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Stolz und unbezwingbar am Steuerrad seiner schwarzen Fregatte, so brachte der berüchtigte Schmuggler Jack Greystone das Herz der schönen Evelyn d’Orsay zum Beben. Damals rettete er sie und ihre Familie furchtlos vor dem sicheren Tod. Heute steht die frisch verwitwete Comtesse wieder am Abgrund, und es gibt nur einen, der ihr helfen kann: Captain Jack Greystone! Doch der verführerische Draufgänger weist ihre erneute Bitte um Hilfe eiskalt ab - und küsst sie gleichzeitig so heiß, dass die Wellen der Sehnsucht höher schlagen …
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Seitenzahl: 561
IMPRESSUM
HISTORICAL PRÄSENTIERT erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2012 by Brenda Joyce Dreams Unlimited, Inc. Originaltitel: „Surrender“ erschienen bei: HQN Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL PRÄSENTIERTBand 29 - 2016 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Gisela Grätz
Abbildungen: FOThe Killion Group / Hot Damn Designs, Annmarie Young / Shutterstock, alle Rechte vorbehaltenTOS
Veröffentlicht im ePub Format in 12/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733775414
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Brest, Frankreich, 5. August 1791
Ihre Tochter wollte nicht aufhören zu weinen. Evelyn hielt Aimee auf dem Schoß und betete, dass sie sich beruhigte – ein schier aussichtsloses Unterfangen angesichts der schlechten Straßenverhältnisse und der irrsinnigen Geschwindigkeit, mit der die Kutsche durch die Nacht raste und die Passagiere auf ihren Sitzen hin und her schleuderte.
Wenn Aimee doch nur schlafen würde! Nun, da es ihnen geglückt war, aus Paris zu fliehen, hatte Evelyn Angst, dass man ihnen gefolgt war und das Schreien des Kindes Verdacht erregte und unerwünschte Aufmerksamkeit auf sie zog.
Doch ihre Tochter hatte Angst, weil sie selbst Angst hatte. Ein Kind spürte die Gemütsregungen seiner Mutter. Und Evelyn hatte Angst um Aimee. Es gab nichts Wichtigeres für sie als das Kind. Sie würde ihr Leben geben, um es zu schützen.
Aber was, wenn Henri starb?
Evelyn d’Orsay drückte das vierjährige Mädchen fest an sich. Sie saß vorn, neben dem Kutscher Laurent, der gleichzeitig der Kammerdiener ihres Mannes war und sich als wahrer Alleskönner entpuppt hatte. Der Comte d’Orsay hing zusammengesunken auf der hinteren Sitzbank zwischen ihrer Zofe Bette und Laurents Frau Adelaide. Evelyn warf einen Blick über die Schulter. Ihr Ehemann war totenblass.
Es stand nicht gut um seine Gesundheit. Schon seit ein paar Jahren litt Henri an der Schwindsucht. Würde er diese aberwitzige Jagd durch die Nacht und die Überfahrt nach England überstehen, oder musste sie fürchten, dass ihn sein Herz im Stich ließ? Die Anstrengungen waren Gift für ihn. Er brauchte dringend einen Arzt.
Wenn es ihnen nur gelang, aus Frankreich herauszukommen, wenn sie es nach England schafften! Dann waren sie in Sicherheit.
„Wie weit ist es noch?“, fragte sie flüsternd. Aimee hatte aufgehört zu weinen; sie war tatsächlich eingeschlafen.
„Wir sind fast da, glaube ich.“ Laurent und sie sprachen Französisch miteinander. Evelyn war Engländerin, doch sie hatte die Sprache schon fließend beherrscht, als sie den Comte d’Orsay kennengelernt hatte und gleichsam über Nacht seine blutjunge Braut geworden war.
Die Pferde waren schweißbedeckt und schnaubten vor Anstrengung. Gottlob hatten sie ihr Ziel bald erreicht, jedenfalls wenn Laurent sich nicht täuschte. Bald würde es hell werden. Der belgische Schmuggler, der sie an Bord seines Schiffes nehmen sollte, erwartete sie bei Sonnenaufgang.
„Werden wir uns verspäten?“ Evelyn sprach leise, was angesichts des Ratterns und Ächzens der Kutsche lächerlich war.
„Ich schätze nicht“, erwiderte Laurent stirnrunzelnd. „Aber wir sollten keine Zeit verlieren.“ Er streifte sie mit einem kurzen Seitenblick. In seinen Augen las sie Sorge.
Evelyn wusste, was ihm durch den Kopf ging – sie alle dachten an nichts anderes. Die Flucht aus Paris war gefahrvoll gewesen. Sie würden niemals zurückkehren, auch nicht in ihr Schloss im Loiretal. Sie mussten Frankreich für immer verlassen. Ihr Leben stand auf dem Spiel.
Aimee schlief fest. Evelyn strich ihr über das seidige dunkle Haar und kämpfte die Tränen der Angst und der Verzweiflung nieder.
Abermals sah sie über die Schulter und musterte ihren viel älteren Ehemann. Seit sie Henris Frau war, führte sie ein Leben wie im Märchen. Als sie ihn zum ersten Mal getroffen hatte, war sie eine mittellose Waise gewesen, angewiesen auf die Wohltätigkeit ihrer Tante und ihres Onkels. Henri hatte sie zur Comtesse d’Orsay gemacht. Er war ihr bester Freund und der Vater ihrer Tochter. Sie und Aimee verdankten ihm unendlich viel.
Evelyn machte sich entsetzliche Sorgen um ihn. Brustschmerzen plagten ihn schon den ganzen Tag, aber er hatte darauf beharrt, dass sie die Flucht seinetwegen nicht aufschoben. Ein Nachbar von ihnen war letzten Monat verhaftet worden, wegen angeblicher Staatsverbrechen. Aber der Vicomte de LeClerc hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, das wusste Evelyn ganz genau. Sein einziges Verbrechen bestand darin, dass er von Adel war …
Wie gewöhnlich, hatten sie den größten Teil des Jahres auf Henris Familiensitz im Loiretal verbracht und waren erst im Frühling für ein paar Wochen in die Hauptstadt gereist, um Einkäufe zu machen, das Theater und die Oper zu besuchen und an den vielen Empfängen teilzunehmen. Bereits bei ihrem allerersten Aufenthalt, vor der Revolution, hatte Evelyn sich in die Stadt verliebt, doch das Paris jener Tage gab es nicht mehr, und wäre ihnen klar gewesen, welche Verhältnisse dort mittlerweile herrschten, sie hätten den Besuch abgesagt.
Horden aufgebrachter Bürger, Handwerker und Bauern durchstreiften die Stadt auf der Suche nach denen, die etwas besaßen, stets bereit, sich an all jenen zu rächen, die sie zu ihren Feinden zählten. Auf den Champs-Élysées zu flanieren hatte Evelyn vor der Revolution großes Vergnügen bereitet. Nun war es schlicht lebensgefährlich. Es fanden keine Empfänge mehr statt, und die Läden, in denen der Adel eingekauft hatte, waren seit Langem geschlossen.
Henris verwandtschaftliche Beziehungen zum Königshaus waren nie ein Geheimnis gewesen. Doch von dem Moment an, da ein Hutmacher ihren Mann denunziert hatte, war ihrer aller Leben schlagartig zum Albtraum geworden. Ein aufgebrachter Mob von Sansculotten belagerte seitdem ihr Stadtpalais, und jedes Mal, wenn Evelyn das Haus verlassen hatte, war ihr jemand gefolgt. Irgendwann hatte sie nicht mehr den Mut gehabt, auf die Straße zu gehen. Und dann war LeClerc verhaftet worden.
„Ihr seid als Nächste dran“, hatte einer der Männer feixend zu ihren Fenstern hinaufgerufen und den Vicomte in Fesseln abgeführt.
Von dem Augenblick an waren sie tatsächlich Gefangene des Mobs gewesen. Evelyn hatte befürchtet, dass man sie daran hindern würde, die Stadt zu verlassen, wenn sie es versuchten. Als zwei Offiziere der Nationalgarde bei ihnen aufgetaucht waren, hatte sie damit gerechnet, dass Henri verhaftet würde, doch stattdessen war die gesamte Familie d’Orsay unter Hausarrest gestellt worden. Dass diese Männer sogar über Aimee Bescheid wussten, hatte den Ausschlag gegeben. Henri und sie waren sich einig gewesen, dass sie fliehen mussten.
Der Vorschlag, es den unzähligen französischen Emigranten gleichzutun und nach England zu gehen, stammte von Henri. Evelyn hatte der Idee begeistert zugestimmt. Sie war in Cornwall zur Welt gekommen und aufgewachsen und vermisste die felsige Küste, die einsamen Moore und den rauen Winter ebenso wie die freimütigen, arbeitsamen Menschen des Landstrichs. Sie sehnte sich nach einer Tasse starkem Tee im Dorfgasthaus und nach den ausufernden Festen, wenn ein Schmuggler mit einer Ladung wertvoller Fracht eintraf. Das Leben in Cornwall war hart und schwer, doch es hatte auch schöne Seiten. Natürlich würden sie hauptsächlich in London leben, aber sie mochte die Stadt. Sie konnte sich keinen besseren – und sichereren – Ort vorstellen, um ihre Tochter aufzuziehen.
