Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein Obdachloser verbrennt im Keller eines Mietshauses. Die Polizei glaubt an einen Unfall - Privatdetektiv Marius Sandmann an Mord. Er stößt auf Gemälde, die der Obdachlose gemalt hat. Beeindruckende, beängstigende, brutale Bilder. Musste er ihretwegen sterben? Als Sandmann sich auf die Suche nach Angehörigen dieses Outsider-Künstlers macht, entdeckt er ein schreckliches Familiengeheimnis und zieht die Aufmerksamkeit eines Mörders auf sich, der 20 Jahre unentdeckt geblieben ist.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 352
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Stefan Keller
Kölner Wahn
Sandmanns fünfter Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2015
Lektorat: René Stein, Hamburg
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © xurzon – Fotolia.com
und © travelguide – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4760-0
»… aber obenan stand immer der Sandmann, den ich in den seltsamsten, abscheulichsten Gestalten überall auf Tische, Schränke und Wände mit Kreide, Kohle, hinzeichnete.«
E.T.A. Hoffmann, Der Sandmann
Marius Sandmann starrte in die Finsternis.
Nicht einmal die Mauer, die den Hof zum Nachbargrundstück abschloss, konnte der Privatdetektiv erkennen. Durch die Zweige der über 15 Meter hohen Tanne, die ein Mieter vor 20 Jahren gepflanzt hatte, um die Kargheit des Hofes zu mindern, schimmerten einzelne Lichter aus den Fenstern der Nachbarhäuser. Sie reichten nicht aus, um den dunklen Innenhof zu erhellen. Was vor der Mauer in den Sträuchern geschah, entzog sich Marius’ Blick.
Vor wenigen Minuten hatte er dort eine Bewegung wahrgenommen, einen flüchtigen Schatten, einen kurzen unruhigen Moment in der tiefschwarzen Nacht. Bis vor sechs Wochen wäre der Bewegungsmelder angesprungen, den Sandmann installiert hatte, und hätte den Hof in gleißendes Licht getaucht. Nachdem sich die Nachbarn wegen des Lichts beschwert hatten, hatte er den Melder wieder von der Stromleitung abgeklemmt. Jetzt blickte er ins Dunkel.
Er versuchte, sich auf die Stelle zu konzentrieren, an der der Schatten sich bewegt hatte. Vergeblich. Falls dort draußen jemand auf ihn lauerte, konnte Marius ihn nicht erkennen. Sein Nachtsichtgerät würde ihm jetzt helfen. Aber das lag oben im Schlafzimmer.
Vorsichtig, um von draußen nicht gesehen zu werden, schlich er weg von dem dunklen, vergitterten Fenster, hinter dessen Rand er sich versteckt hatte. Durch seinen Trainingsraum, der früher einmal das Wohnzimmer gewesen war, und über die Treppe ging er leise hinauf ins Schlafzimmer, die Augen hinaus in den Hof gerichtet. Die Holztreppe knarzte unter seinen Tritten. Im Schlafzimmer bewegte er sich an der Wand entlang zum Fenster. Er konnte die Raufaser an seiner Schulter spüren. Dann nahm er das Nachtsichtgerät von der Ablage, einem alten Nachttisch aus den 1950er Jahren, den er auf dem Sperrmüll gefunden, mitgenommen und nach einer gründlichen Reinigung neben das Bett gestellt hatte. Das Gerät vor der Brille bezog er hinter dem Vorhang Position.
Die Mauer und der Innenhof des Mietshauses, in dem Marius wohnte, hoben sich jetzt in einem matten Grün von der Dunkelheit der Umgebung ab. Er sah niemanden. Hatte er sich getäuscht? Hatte der Eindringling den Hof wieder verlassen? Oder stand er nun direkt unter ihm an einem der Fenster im Erdgeschoss? Marius beugte sich nach vorne und versuchte, die Erdgeschossfenster zu kontrollieren.
Vergeblich.
Er schaute wieder in den Hof. Neben den Mülltonnen lag ein Haufen aus Decken. Hatten die heute Mittag schon dort gelegen? Er erinnerte sich nicht. Leise atmend beobachtete er das grünliche Bündel eine Weile. Plötzlich bewegte es sich, als krabbelte ein Tier unruhig unter ihm hin und her. Dann war wieder Ruhe. Wenige Augenblicke später schob sich eine Hand unter der Decke hervor und griff mit hageren Fingern nach ihr. Jemand schlief dort unten. Für den Moment war der Detektiv erleichtert. Er beobachtete das Bündel weitere 20 Minuten. Es musste kalt dort draußen sein. Die Decken würden kaum ausreichen, um der Person Wärme zu spenden. Würde er ihm eine Decke herausbringen, musste er allerdings befürchten, dass sich der Obdachlose dauerhaft vor seinen Fenstern einnistete. Dann würde Marius bei jedem Geräusch aufschrecken und fürchten, dass jemand ans Fenster treten würde, um ihn zu töten.
Plötzlich bewegten sich die Decken erneut. Ein schmaler, ausgemergelter Schädel unter langen, verfilzten Haaren und von einem dichten Vollbart bedeckt, blickte zu dem Detektiv hinauf. Rasch verschwand er in der Dunkelheit des Zimmers.
*
Marius Sandmann schlief unruhig. Zweimal stand er auf und schaute aus dem Fenster hinaus in den Hof und auf das Bündel schmutziger Decken. Zurück im Bett tastete er nach der Pistole, die zwischen Matratze und Wand eingeklemmt war. Die Pistole, mit der er vor achtzehn Monaten einem Mann sieben Kugeln in den Körper gejagt hatte. Als er wieder einschlief, umklammerte seine Faust die Waffe. Zwei Stunden später erwachte er erneut. Um vier Uhr morgens sah er ein, dass er nicht wieder einschlafen würde und stand auf. Vielleicht würde eine Trainingseinheit ihn wieder müde machen. Die Pistole steckte er in den Bund der Jogginghose, in der er geschlafen hatte, und trat, das Nachtsichtgerät vor Augen, ans Fenster.
Die Szenerie draußen hatte sich in der Nacht verändert. Es hatte geschneit, der Boden war von einer weißen Schicht bedeckt, unter der das Deckenknäuel, unter dem wiederum der Obdachlose lag, kaum zu erkennen war. Trotzdem war er noch da. Erleichtert registrierte Marius, dass keine Fußabdrücke im Hof zu sehen waren. Niemand außer dem Obdachlosen hatte ihn betreten. Leise schlich er die Treppe ins Erdgeschoss hinunter.
