Luft. Niemanden in Sydney hatte das interessiert. Niemanden. Sie alle hatten nur das verfluchte Geld gesehen.
Jemand rief meinen Namen. Ich hob den Kopf, und in der Sekunde verflog jeder Gedanke an mein altes Leben. Ich umfing June mit den Armen und wirbelte sie herum. Sie strahlte mich an, und ich hielt sie augenblicklich fester. Dieses Lächeln.
Ich beugte mich vor, um ihre Lippen zu küssen. Ihre Hände krallten sich in mein Haar.
»Muss das sein?«, fragte eine belustigte Stimme, und June löste sich von mir. Genervt öffnete ich die Augen und funkelte Kate an.
»Ja«, beantwortete June ihre Frage und rutschte aus meinen Armen zurück auf den Boden. Ich knurrte.
»Ihr seid echt ekelhaft süß.« Kate lehnte sich an die Mauer, an der ich bis gerade eben noch gestanden hatte. Jetzt musste ich doch grinsen.
»Lass das ekelhaft weg, und ich stimme dir zu.«
Sie rollte nur die Augen. June hatte sich über ihr Fahrrad gebeugt, um es aufzuschließen.
War sie etwa rot geworden?
Wir verabschiedeten uns von Kate und fuhren in die Innenstadt, um Ella abzuholen. Zu dritt machten wir uns in Richtung des Dry City Lake auf.
Die Sonne strahlte vom Himmel, als wir nebeneinander die Straße entlangrollten. Es war Anfang Juli, und der Sommer war in vollem Gange. Die Landschaft war grün, und alles schrie danach, Zeit im Freien zu verbringen. Ich nahm die Hände vom Lenker und ließ sie in meinen Schoß fallen. Unwillkürlich musste ich lächeln. Wegen dieses Gefühls war ich zurückgekommen. Das hier war, wonach ich in Sydney vergebens gesucht hatte. Leider wurde mein Hochgefühl vom Summen meines Handys unterbrochen. Ein Auto kam uns entgegen, also legte ich eine Hand zurück an den Lenker und fischte mit der anderen das Handy aus der Hosentasche. Mein Blick klebte an dem Auto, weshalb ich das Gespräch entgegennahm, ohne vorher einen Blick auf das Display zu werfen. Ein Fehler.
»Kian.«
Die Stimme meines Bruders. Ich zuckte zusammen, und mein Rad machte einen gefährlichen Schlenker. Bisher hatte ich keinen von Daves Anrufen entgegengenommen. Nur ein einziges Mal hatte ich ihn selbst angerufen.
Als ich mein Rad wieder unter Kontrolle hatte, atmete ich einmal durch.
»Was willst du?«
Ella und June waren schon ein Stück vorausgefahren und unterhielten sich leise. Dave seufzte.
»Willst du mir nicht endlich verraten, wo du bist?«
Ich biss die Zähne aufeinander.
»Damit du gleich mit drei fetten Kutschen hier anrückst, um mich abzuholen? Vergiss es, Davie.«
»Nenn mich nicht so«, zischte er.
Ich schnaubte.
Er ignorierte es.
»Du bist jetzt seit vier Monaten verschwunden. Denkst du nicht, es reicht langsam mit dieser Kinderkacke?«
»Dave …«, warnte ich ihn. Vielleicht verhielt ich mich wie ein störrischer Teenager, aber ich hatte es keine Sekunde länger in Sydney ausgehalten.
Er motzte weiter. »Wie stellst du dir das vor? Wie sollen wir ohne dich weitermachen?«
Ich zuckte die Schultern und umklammerte meinen Lenker. »Das ist mir, ehrlich gesagt, scheißegal. Ich bin das alles nicht mehr. Und ich will es auch nicht mehr sein.«
Dave holte hörbar Luft. »Kian, kannst du bitte einmal realistisch denken …«
Ohne ihn aussprechen zu lassen, legte ich auf. Dieser Arsch konnte mich mal. Kreuzweise.
Ich stopfte das Handy zurück in meine Hosentasche und trat wütend in die Pedale. Ich wollte über diesen ganzen Mist nicht nachdenken.
