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Die bewegende Geschichte des Hauptmanns Grüninger, der in den dreißiger Jahren zahlreichen Juden und Jüdinnen das Leben rettete, wurde nun auch verfilmt; anlässlich des Filmstarts von 'Akte Grüninger' am 30. Januar 2014 wird auch Stefan Kellers sorgsam recherchiertes Buch zum 5. Mal aufgelegt - in neuer, frischer Edition! Stefan Keller berichtet fundiert über die Geschehnisse um den St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger, der seinem Gewissen und nicht den Gesetzen folgte und damit vielen Menschen half, seine Zivilcourage aber auch bitter bezahlen musste. Filmpremiere Grüningers Fall an den Solothurner Filmtagen im Januar 2014
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Seitenzahl: 325
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Stefan Keller
Grüningers Fall
Stefan Keller
Geschichten vonFlucht und Hilfe
Für Gerda Rodel-Neuwirth in Arbon, die im November 1941 auf Dauer aus der Schweiz ausgewiesen wurde und immer noch da ist. Für Claire Stuckler in Lauderdale Lakes, die schrieb: »Die Mutter meines verstorbenen Mannes war an der Schweizer Border, und man schickte sie zurück, und sie starb im Gas-Chamber.« Für alle Flüchtlinge, die Auskunft gaben, und für jene, die es nicht mehr konnten. Für die Judenschlepper, welche ihre Arbeit taten.
Der vorliegende Text ist die erweiterte Fassung einer elfteiligen Serie, die zwischen Oktober 1992 und Januar 1993 in der WochenZeitung WoZ in Zürich erstmals erschien. Der Verein »Gerechtigkeit für Paul Grüninger«, St. Gallen, hat die Arbeit in Auftrag gegeben und finanziert. Der Lotteriefonds des Kantons St. Gallen, der Recherchierfonds des Fördervereins ProWoZ, die sozialdemokratische Fraktion des St. Galler Großen Rates, die Bildungsgemeinschaft der Sozialdemokratischen Partei des Kantons St. Gallen, die Dr.-Paul-Steiner-Stiftung, die Israelitische Gemeinde St. Gallen, die Saly-Mayer-Memorial-Stiftung in Zürich, die schweizerische Kulturstiftung Pro Helvetia sowie einige andere Institutionen halfen mit Zuschüssen. Die redaktionelle Beratung und das Lektorat von Pit Wuhrer waren entscheidend, die Großzügigkeit des WoZ-Kollektivs ebenfalls. Verlag und Autor bedanken sich ferner bei der Schweizerischen Bundesanwaltschaft für die Öffnung einiger verschlossener Dossiers und bei sämtlichen befragten Archiven für die sehr freundliche Kooperation.
© 1993 Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch
Lektorat: Pit Wuhrer
Umschlagfoto: Staatsarchiv St. Gallen
ISBN: 978-3-85869-603-8
5. Auflage 2013
Grüningers Fall
Ein Nachtrag
Chronologie
Glossar
Quellen
Personenverzeichnis
Zum Autor
IN DER NACHT vor der Absetzung von Hauptmann Grüninger war Polizeiaspirant Anton Schneider im Dienst. Er bewachte den Zentralposten und das Regierungsgebäude im Klosterhof von St. Gallen. Regelmäßig musste er eine Stechuhr bedienen, die seine Rundgänge protokollierte. Etwa um sechs Uhr früh, sagt Schneider, habe der Regierungsrat telefoniert und befohlen, er dürfe den Hauptmann nicht mehr ins Haus lassen. Kurze Zeit später sei der Hauptmann zur Arbeit erschienen. Am Tag seiner Suspendierung trug Grüninger die Uniform, und Schneider erinnert sich heute, dass sie einander unten am Eingang begegneten.
»Sie, Herr Hauptmann«, sagte der Aspirant, »Sie dürfen hier nicht mehr herein.«
»Ja, warum nicht?«, fragte der Hauptmann, und dann, nachdem er vom Anruf des Regierungsrates erfahren hatte, drehte er sich einfach um und ging weg.