Im früheren Wohnzimmer hatte er sich ein kleines Studio eingerichtet. Er begann sein Work-out mit Seilspringen. Sein Blick war durch das Fenster in den Hof gerichtet. Früher hatte er direkt mit den Gewichten begonnen, dann aber gemerkt, dass es um seine Kondition schlecht bestellt war. Also hatte er das Seil ins Programm integriert. Am Anfang kam er sich etwas lächerlich vor. Eine Stunde später wechselte er auf die Hantelbank, Brusttraining. Es folgten Übungen an den Kettlebells und am Türreck. Das dunkle Rechteck des Fensters zeigte nichts als Finsternis. Kein Leben. Keine Bewegung. Wie konnte er den Obdachlosen loswerden? Verjagen wollte er ihn nicht. Wo sollte der Kerl bei dieser Kälte hin? Verbissen hob er den Kopf an die Knie. Danach verlängerte er die abschließenden Liegestütze ebenso wie die zweite Einheit Seilspringen. Als er nach einer weiteren Stunde keuchend innehielt und das Seil zu Boden sank, war er so erschöpft, dass er sich wieder hinlegen musste. Zurück im Bett vergaß er die Pistole und schlief sofort ein.
Als er aufwachte, hing eine milchige Sonne träge über den Dächern und warf ein fahles Licht ins Schlafzimmer. Diesigkeit und Nebel hatten die Dunkelheit abgelöst. Regentropfen klirrten wie kleine Nadeln gegen die Fensterscheibe. Der Regen hatte zahlreiche kleine Löcher in die Schneedecke gehämmert, die sich an den Rändern braun verfärbten, als würden sie verfaulen.
Die Decken waren verschwunden. Eine Fußspur, als solche in dem dünnen Matsch kaum noch auszumachen, führte zur Hoftür. Marius zog sich ein Sweatshirt über, schlüpfte in ein paar Sneakers und ging hinaus. Gegen den unangenehmen Nieselregen zog er sich die Kapuze tief ins Gesicht. Zielstrebig lief er durch den Schneematsch zu der Stelle, an der der Obdachlose gelegen hatte. Nur der fehlende Schnee erinnerte noch daran.
Fast hätte der Detektiv die Zeichnung an der Wand hinter den Mülltonnen übersehen. Er musste in die Hocke gehen, um sie betrachten zu können. Der Obdachlose hatte sie fast direkt am Boden mit Filzstift auf den Putz der Mauer gezeichnet.
Vier schwarze Streifen unterteilten das Bild in fünf längliche Rechtecke. Parallel verlaufende diagonale Linien unterteilten den Bildraum zusätzlich. Marius stützte sich mit einer Hand an der Mauer ab, um sich weiter nach vorne beugen zu können. Die schwarzen Streifen stellten Gitterstäbe dar, dahinter ein Totenschädel, der offenbar eine dunkle Brille trug. Der Schädel blickte ihn an. Er wirkte vertraut. Im Hintergrund hatte der Obdachlose begonnen, das Bild auszumalen. Erste orangegelbe Flammen tobten um den Schädel herum. Schwarze Wolken grenzten das Bild nach oben ab. Am unteren Rand ergoss sich eine Art Flüssigkeit in einen See. Verstört erhob sich Marius und schaute das Bild aus der Distanz an. Das Gesicht hinter den schwarzen Streifen, die sich zu einer Reihe von Gitterstäben formten, den Totenschädel erkannte er. Es war seins. Der Obdachlose hatte ihn gemalt. Offensichtlich hatte er ihn an einem der vergitterten Fenster beobachtet.
Der Detektiv beugte sich wieder nach vorne, um sein Porträt genauer zu betrachten. Es war bemerkenswert gut gezeichnet, die Linienführung akkurat, die Details fast schon beängstigend perfekt getroffen. Aber nichts, weder die Kleidung, die Brille, nicht einmal seine Gesichtszüge waren einfach nur flächig ausgemalt. Sie zeigten Formen, so winzig, dass Marius sie auch mit vorgehaltener Brille nicht erkennen konnte. Er lief ins Büro, dem vorderen Raum im Erdgeschoss seiner Maisonette, und kam wenige Augenblicke später mit einer Lupe in der Hand zurück. Die Brille bestand aus vier Armen, die sich um seine Augen wanden, abgehackt an der einen Seite, ineinander verhakt an der anderen. Sein Sweatshirt bestand aus dunklen Rauchwolken, die sich ausdehnten. Von unten spielten Flammen um seinen Körper herum, als stünde Marius Sandmann auf einer Art Scheiterhaufen. Er lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf die Gitterstäbe. Es sah aus, als klebten Tiere daran, eine Art Eidechse, eine Katze, die ihn ankeifte und mit ihrer Tatze nach ihm zu schlagen schien. Zwitterwesen und Dämonen tobten um diese beiden Tiere herum. Die kleinen Affen, die Dämonen, die sich gegenseitig erstachen und aufspießten, teilweise ineinander verbissen waren, grinsten den Detektiv im Bild und den vor der Mauer höhnisch an und entblößten feine, messerscharfe Zähne.
*
Mit einem roten, blutunterlaufenen Auge blickte die Frau dem Kind nach. Das andere Auge, strahlend blau, schien auf eine Gruppe Vögel gerichtet zu sein, die auf das Kind herabschauten. Sie hielt die Hand des Kindes fest umklammert. Beide waren nackt, in beiden Körpern steckten Aufziehräder, als handelte es sich um Puppen, deren feine Mechanik – im Inneren verborgen – sie zum Leben erwecken könnte.
Die Mutter und ihr Kind waren kalkweiß, von einigen schwarzen Streifen abgesehen. Um sie herum explodierte alles vor Farben. Die Blätter an den Bäumen boten jeden nur erdenklichen Grünton, die Vögel, die aufgeregt darin saßen, schillerten in Dutzenden Rot-, Blau- und Gelbtönen.
»Bemerkenswert«, sagte Marius Sandmann und richtete sich wieder auf.
»Eines meiner Lieblingsbilder«, sagte der Mann, der neben ihm stand und ihn interessiert beobachtete. Nachdem er sich erhoben hatte, strich der Detektiv sich die Anzughose glatt und lächelte Egon Werstenkiel, Inhaber einer PR-Agentur im Kölner Nobelvorort Marienburg, freundlich an. »August Walla hat in jungen Jahren versucht, sich umzubringen und das Haus seiner Mutter anzuzünden. Danach lebte er mehrere Jahre in der Psychiatrie und hat dort angefangen zu malen. Das ist eins seiner ungewöhnlichsten Bilder. Die meisten seiner Werke bilden ihren eigenen Kosmos – eine Art Religion. Nur schwer zu verstehen. Eigentlich gar nicht.«
»Gefällt es Ihnen deswegen?«
»Es ist eine Abwechslung, ja. Aber dahinter steckt noch etwas anderes.« Werstenkiel ging einige Schritte weiter, seine teuren Halbschuhe klapperten leicht auf dem dunkel gestrichenen Estrich, der der Agentur als Boden ausreichte. Er blieb vor einem anderen Bild stehen. Es war deutlich größer als das Werk Wallas und durch und durch abstrakt. Marius sah nur farbige Linien, die sich zu immer neuen Mustern formten. Ihn schwindelte beim Anschauen. Das Bild trieb einen in den Wahnsinn, wenn man nicht genug Abstand einhielt. Er ging näher heran, hielt es aber nicht lange aus.