Aimee verdiente so viel mehr. Was sie indes ganz bestimmt nicht verdiente, war, ein weiteres unschuldiges Opfer dieser entsetzlichen Revolution zu werden!
Als Erstes jedoch mussten sie an Bord des Schmugglerschiffs gehen und den Kanal überqueren. Und Henri musste durchhalten.
Bei dem Gedanken überlief Evelyn ein Frösteln, und sie spürte, wie die Angst sie zu überwältigen drohte. Henri brauchte ärztliche Behandlung, und einen Moment lang war sie versucht, die Fahrt zu unterbrechen und sich darum zu kümmern. Unvorstellbar, was aus ihr werden sollte, wenn er starb. Aber er wollte sie und Aimee unbeschadet außer Landes bringen. Und für sie selbst stand ihre Tochter an erster Stelle.
„Geht es meinem Mann besser?“, fragte sie bang.
„Non, Madame.“ Ihre Zofe schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich glaube, Monsieur le Comte benötigt dringend einen Arzt.“
Wenn sie eine Pause machten und einen Arzt kommen ließen, mussten sie einen weiteren Tag in Brest bleiben, vielleicht sogar länger. Ihr Verschwinden würde binnen Stunden bemerkt, spätestens heute Abend. Ob man ihnen auf den Fersen war? Evelyn konnte es nicht sagen. Sie wusste nur, dass die Männer der Nationalgarde ihnen untersagt hatten, die Stadt zu verlassen, und dass sie trotzdem gefahren waren. Wenn man nach ihnen suchte, würde es in Brest oder Le Havre sein. Von diesen beiden Häfen liefen die meisten Schiffe nach England aus.
Ihr blieb keine andere Wahl. Entschlossen ballte sie die Hände zu Fäusten. Sie war es nicht gewohnt, Entscheidungen zu treffen, schon gar nicht so folgenschwere. Aber ohne Aufenthalt würden sie sich in einer Stunde auf See befinden, außer Reichweite ihrer Verfolger.
Sie erreichten die Außenbezirke von Brest und fuhren an schmucken kleinen Häusern vorüber. Laurent tauschte einen verschwörerischen Blick mit ihr.
Kurz darauf konnte Evelyn das Salz in der Luft riechen. Laurent lenkte das Gespann auf den Innenhof einer Herberge, die im Hafenviertel lag. Als er die Kutsche zum Stehen brachte, jagten Wolken über den Himmel und schoben sich vor den verblassenden Mond. Evelyns Anspannung wuchs, als sie Bette ihre schlafende Tochter reichte und vom Kutschbock kletterte. Es ging laut zu in der Schankstube. Aber wenn der Gasthof voll war, schenkte man ihnen vielleicht keine Beachtung.
Oder vielleicht erst recht.
Aimee wieder entgegennehmend, stand sie da und wartete, während Laurent nach drinnen ging, um jemanden zu holen, der ihm half, den Comte ins Haus zu bringen. Sie trug eins von Bettes Kleidern und den dunklen Kapuzenumhang einer anderen Dienerin. Auch Henri war wie ein gewöhnlicher Bürger gekleidet.
Endlich erschien Laurent mit dem Wirt im Schlepptau. Als die beiden herankamen, zog Evelyn sich die Kapuze in die Stirn und senkte den Blick. Mit ihrem dunklen Haar und den blauen Augen sah sie zu herausragend aus, um die Blicke nicht auf sich zu lenken. Die Männer hoben Henri aus der Kutsche und trugen ihn in die Herberge. Aimee auf dem Arm, ging Evelyn hinter ihnen her ins obere Stockwerk. Adelaide und Bette bildeten die Nachhut.
Erst als sie die Zimmertür hinter den beiden Dienerinnen schloss, wagte Evelyn aufzuatmen, ohne indes die Kapuze zurückzuschieben. Mit einem Blick bedeutete sie Adelaide, nicht mehr als eine Kerze anzuzünden.
Wenn ihr Verschwinden bemerkt worden war, hatten die Behörden womöglich Haftbefehle gegen sie erlassen und Personenbeschreibungen herausgegeben, sodass man nach einer blauäugigen, dunkelhaarigen Vierjährigen, einem grauhaarigen, mittelgroßen älteren Adligen von kränklichem Aussehen und einer etwa zwanzigjährigen, außergewöhnlich schönen Frau mit blauen Augen, dunklem Haar und hellem Teint suchen würde.
Evelyn machte sich Gedanken wegen ihres Äußeren. Sie fiel auf, und nicht nur, weil sie so viel jünger war als ihr Ehemann. Man hatte sie als schönste Frau von Paris gefeiert, als sie als junge Braut von sechzehn Jahren das erste Mal dort gewesen war. Sie selbst hielt sich für nichts Besonderes, aber sie wusste, dass die Menschen sie nicht zu übersehen pflegten.
Laurent und der Wirt hatten Henri in einem der Betten untergebracht, und sie legte Aimee in das andere. Die beiden Männer waren zur Seite getreten und unterhielten sich gedämpft. Sie machten finstere Mienen, und in ihrem Ton lag Dringlichkeit. Evelyn lächelte Bette aufmunternd zu. Sie konnte sehen, dass die junge Dienerin verängstigt war. Das Angebot, zu ihren Verwandten in der Nähe von Nantes zurückzukehren, hatte Bette ausgeschlagen. Sie wollte mit nach England, weil sie fürchtete, verhört zu werden, wenn sie blieb.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte Evelyn sanft, um sie zu beruhigen. Bette und sie waren etwa gleichaltrig, aber Evelyn fühlte sich um Jahre älter. „Nicht mehr lange, und wir sind auf dem Schiff, das uns nach England bringt.“
„Danke, Madame.“ Bette ließ sich auf die Kante von Aimees Bett sinken.
Evelyn lächelte noch einmal beruhigend und ging zu Henris Krankenlager. Er war immer noch erschreckend bleich. Sie würde es nicht ertragen, wenn er starb, konnte sich nicht einmal entfernt vorstellen, ihn zu verlieren. Ihren besten Freund. Sie brauchte ihn so sehr.
Es war keineswegs ausgemacht, dass ihre englischen Verwandten sie wieder bei sich aufnehmen würden, wenn es notwendig sein sollte. Aber sich an ihren Onkel und ihre Tante zu wenden, war ohnehin der letzte Ausweg.
Der Wirt verließ das Zimmer, und Evelyn eilte zu Laurent. Der Diener wirkte ratlos. „Was ist passiert?“, fragte sie beklommen.
„Captain Holstatters Schiff hat den Hafen von Brest verlassen.“
„Was?“ Das Herz klopfte Evelyn bis zum Halse. „Du musst dich irren. Wir haben den fünften August. Wir sind pünktlich. Es ist kurz vor Sonnenaufgang. In einer Stunde gehen wir an Bord und segeln nach Falmouth. Er hat den halben Fahrpreis im Voraus verlangt!“
Laurents Gesicht hatte alle Farbe verloren. „Ihm wurde eine einträgliche Fracht angeboten, die er sich nicht entgehen lassen wollte.“
Evelyn war wie gelähmt. Wie sollten sie jetzt nach England kommen? In Brest konnten sie nicht bleiben – es war viel zu gefährlich!
„Im Hafen liegen drei britische Schmugglerschiffe“, unterbrach Laurent ihre Gedanken.
Nicht von ungefähr hatten sie und Henri einen Belgier ausgesucht. „Die meisten englischen Schmuggler sind französische Spitzel“, erwiderte sie verzweifelt.
„Wenn wir rasch fortwollen, bleibt uns keine andere Wahl, als das Risiko in Kauf zu nehmen. Hierzubleiben, bis wir eine bessere Möglichkeit gefunden haben, ist zu unsicher.“
In ihren Schläfen begann es schmerzhaft zu pochen. Wie konnte es sein, dass eine so weitreichende Entscheidung, die ihrer aller Leben anging, auf einmal bei ihr lag? Henri hatte doch immer alle Entscheidungen gefällt! Aber es war zu gefährlich, in Brest zu bleiben. Ihr Blick schweifte zu Aimee. „Wir verlassen Frankreich wie geplant bei Sonnenaufgang“, bestimmte sie unvermittelt, und spürte, wie ihr vor Aufregung die Knie weich wurden. „Ich kümmere mich darum.“
Ihre Hände zitterten, als sie die Kassette mit ihren Wertsachen aufschloss, die Laurent auf dem Nachttisch abgestellt hatte. Sie nahm ein Bündel Assignaten heraus, die Währung der Revolution, und, einer plötzlichen Eingebung folgend, auch das prächtige Diamantcollier mit den tropfenförmig geschliffenen Rubinen, ein altes Familienerbstück der d’Orsays. Beides steckte sie in ihr Mieder.
„Wenn Sie sich für einen der Engländer entscheiden, nehmen Sie den, dem die Sea Wolf gehört“, sagte Laurent. „Den hat jedenfalls der Wirt empfohlen.“
Evelyn verkniff sich ein ungläubiges Lachen und drehte sich um. War sie tatsächlich im Begriff, sich mit einem gefährlichen Schmuggler zu treffen und ihn um Hilfe zu bitten – nachts, ohne Begleitung, in einer fremden Stadt, während ihr Ehemann dem Tod näher war als dem Leben?