»So?«, habe er vielleicht noch gesagt, oder »Je nun!«
Hauptmann Paul Grüninger war der Kommandant der St. Galler Kantonspolizei. Anton Schneider gehörte zu seinen rangniedrigsten Beamten; er war vor ein paar Monaten eingestellt worden und wartete auf den Beginn der Polizeirekrutenschule. Inzwischen setzte man Schneider für Nachtwachen ein, als Hilfskraft auf dem Büro, oder er musste die Gefangenen verpflegen. Mit dem Kommandanten hatte er nicht viel Kontakt. Der Kommandant gab sich mit einem Untergebenen, der nicht einmal die Rekrutenschule hinter sich hatte, normalerweise wenig ab. Im Büro führte Schneider die Flüchtlingskartei, die heute noch erhalten ist. Er sagt: Die Flüchtlinge seien häufig in Gruppen von zehn bis zwanzig Leuten auf den Zentralposten gekommen, oft habe er sie anschließend zur »Judengesellschaft« begleitet. Eine »Judengesellschaft« an der Teufenerstraße habe die Flüchtlinge nämlich entgegengenommen und sie in Lager verbracht. Über die Vorwürfe gegen den Hauptmann wurden die Aspiranten seinerzeit nicht informiert. Bloß, dass es um »Judensachen« ging, so viel hörten sie natürlich schon.
»Das war alles«, sagt Anton Schneider, »dann hatte ich nie mehr mit ihm zu tun.« Wahrscheinlich sei Grüninger an jenem Morgen in seine Amtswohnung zurückgekehrt.
Der spätere Bundespolizei-Kommissär Emil Rüthemann, der 1935 ins sankt-gallische Landjägerkorps eintrat und Sekretariatsarbeiten für den Kommandanten verrichtete, weiß noch das Datum der Suspendierung. Es war Montag, der 3. April 1939. Am Samstag zuvor wurde Rüthemann eine Tochter geboren, er meldete sich deshalb beim Hauptmann ab, und am Montag sah er ihn nicht mehr. Sie hätten den Hauptmann »in Empfang« genommen, hieß es. Was gegen Paul Grüninger aber eigentlich vorlag, hat man auch Rüthemann nie richtig erklärt. Im Korps sei damals gemunkelt worden, Grüninger habe vielleicht versucht, bei den jüdischen Flüchtlingen hie und da etwas für sich persönlich herauszuholen. Ein Verdacht, eine reine Annahme halt, meint Rüthemann heute, denn konkrete Feststellungen in diesem Sinne habe bestimmt keiner von den Polizisten gemacht. Grüninger sei ein anständiger Vorgesetzter gewesen, sehr wohlwollend, umgänglich und korrekt, und insofern, als er dann Knall auf Fall entlassen und nachher »ein armer Kerli« wurde, insofern habe er ihm leidgetan.
Der ehemalige Landjäger Fritz Krucker hingegen sagt: Ständig Frauen und Fußball im Kopf des Kommandanten, aber nie genug Zeit für das Korps, das konnte ja nicht gut gehen! »Ganz unabhängig von der Judensache wäre eine Entlassung gerechtfertigt gewesen!« Nur Günstlinge hätten die Absetzung bedauert. Krucker war seit 1937 bei der Polizei, er war ebenfalls auf dem Zentralposten anwesend. Fritz Krucker erinnert sich, wie er selber mit einer Zwangsjacke ausrücken musste, weil Grüninger am Ende den Platz nicht räumte – erst als zwei Landjäger samt einem Wachtmeister mit Zwangsjacken bewaffnet vor seinem Schreibtisch auftauchten, sei der Hauptmann gegangen.
Es kann jedoch sein, dass diese Geschichte von Krucker, da sie anderen Darstellungen widerspricht, in Wirklichkeit fünf Wochen später passierte, als man Paul Grüninger gar nicht vertreiben, sondern psychiatrisch internieren wollte.
Aus den Akten geht hervor, dass der Polizeikommandant am 3. April 1939 auf »punkt 8.30 Uhr« ins Amtshaus an der St. Galler Neugasse bestellt wurde, wo ihm ein außerordentlicher Untersuchungsrichter einen Brief überreichte, etwa zweieinhalb Stunden nach seiner Begegnung mit Aspirant Schneider. Der Brief war acht Zeilen lang, er war vom Chef des Polizeidepartements unterzeichnet. Neben der vorläufigen Amtsenthebung teilte er dem Hauptmann die Eröffnung eines Strafverfahrens mit und verbot ihm jetzt schriftlich, die Räume der Kantonspolizei zu betreten. Mit der Leitung des Polizeikorps beauftragte der Regierungsrat interimsweise den Vorstand der Automobilkontrolle. Den bisherigen Stellvertreter des Kommandanten schickte er in Urlaub.