»Von wem stammt das?«
»Von meiner Tante.«
»Interessante Familie.«
»In der Tat. Bis vor zwölf Jahren wusste ich nichts von dieser Tante. Meine Eltern und meine Großeltern haben mir ihre Existenz schlicht verheimlicht. Mir und wohl auch den meisten anderen Leuten in unserem Umfeld.«
»Lassen Sie mich raten: Auch Ihre Tante hat einen Großteil ihres Lebens in der Psychiatrie verbracht.«
»Schizophrene Störung. Sie wurde mit 23 eingeliefert, weil sie versucht hat, sich und ihren Liebhaber mit einer Nagelschere umzubringen.«
»Einer Nagelschere?«
»Bei ihm ist es ihr fast gelungen.«
»Was geschah vor zwölf Jahren?«
»Sie starb«, antwortete Werstenkiel.
»Woran?«
»Altersschwäche. Sie war über 70 und ziemlich krank.«
»Wie haben Sie dann von ihr erfahren?«
»Sie hat mir ihre Bilder hinterlassen. Danach hat meine Mutter das erste Mal mit mir über ihre verrückte Schwester gesprochen. Und das einzige Mal. Ich habe mich in ihre Krankenakte eingelesen und erfahren, dass es viele Psychiatriepatienten gibt, die als sogenannte Outsider-Künstler gelten.«
»Allerdings müssen Outsider-Künstler nicht zwingend Psychiatriepatienten sein, oder?«
»Nein, natürlich nicht. Aber dieser Bereich interessiert mich am meisten.«
Sie gingen ein wenig durch die Agentur, während sie redeten, Marius betrachtete interessiert die Bilder an den strahlend weißen Wänden. Vor einer kleinen Arbeit, die offenbar auf einer alten Duschgel-Verpackung aufgetragen worden war, blieb er stehen. Für einen Moment glaubte er, in den Figuren die gleichen Gestalten erkennen zu können, die sein Porträt neben den Mülltonnen so bemerkenswert machten.
»Von wem ist das?«, fragte er wie beiläufig.
»Anton Stocher, ein Schweizer Künstler, hat sich umgebracht. 1992.«
Marius betrachtete das Bild noch einmal. Jetzt fielen ihm die Unterschiede in der Linienführung auf; das Zittrige, das dieses Bild auszeichnete und auf verstörende Weise lebendig wirken ließ, fehlte dem Bild im Hof.
»Sie sagten, es wären Bilder verschwunden?«, lenkte der Detektiv das Gespräch auf sein eigentliches Thema.
Werstenkiel nickte. »Seit ein paar Wochen verschwinden immer mal wieder einzelne Bilder, nicht aus diesem Raum, sondern aus dem Archiv hinten den Gang hinunter.«
»Darf ich das sehen?«
»Selbstverständlich!« Werstenkiel ging an ihm vorbei, Marius nahm einen etwas zu starken Hauch eines Aftershaves wahr, und folgte dem schwarzen Anzug und dem leisen Quietschen der Sohlen auf dem harten Boden. Sie liefen durch einen kurzen, vielleicht drei Meter langen Gang und blieben vor einer stabil wirkenden Tür stehen. Werstenkiel tippte einen Zahlencode auf einer Tastatur neben der Tür ein. Ein Summen ertönte und zeigte an, dass sie sich nun öffnen ließ. Gemeinsam betraten sie das Archiv des Sammlers. Alle vier Wände waren mit Metallschränken zugestellt, deren flache Schubladen die Bilder beherbergten. Marius kannte ähnliche Schränke bereits aus Galerien und den Archiven von Museen. Sie waren teuer. Ebenso wie die Sicherung an der Tür.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Outsider-Kunst so viel Wert hat, dass sich eine solche Sicherung wirklich lohnt.«
»Die Preise in diesem Segment sind ziemlich gestiegen in den letzten Jahren. Es gibt einen kleinen, aber durchaus kaufkräftigen Markt für diese Art von Kunst. Offensichtlich lohnt es sich auch, sie zu stehlen.«
Marius fragte sich, wie viel dieser Kaufkraft wohl bei den Künstlern ankam. »Aber man braucht Verbindungen, um sie loszuwerden.«
Werstenkiel zuckte mit den Achseln. Er strich sich mit seinen kräftigen Fingern eine graue Locke aus dem Gesicht. »Übers Internet können Sie inzwischen alles verkaufen, glauben Sie mir, alles.«
Der Detektiv sah sich noch einmal die Tür an. »Es gibt keinerlei Einbruchspuren.«
»Es gab auch keinen Einbruch.«
»Dann hat der Dieb Zugang zu diesen Räumen?«
»Er – oder sie – hat zumindest die Möglichkeit, in diese Räume zu gelangen.«
»Haben Sie eine Videoüberwachung?«
Zerknirscht schüttelte Werstenkiel mit dem Kopf. »Dann hätte ich die Agentur und meine Mitarbeiter ebenfalls überwacht und das wollte ich nicht.«
»Die wahrscheinlich auch nicht«, mutmaßte Sandmann.
»Mir erschien das Sicherheitskonzept auch so ausreichend zu sein.«
»Ihre Versicherung dürfte das anders sehen.«
Werstenkiel zögerte einen Moment mit der Antwort. »Die Bilder sind nicht versichert«, sagte er dann kleinlaut.
Marius ging darauf nicht weiter ein. Es ging ihn nichts an. Hauptsache, Werstenkiel bezahlte seine Rechnungen. »Sie sagten eben ›oder sie‹, als sprächen Sie von einer Frau. Haben Sie einen Verdacht?«
»Leider, ja.« Gedankenverloren strich er über den Rand des Archivschranks neben ihm. Nicht unbedingt klug, dachte Marius. Immerhin vernichtete Werstenkiel auf diese Weise mögliche Fingerabdrücke.