Ich holte June und Ella erst am See ein. Sie hatten ihre Fahrräder ins Gras gelegt und ihre Handtücher bereits ausgebreitet. Ich warf meinen Rucksack auf den Boden, pfefferte mein Handy daneben und zog mir das T-Shirt über den Kopf. Ohne irgendwas zu sagen oder einen der beiden anzusehen, machte ich mich auf den Weg in Richtung See. Ich schloss die Augen, als ich eintauchte und das Wasser mich umspülte. Schwer ließ ich mich von meinem Gewicht nach unten ziehen. Die Welt verstummte, und für ein paar Sekunden verstummten auch meine Gedanken. Alles befand sich in wohliger Stille. Ich löste meine Position und tat zwei Züge in die Weite des Sees hinein. Das hier war noch ein Grund, warum ich wieder zurückgekommen war. Hier konnte ich ins Wasser gehen. Schwimmen war wenigstens eine Sache, die ich liebte und die ich nicht mit Sydney verband.
Jemand packte meine Schultern und zog daran. Ich öffnete die Augen. June zog an mir, bis wir, prustend und nach Luft schnappend, an die Oberfläche kamen. Als wir wieder etwas Sauerstoff in unseren Lungen hatten, sah sie mich prüfend an.
»Was ist los?«
Automatisch zog ich den Kopf ein. Es war ein Fluch, wie gut diese Frau meine Stimmung einschätzen konnte.
Ich schüttelte den Kopf und setzte ein Lächeln auf.
»Ich wollte nur schnell ins Wasser.«
June schnaubte. Anklagend deutete sie auf mich. »Nimm dieses falsche Lächeln aus deinem Gesicht.«
Sofort senkten meine Mundwinkel sich nach unten.
»Und jetzt sag mir, was los ist«, verlangte sie. Ich hätte sie so gerne an mich gezogen, sie geküsst und alles andere vergessen, aber es wäre, verdammt noch mal, nicht fair gewesen.
»Hey …« Sie schwamm näher zu mir und berührte meine Wange. Ohne es zu wollen, schmiegte ich mich in die Berührung.
»Ich muss es nicht verstehen, okay?« Ihre Stimme war so weich geworden, dass es mir den Atem nahm. Sie kam noch ein Stück näher, sodass ich meine Arme um sie schlingen konnte. »Sag mir einfach, wie ich dir helfen kann.« Ihr Blick bohrte sich in meinen, und, Shit, ich kannte diesen Blick. Ich vertraute June viel zu sehr, um zu schweigen.
»Dave hat mich angerufen«, murmelte ich.
»Interessiert sich auch noch jemand für mich?« June und ich fuhren gleichzeitig herum und starrten Ella einen Moment an, dann warfen wir uns einen Blick zu und brachen in Gelächter aus. Unsere beste Freundin stand im seichten Wasser, nur bis zu den Knien nass, und bibberte, als könnte sie bei dreißig Grad Außentemperatur erfrieren. Ich ließ June los und war mit wenigen Kraulzügen bei ihr.
»Oh nein.« Warnend machte sie einen Schritt nach hinten, doch da hatte ich mich schon auf sie geworfen und sie mit mir nach unten gezogen. Ich hörte noch, wie sie nach Luft schnappte, bevor das Wasser über uns zusammenbrach.
Als wir wieder auftauchten, war June bei uns angekommen, sie lachte zwar, aber ihr Blick klebte noch immer an mir.
Ich versuchte, es so gut ich konnte zu ignorieren. Gemeinsam schwammen wir ein Stück auf den See hinaus. Ella beschimpfte mich, aber sie meinte es nicht ernst.
Die Sonne ließ die Wasseroberfläche glitzern, die Bäume am anderen Ufer leuchteten in einem saftigen Grün.
Zu Hause.
Ich tauchte und schwamm ein paar Züge unter Wasser.
Es fühlte sich fast an wie früher. Wir schwammen um die Wette, tauchten uns gegenseitig unter und hatten eine Menge Spaß, aber irgendwie genoss ich es heute nicht so sehr wie sonst. Auch als wir später nebeneinander auf unseren Handtüchern lagen, konnte ich mich nicht so recht entspannen. Ich hatte meinen Kopf in die Hand gestützt und hörte den beiden zu, wie sie über Junes Studium und Ellas Job sprachen.