Nach den Akten zu schließen wurde Paul Grüninger wegen Urkundenfälschung und Amtspflichtverletzung suspendiert. Nach Ansicht der Behörden hatte er seinen Chef hintergangen und das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement zu täuschen versucht. Er hatte unrichtige Dokumente angefertigt und falsche Auskünfte gegeben. Als der Untersuchungsrichter seine Ermittlungen weiterzog, kamen bald noch zusätzliche Vergehen ans Licht, und die entdeckten Straftatbestände häuften sich angeblich »von Tag zu Tag«.
Es gilt als sicher, dass Paul Grüninger im Jahr vor seiner Absetzung mehrere Hundert, vielleicht einige Tausend Menschen gerettet hat.
MÄRZ 1938. Österreich lässt sich von Deutschland erobern. Adolf Hitler verkündet die »Wiedervereinigung« des Reiches. Die österreichische Bevölkerung ist begeistert. Mit der Wirtschaft soll es nun aufwärtsgehen. In Wien werden Leute, die kein Hakenkreuz tragen, eingesammelt und malträtiert. Jüdinnen und Juden werden aus ihren Wohnungen geholt, verhöhnt und beraubt. Karl Haber zum Beispiel, ein neunzehnjähriger Handelsangestellter, der später in die Schweiz fliehen wird, muss zusammen mit seinem Vater, zusammen mit vielen, auf der Straße politische Parolen wegschrubben, Zahnbürsten und ähnliche Werkzeuge sollen sie benutzen; die Umstehenden johlen. Vor dem Lebensmittelladen des Vaters steht ein Posten mit Schild: »Arier, kauft nicht beim Juden!« Der Vater ist bürgerlich und patriotisch, er hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, er wird in Auschwitz umkommen. Bei der Schneiderin Susi Mehl zum Beispiel, der künftigen Frau von Karl Haber, steht eine alte Bekannte in Begleitung der SA vor der Türe; die alte Bekannte nimmt die Teppiche mit, die SA holt den Vater und die drei Brüder ab. Auch die Eltern von Susi Mehl werden nicht überleben. Der Terror ist eine Massenbewegung in Wien, oft geschildert: ein orgiastischer Pogrom. Die schlimmsten Verfolger sind die Nachbarinnen und Nachbarn. So einfach hatten es die Nazis im Altreich noch nie. Fast alle scheinen spontan mitzumachen. Fast alles ist erlaubt. In fünf Jahren soll Wien »judenrein« sein, hat Hermann Göring versprochen. Innert weniger Monate werden siebzigtausend Wohnungen konfisziert, jüdische Betriebe werden aufgelöst oder von sogenannten Kommissaren übernommen, die sie meistens auf eigene Rechnung weiterführen. Jüdische Angestellte fliegen raus, Verhaftungswellen, Totschlag etc. – ein Vorgeschmack auf das, was folgen wird, eine Probe für die totale Vernichtung, von der aber noch nicht die Rede ist.
Der Schuhmacher Moritz Hacker zum Beispiel, der im letzten Moment aus Wien entkam, weil ein Freund zu den Nazis übergelaufen war und ihn trotzdem vor der Festnahme warnte, sagt heute: »Ja, zuerst wollten sie, dass wir auswandern. Aber dann haben sie beschlossen: nicht mehr auswandern, sondern umbringen! Alles umbringen! — Haben Sie davon gelesen, von dieser alten Sache?«
Aus dem »Vorarlberger Tagblatt« an der Grenze, 18. März 1938, eine Woche nach dem deutschen Einmarsch:
»Bei der Denkart der Juden darf es nicht wundern, dass diese volksfremden Elemente außer Land gehen, da ihnen nun endlich auch in Österreich der Boden für Nichtstun und Gaunerei entzogen ist. Dass das ›große Wandern‹, wie es das Vorarlberger Tagblatt vor einigen Tagen nannte, von der heimattreuen Bevölkerung gerne gesehen wird, muss nicht besonders betont werden. Weniger erfreulich ist, dass diese Menschen noch zu retten suchen, was zu retten ist. Dank der schlagartig eingesetzten, sehr verschärften Kontrolle, die in Feldkirch ihren Abschluss findet und hier so gründlich besorgt wird, dass die internationalen D-Züge eine mehrstündige Verspätung erfahren, ist es schon in den ersten Tagen gelungen, namhafte Kapitalswerte sicherzustellen und dem deutschen Volke zu erhalten. Die am Feldkircher Bahnhof vorgenommene Kontrolle führte in der Zeit bis 16. März, 12 Uhr mittags, zur Beschlagnahme von Geld und Geldeswerten im Gesamtbetrage von 121 353 S[chilling] 17 G[roschen]. Die Reisenden, die dieses Vermögen verbotenerweise ins Ausland verschleppen wollten, sind genügend gekennzeichnet durch die Anführung einiger Namen: Charlotte Riesenfeld, Gustav Seemann, Balla Hirschberg, Friedrich Pollak, Moritz Brotfeld, Dr. Morgenstern, Georg Jakobsohn, Isaak und Sara Wachs, Emilie Rosenbaum, Julie Zweig, Dr. Lindenbaum, Dr. Kunststadt, Melanie Lindenbaum, Ludwig Zweig, Ludwig Schwarzschild, Alexander Goldstein, Edit Löwenstamm, Zima Löw u. a. Diese kleine Auslese der Namen genügt, die Rassezugehörigkeit festzuhalten. Wir wünschen nur, dass diese Menschen nie wiederkehren.«
Die ersten Flüchtlinge reisen in der Regel legal in die Schweiz. Mit gültigen Ausweisen. Sie dürfen zehn Mark mitnehmen, eventuell dreißig Mark, die Angaben widersprechen sich. Wenn die Flüchtlinge jüdischer Herkunft sind, gelten sie nach schweizerischen Kriterien nicht als politisch verfolgt. Gemäß einer Weisung des Bundesrates vom 12. März sollte ihnen die Umkehr empfohlen werden. Das geschieht vorläufig selten.
Aus dem Monatsbericht des Grenzwachtkommandos III in Chur vom 7. April 1938:
»Am 13. 3. standen auf allen österreichischen Zollämtern auch deutsche Finanzbeamte und Polizeiorgane (SS-Leute) im Dienst. Gleichzeitig wurden die österr. Zollwachtposten dann auch durch Zuteilung von österr. Zollanwärtern (Rekruten) vermehrt. In den Tagen vom 12.-16. 3. erfolgte eine starke Personenausreise aus Österreich. Alle von Österreich nach der Schweiz kommenden Züge waren stark besetzt. Auffallend gering war die Zahl der aus Österreich fliehenden politischen Flüchtlinge. Von der Grenzwache und den Polizeiorganen sind in der zweiten Hälfte des Monats März ca. 30 politische Flüchtlinge aufgegriffen worden. So hat sich das große Ereignis des Anschlusses von Österreich an Deutschland vollzogen, ohne in unserem Dienstbetrieb und in unseren Dienstverhältnissen nennenswerte Rückwirkungen zu verursachen.«
Zu den ersten Flüchtlingen aus Österreich zählen beispielsweise die Schriftstellerin Gina Kaus und der Lyriker Walter Mehring. Sie treffen am 13. März in Feldkirch ein, der Dramatiker Carl Zuckmayer am 15. März. Der Dichter Jura Soyfer wird am 13. März auf der Vorarlberger Seite der Grenze verhaftet, er ist im Konzentrationslager Buchenwald gestorben.