»Wen haben Sie im Verdacht?«
Der PR-Experte schaute Marius einen Moment lang an. »Das bleibt unter uns?«
»Das hängt davon ab, welchen Auftrag Sie mir erteilen. Aber das kann durchaus unter uns bleiben.«
»Gut. Ich zähle auf Ihre Diskretion, Herr Sandmann. Das ist mir sehr wichtig. Bei der Verdächtigen handelt es sich um ein Mädchen, das seit einigen Wochen in meinem Haushalt lebt. Sie macht ein Praktikum in meiner Agentur und kurz nachdem ich ihr die Sammlung gezeigt habe, verschwand das erste Bild.«
»Es hätte früher verschwinden können. Manchmal bemerkt man so etwas erst nach einigen Wochen.«
»Nein. Ich hatte das Bild zwei Tage vorher erst abgehangen und eingelagert. Es sollte verkauft werden.«
»Sie haben es ihr gezeigt, nicht wahr?« Ein Nicken reichte als Antwort. »Haben Sie ihr auch gesagt, wie viel das Bild wert ist?«
»Sie hat danach gefragt. Ich habe ihr geantwortet. Seitdem sind Bilder im Wert von etwa 70.000 Euro verschwunden.«
»Haben Sie sie darauf angesprochen?«
»Sie hat alles abgestritten.«
»Jetzt möchten Sie, dass ich Ihnen Beweise liefere?«
»Ja, und wenn möglich, die Bilder wiederbeschaffen.«
»Um wen handelt es sich bei Ihrer Verdächtigen?«
»Um meine Nichte Sonja.«
*
Am Abend schloss der Privatdetektiv die Hoftür zweimal ab. Bevor er schlafen ging, kontrollierte er noch einmal, ob die Tür wirklich verschlossen war.
Als er in der Nacht in den Hof schaute, lag der Obdachlose wieder da und blickte zu ihm hoch.
Am nächsten Morgen fand Marius seine Decken fein säuberlich gefaltet unter einem der Büsche. Die feuchte Kälte kroch ihm unter die Kleidung, er fühlte an den Decken, sie waren nass und klamm. Am liebsten hätte Marius die Sachen einfach weggeschmissen und die Tür wieder verschlossen. Auf der anderen Seite waren die Decken für den Obdachlosen ohne Frage lebenswichtig.
Sein Blick blieb an einer Metallröhre hängen, die hinter den Decken halb verborgen lag. Neugierig öffnete er sie und nahm einige Blätter hinaus, weitere Gemälde, die Marius fast noch mehr erschreckten als das Bild seiner selbst an der Mauer. Es war offensichtlich, dass der Obdachlose begabt war, mehr als begabt. So erschreckend die Inhalte der Bilder waren, so exzellent waren sie ausgearbeitet. Der Privatdetektiv überlegte, was Werstenkiel wohl zu ihnen sagen würde.
Hinter einer Art Gitternetz, das auf allen Bildern zu finden war, tobte die Apokalypse. Feuersalamander griffen brennende Katzen an, die sich wehrten und ihrerseits versuchten, die Salamander zu zerfleischen. Raubvögel stürzten sich aus der Luft auf alles, was sich auf den Bildern zu bewegen schien. Im Hintergrund tobten Brände und zerstörten, was nicht von blutigroter Flüssigkeit ertränkt wurde. Winzige, mit bloßem Auge kaum zu erkennende Menschen inmitten dieses Infernos, kleine Menschen, wehrlose Menschen.
Die Zeichnungen wirkten dabei zugleich fast kindlich. Nicht naiv, dafür waren sie zu brutal. Eher als hätte ein kleiner Junge seinen Stil über Jahrzehnte nicht verändert, sondern nur perfektioniert. Eine Art zu malen, die die Gewalttätigkeit der Bilder nur noch intensiver zutage treten ließ.
Sorgfältig rollte Marius die Bilder wieder zusammen und steckte sie zurück in das Rohr. Mit raschen, festen Bewegungen schraubte er den Deckel fest. Dann holte er eine alte, aber trockene Wolldecken aus seinem Kleiderschrank, deckte sie mit einem großen Müllbeutel zu, um sie vor dem Regen zu schützen, und legte sie neben einer Flasche Wasser und etwas Obst aus seiner Küche auf die anderen Decken.
*
500.000 Euro hatte Marius Sandmann vor etwa 12 Monaten für die Rückgabe eines Bildes von Max Ernst erhalten. Blutgeld, dessen größten Teil er nie angerührt hatte. Mehrere tausend Euro hatte er in die Sicherung der Wohnung gesteckt. Das war der Preis, den er für die Ermordung von Bruno Weiß hatte zahlen müssen. Das und die Angst vor Enttarnung durch die Polizei oder Rache durch unbekannte Komplizen und Freunde des Kunstdiebs. Angst, die sein ständiger Begleiter geworden war.
Ansonsten hatte er nur seinen alten Renault gegen einen unauffälligen weißen Mercedes Vito ausgetauscht und den kleinen Lieferwagen mit Überwachungstechnik vollgestopft. Mit diesem Wagen folgte er nun dem Smart Sonja Werstenkiels. Am Morgen hatte er einen Peilsender am Unterboden des Kleinwagens angebracht, sodass er Werstenkiels Nichte in ausreichendem Abstand folgen konnte. Das winzige Mikro, das er im Fußraum montiert hatte, übertrug Radiogeräusche in einen Ohrstecker, den er trug.
Ein kurzer Klingelton im Ohr informierte ihn, dass Sonja eine SMS erhalten hatte. Leider konnte er die nicht auslesen. Zu seinem Glück beantwortete das Mädchen die SMS mit einem Anruf.
»Hi, Lissi! Ja, ich bin gleich da. Gibt’s die Stiefel noch? … Okay, halt sie fest!! … Bis gleich!« Marius verkürzte den Abstand. Sie fuhren an der Hahnentorburg vorbei in Richtung Neumarkt. Wenn sie den Smart irgendwo parkte, musste er nah genug dran sein, um zu sehen, wohin sie ging.
Er tippte ›Schuhgeschäfte Neumarkt Köln‹ in die Karten-App seines Smartphones, das in einer Halterung am Armaturenbrett klemmte. Zu seiner Überraschung zeigte ihm die App nur sieben Geschäfte an. Er hatte mit mehr gerechnet, korrigierte die Suche zur Sicherheit auf ›Schuhgeschäfte Schildergasse Köln‹. Das Ergebnis fiel nicht viel anders aus.
Etwa 50 Meter vor sich sah er den Smart in die Thieboldsgasse einbiegen. Er setzte den Blinker und folgte ihm. Der heikelste Moment, denn nun war er direkt hinter dem Wagen und würde Sonja zwangsläufig auffallen, wenn sie in den Rückspiegel schaute. Er baute darauf, dass ein weißer Vito nicht interessant genug war, um ihr im Gedächtnis zu bleiben. Kurz hinter der Kreuzung setzte Sonja den kleinen Wagen quer zwischen zwei Parklücken.