„Dem Wirt zufolge ist die Sea Wolf eine wendige Brigg, die die schnellsten Fregatten der Royal Navy genauso hinter sich lässt wie die Linienschiffe der französischen Marine“, fuhr Laurent fort. „Es ist ein Fünfzigtonner mit schwarzen Segeln und das größte der Schmugglerschiffe im Hafen.“
Evelyn nickte. Die Sea Wolf … schwarze Segel … „Wie komme ich zu den Docks?“
Laurent erklärte es ihr und wollte sie begleiten. Doch obwohl sie versucht war, sein Angebot anzunehmen, lehnte sie ab. Wer sollte die anderen schützen, wenn sie fort war? „Ich möchte, dass du hierbleibst und den Comte und Aimee mit deinem Leben verteidigst“, meinte sie eindringlich und fügte verzweifelt hinzu: „Bitte!“
Laurent nickte und geleitete sie zur Tür. „Der Schmuggler heißt Jack Greystone.“
Evelyn hätte weinen mögen. Aber Schwäche konnte sie sich im Augenblick nicht gestatten. Sie zog sich die Kapuze tief in die Stirn und betrachtete ihre schlafende Tochter.
Sie würde Greystone finden und ihn davon überzeugen, sie nach England mitzunehmen. Aimees Zukunft hing davon ab.
Als die Tür sich hinter ihr schloss, wartete sie auf das Geräusch des einrastenden Riegels, dann lief sie durch den engen Flur zur Stiege. Eine einzelne Kerze in einem Wandhalter wies ihr den Weg die Stufen hinunter. In Gedanken bei Aimee und Henri und einem Schmuggelschiff, dass Sea Wolf hieß, erreichte sie das Foyer. Der Schankraum zu ihrer Rechten war immer noch voll; ein gutes Dutzend Männer saß dort, zechend und in lärmende Unterhaltungen vertieft. Unbemerkt – wie sie hoffte – hastete sie nach draußen.
Ein kräftiger Wind trieb Wolken über den Himmel. Immer wieder verdeckten sie den Mond, doch dank der Fackeln an einigen Gebäuden war es hell genug, dass Evelyn sich zurechtfinden konnte. Entschlossen schlug sie den Weg Richtung Hafen ein und spähte kurz über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass niemand ihr folgte.
Ihr blieb fast das Herz stehen. Da waren zwei Männer hinter ihr.
Sie beschleunigte ihre Schritte, orientierte sich an den Schiffsmasten, die in einiger Entfernung in den Himmel ragten. Wieder warf sie einen Blick über die Schulter, sah, dass die beiden Männer ebenfalls schneller gingen. Nun war kein Zweifel mehr möglich. Sie wurde verfolgt.
„Arrêtez-vous!“, rief einer der Männer lachend. „Hast du Angst vor uns? Wir wollen doch nur mit dir reden!“
Eine Welle nackter Angst raste durch sie hindurch. Sie raffte die Röcke und begann zu laufen. Unmittelbar vor ihr lagen die Docks.
Auf einem von ihnen herrschte rege Betriebsamkeit. Mittels einer Seilwinde wurde ein mannshohes Fass auf ein Schiff mit schwarzem Rumpf und schwarzen Segeln hinaufgezogen und auf das Deck hinuntergelassen. Fünf Schauerleute standen bereit und nahmen das Fass in Empfang.
Evelyn seufzte erleichtert. Das musste die Sea Wolf sein!
Vollkommen außer Atem blieb sie stehen. Zwei Männer bedienten die Seilwinde, ein dritter stand etwas abseits und überwachte den Vorgang. Im Mondlicht wirkte sein blondes Haar beinahe silberfarben.
Von hinten packte jemand sie beim Oberarm.
„Wir wollen wirklich nur mit dir reden, Süße.“
Evelyn wirbelte herum und sah sich den beiden zwielichtigen Gesellen gegenüber, die sie verfolgt hatten. „Libérez-moi“, verlangte sie in perfektem Französisch.
„Oho, eine ganz Feine! Hast du dich als Dienstmädchen verkleidet?“, fragte der, der sie festhielt, und beäugte sie lauernd.
Evelyn wusste, dass sie es nicht mehr nur mit einer Belästigung zu tun hatte. Sie war in Gefahr, als Adlige entlarvt zu werden, womöglich sogar als die Comtesse d’Orsay. Doch ehe sie reagieren konnte, schaltete sich der hellhaarige Fremde ein. „Seid ihr schwerhörig?“, fragte er auf Englisch. „Die Dame sagt, ihr sollt sie loslassen.“
Die zwei Strolche drehten sich um. Evelyn tat es ihnen gleich. Der Mond tauchte zwischen den Wolken auf, und in der plötzlichen Helligkeit blickte sie in die kältesten grauen Augen, die sie je gesehen hatte.
Sie hielt den Atem an. Dieser Mann strahlte etwas Gefährliches aus.
Er war hochgewachsen, sein Haar war blond mit sonnengebleichten, beinahe weißen Strähnen. Er trug einen Dolch am Gürtel und eine Pistole am Schultergurt. Zweifellos gehörte er zu den Männern, denen man besser nicht in die Quere kam.
Sein Blick glitt zu den beiden Franzosen. „Faites, comme la dame a demandée“, befahl er ihnen in ihrer Muttersprache.
Augenblicklich wurde sie freigegeben, und die Männer suchten das Weite. Evelyn atmete geräuschvoll aus und sah den großen Engländer verblüfft an. Es mochte etwas Gefährliches an sich haben, doch er hatte sie gerade gerettet. Und vielleicht war er Jack Greystone. „Ich danke Ihnen.“
Er erwiderte ihren Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Nach einem langen Moment sagte er: „Es war mir ein Vergnügen. Sie sind Engländerin?“
Weshalb schaffte sie es nicht, fortzuschauen? Evelyn befeuchtete sich die trockenen Lippen mit der Zungenspitze. „Ja. Ich suche Jack Greystone.“
Sein Augenausdruck blieb unverändert. „Ich wüsste nicht, dass er hier wäre. Was wollen Sie von ihm?“
Das Herz rutschte ihr in die Kniekehlen. Sie war sicher, dass es sich bei dem imponierenden Unbekannten mit der beunruhigenden Ausstrahlung von Lässigkeit und Macht um den Schmuggler handelte, den sie suchte. Wer sonst sollte es gewesen sein, der das Stauen der Fracht auf dem schwarzen Schiff überwacht hatte? „Er wurde mir empfohlen. Ich bin in einer verzweifelten Lage, Sir.“
Um seinen Mund zuckte ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. „Sie wollen nach England?“
Sie nickte, ohne den Blick von ihm zu lösen. „Wir hätten uns bei Sonnenaufgang einschiffen sollen, doch wir wurden versetzt. Man riet mir, zum Hafen zu gehen und Jack Greystone zu fragen. Ich kann nicht in der Stadt bleiben, Sir.“
„Wir?“
Evelyn verschränkte die Arme vor der Brust und schob die Hände unter die Achseln. Noch immer hing ihr Blick an ihm. „Mein Ehemann und meine Tochter, Sir. Und drei treue Diener.“
„Und wer gab Ihnen die Information?“
„Monsieur Gigot, Sir. Der Wirt der Auberge Abélard.“
„Kommen Sie“, sagte er unvermittelt, wandte sich um und entfernte sich.
Zögernd tat Evelyn, wie ihr geheißen. Die Gedanken wirbelten ihr nur so durch den Kopf. Handelte es sich bei dem Fremden um Greystone? Konnte sie es wagen, mit ihm zu gehen? Auch wenn er auf die Brigg mit den schwarzen Segeln zusteuerte …?
Ohne langsamer zu werden, sah er zurück und zuckte mit den Schultern. Es war ihm offenbar gleichgültig, ob sie mitkam oder nicht.
Sie hatte keine Wahl. Entweder er war Greystone, oder er nahm sie einfach mit. Evelyn lief ihm nach und erklomm hinter ihm den Landungssteg. Er blickte sich nicht nach ihr um, als er das Deck betrat, und sie beeilte sich, zu ihm aufzuschließen. Die Schauermänner, die das Fass festzurrten, starrten sie offenen Mundes an.
Die Kapuze war ihr vom Kopf gerutscht. Sie setzte sie wieder auf und folgte dem Engländer unter Deck. Als er eine Tür öffnete und in der dahinterliegenden Kajüte verschwand, blieb sie unschlüssig stehen. Die Geschützpforten im Rumpf der Brigg waren ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen. Sie hatte sich schon als Kind auf Schmugglerschiffen aufgehalten und wusste, dass dieses zum Kampf gerüstet war.
Ihr Puls raste vor Angst, aber sie würde ihre Entscheidung nicht rückgängig machen. Er war dabei, eine Laterne anzuzünden, als sie in die Kajüte trat. „Schließen Sie die Tür“, sagte er ohne aufzublicken.