EINES DER GROSSEN grenzpolizeilichen Probleme in der Zeit vor dem deutschen Einmarsch, erzählt Dr. Julius Längle, 1936–1938 Polizeireferent bei der Bezirkshauptmannschaft Bregenz in Vorarlberg, Anhänger der austrofaschistischen Schuschnigg-Diktatur, die im März 1938 zerschlagen wurde – eines der Probleme, weshalb er in den Jahren vor dem Anschluss Österreichs an Deutschland gelegentlich mit Polizeihauptmann Grüninger aus St. Gallen konferierte sowie mit dem Chef der deutschen Gestapo im bayerischen Lindau, sei die heimliche Durchreise von Spanienkämpfern gewesen, die in allen drei Ländern verboten war. Durch Vorarlberg seien wichtige Verbindungslinien nach Spanien gegangen. Illegaler Menschenschmuggel sei das gewesen, noch lange bevor die Juden kamen, und bei gemeinsamen Sitzungen mit seinem alten Freund Grüninger, einem tüchtigen Polizeioffizier, sowie mit Joseph Schreieder von der Gestapo, einem ausgezeichneten Kriminalbeamten, habe man jeweils die neuesten polizeilichen Erkenntnisse über diese Verbindungslinien ausgetauscht. Man habe einander gegenseitig die Anlaufstellen der Spanienkämpfer dies- und jenseits der Grenze verraten. »Hör zu«, habe Paul Grüninger oft zu ihm gesagt, »Du los emoll, do isch denn en Aalaufschtell« – flugs habe er diese Anlaufstelle ausgehoben, die Spanienfahrer festgenommen und in ihre Herkunftsstaaten zurückschieben lassen. Politische Diskussionen habe es bei solchen Zusammenkünften nicht gegeben, es seien rein dienstliche Sitzungen gewesen. Auch Joseph Schreieder von der Gestapo habe nie eine politische Bemerkung gemacht, keine Gehässigkeiten oder so, man sei freundschaftlich miteinander umgegangen. Im März 1938 sei Schreieder dann von Lindau nach Bregenz versetzt worden und habe ihn, Dr. Julius Längle, sofort aus der Haft befreit, in die er als Polizeireferent durch die Rachegelüste der bis dahin ebenfalls verbotenen österreichischen Nazis geraten sei. Ohne den deutschen Gestapo-Chef wäre er zweifellos im Konzentrationslager gelandet, sagt Julius Längle, der unter dem neuen Regime aber wieder Beamter werden durfte und in der Zweiten Republik schließlich Bezirkshauptmann von Bludenz.
Eines der auffälligsten Phänomene in den Vorarlberger Dörfern vor dem Anschluss, erzählt der Spengler Albert S. aus St. Gallen, Anhänger der Kommunistischen Partei und Aktivist der Roten Hilfe in den Dreißiger- und Vierzigerjahren – etwas vom Auffälligsten seien also die vielen Bettlerinnen und Bettler in Vorarlberg gewesen, Staatenlose aus dem Ersten Weltkrieg oder Angehörige östlicher Länder, die zwischen der Schweiz und Österreich hin- und hergeschoben wurden. Manchmal habe es in bestimmten Dörfern mehr auswärtige Bettler und Staatenlose gegeben als Einwohnerinnen und Einwohner. Auch das »Gefangenenhaus« in Feldkirch, in dem Albert S. ein halbes Jahr lang saß, weil er Spanienkämpfer über die Grenze schleuste, sei 1937 mit Bettlerinnen und Bettlern halb voll gewesen. Den Transfer der Spanienfreiwilligen hätten in der Ostschweiz maßgeblich zwei Genossinnen aus Wien organisiert. Eine der Frauen habe sich im Rheintal scheinbar zur Kur aufgehalten, als herzkranke Lehrerin getarnt, die zweite habe von St. Gallen aus das Ganze geleitet. Ein paar Sozialdemokraten hätten auch mitgemacht, sagt Albert S., darunter ein Dr. Werner Stocker, Rechtsanwalt aus Davos, welcher bald darauf zum schweizerischen Zentralsekretär der Sozialdemokratischen Partei gewählt worden sei. Dieser Werner Stocker habe als Alpinist die Schleichwege durch die Bündner Berge gekannt, er sei ein bäumiger Typ gewesen; trotz seines Doktortitels habe er nie den geringsten Dünkel gezeigt, sondern mit ihm, dem kommunistischen Spengler, wie mit einem guten Kollegen verkehrt. Seine eigene Aufgabe sei es gewesen, erzählt Albert S., neue Anlaufstellen einzurichten, ortskundige österreichische Führer zu suchen und Nachforschungen anzustellen, falls eine Verbindungslinie plötzlich nicht mehr funktionierte. Das Land Vorarlberg sei in der Zwischenkriegszeit unvorstellbar arm dagestanden, ein Großteil der Bevölkerung habe vom Schmuggel gelebt, es sei daher nicht speziell schwergefallen, bezahlte Führer für die Spanienkämpfer zu finden. Nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland, während des Ansturms der Jüdinnen und Juden, sei die Grenzarbeit allerdings komplizierter geworden, wegen der schärferen Kontrollen. Dennoch sei es der Roten Hilfe sogar bis in den Krieg hinein gelungen, auf den Routen der Spanienkämpfer vereinzelt Kommunistinnen und Kommunisten aus dem Dritten Reich herauszuholen, berichtet Albert S., der infolge seiner politischen Haltung acht Jahre lang arbeitslos war und seinen Namen nun nicht mehr publiziert haben möchte.
Er sei heute froh, sagt Albert S., dass er nie jemanden habe töten müssen und dass ihn die Partei zur Grenzarbeit schickte, nicht direkt in den Spanischen Bürgerkrieg.