Im Vorbeifahren sah Marius, dass das Mädchen noch einmal sein Aussehen im Rückspiegel kontrollierte, bevor sie ausstieg. Offenbar war sie zufrieden gewesen mit dem, was sie sah. Marius teilte diese Einschätzung, war allerdings mehr damit beschäftigt, nach einem Parkplatz Ausschau zu halten, bevor Sonja irgendwo in den Fußgängerzonen der Innenstadt verschwand. In der engen Gasse war nichts frei, an der Kreuzung zur Lungengasse drehte er den Vito. Ein Ford musste abbremsen, sein Fahrer schlug wütend auf die Hupe. Marius ignorierte ihn und jagte die schmale Gasse zurück in Richtung Neumarkt. Schon jetzt konnte er das Mädchen nirgendwo mehr sehen. Er lenkte den Kastenwagen zurück auf die Hahnenstraße, sah Sonja an der Ampel stehen, bog in die Fleischmengergasse und fand dort einen Parkplatz gegenüber der Stadtbibliothek. Einen möglichen Strafzettel würde er Werstenkiel auf die Spesenrechnung setzen. Er lief zum Neumarkt zurück, sah Sonjas blonden Pferdeschwanz in der Menge wippen, und folgte ihr in Richtung Schildergasse.
Mehrere Stunden dauerte seine Überwachung. Sie brachte ihm keine Erkenntnisse über den Verbleib von Werstenkiels verschwundener Outsider-Kunst. Allerdings saß der 18-Jährigen das Geld sehr locker im Portemonnaie: Stiefel für 500 Euro, ein Mantel für 320, mehrere Kleider, bei denen Marius den Preis ebenso wenig mitbekommen hatte wie bei der Unterwäsche, die Sonja und ihre Freundin gekauft hatten. Als früherer Kaufhausdetektiv wusste Marius, dass die Unterwäscheabteilung bei seiner Überwachung der heikelste Ort war. Ein Mann, der dort allein herumschlenderte, fiel immer auf und weckte Misstrauen. Am Ende schätzte der Privatdetektiv, dass Sonja Werstenkiel weit über 1.000 Euro ausgegeben hatte. Verdammt viel Geld für eine Praktikantin. Laut ihrem Onkel besaßen ihre Eltern nicht viel.
*
In der Nacht schlief er im Wagen. Er hielt die Nähe eines Fremden vor seinen Fenstern nicht aus. Vielleicht war die Decke doch keine so gute Idee gewesen? Am Morgen lag sie unberührt neben den anderen Decken. Auch Wasser und Obst hatte der Obdachlose verschmäht. Marius warf die Lebensmittel in den Mülleimer und stopfte die Decke in die Waschmaschine.
»Hallo!«, rief er in die Dunkelheit.
Keine Antwort.
Der Privatdetektiv trat in den Hof hinaus. Regentropfen fielen auf seine Brillengläser und seine kurz geschorenen Haare. Schon nach wenigen Sekunden lief ihm das Wasser die Stirn hinunter ins Gesicht. Er wischte es mit der linken Hand fort. Doch die nächsten Regentropfen landeten auf den Gläsern. Dann knipste Sandmann die Taschenlampe in seinem Smartphone an und leuchtete in Richtung der Mülltonnen. Das Deckenbündel regte sich nicht. Also näherte er sich einige Schritte, die Lampe fest auf den Obdachlosen gerichtet.
»Hey!«, versuchte er es erneut. Jetzt bewegten sich die Decken, der haarige, ausgezehrte Kopf schaute blinzelnd in das grelle Licht.
»Aus!«, krächzte er.
Marius senkte den Lichtstrahl auf den Boden. Der Obdachlose fiel zurück und rollte sich wieder zusammen. Kein weiteres Wort. Erneut richtete Marius die Lampe auf ihn.
»Du kannst im Keller schlafen. Da unten ist es trockener als hier draußen. Und wärmer. Die Tür ist auf.«
Dass Marius dann nicht mehr das Gefühl haben würde, der Obdachlose könnte ihn beobachten, möglicherweise doch irgendwie durch die vergitterten Fenster in die Wohnung eindringen oder Vorbild sein für jemanden, der gefährlichere Absichten hegte, ließ er unerwähnt.
Eine kurze Bewegung in den Decken. Dann wieder Stille.
Unschlüssig stand Marius in der Mitte des kleinen Innenhofs. »An deiner Stelle würde ich runtergehen«, sagte er schließlich und drehte sich um. An der Tür blickte er noch einmal zurück. Das Bündel hatte sich nicht gerührt. »Ich lass die Tür ein paar Minuten auf und mach’ sie später zu.«
Keine Antwort. Marius ging ins Haus zurück. Von innen beobachtete er den Hof eine Weile mit dem Nachtsichtgerät. Der Obdachlose regte sich nicht, lag weiter in dem stärker werdenden Regen, unter den sich immer mehr Schneeflocken mischten. Nach einem Kontrollgang durch die Wohnung, bei dem der Privatdetektiv Fenster und Türen überprüfte, legte er sich schlafen. Als er einige Stunden später erwachte und als Erstes das Nachtsichtgerät aufsetze, waren die Decken im Hof verschwunden. Er schlich hinaus und schloss die Tür ab.
*
In den nächsten Tagen gewöhnte sich Marius Sandmann an, abends nach Einbruch der Dunkelheit die Hoftür abzuschließen und dafür die Kellertür offen zu lassen. Der Obdachlose akzeptierte dieses Arrangement. Als Marius am ersten Tag in den Keller hinunter gegangen war, hatte er seine Decken und seine Bilderrolle säuberlich aufgestapelt unter der Kellertreppe gefunden. Von dem Mann selbst fehlte jede Spur. Der Detektiv sah ihn nicht, er hörte ihn nicht. Er war erleichtert, dass sich niemand mehr im Hof herumtrieb, ihn beobachten konnte und gemahnte, dass die Fenster im Erdgeschoss die Schwachstelle seines Sicherheitskonzeptes waren, auch wenn sein Vermieter zugestimmt hatte, als der Privatdetektiv sie auf eigene Kosten vergittern ließ. Nur die Zeichnung an der Wand erinnerte noch daran, dass hier jemand sein Lager aufgeschlagen hatte. Der Detektiv hatte sie mit dem Smartphone abfotografiert. Eigentlich wollte er das Bild danach überstreichen, brachte es aber nicht fertig. Stattdessen schob er eine Regentonne davor, die ein Mieter aus dem dritten Stock einmal im Hof aufgestellt hatte.
*
Ein beißender Geruch weckte ihn. Es brauchte einige Sekunden, ehe er ihn einordnen konnte. Zunächst dachte er, er hätte irgendetwas auf dem Herd vergessen. Rasch sprang er aus dem Bett und lief auf nackten Füßen die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Im Trainingsraum sah er die ersten dünnen Rauchschwaden, die ebenso träge wie bedrohlich am Boden entlangzogen und sich unter den Hanteln zu sammeln schienen.
Er rannte weiter. Im Flur wurden die Schwaden auf dem Boden dichter. Sie krochen unter der Tür hindurch, erste kleine dunkelgraue Fäden zwangen sich bereits seitlich an der Tür vorbei. Als er sie aufriss, blickte er in eine grauschwarze Nebelwand. Er hörte das Knacken und Knistern eines Feuers. Wo er die Kellertür im Nebel vermutete, sah er ein fahles Glimmen im grauen Rauch.