Ihr schoss durch den Kopf, dass sie dann mit einem völlig Fremden allein sein würde, doch sie schob ihre Bedenken beiseite und machte die Tür zu. Dann drehte sie sich um und schaute ihn an.
Er stand an einem ausladenden, über und über mit Karten bedeckten Schreibtisch, und für einen kurzen Moment sah sie nur einen mit Pistole und Dolch bewaffneten hochgewachsenen, breitschultrigen Mann, dessen blondes Haar zu einem nachlässigen Zopf gebunden war.
Dann bemerkte sie, dass er sie ebenfalls anstarrte.
Am ganzen Körper erschauernd, holte sie Luft. Er war atemberaubend attraktiv und auf eine sehr männliche Art schön mit seinen grauen Augen und den ebenmäßigen Gesichtszügen, die von hohen, wie gemeißelt wirkenden Jochbeinen beherrscht wurden. Im Halsausschnitt seines weißen Batisthemdes blinkte ein goldenes Kreuz an einer Kette. Seine rehledernen Breeches saßen wie angegossen und steckten in schwarzen Schaftstiefeln, und erst jetzt fiel ihr auf, wie muskulös er war.
Einem derart maskulinen Mann war sie noch nie begegnet. Es war eine verwirrende Erfahrung.
Auch sie wurde einer eingehenden Prüfung unterzogen. Er lehnte an der Schreibtischkante und musterte sie ebenso unverhohlen wie sie ihn. Evelyn spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen kroch. Sie war froh, dass die Kapuze ihre Gesichtszüge zumindest teilweise verbarg.
An der gegenüberliegenden Wand entdeckte sie eine schmale Koje. Dort schlief er also. Den Holzfußboden bedeckte ein hübscher Teppich, und auf einem kleinen Tisch lagen ein paar Bücher. Ansonsten war die Einrichtung sparsam und ausgesprochen zweckmäßig.
„Haben Sie auch einen Namen?“
Bei der Frage fuhr sie zusammen. Was sollte sie antworten? Ihr Herz begann heftig zu schlagen, als ihr klar wurde, dass sie ihm nicht sagen konnte, wer sie war. „Werden Sie mir helfen?“
„Ich habe mich noch nicht entschieden. Meine Dienstleistungen sind kostspielig, und Sie sind nicht allein.“
„Ich muss unbedingt nach England. Mein Mann braucht dringend ärztliche Hilfe.“
„Langsam wird die Sache interessant. Wie krank ist er?“
„Spielt das eine Rolle?“
„Wäre er in der Lage, zum Schiff zu kommen?“
Evelyn schüttelte den Kopf. „Nicht ohne Hilfe.“
„Aha.“
Ihre Notlage schien ihn kaltzulassen. Wie in aller Welt sollte sie ihn dazu überreden, ihnen zu helfen? „Bitte“, flüsterte sie unter Tränen und trat von der Tür fort. „Ich habe eine vierjährige Tochter. Ich muss sie in Sicherheit bringen.“
Mit einer trägen Bewegung stieß er sich von der Tischkante ab und kam auf sie zu. „Ich frage mich, wie verzweifelt Sie sind, Madame …“
Eine Handbreit vor ihr blieb er stehen. Sie erstarrte, doch das Herz hämmerte ihr wie wild in der Brust. Was wollte er damit sagen? Obwohl er beinahe schroff geklungen hatte, stand ein Ausdruck von Neugier in seinen Augen. Oder bildete sie sich das nur ein?
Verwundert erkannte sie, dass sie wie gebannt von ihm war. In seiner Gegenwart geriet sie aus dem inneren Gleichgewicht. „M…meine Verzweiflung … könnte nicht größer sein“, brachte sie stammelnd zustande.
Unvermittelt streckte er die Hand aus, und ehe sie ihn davon abhalten konnte, schob er ihr die Kapuze vom Kopf. Erstaunt sah er sie an.
Sie wollte protestieren. Wenn sie bereit gewesen wäre, ihr Antlitz zu enthüllen, hätte sie es getan! Aber sie war wie versteinert vor Anspannung. Er ließ seinen Blick über ihre Gesichtszüge wandern, und allmählich, nach und nach, schmolz ihre Empörung dahin.
„Jetzt verstehe ich, weshalb es Ihnen lieber ist, Ihr Gesicht nicht zu zeigen“, sagte er leise.
Ihr Herz tat einen Satz. Hatte er ihr ein Kompliment gemacht? Fand er sie anziehend – oder sogar schön? „Wir sind auf der Flucht“, entgegnete sie beinahe flüsternd. „Ich darf nicht riskieren, erkannt zu werden.“
„Offensichtlich. Ist Ihr Ehemann Franzose?“
„Ja.“ Sie nickte. „So viel Angst wie jetzt hatte ich noch nie in meinem Leben.“
Er ließ sie nicht einen Moment aus den Augen. „Heißt das, Sie werden verfolgt?“
„Vielleicht. Ich weiß es nicht.“
Abermals streckte er die Hand aus, und als er ihr eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr strich, rang Evelyn nach Atem. Mit den Fingerspitzen fuhr er ihr über die Wange – und sie wäre ihm am liebsten in die Arme gesunken. Wie konnte er so etwas Unerhörtes tun! Sie waren Fremde!
„Hat man Ihren Gatten eines Staatsverbrechens angeklagt?“
Sie zuckte zusammen. „Nein … Aber es wurde uns untersagt, Paris zu verlassen.“
Noch immer blickte er sie unverwandt an.
Verunsichert knetete Evelyn die Hände ineinander. Wenn sie nur gewusst hätte, was in seinem Kopf vorging! Aber seine Miene war undurchdringlich. „Werden Sie uns helfen, Sir? Bitte!“
Hörte sie sich tatsächlich so kläglich an? Sie konnte es kaum glauben. Aber er war ihr immer noch viel zu nah. So nah, dass sie die Wärme spürte, die von seinem Körper ausging. Für eine Frau war sie mittelgroß, doch in seiner Gegenwart fühlte sie sich klein und zerbrechlich.
„Ich denke darüber nach.“ Endlich trat er von ihr fort. Evelyn holte zitternd Luft und unterdrückte den Drang, nach irgendeinem geeigneten Gegenstand zu greifen und sich Kühlung zuzufächeln. Würde er ihr Flehen erhören?
„Bitte, Sir! Wir müssen Frankreich verlassen – unverzüglich. Ich habe Angst um meine Tochter!“
Unbewegt erwiderte er ihren Blick. Das Schweigen wurde lastend, und Evelyn hielt die Situation kaum noch aus. „Ich will wissen, wen ich transportieren soll“, sagte er schließlich.
Sie biss sich auf die Unterlippe. Es war ihr verhasst zu lügen, aber sie hatte keine Wahl. „Den Vicomte de LeClerc und die Seinen.“
Seine Miene war nicht zu deuten, als er abermals den Blick über ihr Gesicht wandern ließ. „Ich verlange Vorauszahlung. Tausend Pfund pro Passagier.“
Evelyn schnappte nach Luft. „Sir! So viel Geld besitze ich nicht!“
„Wenn man Sie verfolgt hat, wird es Ärger geben.“
„Und wenn nicht?“
„Sechstausend Pfund, Madame. Mein letztes Wort.“
Sie schloss kurz die Augen, griff in ihren Ausschnitt und reichte ihm das Bündel Assignaten.
Er gab einen abfälligen Laut von sich und warf die Scheine auf den Schreibtisch. „Dieses Geld ist das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist.“
Evelyn presste die Lippen zusammen und griff ein weiteres Mal in ihren Ausschnitt. Er machte keinerlei Anstalten, diskret fortzublicken, und als sie ihm das Diamantcollier hinhielt, brannten ihre Wangen.
Er nahm den Schmuck entgegen und setzte sich an seinen Schreibtisch. Sie beobachtete, wie er die Steine unter einer Lupe begutachtete. „Sie sind echt“, murmelte sie rau. „Es ist alles, was ich Ihnen anbieten kann, Sir, aber es ist keine sechstausend Pfund wert.“
Skeptisch sah er auf. Er ließ seinen Blick auf ihrem Mund verharren, dann wandte er sich erneut der Untersuchung der Steine zu. Als Evelyn schon glaubte, die Spannung nicht länger ertragen zu können, legte er das Collier und die Lupe beiseite. „Also gut, Vicomtesse, ich nehme Sie mit. Wenn auch wider besseres Wissen.“
Sie war so erleichtert, dass ihr schwindlig wurde. Tränen stiegen ihr in die Augen. „Danke! Ich kann Ihnen nicht genug danken!“
„Ich versichere Ihnen, Sie könnten, wenn Sie es wünschten.“ Dann stand er auf. „Wenn Sie mir sagen, wo sich Ihr Gatte und die anderen aufhalten, bringen meine Männer und ich sie her. Bei Sonnenaufgang legen wir ab.“
Sie wusste nicht, was sie von seiner seltsamen Bemerkung halten sollte, und sie konnte immer noch nicht glauben, dass er sie mitnehmen wollte. Auch wenn er nicht sonderlich erbaut zu sein schien von der Idee.