»Wirst du uns eigentlich irgendwann verraten, weshalb du zurückgekommen bist?«, fragte Ella.
Ich erstarrte. Langsam richtete ich meinen Blick auf sie.
June setzte sich auf. Der Ausdruck in ihrem Gesicht war unergründlich.
»Ehm …«, machte ich und kramte in meinem Hirn nach einer passenden Antwort. »Ich habe euch vermisst«, sagte ich in dem frechen Tonfall, den ich in Sydney so gut beherrscht hatte.
Ella lachte. »Oh, danke, ich fühle mich geehrt.«
June schwieg. Sie lachte nicht.
»Das solltest du auch«, witzelte ich, fand es aber nicht annähernd so lustig, wie ich vorgab.
»Wir müssen das echt öfter machen.« Ella drehte sich auf den Rücken und lächelte den Himmel an. »Habt ihr Samstag Zeit? Dann könnten wir noch einen Filmabend dranhängen.«
Ich versteifte mich.
»Wir können schon frühmorgens an den See fahren …«
»Ella, hör auf zu planen«, unterbrach ich sie, ohne darüber nachzudenken. Erschrocken riss sie die Augen auf, und ich verfluchte mich, nicht meine Klappe halten zu können.
»Kian.« Junes Stimme hatte etwas Beschwichtigendes.
»Nein.« Ich stand auf und faltete mein Handtuch zusammen. »Wir können das gerne alles machen, aber das können wir auch spontan entscheiden.«
»Es war nur ein Vorschlag, wir müssen es nicht tun.« June stand ebenfalls auf. Ich trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Ich war es zu sehr gewohnt, dass Vorschläge zu einer Pflicht für mich wurden.
June warf ihre Klamotten in die Kommode und drehte sich zu mir um. Sie hatte den ganzen Tag kaum mit mir gesprochen.
Ich lag schon im Bett und hob die Decke ein Stück an, damit sie mit darunterkriechen konnte. Seufzend folgte sie meiner Aufforderung. Ich schlang die Arme um sie und zog ihren Körper an meinen. Der Geruch ihrer Seife stieg mir in die Nase, und ich atmete tiefer ein.
Zitronen.
»Es tut mir leid«, murmelte ich in ihr Haar. »Natürlich können wir am Samstag baden gehen, bitte sei nicht sauer.«
Bitte sei nicht sauer. Himmel, ich musste diese Frau wirklich sehr lieben.
»Ich bin nicht sauer.« Sie rutschte ein Stück zurück, damit wir uns ansehen konnten. »Ich verstehe es nur einfach nicht.« Dem Blick, mit dem sie mich ansah, konnte ich nicht standhalten.
»Ich hätte Ella nicht so anmachen sollen, es tut mir leid.«
Sie schüttelte den Kopf und seufzte.
»Kian, ich will nicht, dass du dich entschuldigst.«
Jetzt ging mein Blick doch zurück zu ihr.
»Ich möchte nur, dass du mir erklärst, warum du so wütend geworden bist.«
Mein Herz zog sich zusammen. Ich hatte diese Frau nicht verdient, denn ich würde vermutlich niemals den Mut besitzen, mich ihr zu öffnen, so wie sie es mir gegenüber getan hatte.
Dabei hatte ich es mir geschworen, als sie mir sagte, sie würde mich lieben.
»Was immer es ist, ich werde dich nicht verurteilen.«
Ich schwieg. All das hatte ich ihr auch einmal gesagt. Es hatte mir so viel bedeutet, dass sie meine Worte ernst genommen und mir von ihrer Vergangenheit erzählt hatte. Ich war ein Arsch, weil ich nicht dasselbe tat.
»Bitte, rede mit mir«, flüsterte sie und kam wieder ein bisschen näher.
»Nein«, brachte ich mühsam hervor und dachte daran, wie sehr mich dieses Nein bei ihr verletzt hatte.
Sie wand sich aus meiner Umarmung und drehte mir den Rücken zu.
»Gute Nacht, Kian.«
Ich drückte die rote Taste und lehnte den Anruf ab. Noch im selben Atemzug erhöhte ich die Lautstärke der Musik auf meinen Kopfhörern.