Erste kleine Flämmchen züngelten schon am hölzernen Treppengeländer. Wenn er sich nicht beeilte, würde das Feuer auf das Erdgeschoss übergreifen.
Wo steckte der Obdachlose? Lag er unten? Dann brauchte er Hilfe! Wenn sie nicht schon zu spät kam. Eilig stürmte der Detektiv zurück in die Wohnung, zog die klamme Decke aus der Waschmaschine und feuchtete sie in der Dusche zusätzlich an. Anschließend riss er ein Handtuch von der Heizung, hielt es ebenfalls unter den Wasserhahn und band es sich vor Mund und Nase. Im Flur griff er sein Handy, wählte die 112. Mit der freien Hand zog er die Gesichtsmaske kurz herunter und gab in knappen Worten seine Adresse durch.
Die Decke vor sich haltend, lief er die Kellertreppe hinab. Vom Absatz der vorletzten Stufe meinte er eine Gestalt in den Flammen ausmachen zu können. Hilflos schlug Marius mit der Decke nach den Flammen. Wütend zuckten sie kurz zurück, um danach nur noch heftiger nach ihm zu greifen. Schon bald bot die Decke keinen ausreichenden Schutz mehr. Es war aussichtslos! Das Feuer war bereits zu groß, die Flammen füllten die gesamte Höhe des Raumes aus. Mit seiner albernen, feuchten Decke konnte er nichts ausrichten. Irgendwo, das wusste er, hing im Keller ein Feuerlöscher. Es dauerte einen Augenblick, dann sah er hin. An der hinteren Wand, durch die Flammen davor grell orange beleuchtet. Hinter sich hörte er Schritte und Stimmen. Er hoffte auf Hilfe, vielleicht sogar Rettung für den Obdachlosen, dessen schwarzer Körper unerreichbar für Marius in der hinteren Ecke des Ganges lag.
Nachbarn standen mit verschrecktem Blick an der Tür. Sie sahen auf die Flammen und auf den Detektiv, der nur mit einer Jogginghose bekleidet, versuchte, die Flammen mit seiner Decke zu löschen. Keiner rührte sich.
Marius hörte, wie die Haustür aufgerissen wurde, hörte die schweren Schritte der Feuerwehrleute, denen er notgedrungen den Kampf mit den Flammen überließ. Erschöpft ließ er sie an sich vorbei. Ein Nachbar blickte ihn misstrauisch an.
»Haben Sie das Feuer gelegt?«
*
Die Feuerwehrleute brauchten kaum zehn Minuten, um das Feuer unter Kontrolle zu bringen und weitere zwanzig, um letzte kleine Brandherde zu löschen. Marius stand mit den anderen Bewohnern des Hauses draußen auf der Straße, eine Decke gegen die Kälte um die Schultern gelegt. Niemand sprach mit ihm und er sprach mit niemandem. Als die ersten Feuerwehrmänner auf die Straße zurückkamen, ging Marius ins Haus.
Der Geruch verbrannten Holzes und verschmorter Kabel mischte sich unter den noch vorhandenen Gestank des Qualms und den Geruch von Feuchtigkeit und Löschwasser. Zwei Feuerwehrleute standen vor der Kellertür und versiegelten sie mit einem Absperrband. Marius sprach einen von ihnen an.
»Dort unten war jemand, oder?«
Der Mann nickte. »Ja, da war jemand. Haben Sie versucht, ihn zu retten?«
»Ich konnte nichts tun.«
Marius blickte an dem Feuerwehrmann vorbei hinunter in den Keller. Würde der Obdachlose noch leben, hätte Marius ihn nicht dort unten schlafen lassen?
»Der arme Kerl steckte da hinten richtig in der Falle. Keine Chance, wenn Sie mich fragen. Kannten Sie ihn? Ich nehme an, es war ein Obdachloser, der sich hier einquartiert hat.«
»Passiert so etwas öfter? Dass sich Leute in fremden Häusern oder Kellern einquartieren?«
»Im Winter gelegentlich. Den meisten ist das zu riskant. Sie kriegen ja doch nur Ärger, wenn sie erwischt werden.«
Nicht alle, dachte der Detektiv. Manche bekommen Hilfe bis in den Tod.
Der Feuerwehrmann musterte ihn prüfend. »Ich kenne Sie«, sagte er schließlich.
Marius musterte den Mann. Er war groß, unter dem Helm trug er kaum zu sehende, kurze schwarze Haare, einen Schnauzbart im kantigen Gesicht, das in ihm keine Erinnerungen auslöste.
»Woher? Ich kann mich leider gar nicht an Sie erinnern. Tut mir leid.«
Der Feuerwehrmann lachte. »Das glaube ich Ihnen gerne! Als ich Sie das letzte Mal gesehen hatte, wirkten Sie um einiges lädierter als heute. Damals hatten Sie gerade eine Tür in die Fresse bekommen.«
Jetzt dämmerte es Marius. Vor einigen Jahren, als er einen Bombenanschlag auf eine Karnevalskneipe untersucht hatte, hatte jemand versucht, sein altes Büro und ihn in die Luft zu sprengen. Er erinnerte sich, dass er die Tür aufgeschlossen hatte, einen Blitz sah, einen Knall hörte.
»Sie waren damals dabei?«
Der Feuerwehrmann nickte. »Sie scheinen Brände und Bomben ja geradezu anzuziehen. Galt das Feuer Ihnen?«
»Ich denke nicht.«
»Wohnen Sie da?«, fragte der Feuerwehrmann und deutete auf die Wohnungstür. Der Detektiv nickte.
»Okay, hätte es Ihnen gegolten, hätte sich der Brandstifter sicher einen anderen Ort gesucht. Nicht den Keller. Haben Sie Fenster zum Hof?«
»Ja.«
»Dann könnte man Ihnen einen Molotowcocktail durch die Scheibe schmeißen.«
»Die Fenster sind vergittert.« Der Feuerwehrmann schaute ihn kurz irritiert an. »Erdgeschosswohnung. Da sollte man ein bisschen vorsichtiger sein.«
»Das hätte man dem Kerl da unten sagen sollen. Armes Schwein!«
Damit ließ der Feuerwehrmann den Detektiv stehen und folgte seinen Kollegen, die draußen bereits zusammenpackten. Das rotierende blaue Licht fiel in den Flur und verschwand, als Marius die Haustür hinter sich schloss. Er horchte kurz ins Treppenhaus, die Nachbarn hatten sich in ihre Wohnungen zurückgezogen. Er ging nicht zurück in seine Maisonette, sondern hob das Absperrband an der Kellertür vorsichtig an, bückte sich und stieg die Treppe hinab. Das Licht ließ er ausgeschaltet, stattdessen griff er wieder zur Taschenlampe seines Smartphones. Mit dessen kaltem, weißem Licht leuchtete er in den Keller hinein. Ganz am Ende des schmalen Ganges sah er vor der Metalltür zum ehemaligen Öltank einen schwarzen Haufen. Es dauerte einige Zeit, bis er darin die verkohlten Decken und den Obdachlosen erkennen konnte. Ein Armstumpf hing über der Decke, seltsam verdreht. Vorsichtig, den Ärmel des Sweatshirts gegen den Gestank verbrannten Fleisches vor die Nase haltend, ging er den dunklen Gang auf die Leiche zu. Mit dem Smartphone leuchtete er die Umgebung ab. Er fand nicht, wonach er suchte. Die Metallröhre mit den Bildern war verschwunden.