Langsam fiel die Anspannung von ihr ab und machte einer unerklärlichen Gewissheit Platz. Dieser Mann würde sie sicher nach England bringen. „In der Auberge Abélard. Aber ich komme mit.“
„Ganz bestimmt nicht!“ Seine Miene war unnachgiebig. „Der Himmel weiß, was uns unterwegs erwartet. Sie bleiben hier.“
Evelyn atmete tief durch. „Ich bin seit über einer Stunde fort! Ich kann meine Tochter nicht so lange allein lassen. Es ist zu gefährlich.“ Sie hatte Angst, dass die anderen entdeckt und womöglich schon verhaftet worden waren.
„Sie warten hier. Und wenn Sie sich meinem Befehl widersetzen, können Sie Ihren Schmuck wieder einstecken, und unsere Abmachung ist null und nichtig.“
Bestürzt starrte Evelyn ihn an.
„Madame, ich verspreche Ihnen, Ihre Tochter mit meinem Leben zu schützen, und ich werde nicht länger als ein paar Minuten brauchen.“
Sie kapitulierte. Sie hätte nicht sagen können, weshalb, doch sie vertraute ihm. Und daran, dass er ihr nicht gestatten würde, ihn zu begleiten, hatte er ohnehin keinen Zweifel gelassen.
Er öffnete die Schreibtischschublade und entnahm ihr eine Pistole sowie ein Pulversäckchen und eine Zunderbüchse. „Wahrscheinlich werden Sie sie nicht brauchen, aber ich will, dass Sie sie haben, bis ich zurück bin.“ Er kam um den Tisch herum und reichte ihr die Waffe.
Evelyn nahm sie an sich. Die kalte Entschlossenheit, die sie in seinen Augen entdeckte, ließ sie frösteln. Aber schließlich war er im Begriff, Verrätern an der Revolution zur Flucht zu verhelfen. Wenn man ihn fasste, würde er auf der Guillotine landen.
Er ging zur Tür. „Sperren Sie ab“, befahl er ohne zurückzublicken.
Ihr Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Schnell schob sie den Riegel vor, doch erst nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er das Schiff in Begleitung zweier bewaffneter Seeleute verließ.
Ihr war kalt. Um sich ein wenig zu wärmen, legte sie die Arme um ihren Oberkörper und begann dann lautlos zu beten. Für Aimee, für Henri. Ihr Blick fiel auf die kleine bronzene Stutzuhr, die auf dem Schreibtisch stand. Zwanzig nach fünf. Rastlos ging sie um den Schreibtisch herum und setzte sich auf den Stuhl, doch sobald sie sich darauf niedergelassen hatte, war ihr, als spränge die überwältigende Aura seines Besitzers sie förmlich an und verschlänge sie.
Sie stand auf und begann in der Kajüte auf und ab zu laufen. Unmöglich, weiter auf dem Stuhl sitzen zu bleiben. Aber sie wollte sich auch nicht auf seine Koje setzen. Wenn er sie nur hätte mitgehen lassen, ihre Tochter und ihren Mann zu holen!
Um Viertel vor sechs klopfte es. Als sie den Schmuggler gedämpft „Ich bin es“ sagen hörte, machte sie einen hastigen Schritt zur Tür.
Sie zog den Riegel zurück und öffnete. Das Erste, was sie sah, war ihre gähnende kleine Tochter auf seinem Arm. Evelyn brannten Tränen in den Augen. Sie nahm ihm Aimee ab und drückte sie an sich. „Ich danke Ihnen.“
Er trat zur Seite, doch sein Blick hielt ihren fest.
„Evelyn.“
Beim Klang von Henris Stimme erstarrte sie. Dann erschien der Comte im Türdurchgang. Zwei Matrosen stützten ihn, Laurent, Adelaide und Bette folgten den dreien. „Henri! Es geht dir besser!“, rief sie ungläubig.
Die Seemänner brachten ihn in die Kajüte. Evelyn stellte Aimee auf die Füße und ging zu ihrem Ehemann.
„Hast du geglaubt, ich lasse dich ohne mich nach England fahren?“, versuchte er zu scherzen.
Nun rollten ihr die Tränen ungehemmt die Wangen hinunter. Henri hatte sich erholt, und er schien beschlossen zu haben, am Leben zu bleiben. Doch als sie ihm half, sich auf die Koje niederzulassen, wurde ihr bewusst, wie schwach und erschöpft er war. Laurent und die Frauen trugen ihr Gepäck herein, und die beiden Seeleute verließen die Kajüte.
„Wir setzen Segel.“
Evelyn hielt Henris Hand umklammert, als sie sich umdrehte. Der Schmuggler sah sie an.
Wieder verfingen sich ihre Blicke. Seiner erschien ihr so … ernst. „Ich muss Ihnen noch einmal danken.“
Es dauerte einen Moment, ehe er antwortete. „Danken Sie mir, wenn wir in England sind“, sagte er kurz angebunden und wandte sich zum Gehen.
Irgendetwas an seiner Äußerung war zweideutig, dessen war sie sich sicher. Oder vielleicht doch nicht? Sie zögerte nicht lange, eilte ihm nach und trat vor ihn hin. „Sir! Ich stehe tief in Ihrer Schuld, denn ich verdanke Ihnen das Leben meiner Tochter und das meines Mannes. Mit wem habe ich es zu tun?“
Er maß sie mit einem merkwürdigen Blick. „Mit Jack Greystone, Madame.“
Roselynd auf Bodmin Moor, Cornwall, 25. Februar 1795
Mit dem Comte geht ein treu sorgender Ehemann und ein liebender Vater dahin, und seine Familie wird ihn schmerzlich vermissen.“ Der Pfarrer machte eine Pause und ließ den Blick über die Trauernden schweifen. „Möge er in Frieden ruhen. Amen.“
„Amen“, murmelten die Menschen im Chor.
In Evelyns Herz wühlte der Schmerz. Es war ein ungewöhnlich sonniger, aber eisiger Tag, und ihr war furchtbar kalt. Sie hielt ihre Tochter an der Hand und starrte geradeaus auf den Sarg, den die Träger in die Erde senkten. Der kleine Friedhof lag hinter der Dorfkirche.
Sie konnte nicht glauben, dass so viele Menschen gekommen waren. Damit hatte sie nicht gerechnet. Außer dem Wirt des Dorfgasthofs, der Schneiderin und dem Fassbinder kannte sie nur ihre beiden Nachbarn, und auch die nur vom Sehen. Das Herrenhaus in der einsamen Heidelandschaft von Bodmin, das sie seit zwei Jahren bewohnten, lag eine gute Stunde von der Ortschaft entfernt, und nachdem sie von London dorthin gezogen waren, hatten sie wenig Kontakt gepflegt.
Hauptsächlich, weil Henri so krank gewesen war. Sie hatte sich um ihn gekümmert und um die Erziehung ihrer Tochter und nicht die Zeit gehabt, Aufwartungen zu machen oder Einladungen zum Tee oder zu Dinnerpartys wahrzunehmen.
Wie hatte er sie allein lassen können?
Was sollte sie ohne ihn tun?
Der Kummer drohte sie zu überwältigen. Und sie hatte Angst.
Das Herz schlug ihr schwer in der Brust.
Erdklumpen prasselten auf den Sarg, als die Totengräber das Grab zuzuschaufeln begannen. Das Geräusch war entsetzlich, sie hielt es kaum aus. Henri fehlte ihr schmerzlich. Wie sollten sie ohne ihn weiterleben? Sie besaßen fast nichts mehr.
Aimee wimmerte.
Evelyn riss die Augen auf und blickte gegen die mit vergoldeten Stuckaturen geschmückte Zimmerdecke. Sie lag in ihrem Bett, ihre Tochter neben sich, die sich eng an sie gekuschelt hatte. Das Kind schlief.
Sie musste geträumt haben. Aber Henri war tot.
Henri war wirklich tot.
Seit drei Tagen. Und sie waren gerade erst von der Beisetzung zurückgekommen. Sie hatte nicht vorgehabt zu schlafen, sondern sich nur einen Moment hinlegen wollen. Dann war Aimee zu ihr ins Bett gekrabbelt, sie hatte sie in die Arme genommen, und dann musste sie eingenickt sein, erschöpft wie sie war …
Aufs Neue wühlte der Schmerz in ihr. Henri war von ihr gegangen. Die letzten Monate hatte er nur noch gelitten. Die Schwindsucht war so rasch vorangeschritten, dass er am Ende kaum noch Luft bekommen hatte. Um Weihnachten herum war ihnen beiden klar gewesen, dass er sterben würde.
Henri hatte seinen Frieden gefunden. Darüber war Evelyn froh, doch das Wissen darum linderte nicht ihr eigenes Leid. Und Aimee? Sie hatte ihren Vater geliebt, dennoch weinte sie nicht. Aber sie war erst acht. Vermutlich konnte sie seinen Tod noch gar nicht richtig begreifen.