Dave konnte mich mal.
Sydney konnte mich mal.
Ich wollte nicht mit ihm reden und mir jedes Mal denselben Müll anhören müssen. Ich würde nicht zurückgehen.
Die Konsequenzen waren mir egal.
Wütend pfefferte ich die Tasse ins Spülwasser. Es klirrte. Shit. Suchend fuhr ich mit der Hand durchs Wasser und hielt den Henkel in der Hand. Stöhnend fischte ich auch die Tasse heraus und legte beide Teile auf die Ablage neben mir.
»Kian?«
Ich zog die Kopfhörer aus meinen Ohren und sah Olaf entschuldigend an.
»Ich werde eine neue kaufen«, murmelte ich und steckte Kopfhörer und Handy in meine Hosentasche.
»Quatsch, wir haben genug Tassen. Ist bei dir alles okay?«, Ich stützte mich seufzend auf der Arbeitsplatte ab.
Nichts war okay.
»Ja.«
»Willst du darüber reden?«
Auf keinen verdammten Fall. Ich schüttelte den Kopf und rang mir ein Lächeln ab. »Kann ich vielleicht mit Betty tauschen und bedienen?«
Ablenkung.
Typisch. Lieber schaufelte ich meinen Kopf mit anderen Dingen zu, als mich mit meinen Problemen zu beschäftigen.
Auch wenn ich es hier wenigstens nicht mit Partys tat, fühlte ich mich kein Stück besser.
»Klar«, erwiderte er, und ich folgte ihm aus der Küche ins Café.
Betty war sogar froh darüber, dass ich sie ablösen wollte.
Zufrieden verschwand sie in der Küche.
Um diese Zeit waren noch nicht viele Leute im Café, und so war es allein gut zu schaffen. Eine neue Kundin ließ sich gerade an einem der Fenstertische nieder, und ich steuerte auf sie zu, um die Bestellung aufzunehmen. Es tat gut, ein bisschen mit Menschen zu reden, und lenkte mich von meinen Sorgen ab. Nach ein paar Stunden vergaß ich sogar Daves Anruf. Dave war am anderen Ende der Welt. Ich war hier. Es konnte mir scheißegal sein, was dort abging, denn es war nicht mehr mein Problem. Ich stellte das Geschirr auf dem Tresen ab und ließ meinen Blick durch das Café schweifen, um herauszufinden, ob irgendein Gast meine Hilfe benötigte. Da dem nicht so war, beschloss ich, kurz nach draußen zu gehen, um frische Luft zu schnappen.
Ich wollte mich gerade abwenden, da öffnete sich die Eingangstür.
Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ich hatte mich schon in Bewegung gesetzt, noch bevor June die Tür geschlossen hatte. Mit wenigen Schritten war ich bei ihr, doch als sie mich ansah, verblasste mein Lächeln.
»Was ist passiert?«, fragte ich, ohne eine Begrüßung. Ihre Augen waren glasig, als hätte sie geweint. Ihr ganzer Körper war angespannt und ihre Haut blasser als sonst.
Kurz sah ich nach links und rechts, da ich befürchtete, die Cafégäste könnten zu große Augen und Ohren haben. Dann nahm ich Junes Hand und führte sie nach hinten. Wir durchquerten die Küche, in der Olaf und Betty werkelten. Ich bedeutete Betty, nach vorne zu gehen, bevor ich June durch die Tür nach draußen in den kleinen Innenhof führte. Hier war es still, niemand war zu sehen. Früher hatten June und ich in genau diesem Hinterhof gespielt. Auf einem alten Bobby-Car hatten wir uns gegenseitig um den stämmigen Baum in der Mitte des Hofes gefahren. Wir hatten Verfolgungsjagden nachgestellt und Pippi Langstrumpf gespielt. Über die Jahre waren die Efeuranken weiter die honigfarbenen Hauswände hinaufgeklettert, und jemand hatte um den Baum herum eine Bank gebaut. Als wäre das noch nicht genug, trug der Baum um diese Zeit auch noch Blüten. Der Innenhof kam Junes damaliger Vorstellung von einem Märchengarten ziemlich nah.