Im Gefängnis in Feldkirch, fügt Albert S. noch hinzu, hätten übrigens jene Häftlinge, die schon einmal von der St. Galler Polizei erwischt worden seien, sehr freundlich über Hauptmann Grüninger gesprochen. Grüninger sei ein anständiger Mann gewesen, er könne das aus seiner Kenntnis bestätigen, und im Feldkircher Gefängnis hätten die Spanienkämpfer und Bettler bereits im Sommer 1937 den St. Galler Polizeikommandanten für dessen Anständigkeit geradezu gerühmt.
ZUR LAGE an der Grenze, zweite Hälfte der Dreißigerjahre. Aus den unveröffentlichten Memoiren von Wachtmeister Leonhard Grässli, Zolleinnehmer auf dem Zollamt Diepoldsau im St. Galler Rheintal:
»Am 28. Juni 1936 berichte ich in einem Schreiben an das Grenzwachtkommando: ›Im Monat Mai 1936 wurden im Grenzwachtabschnitt Diepoldsau 74 Mittel- oder Staatenlose zurückgewiesen, davon nur 4 auf der Zollstraße! Nebenbei sind im gleichen Monat von verschiedenen kantonalen Polizeibehörden 62 Staatenlose oder Nichtösterreicher in unsern Grenzabschnitt zur Ausweisung geleitet worden.‹ – Hier besteht die einzige Möglichkeit, die Staatenlosen ›los zu werden‹, auf der Zollstraße würden diese ja von den ausländischen Grenzbehörden ebenfalls wieder zurückgewiesen! Wie diese ›Überläufer‹ den Grenzübertritt fertigbringen, grenzt schon an ›Indianerlis‹. [...] Die meisten werden aber nicht erwischt, zwischen der Grenzwache und Polizei und den ›Überläufern‹ entsteht eine besondere Art ›Fangis‹! Nur Diensthunde sind gefürchtet. Im allgemeinen sind diese ›Handelsreisenden‹ harmlos. Doch nicht immer, vereinzelt widersetzen sie sich der Ausweisung [...] Verschupft, gemieden, selbst wenn sie wirklich wollten, finden sie keine Arbeit, wo soll das noch hinaus, und dann – 1938, am 13. März kehrt Österreich heim ins Reich, und mit einem Schlage hört die moderne Reisläuferei auf. Nun können sich diese Unerwünschten als ehemals im Untergrund untergetauchte ›Nazis‹ und von der früheren Regierung Verstossene wieder in die Gesellschaft einreihen. Späteres Kanonenfutter!«
Von den Spanienkämpfern schreibt Leonhard Grässli nichts. Aber ein anderer Zeuge, der frühere Landjäger Ernst Kamm, der eine Zeit lang bei der Passkontrolle in Buchs gearbeitet hat, sah dort Menschen, die unversehrt einreisten und invalid wieder ausreisten, als die Spanische Republik an die Faschisten verloren war. »Da sind viele arme Cheiben durchgekommen«, sagt Landjäger Kamm, »und noch ärmer kamen sie zurück. Ohne Glieder, ohne Arme, ohne Beine, ein Auge weniger – und alles, was es so gibt im Krieg.«
APRIL 1938. Drei Wochen nach Beginn der Wiener Pogrome halten sich drei- oder viertausend österreichische Flüchtlinge in der Schweiz auf. Immer noch gelangen die meisten legal ins Land. Manche sind bereits weitergereist, etwa fünftausend Emigrantinnen und Emigranten, die meisten aus Deutschland, waren vor dem März schon da.
Auf den 1. April verhängt der Schweizer Bundesrat die Visumspflicht für ehemalige Österreicher. Außenminister Giuseppe Motta hat am 14. März dem deutschen Gesandten in Bern seine Bewunderung für den Anschluss mitgeteilt und ihn »als größtes weltgeschichtliches Ereignis seit dem Weltkrieg« gelobt. An die schweizerischen Grenzübergangsstellen ergeht jetzt die Weisung, alle Personen zurückzuschicken, die über kein gültiges Visum verfügen, und wer ordnungsgemäß ausreisen dürfe, heißt es, werde ohnehin nicht als politischer Flüchtling anerkannt. Noch könnten aber viele ausreisen, wenn sie irgendwo hineingelassen würden. In Österreich lebten zum Zeitpunkt des Anschlusses rund zweihunderttausend Jüdinnen und Juden. Die Tschechoslowakei zum Beispiel hat ihnen den Zugang bereits im März versperrt.