Evelyn kämpfte gegen die Tränen, die sie sich bis jetzt nicht erlaubt hatte, weil sie stark sein musste für Aimee und für die anderen, die sich auf sie verließen – Laurent, Adelaide und Bette. Sie betrachtete ihre Tochter, und augenblicklich wurde ihr warm ums Herz. Das Mädchen war bildhübsch mit seinem hellen Teint und den dunklen Haaren. Aber Aimee war auch klug, und sie hatte ein offenes, freundliches Wesen. Eine bessere Tochter konnte eine Mutter sich nicht wünschen. Bei dem Gedanken drohte die Rührung von Evelyn Besitz zu ergreifen.
Im nächsten Moment wurde sie sich der gedämpften Stimmen bewusst, die aus dem Salon an ihr Ohr drangen, und sie nahm sich zusammen. Sie hatte Gäste. Ihre Nachbarn und die Leute aus dem Dorf waren gekommen, um ihr zu kondolieren. Sogar ihre Tante, ihr Onkel, ihre Cousinen und ihr Cousin hatten der Beerdigung beigewohnt. Auch mit ihnen würde sie reden müssen, obwohl das Verhältnis zwischen ihnen nach wie vor schwierig und angespannt war und sie sich nur zwei Mal gesehen hatten, nachdem Henri und sie nach Roselynd gezogen waren. Sie konnte ihren Pflichten nicht aus dem Wege gehen.
Um Himmels willen, was soll aus uns werden?
Bei dem Gedanken drehte sich ihr förmlich der Magen um. Ihr Brustkorb fühlte sich an wie in einem Schraubstock, und sie konnte kaum atmen. Sie wusste, sie musste aufpassen, sonst würde sie vor lauter Sorgen noch den Verstand verlieren.
Vorsichtig, um Aimee nicht aufzuwecken, schlüpfte sie aus dem Bett. Sie strich den Rock ihres schwarzen Samtkleides glatt, und als sie ihre Frisur in Ordnung gebracht hatte, glitt ihr Blick über die spärliche Einrichtung ihres Schlafgemachs. Die meisten Möbelstücke, die sie nach Roselynd mitgebracht hatten, waren inzwischen verpfändet.
Es war nicht der richtige Moment, um sich Sorgen über ihre Zukunft oder ihre finanzielle Lage zu machen. Aber sie konnte nicht anders. Wie sich herausgestellt hatte, war es Henri vor ihrer Flucht vor vier Jahren nicht gelungen, mehr als einen kleinen Teil seines Vermögens aus Frankreich herauszuschaffen. Zu dem Zeitpunkt, da sie London verlassen hatten, waren ihre Mittel praktisch aufgebraucht gewesen, und das erstaunlich preiswerte Haus mitten in der Heidelandschaft war alles, was sie sich noch leisten konnten.
Wenigstens hatte Aimee ein Dach über dem Kopf. Außerdem gehörte eine Zinnmine zu dem Anwesen, die nicht sonderlich viel förderte, aber dem wollte Evelyn nachgehen. Henri hätte niemals zugelassen, dass sie sich um etwas anderes als den reibungslosen Ablauf des Haushalts und die Erziehung Aimees kümmern musste; nun war sie auch für ihre Finanzen zuständig. Sie wusste nichts darüber, doch sie hatte mitangehört, wie Henri und Laurent darüber gesprochen hatten, dass der Krieg die Preise für Metall hochtrieb, auch für Zinn. Es musste einen Weg geben, die Mine besser auszubeuten. Das Zinnvorkommen war ein wichtiger Grund dafür, dass Henri sich für Roselynd entschieden hatte.
Sie besaß kaum noch Schmuck, den sie beleihen konnte.
Aber immerhin hatte sie noch das Gold.
Sie durchquerte den Raum, in dem außer dem Vierpfostenbett und einem Fauteuil mit zerschlissenen Polstern und ausgebleichtem Bezug keine Möbel mehr standen. Der prächtige Aubussonteppich, der den Parkettboden bedeckt hatte, war fort, und fort waren auch die Chippendaletische, die Chaiselongue und der kostbare Mahagonisekretär. An der Wand, an der auch die zierliche Rosenholzkommode gestanden hatte, hing noch der venezianische Spiegel. Evelyn blieb davor stehen und starrte die Frau an, die ihr entgegenblickte.
Mit sechzehn hatte sie als außergewöhnliche Schönheit gegolten, doch als schön konnte man sie nicht mehr bezeichnen. Zugegeben, ihr Gesicht mit den lebhaften blauen Augen, der schmalen Nase und dem vollen Mund war noch das gleiche, aber ihre Züge wirkten hager, regelrecht ausgezehrt, und ihre Haut war beinahe durchscheinend blass. Sie sah müde aus, abgekämpft, und weit älter, als sie war. Wie vierzig – und dabei wurde sie im nächsten Monat gerade einmal fünfundzwanzig.
Doch es war ihr gleichgültig, ob sie alt, erschöpft und elend aussah. Das vergangene Jahr hatte ihr alles abverlangt, was ihr an Reserven noch geblieben war. Henris Zustand hatte sich alarmierend schnell verschlechtert. Am Ende war er nicht mehr in der Lage gewesen, das Bett zu verlassen.
Tränen traten ihr in die Augen. Sie blinzelte sie fort. Er hatte sie so beeindruckt bei ihrer ersten Begegnung! Es wäre ihr nicht in den Sinn gekommen, dass er ihr seine Aufmerksamkeit schenken könnte. Er war als Gast bei einer Gesellschaft im Haus ihres Onkels erschienen, und die Anwesenheit des französischen Comte hatte alle in Aufruhr versetzt. Anfangs war sie hingerissen gewesen von seinem Werben, doch wie auch nicht? Elternlos, gerade einmal fünfzehn Jahre alt, hatte sie gar nicht anders gekonnt, als die Ehrerbietung, die er ihr erwies, mit Dankbarkeit und Zuneigung zu beantworten.
Sie vermisste ihn so sehr. Ihr Ehemann war ihr bester Freund gewesen, ihr Vertrauter, ihr sicherer Hafen. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatte ihr Vater sie auf der Türschwelle ihres Onkels zurückgelassen – mit nicht einmal fünf Jahren. Ihre Verwandten hatten in ihr nie etwas anderes gesehen als eine lästige Pflicht, der man sich nicht entziehen konnte. Als Kind war sie gehänselt und verspottet worden. Sie hatte die abgelegten Kleider ihrer Cousinen aufgetragen und Arbeiten verrichten müssen, die einer jungen Dame von Stand nicht würdig waren. Ihre Tante hatte sie ständig spüren lassen, dass sie eine Last war und große Opfer kostete. Evelyn war von vornehmer Herkunft, aber sie hatte mit der Dienerschaft mehr Zeit verbracht als mit ihrem Cousin und ihren Cousinen. Obwohl sie zur Familie gehörte, war sie nie wirklich akzeptiert worden.
Henri hatte sie aus ihrem Elend erlöst und sie wie eine Prinzessin behandelt. Er hatte sie zu seiner Frau gemacht, zur Comtesse d’Orsay.
Er mochte vierundzwanzig Jahre älter gewesen sein als sie, aber dennoch war er viel zu früh von ihr gegangen. Evelyn sagte sich wieder, dass er Frieden gefunden hatte, in mehr als einer Hinsicht. Denn auch wenn er sie geliebt und ihre Tochter vergöttert hatte, war er in England nicht glücklich gewesen.
Er hatte seine Freunde, seine Verwandten und sein Zuhause verloren. Seine beiden Söhne aus erster Ehe waren Opfer der Guillotine geworden. Die Revolution hatte ihm seinen Bruder, seine Nichten und Neffen und seine Cousins und Cousinen geraubt. Hinzu kam, dass er sein geliebtes Heimatland vermisste.
Jeder Tag in London hatte ihn ein Stück unzufriedener gemacht, doch vermutlich war es der Umzug nach Cornwall gewesen, der ihn hatte endgültig verzweifeln lassen. Die einsame Heidelandschaft von Bodmin Moor war ihm ebenso zuwider gewesen wie das Anwesen, Roselynd. Irgendwann hatte er Evelyn gestanden, dass er England hasste, und bittere Tränen vergossen über alles, was ihm genommen worden war.
Ein Schauer überlief sie. Henri hatte sich in den letzten vier Jahren völlig verändert. Aber wenn sie wirklich ehrlich mit sich war, musste sie sich eingestehen, dass der Mann, den sie geliebt hatte, schon seit Langem nicht mehr lebte. Die Flucht aus Frankreich hatte Henris Seele zerstört.
Schon als sie noch in London gelebt hatten, war es anstrengend gewesen, sich um ihn und Aimee zu kümmern; erst recht aber, als sein Zustand sich verschlechtert hatte. Jetzt, nach seinem Tod, war sie vollkommen ausgelaugt. Ob sie sich je wieder jung und tatkräftig fühlen würde? Oder gar ansehnlich?
Sie sah ihr Spiegelbild an. Wenn die Zinnmine keinen Ertrag brachte, würde sie ihre Tochter nicht mehr ernähren und kleiden können. Sie durfte unter keinen Umständen zulassen, dass das passierte …
Evelyn holte zitternd Luft. Vor ein paar Wochen, als das Ende absehbar gewesen war, hatte Henri ihr anvertraut, dass im Garten ihres Schlosses eine Kiste mit Goldbarren versteckt lag. Erst war sie skeptisch gewesen, doch nachdem er ihr genau erklärt hatte, wo die Kiste vergraben war, hatte sie ihm geglaubt.