Sie sah überallhin, nur nicht zu mir. Vorsichtig zog ich an ihrer Hand.
»Was ist los?«, fragte ich sanft. Sie schloss die Augen, als könnte sie meinem Blick nicht standhalten, was mich nur noch besorgter werden ließ. Ich zog die Stirn in Falten und fuhr mit dem Daumen über ihren Handrücken.
»Wir …«, setzte sie an, ohne die Augen dabei zu öffnen. »Wir müssen …« Meine Kehle fühlte sich mit einem Mal trocken an. »Einen Vortrag halten, für die Abschlussnote.« Sie sprach schnell, als könnte sie die Worte nicht ertragen.
Ich erstarrte. Sie öffnete die Augen, während die Information langsam zu mir durchsickerte.
Zischend ließ ich Luft entweichen. »Scheiße.«
Ich wusste, dass ich ihr nicht annähernd den Halt geben konnte, den sie benötigte, trotzdem schlang ich die Arme um ihren Körper und zog sie an mich.
Ich murmelte Dinge, die es nicht besser machten.
June schmiegte sich an mich, und das allein ließ mein Herz höherschlagen.
Sie war zu mir gekommen.
Von allen Menschen auf der Welt hatte sie sich mich ausgesucht, um für sie da zu sein.
Ihr Blick traf meinen, und nach all den Jahren konnte ich darin endlich wieder lesen, was in ihr vorging.
»Du bist nicht allein«, flüsterte ich.
Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und rollte nach unten. Augenblicklich krampfte sich mein Herz zusammen.
Ich fing die Träne mit dem Daumen auf, zog die Hand nicht weg, sondern ließ sie an ihrer Wange. Sie schloss wieder die Augen, und ihr Gesicht verzog sich. Ich wollte sie küssen, um ihre Anspannung zu lösen, aber ich wusste nicht, ob ich es durfte. Also zog ich sie ein weiteres Mal an meine Brust. Ich versuchte, ihr zu zeigen, dass sie nicht kaputt war, dass sie nicht dieses Wrack war, für das sie sich hielt.
»Lass uns nach Hause gehen«, murmelte ich nach einer Weile und schob eine lose Haarsträhne hinter ihr Ohr. June schüttelte den Kopf und löste sich aus meiner Umarmung.
»Du kannst nicht wegen mir deine Arbeit schwänzen.«
Doch, ich konnte. Selbst wenn Olaf mich bezahlen würde, hätte ich alles für sie liegen gelassen. Ich hätte sogar eine Kündigung in Kauf genommen, nur damit sie jetzt nicht allein sein musste.
Wir brauchten nicht lange nach Hause. Olaf hatte mich ohne jeden Kommentar gehen lassen, und ich war nicht zum ersten Mal froh darüber, nicht fest angestellt zu sein.
»Worauf hast du Lust?«, fragte ich, als wir zu Hause waren. Sie runzelte nachdenklich die Stirn und betrachtete mich. Bereits da dämmerte mir, was sie aussprechen wollte.
»Oh nein, du wirst nicht sofort anfangen zu lernen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Mach wenigstens für eine halbe Stunde etwas anderes.«
Ich richtete meinen Blick auf ihre Lippen und wackelte mit den Augenbrauen. Zum ersten Mal, seit sie vorhin im Café aufgetaucht war, hoben sich ihre Mundwinkel.
»Okay, eine halbe Stunde, ich gehe in die Badewanne.« Sie wollte sich schon umdrehen, da schien ihr noch etwas einzufallen. »Ohne dich«, fügte sie hinzu. Ich seufzte.
»Was mache ich falsch?«, murmelte ich kopfschüttelnd.
Sie lachte. Allein dafür war der alberne Spruch es wert gewesen.
»Eine halbe Stunde würde niemals für dein Vorhaben ausreichen, mein Lieber.«
»Glaub mir, fünf Minuten wären schon genug.«
Ich trat einen Schritt vor und verdrängte die Luft zwischen uns. Zärtlich nahm ich ihr Gesicht in beide Hände und hauchte einen Kuss auf ihre Lippen.
Ich würde niemals genug von diesem Gefühl bekommen.
Trotzdem löste ich mich von ihr und trat einen Schritt zurück. Ich grinste.