Er wandte sich um, rüttelte an den Türen der Kellerverschläge für die Mieter, aber fand sie alle verschlossen. Vielleicht war die Rolle irgendwo unter einer der roh gezimmerten Holztüren durchgerollt? Er ging auf die Knie. Der Gestank verbrannten Fleisches schien ihm nun noch intensiver in die Nase zu steigen. Er musste sich die Hand davor halten, schaute unter den Lücken hindurch, die ihm groß genug erschienen, leuchtete in die Keller hinein, fand nirgends eine Spur der Bilder. Um den Geruch zu unterdrücken und der aufsteigenden Übelkeit entgegenzuwirken, versuchte er, flach durch den Mund zu atmen. Aus dem Augenwinkel sah er den verbrannten Körper.
Er stand auf, wollte weg, hielt inne. Jemand riss das Absperrband beiseite. Die Kellertreppe knirschte unter den Schritten mehrerer Personen. Panisch schaute sich der Detektiv um, eilte hinüber zu seinem eigenen Keller und sperrte sich dort ein, bevor die Männer das untere Ende der Treppe erreicht hatten.
Sie waren zu dritt. Einer schaltete das Licht ein, das zu Marius’ Überraschung noch funktionierte. Er konnte sie durch einen Spalt im Holz beobachten. Sie trugen die obligatorischen Plastikoveralls der Kriminaltechniker und schwere Metallkoffer. Einer hatte eine Kamera mit einem riesigen Blitzgerät um den Hals hängen.
»Was haben wir hier?«
»Verbrennungsopfer, vermutlich ein Obdachloser, der sich im Keller eingenistet hat …«
»Lass mich raten: Ihm war kalt und da hat er sich ein Feuerchen gemacht?«
»So etwas in der Art.«
»Prima! Und was sollen wir dann hier?«
»Bestätigen, was Hans gerade gesagt hat«, schloss der vorderste der drei Männer. Marius hörte sie lachen. Er atmete so leise, wie es ging, hoffte, dass sie ihn nicht hörten. Der Geruch setzte ihm immer mehr zu. In ihm würgte es. Er musste ausharren, während vor seinem Versteck die Männer von der Spurensicherung ihrer Arbeit nachgingen. Gelegentlich musste Marius die Augen zusammenkneifen, weil das Blitzlicht des Fotoapparats Keller, Brandstelle und Leiche grell ausleuchtete. Ihn wunderte, wie wenig die Techniker redeten, wie wenig sie sich wirklich mit dem Tatort beschäftigten.
Nach 15 Minuten erschienen ein junger Kriminalkommissar und Rechtsmediziner Volker Brandt ebenfalls vor Ort. Mit Brandt hatte Marius einige Male zu tun gehabt, den Kriminalkommissar hatte er noch nie gesehen. Er musste jünger sein als Marius selbst. Mit seinem blonden Scheitel, der kleinen Nase und der leicht pickligen Haut wirkte er wie ein Teenager. Sein schwarzer, weit geschnittener Wintermantel, der ihm um die Schultern schlackerte, sollte ihn vermutlich größer und älter wirken lassen. Ein Fehlschlag.
Die beiden hielten Abstand zu der Leiche, vor allem der junge Polizist machte keine Anstalten, näher heranzutreten. Marius konnte sie zwischen dem Schwarz des dunklen Holzes ausmachen.
»Boehnisch, Kriminalkommissar«, stellte sich das Jüngelchen vor und reichte jedem der drei Techniker die Hand. Brandt stand daneben und tippte in Hochgeschwindigkeit irgendetwas in sein Handy. Vermutlich nichts, was mit dem Fall in Verbindung stand. Er hatte nur einen kurzen Blick auf die Leiche geworfen.
»Was haben wir hier?«, fragte Boehnisch, bemüht, seine Stimme scharf und schneidig klingen zu lassen.
»Einen Keller«, erwiderte der Wortführer der Techniker trocken. Seine Kollegen packten bereits ihre Utensilien zurück in die Koffer und grinsten.
Boehnisch warf ihm einen irritierten Blick zu und fuhr sich durchs Haar. »Danke, Herr Kollege! Da wäre ich jetzt nicht von alleine drauf gekommen.«
»Ich weiß.«
Brandt schnaubte. Er drückte ein paar Knöpfe auf dem Handy, dann ging er ein paar Schritte an das Ende des Kellers. Marius konnte seine Stimme hören, verstand aber nur Wortfetzen. »… Frühstück … du und ich … gleich … zu früh? … Wieso?«
Brandts Privatleben interessierte ihn im Augenblick weniger als die Informationen, die die KTU für Boehnisch hatte.
»Dann schicken Sie mir Ihren Bericht bis 14 Uhr ins Büro und vergessen Sie nicht die Details!«, konterte der Kriminalkommissar.
»Männliche Leiche, verbrannt, verkohlt, Brandzentrum – sofern wir das sagen können – hier in der Ecke.« Er hielt die Überreste eines kleinen Camping-Gaskochers hoch. »Wahrscheinlich hat er versucht, ein Feuerchen zu machen. Gegen die Kälte …«
Der Privatdetektiv dachte an die verschwundenen Bilder und zweifelte an dieser Theorie. Boehnisch schien mit der Antwort zufrieden zu sein.
»Ein Unglücksfall also? Danke.« Er schaute auf den Leichnam, als betrachtete er ein seltsames, totes Insekt. Ein Insekt, das ihm fremd war und nichts sagte. Am liebsten wäre Marius in den Flur hinausgegangen und hätte die Befragung der KTU selbst übernommen.
Der Wortführer schaute Boehnisch spöttisch an. »Sie müssen schon näher rangehen, wenn Sie was sehen wollen, Herr Kriminalkommissar.«
Marius sah die feixenden Gesichter der anderen KTU’ler hinter dem Polizisten.
Brandt kehrte zurück. »Und?«
»Euer Mann«, sagte der Wortführer und folgte seinen beiden Kollegen. Brandt steckte sein Handy in die Außentasche seines Sakkos, entnahm ihm stattdessen ein Aufnahmegerät und kniete sich vor dem Leichnam hin. Der Kriminalkommissar blieb etwas abseits.