Wenn sie sich nach Frankreich wagte, konnte sie das Gold in ihren Besitz bringen. Es stand ihrer Tochter zu. Es würde ihre Zukunft sichern. Und als Mutter würde sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Aimee die Demütigungen zu ersparen, unter der sie selbst als Kind so gelitten hatte.
Sie versuchte der Bangigkeit, die in ihr hochstieg, keine Beachtung zu schenken. Auch wenn sie bereit war zu tun, was immer notwendig war – wie in aller Welt sollte sie eine solche Aufgabe lösen? Wie sollte sie nach Frankreich kommen? Wie das Gold bergen? Sie brauchte einen Mann, der sie begleitete, einen Beschützer, und es musste jemand sein, der absolut zuverlässig war.
An wen sollte sie sich wenden? Wem konnte sie vertrauen?
Evelyn starrte in den Spiegel, als könnte sie dort eine Antwort finden. Aus dem Salon im Erdgeschoss drang das leise Gemurmel der Trauergäste herauf. Nein, entschied sie. Müde und von Kummer übermannt, wie sie war, konnte sie heute keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen. Aber irgendwo im Hinterkopf wusste sie, dass es jemanden gab, der infrage kam, und dass sie sich nur erinnern musste.
Es klopfte. Sie trat zum Bett, küsste ihre schlafende Tochter auf die Stirn und ging zur Tür.
Laurent stand im Korridor, und er wirkte beunruhigt. Vor Erleichterung rang er die Hände, als er Evelyns ansichtig wurde. „Mon Dieu! Ich hatte schon Angst, dass Sie Ihre Gäste nicht empfangen wollen. Alle fragen sich, wo Sie bleiben, Madame, und einige sind bereits im Aufbruch begriffen.“
„Ich bin eingenickt“, erklärte sie ruhig.
„Sie sind erschöpft, das ist unübersehbar.“ Laurent schüttelte den Kopf. „Schwarz wirkt zu streng an Ihnen, Madame. Sie sollten Grau tragen. Ich glaube, ich werde die Robe verbrennen.“
„Das wirst du nicht tun. Das Kleid war sehr kostspielig“, entgegnete Evelyn flüsternd und schloss die Tür ihres Schlafgemachs hinter sich. „Könntest du Bette nach oben schicken, damit sie bei Aimee bleibt?“ Sie setzten sich in Bewegung. „Ich will nicht, dass das Kind so kurz nachdem sein Vater beerdigt wurde, allein ist, wenn es aufwacht.“
„Bien sûr.“ Laurent war sichtlich besorgt. „Sie müssen etwas essen, Madame, sonst brechen Sie uns noch zusammen.“
Evelyn blieb stehen. Beklommenheit machte sich in ihr breit bei dem Gedanken an die Menschenmenge, die sie im Salon erwartete. „Ich kann im Moment nichts essen, Laurent. Mit einer solchen Anteilnahme hatte ich nicht gerechnet. Es überwältigt mich, dass so viele Menschen gekommen sind, um mir ihr Beileid auszusprechen.“
„Mir geht es genauso.“ Laurent nickte. „Aber es ist doch gut, dass die Leute kommen, non? Und wenn nicht jetzt, wann sollten sie es dann tun?“ Er folgte ihr die Treppen hinunter. „Madame…? Da gibt es etwas, das Sie wissen sollten …“
„Und das wäre?“, fragte Evelyn über die Schulter zurück.
„Lady Faraday und ihre Tochter haben im ganzen Haus herumgeschnüffelt. Sie waren in jedem Raum, ließen sich nicht einmal von verschlossenen Türen abhalten. Ich ertappte sie dabei, wie sie die Samtportieren in der Bibliothek begutachteten, Madame, und ihr Verhalten brachte mich so durcheinander, dass ich sogar gelauscht habe.“
Da die Vorhänge alt waren und längst durch neue hätten ersetzt werden müssen, konnte Evelyn sich vorstellen, was als Nächstes kommen würde. „Lass mich raten. Sie wollten sich ein Bild vom Ausmaß meiner Armut machen.“
„Es erheiterte die Damen über die Maßen, dass der Stoff Mottenlöcher hat.“ Laurent machte eine finstere Miene. „Und die Bemerkungen der beiden über Ihre schwierige finanzielle Situation klangen außerordentlich boshaft.“
Armut. Evelyn merkte, wie ihre Beunruhigung wuchs. Aber im Augenblick wollte sie nicht an die Vergangenheit denken. „Meine Tante war mir nie sonderlich gewogen, Laurent, und dass ich mit Henri eine so gute Partie machte, brachte sie erst recht in Rage. Denn eigentlich hätte ihre Tochter den Comte verdient. Und das sagte sie mir auch, mehrfach und ganz unumwunden, obwohl ich Henris Werbung in keiner Weise ermutigte. Es überrascht mich nicht, dass sie und Lady Harold im Haus herumschnüffeln, und mit ihrer Schadenfreude über meine derzeitige Geldnot habe ich gerechnet.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ein Leben im Überfluss – das war einmal. Ich lasse es mir trotzdem nicht nehmen, mich meinen Gäste gegenüber liebenswürdig zu zeigen.“
Wider Willen stiegen nun doch Erinnerungen aus ihrer Kindheit in ihr auf, und sie hatte Mühe, die Fassung zu wahren. Sie sah sich selbst, wie sie ein Kleid ihrer Cousine Lucille bügelte und sich die Finger an dem heißen Plätteisen verbrannte, konnte ihren leeren Magen von damals förmlich spüren. Welches Vergehen ihr bei dieser Gelegenheit zur Last gelegt worden war, wusste sie nicht mehr, doch Lucille hatte sie mit schöner Regelmäßigkeit bei ihrer Mutter angeschwärzt und dafür gesorgt, dass die verhasste Cousine bestraft wurde.
Sie hatte Lucille, die inzwischen mit einem Squire verheiratet war, seit der Hochzeit nicht mehr gesehen, hoffte indes, dass ihre einstige Peinigerin vernünftig geworden war und Besseres zu tun hatte, als sich auf Kosten anderer zu amüsieren. Aber wie dem auch sein mochte – an der kleingeistigen Abneigung ihrer Tante gegen sie hatte sich nichts geändert.
„Sie müssen sich stets vor Augen halten, dass Lady Faraday nur dem niederen Adel angehört“, sagte Laurent in ihre Gedanken hinein. „Sie dagegen sind die Comtesse d’Orsay!“
Es lag Evelyn fern, mit ihrem Titel zu prunken, erst recht nicht bei ihrer derzeitigen Finanzlage, doch sie nickte zustimmend. Auf der Schwelle zum Salon blieb sie zögernd stehen. Mit der Holzvertäfelung, der gediegenen Balkendecke und den zartgelb gestrichenen Wänden wirkte das Empfangszimmer einladend und freundlich, doch es war ebenso kärglich eingerichtet wie ihr Schlafgemach. Außer einem zierlichen Tisch mit Marmorplatte, einer weiß-gold gestreiften Chaiselongue und zwei dazu passenden Sesseln gab es keine weiteren Möbel mehr. Stattdessen drängten sich in dem Raum sämtliche Trauergäste, die sie bei der Beerdigung gesehen hatte.
Sie trat zu dem Paar, das ihr am nächsten stand. Der hochgewachsene Mann mit der wuchtigen Statur beugte sich ungelenk über ihre Hand. Evelyn versuchte sich zu erinnern, mit wem sie es zu tun hatte.
„John Trim, Madame, der Wirt des Black Briar Inn“, half er ihr auf die Sprünge. „Ich hatte ein paarmal das Vergnügen, wenn Ihr Gatte nach London reiste und Station bei uns machte, um sich mit Speise und Trank zu stärken. Meine Frau hat Scones für Sie gebacken. Und wir haben Ihnen einen guten indischen Tee mitgebracht.“
„Ich bin Mrs. Trim.“ Die dunkelhaarige kleine Frau an seiner Seite trat vor. „Mein Beileid! Es ist unvorstellbar, was Sie durchmachen müssen. Und Ihre Tochter erst. So ein hübsches Mädchen – genauso hübsch wie Sie! Lassen Sie sich die Scones schmecken. Und den Tee natürlich auch.“
Evelyn fehlten die Worte.
„Kommen Sie ruhig einmal bei uns vorbei, Madame, wir haben ein paar gute Teesorten da“, fuhr die kleine Mrs. Trim fort und sah sie fest an. „Nachbarn müssen füreinander da sein, wissen Sie. So haben wir das hier jedenfalls schon immer gehalten.“
Evelyn ging auf, dass die Frau sie wie eine Einheimische behandelte, auch wenn sie fünf Jahre im Ausland gelebt hatte und mit einem Franzosen verheiratet gewesen war. Sie bedauerte, dass sie den Gasthof noch nie besucht hatte, seit sie auf Roselynd lebte. Sonst hätte sie diese beiden freundlichen, großherzigen Menschen längst kennengelernt.