»Viel Spaß beim Baden.«
Sie schnappte hörbar nach Luft.
»Fies.«
Mein Grinsen wurde breiter. Langsam wandte sie den Blick ab und ging Richtung Bad. Bildete ich es mir ein, oder waren ihre Knie ein bisschen weich geworden? Mein Grinsen wurde noch breiter, als ich ihr folgte und mich in den Türrahmen lehnte.
»Darf ich dir wenigstens zusehen?«
Sie schnaubte und wedelte mit der Hand, als wollte sie mich verscheuchen. Ich wollte sie nicht allein lassen. Ich wollte nicht, dass sie sich in einem stillen Raum in die Badewanne legte und mit ihren Gedanken allein war.
»Darf ich dir vorlesen?«
Sie hielt in ihren Bewegungen inne, legte den Kopf schief und sah mich an. Diese Version gefiel ihr eindeutig besser.
Also saß ich wenig später auf einem kleinen Hocker neben der Badewanne und schlug das Buch auf.
Obwohl wir erst bei Kapitel zwei waren, war die Geschichte schon spannend. Ich brannte darauf zu erfahren, ob die Protagonistin am Ende siegen würde oder nicht. Natürlich würde sie, aber man konnte sich, verdammt noch mal, nicht sicher sein.
Aus den Augenwinkeln bekam ich mit, wie June eine Badekugel im Wasser versenkte und sich anschließend von T-Shirt und Hose befreite. Als sie ihre Unterwäsche auszog, flog meine Selbstbeherrschung dahin, und ich blickte vom Buch auf, um sie anzusehen. Hitze sammelte sich in meinem Inneren. Ich sollte an ihren Körper gewöhnt sein. Ich hatte sie oft nackt gesehen, ich wusste genau, wie sie sich anfühlte.
Aber ich hatte mich an nichts davon gewöhnt. Was June in mir auslöste, überwältigte mich jedes Mal aufs Neue. Langsam ließ ich das Buch sinken. June schluckte schwer. Es kostete mich all meine Kraft, sitzen zu bleiben, als sie in die Badewanne stieg und ihr Körper unter dem Schaum verschwand.
Shit. Ich wollte zu ihr, in diese Badewanne steigen.
June schloss die Augen und lächelte leicht.
»Das ist gemein«, murmelte ich leise, als ich mir das Buch wieder vor die Nase hielt.
Es wurde die längste halbe Stunde meines Lebens.
Während es für mich die reine Folter war, schien June sich zu entspannen und den Vortrag und ihre damit verbundene Angst zu vergessen.
»Zeit ist um«, verkündete ich und legte das Buch zur Seite. Sie öffnete die Augen und verzog das Gesicht. Ich streckte ihr die Hand entgegen und half ihr aus der Wanne. Wortlos reichte ich ihr ein Handtuch, wobei ich die Augen schließen musste, um sie nicht an mich zu ziehen und wieder mit ihr in diese verfluchte Badewanne zu steigen. Ich hörte sie leise lachen, während sie sich von Schaum und Wasser befreite.
Ich spürte einen Luftzug, als sie vortrat.
Sie küsste mich.
Ich erwiderte den leichten Druck ihrer Lippen und schlang die Arme um ihre Taille. Ich grub meine Hände in den weichen Stoff des Handtuchs und zog sie näher an mich. Wir taumelten Richtung Badewanne, aber bevor wir darin landen konnten, löste June sich von mir.
»Ich wollte lernen«, erinnerte sie uns beide.
Auch jetzt gefiel mir diese Tatsache noch nicht.
»Du wolltest?« Ich betonte die Vergangenheitsform.
»Ich will«, verbesserte sie sich, und ich stöhnte gequält. Das war nicht fair. Nicht, wenn sie nur in einem Handtuch vor mir stand.
Trotzdem setzten wir uns an ihren Schreibtisch. June hatte sich ein T-Shirt übergezogen, aber das hinderte meine Hände nicht daran, ihre Haut zu berühren. Sie saß auf meinem Schoß und recherchierte im Internet, während ich die Arme um sie geschlungen und meine Wange an ihren Rücken gelegt hatte.