Der Rechtsmediziner brauchte nicht lange, um zu einem ersten Ergebnis zu kommen. »Allem Anschein nach ist der Tote verbrannt«, sprach er als Letztes in sein Diktiergerät. Dann erhob er sich wieder und wandte sich direkt an Boehnisch. »Alles Weitere in ein paar Tagen.« Er drehte sich um. Marius hörte ihn die Treppe in den Flur hinaufgehen. Boehnisch blieb etwas ratlos vor den Überresten des Obdachlosen stehen.
Wenige Minuten später kamen die Sargträger und nahmen den Leichnam mit. Da der Plastikbehälter nicht die Kellertreppe hinunterpasste, legten sie die Überreste des Obdachlosen in einen Plastiksack und trugen ihn darin nach oben. Boehnisch verließ mit ihnen den Keller. Nur wenige Sekunden länger hielt Marius es noch aus. Er übergab sich so leise, wie er konnte, in eine Ecke seines Kellerverschlages. Dann beeilte er sich, ebenfalls ins Freie zu gelangen. Die KTU’ler verstauten gerade ihr Arbeitsmaterial in einem Ford Transit. Boehnisch, Brandt und der Sarg waren bereits verschwunden.
»Entschuldigen Sie!«, rief Marius den KTU’lern zu. Einer der drei, ein Mann um die 50 mit etwas zu langen, grauen Haaren, drehte sich zu ihm um. Er hatte den Overall bereits abgelegt und zog sich gerade eine dick gefütterte Winterjacke an. Skeptisch musterte er Marius in seiner Jogginghose und mit freiem Oberkörper.
»Was gibt’s?«
»Ich bin eben erst wachgeworden und konnte mich nicht anziehen. Es ist dringend!« Als er sich dem Mann weiter näherte, rümpfte der kurz angewidert die Nase. »Ich habe versucht, unten in den Keller zu kommen. Da ist abgesperrt. Sie waren gerade unten, oder?«
»Ja, das ist richtig. Wenn Sie etwas wissen wollen, müssten Sie sich an den Herrn Boehnisch von der Kripo wenden. Der ist zuständig.«
»Mir ist ein kleines Malheur passiert. Ich bin Künstler und ich habe gestern Abend eine Rolle mit Bildern im Keller stehen lassen. Jetzt fürchte ich, dass die alle da unten verbrannt sind. Eigentlich sollten die an eine Galerie heute … Das ist extrem wichtig für mich, meine erste eigene Ausstellung! Also, wenn es sie noch gibt …«
Der Grauhaarige wandte sich an seine Kollegen. »Habt ihr da unten eine Rolle mit Bildern gesehen?«
»So eine Metallröhre war das!«, ergänzte der Detektiv. Die Rolle des leicht schusseligen Künstlers gelang ihm gut. »Zugeschraubt!«
Auch die beiden anderen Männer schüttelten den Kopf. »Da war keine Röhre. Aus Metall, sagst du?« Marius nickte rasch. »Dann müsste sie das Feuer überlebt haben. Selbst wenn sie direkt im Brandherd gelegen hätte.«
»Also war da nichts?«
»Nein, tut mir leid.« Noch einmal musterte der KTU’ler den Detektiv abschätzig. »Wahrscheinlich hast du sie woanders liegen lassen.«
»Ich hoffe es! Danke!«
*
Der Draht hakte nur kurz. Es kostete Sandmann etwas über 30 Sekunden, die Wohnungstür von Sonja Werstenkiel zu öffnen. Niemand war ihm im Treppenhaus begegnet oder hatte ihn beobachtet. Dennoch öffnete er die Tür leise und lauschte einen Moment ins Innere der Wohnung. Werstenkiel hatte ihm garantiert, dass Sonja in der Agentur sein würde, auch wenn er leicht irritiert geklungen hatte, als Marius ihn von seiner Absicht, bei Sonja einzubrechen, unterrichtet hatte. Er selbst besäße keinen Schlüssel für diese Wohnung, Sonja sehr wohl für die Agentur und die Privaträume ihres Onkels, bei dem sie die ersten zwei Wochen in Köln gewohnt hatte.
Als Marius im Stockwerk über sich eine Tür schlagen hörte, schlich er in die Wohnung des Mädchens. Auch hier verharrte er lauschend. Er hatte Zeit und war froh, dass ihn dieser Einbruch von den Bildern in seinem Kopf ablenkte, den Bildern des verbrannten Obdachlosen. Mit einem leichten Druck öffnete er die erste Tür neben sich: das Bad. Kurz schaute er hinein, entdeckte nichts, was seine Neugier weckte. Die Holzdielen knirschten leicht unter seinen Schuhen, als er weiterging. Niemand reagierte auf das Geräusch. Er schien wirklich allein zu sein.
Hinter der nächsten Tür verbarg sich die Küche. Dahinter lag ein kleines Wohnzimmer, das als Durchgangszimmer angelegt war, an dessen Ende sich das Schlafzimmer des Mädchens befand. Das Bett war nicht gemacht. Jeweils zwei Kopfkissen und Bettdecken, beide wirkten benutzt, Es hätte also doch noch jemand anderes in der Wohnung sein können.
Marius öffnete die Kleiderschränke, schob die Kleider des Mädchens auseinander, untersuche den Boden und die hintere Wand nach Gemälden oder Verstecken. Ohne Erfolg. Ebenso wenig unter dem Schrank. Auf ihm standen zwei Koffer und mehrere Kisten. Marius durchwühlte sie, persönliche Dinge Sonjas, Fotos von Ex-Freunden, Freundinnen, aus dem Urlaub, einige Nacktfotos der Praktikantin. Marius überlegte, ob er das ein oder andere davon einstecken sollte. Es könnte ein nützliches Druckmittel sein. Er wählte zwei Bilder aus und steckte sie in eine Klarsichthülle, die er aus der Manteltasche zog. Auch unter dem Bett fand er keine Spur der verschwundenen Bilder aus der Sammlung Egon Werstenkiels. Dafür einen Karton mit Reizwäsche, Handschellen und einem Lederhalsband. Er packte alles wieder zurück, deponierte ein Mikrofon unter dem Lattenrost und überlegte, eine Kamera im Rauchmelder zu installieren, dem irgendjemand praktischerweise bereits die Batterie entnommen hatte. Er verwarf den Gedanken. Für seine Zwecke würde es reichen, Flur und Wohnungstür mit einer Kamera zu überwachen.
Im Wohnzimmer war er mit seiner Suche schneller fertig, ebenso in der Küche und im Bad. In jedem der Räume hinterließ er ein winziges Mikrofon, im Flur zudem eine Kamera. Wenn Sonja Werstenkiel Diebesgut in der Wohnung deponierte, würde sie zwangsläufig durch den Flur müssen. Allerdings versprach sich der Detektiv von den Mikrofonen deutlich mehr. Würde das Mädchen die Bilder ihres Onkels hier verstecken, hätte er sie gefunden.