Dem Bundesratsentscheid ist eine mehrtägige Dienstfahrt von Plinio Maggetti vorausgegangen, einem Beamten der Eidgenössischen Fremdenpolizei, welcher die Grenze im St. Galler Rheintal besichtigte, in herannahenden Zügen die Juden zählte, sich über ihre fremdartigen Namen wunderte, ihre Abfertigung inspizierte, auch nicht ganz unberührt blieb von der Tragik in ihren Gesichtern, mit den deutschen Grenzstellen sowie mit der St. Galler Polizei verhandelte und sichtlich unbefriedigt nach Bern zurückkehrte.
In Buchs, notiert Plinio Maggetti, an »der wichtigsten Eingangspforte aus dem Osten«, würden die Reisenden auf der Schweizer Seite nur flüchtig überprüft, das eidgenössische Polizeiregister, der »Zeller«, werde praktisch nie nachgeschlagen, die kantonalen Grenzpolizisten seien zum Teil unerfahren und überlastet. Der Kanton St. Gallen stelle sich außerdem auf den Standpunkt, die Bewachung der Grenze geschehe im Interesse der ganzen Schweiz, und die daraus entstehenden Kosten müssten deshalb vom ganzen Land bezahlt werden.
Dass an der Grenze überhaupt Ausweise nötig sind, erscheint 1938 vielleicht etwas weniger selbstverständlich als später. Eine systematische Fremdenkontrolle ist in der Schweiz kaum zwanzig Jahre alt, der kleine Grenzverkehr zwischen den Dörfern im Rheintal hat an einigen Orten noch bis zum Anschluss ohne Papiere funktioniert. Die Passkontrolle in Buchs, schreibt der Fremdenpolizist Maggetti, werde oft nur als ein »notwendiges Übel, ein Hindernis für die Abwicklung der anderen Grenzfunktionen betrachtet«. – Streng genommen, so Maggetti, müssten schon jetzt »alle Juden, welche an unserer Ostgrenze erscheinen«, zurückgewiesen werden, da sie mittellos seien. Dies geschehe jedoch nicht.
»Allein die Einführung des Visums für alle österreichischen Pässe würde die dringend erforderliche Abhilfe schaffen.«
Im Bundesratsentscheid vom 28. März heißt es dann: »Abgesehen von der Lage unseres Arbeitsmarktes gebietet schon der Grad der Überfremdung die strikteste Abwehr eines längeren Aufenthaltes solcher Elemente.« Und ein Satz, der Jahrzehnte später in der schweizerischen Öffentlichkeit für Aufsehen sorgen wird, steht auch in diesem Entscheid: »Wenn wir einer unseres Landes unwürdigen antisemitischen Bewegung nicht«, wie der Bundesrat formuliert, »berechtigten Boden schaffen wollen, müssen wir uns mit aller Kraft und, wo es nötig sein sollte, auch mit Rücksichtslosigkeit der Zuwanderung ausländischer Juden erwehren, ganz besonders vom Osten her.«
Nach der Einführung der Visumspflicht werden in den nächsten zweieinhalb Monaten fast gar keine Flüchtlinge mehr gemeldet. Es gibt fast keine Abschiebungen. Zumindest in den Akten der St. Galler Polizei sind bis zum Sommer kaum Rückschaffungen verzeichnet. An der Grenze kehrt plötzlich eine sonderbare Ruhe ein. Das Grenzwachtkommando III berichtet am 8. Juni 1938: »Schmuggler und Überläufer sind wie vom Erdboden verschwunden.«
ENDE JULI beginnt die zweite große Massenflucht aus Österreich.
Charles Tenenbaum, Kaufmann in Wien bis 1938, Emigrant in der Schweiz bis 1945, seither in Brooklyn, New York, schreibt heute in einem Brief:
»Am 23. Juli 1938 bin ich und meine Frau nach der Schweiz illegal geflüchtet. Wir sind von der Grenzwache in der Schweiz verhaftet worden und nach Hohenems zurückgestellt worden. Dort hat uns die österreichische Grenzwache übernommen. Die haben uns verholfen, während der Nacht nochmals über die Grenze zu gehen. Wir sind in Diepoldsau angelangt, haben uns in einem Garten versteckt und in der Früh sind wir zum Bollag, Regenmantelfabrik, gekommen.