Ab und zu warf ich einen Blick über ihre Schulter, um zu sehen, was sie gerade las. Ihr Thema waren die Anfänge der englischen Literatur im 9. Jahrhundert. Fast hatte ich den Eindruck, es würde ihr Spaß machen, daran zu arbeiten.
»Komm endlich her«, murrte ich zum gefühlt tausendsten Mal. June saß noch immer am Schreibtisch. Ihre Beine hatte sie im Schneidersitz überkreuzt, und gerade kritzelte sie etwas auf ihren Block. Sie arbeitete nicht mehr an ihrem Vortrag, sondern an irgendeiner anderen Aufgabe. Kurz warf sie einen Blick über die Schulter.
»Ich muss das morgen abgeben.« Anklagend deutete sie auf den Bildschirm, stand aber auf und kam zu mir herüber. Ich lag auf dem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
»Wie findest du es?«, fragte sie und reichte mir den Laptop. Inzwischen war es fast zur Gewohnheit geworden, dass ich alle Texte, die sie für die Uni schrieb, noch mal zur Korrektur las. Ich scrollte mich durch die Wörter.
Sie schrieb verflucht gut, trotzdem ging ich sparsam mit Komplimenten um.
»Fast perfekt«, sagte ich, als ich durch war. Ich scrollte wieder nach oben, zeigte ihr zwei Stellen, an denen sie ein Komma vergessen hatte, und markierte dann zwei Zeilen Text. »Hier würde ich statt deswegen irgendwas Förmlicheres nehmen.«
Sie betrachtete die Stelle und nickte schließlich. Zusammen überlegten wir, was man stattdessen schreiben könnte, und verbesserten den Text noch an zwei weiteren Stellen. Als June ihren Laptop zuklappte, lächelte ich.
»Danke.« Sie küsste meine Wange und stand auf. Frustriert stöhnte ich. Mein Kopf sank zurück in die Kissen.
»Das nächste Mal finde ich noch mehr Fehler, wenn du dann länger bei mir bleibst.«
Leise lachend legte sie den Laptop auf ihrem Schreibtisch ab und kroch zurück ins Bett.
»Sehr witzig«, sagte sie und beugte sich über mich. Ich schluckte.
»Bin ich doch immer.« Leider klang ich nicht so selbstsicher wie erhofft.
Ihr Gesicht kam meinem noch ein Stück näher.
»Du bist eingebildet«, murmelte sie. Ich hatte etwas erwidern, sie an mich ziehen und küssen wollen, da summte ein verfluchtes Handy. June streckte sich, um an das Gerät zu kommen und die Nachricht zu lesen. Als sie einen Blick auf das Display warf, saß sie schon im nächsten Moment kerzengerade im Bett. Ihre Hände zitterten.
Stirnrunzelnd setzte ich mich ebenfalls auf.
»Alles klar?«, fragte ich vorsichtig, doch sie ignorierte mich und starrte, wie hypnotisiert, auf das kleine Gerät.
Als es mir langsam unheimlich wurde, ließ sie es sinken und seufzte. Sie legte das Handy zurück auf den Nachtschrank und drehte sich zu mir um. Ich versuchte, etwas in ihrem Blick zu lesen, konnte aber nichts erkennen.
Und verflucht, ich hasste es, wenn ich nicht sehen konnte, was sie dachte, denn es erinnerte mich jedes Mal daran, wie wenig wir uns kannten, obwohl wir einmal alles über einander gewusst hatten.
»Wer hat dir geschrieben?«, fragte ich, als wir uns wieder nebeneinander legten. Meine Hände wanderten automatisch zu ihr, um sie zu berühren.
»Eine Agentur«, murmelte sie. Jetzt war ich es, der sich kerzengerade aufsetzte. Ich zog sie mit mir ins Sitzen.
»Eine Agentur?« Ich riss die Augen auf und starrte sie abwartend an. Vor einigen Wochen hatten sie sich bei mehreren Literaturagenturen für ein Praktikum beworben. Sie wollte im nächsten Jahr den Kurs Modern Publishing belegen, und um ihn wählen zu können, musste man einen Praktikumsplatz vorweisen.
Sie schwieg.
Shit. Schlechtes Zeichen.