Den Namen hat uns ein Grenzpolizist gegeben. Von dort sind wir in einem Taxi nach St. Gallen angelangt. In St. Gallen haben wir einen Tempel gesucht. Die Leute haben uns sofort aufgenommen und uns in einer Gastwirtschaft untergebracht. Dort haben wir ein Zimmer und Mahlzeit bekommen. Die Jüdische Gemeinde hat alles für uns gezahlt. Wir waren die ersten Emigranten, ich Nr. 1 und meine Frau Nr. 2. [...] – Unsere Erfahrung an der Schweizergrenze war nicht gut. Wie uns die Schweizer Grenzwache verhaftet hat und uns zurückgeschickt hat, hat meine Frau die Bemerkung gemacht, dass wir uns aufhängen können, nachdem wir keine Zukunft haben, darauf hat der Schweizer Grenzwächter geantwortet: Es ist schade um den Strick. Darauf ist meine Frau sehr böse worden und hat ihm geantwortet: Wir werden Sie in der Schweiz sehen.«
Im Hochsommer 1938, sagt der ehemalige Landjäger Ernst Kamm, sei er eines frühen Morgens aus dem Schlaf geholt und vom Polizeidepartement nach Diepoldsau geschickt worden, um ein Flüchtlingslager einzurichten. In einer einzigen Nacht, vom 28. auf den 29. Juli, seien zwölfhundert Flüchtlinge illegal über die Grenze gekommen. Vielleicht auch in zwei oder drei Nächten gegen Ende Juli: Durch den Alten Rhein seien sie gewatet, alle durchs gleiche Loch geschlüpft in Diepoldsau, etwas rechts vom Zollamt, dort im Gebüsch, wo diese Erlenstauden standen. Halb trocken sei der Rhein dort gewesen. Zuerst seien praktisch nur Männer gekommen. Lauter Väter mit ihren Söhnen. Und sofort habe der Kurierdienst höllisch funktioniert bis nach Wien. Plötzlich habe »jedes Jüdli haargenau gewusst, wo es durchmusste«. Die hätten Skizzen und Fotos dabeigehabt, um den Weg zu finden. Sonst habe man ihnen ja alles abgenommen, ohne Hab und Gut seien sie über die Grenze, vollständig ausgebeutet. Aber die Skizzen und Fotos hätten sie sich von niemandem wegnehmen lassen.
»Und dann musste ich also das Lager aufbauen.«
EIN ALTER KÄMPFER für die Sache der Arbeiterschaft, ein Sozialist aus der Gründerzeit war er: ein gelernter und, nach manchen Berichten, auch sehr begabter Stickereizeichner, der 1912 Gewerkschaftssekretär wurde, 1916 Redaktor der »Volksstimme«, 1919 Nationalrat und 1930, mit sechsundfünfzig Jahren, Regierungsrat des Kantons St. Gallen. Ein witziger Polemiker soll er gewesen sein, ein hartnäckiger Ankläger der skandalösen Verhältnisse in der lokalen Textilindustrie. 1918 im Generalstreik hatte ihn das Militär arretiert; als Journalist wurde er öfters wegen Pressedelikten bestraft. – Er war der einzige Sozialdemokrat in der St. Galler Regierung, ein Pazifist, der noch 1935 eine Rede gegen die bewaffnete Landesverteidigung hielt. Die sechs bürgerlichen Regierungsratskollegen platzierten ihn gegen seinen Wunsch ins undankbare Polizeidepartement, zu dem damals sinnigerweise auch das Arbeitsamt gehörte, mitten in der Krise. Er war ein erklärter Feind aller Nazis und Faschisten, die er selbst gegen den Widerstand der Bundesbehörden mit polizeilichen Mitteln zu bekämpfen versuchte. Die frontistischen Blätter griffen ihn regelmäßig an; mehrfach attackierte ihn auch der Schweizerische Vaterländische Verband, welcher ihn zuletzt im Frühjahr 1939, kurz vor der dritten Wiederwahl, bezichtigte, er sei als kantonaler Polizeivorstand in eine Emigrantenschlepper-Affäre verwickelt, er habe Parteigenossen aus Österreich gerettet – und einen Monat später setzte Regierungsrat Valentin Keel, dieser »gutherzige Mensch«, wie ihn alte Arbeiter noch heute bezeichnen, seinen bürgerlichen Polizeihauptmann Paul Grüninger ab.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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