Nacheinander begrüßte sie die anderen Dorfbewohner und stellte erstaunt fest, dass man ihr mit aufrichtigem Mitgefühl begegnete. Viele der Frauen hatten Kuchen oder Trockenfrüchte oder andere Leckereien mitgebracht. Evelyn war so gerührt von der Anteilnahme, dass sie fürchtete, jeden Augenblick in Tränen auszubrechen.
Dann begann der Salon sich zu leeren, und sie entdeckte ihre Angehörigen.
Ihre Tante Enid stand mit ihren beiden Töchtern beim Kamin. Korpulent wie eh und je, trug sie ein teuer aussehendes anthrazitfarbenes Seidenkleid und dazu eine dreireihige Perlenkette. Ihre älteste Tochter, Lucille, die Evelyn in ihrer Kinderzeit so gequält hatte, trug ebenfalls Perlen und eine modische blaue Samtrobe. Sie war mollig geworden, aber immer noch eine ansehnliche Blondine.
Verstohlen betrachtete Evelyn ihre andere Cousine, Annabelle, die bislang unverheiratet war. Das einstmals dicke Mädchen hatte sich zu einer sehr schlanken, sehr hübschen jungen Dame entwickelt, und das Kleid aus grauer Seide passte gut zu ihrem aschblonden Haar. Annabelle war ein fügsames Kind gewesen und hatte stets getan, was Lucille und ihre Mutter ihr sagten. Evelyn fragte sich, ob sie unterdessen gelernt hatte, selbstständig zu denken. Sie hoffte es für das Mädchen.
Ihre Tante und ihre Cousinen hatten sie ebenfalls entdeckt. Sie starrten mit hochgezogenen Brauen in ihre Richtung.
Evelyn wandte sich ihrem Onkel zu. Robert Faraday war der ältere Bruder ihres Vaters und ein stattlicher, beleibter Gentleman mit distinguierter Ausstrahlung. Er sah noch genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Der Familienbesitz war auf ihn übergegangen, während ihr Vater seine Leibrente in den berüchtigsten Bordellen und Spielhöllen des Kontinents verjubelt hatte.
„Es tut mir so schrecklich leid, Evelyn“, begrüßte Robert sie ernst. „Ich mochte Henri und weiß um deinen Verlust.“ Er nahm ihre Hände in seine und küsste Evelyn auf beide Wangen.
Evelyn wusste, dass er meinte, was er sagte. Robert und ihr Mann hatten sich von Anfang an gut verstanden. Als der Comte d’Orsay das erste Mal auf Faraday Hall zu Gast gewesen war, hatten die beiden Männer Ausritte und Jagdausflüge unternommen oder in der Bibliothek gesessen und Brandy getrunken, wenn Henri gerade nicht damit beschäftigt gewesen war, ihr den Hof zu machen. Im Unterschied zu Enid war Robert gern nach Paris zu ihrer Hochzeit gekommen. Aber er hatte die Abneigung seiner Frau gegen Evelyn auch nie geteilt. Wenn überhaupt, konnte man ihm höchstens eine gewisse Gleichgültigkeit nachsagen.
„Es ist eine Schande“, fuhr er leise fort. „Ich mochte den alten Knaben wirklich, und er war so gut zu dir. Ich erinnere mich wie heute an den Moment, als er dich das erste Mal sah. Ihm fiel förmlich die Kinnlade herunter, und er wurde puterrot.“ Robert lächelte. „Und nach dem Dinner entführte er dich schon auf einen Spaziergang im Garten.“
Ein trauriges Lächeln erschien um Evelyns Mund. „Der Abend gehört zu meinen glücklichsten Erinnerungen. Ich werde ihn nie vergessen.“
„Das weiß ich.“ Robert lächelte sie warmherzig an. „Du wirst darüber hinwegkommen, Evelyn. Du warst schon als Kind stark, und du bist es auch jetzt. Außerdem bist du noch jung, du wirst den Verlust verschmerzen. Und wenn ich dir irgendwie helfen kann, lass es mich wissen.“
Die Zinnmine fiel ihr ein. „Vielleicht brauche ich deinen Rat.“
„Jederzeit.“
Enid trat zu ihnen, ein falsches Lächeln auf den Lippen. „Mein Beileid, Evelyn.“
Evelyn gelang es, zurückzulächeln. „Danke. Ich tröste mich damit, dass Henri erlöst ist. Am Ende hat er nur noch gelitten.“
„Du weißt, wir helfen gern, wo wir können.“ Enids Blick glitt über das kostbare schwarze Samtkleid und die Perlenkette mit der diamantbesetzten Schließe, die Evelyn an der Seite ihres Halses trug. „Du brauchst nur zu fragen.“
„Ich denke, ich komme zurecht“, erwiderte Evelyn entschieden. „Aber danke, dass du gekommen bist.“
„Wie hätte ich der Beisetzung fernbleiben können? Schließlich war der Comte der Fang deines Lebens“, erwiderte Enid glatt. „Und du weißt, wie sehr wir uns für dich gefreut haben. Lucille? Annabelle? Kommt her und sprecht eurer Cousine euer Beileid aus.“
Evelyn war zu kraftlos, um auf die Anspielung einzugehen, wenn es denn eine gab, oder Enids Sicht der Dinge richtigzustellen. Nun, da die meisten Besucher sich verabschiedet hatten, wollte sie die Unterhaltung so rasch wie möglich beenden und sich endlich zurückziehen. Als Lucille auf sie zukam und sie steif umarmte, wusste sie, dass ihre Cousine noch genauso hasserfüllt war wie vor zehn Jahren. „Meine Liebe“, murmelte sie mit einem kalten Glitzern in den Augen, „es tut mir so leid für dich.“
Evelyn nickte kurz. „Danke, dass du gekommen bist, Lucille. Ich weiß es zu schätzen.“
„Das war doch selbstverständlich. Schließlich sind wir verwandt.“ Lucille lächelte und hakte sich bei einem fülligen jungen Gentleman unter, der zu ihr trat. „Darf ich vorstellen? Mein Gatte, Lord Harold. Ich glaube, ihr kennt euch noch nicht.“
Evelyn und Seine Lordschaft nickten einander zu.
„Was für eine Tragödie, dass wir uns unter solchen Umständen wiedersehen!“, fuhr Lucille theatralisch fort. Sie ließ den Arm ihres Gatten los und drängte sich vor ihn. Lord Harold trat zurück, um seiner Frau Platz zu machen. „Es fühlt sich an wie gestern, dass wir in dieser prächtigen Kirche in Paris gesessen haben, erinnerst du dich? Du warst sechzehn, ich ein Jahr älter. Und d’Orsay hatte mindestens hundert Gäste geladen, jeder über und über mit Gold und Juwelen behangen!“
„Ich erinnere mich nicht, dass so viel Schmuck getragen wurde.“ Evelyn fragte sich, worauf Lucille hinauswollte. Irgendeine giftige Bemerkung würde kommen, dessen war sie sicher. Unglücklicherweise traf Lucilles Beschreibung der Hochzeitsgäste ins Schwarze. Vor der Revolution hatte der französische Adel seinem Hang zur Extravaganz hemmungslos gefrönt. Auch Henri, für den es völlig normal gewesen war, Unsummen für die Hochzeit auszugeben. Als gäbe es kein Morgen.
Der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Aber weder er noch sie hatten in die Zukunft blicken können.
„Ich hatte noch nie so viele reiche Aristokraten gesehen. Obwohl sie heutzutage wahrscheinlich allesamt arm sind wie die Kirchenmäuse.“ Betont unschuldig sah Lucille sie an. „Oder tot.“
Evelyn rang nach Luft. „Wie kannst du so etwas sagen!“
„Willst du mich etwa tadeln?“ Lucille musterte sie mit hochgezogenen Brauen.
„Nein, natürlich nicht“, lenkte Evelyn umgehend ein. Sie war müde und hatte kein Interesse daran, den alten Zwist wiederzubeleben.
„Lucille“, ließ Robert sich missbilligend vernehmen. „Die Emigranten sind unsere Freunde. Ihnen wurde großes Unrecht angetan und sie haben viel durchmachen müssen.“
„Evelyn anscheinend auch.“ Nun feixte Lucille. „Allein das Haus! Es ist völlig heruntergekommen. Und nein, Papa, ich nehme kein Wort zurück. Wir gaben ihr ein Dach über dem Kopf, und sie hatte nichts Besseres zu tun, als sich den Comte zu angeln, kaum dass er den Fuß auf unsere Schwelle setzte.“ Ihre Augen blitzten.
Evelyn fiel es schwer, sich zu beherrschen, sie war einfach zu erschöpft. Doch sie schaffte es, nicht auf die Stichelei, sie sei eine Glücksritterin, einzugehen. „Was meinem Mann und seinen Landsleuten widerfahren ist, war eine Tragödie“, erklärte sie knapp.
„Ich habe nie etwas anderes behauptet“, entgegnete Lucille verärgert. „Wir verabscheuen die Republikaner, und das weißt du auch. Aber jetzt bist du hier, eine verwitwete Comtesse von fast fünfundzwanzig, und was ist dir geblieben?“
Es war unter ihrer Würde zu antworten, dennoch verteidigte Evelyn sich: „Wir sind geflohen – sonst wären wir auf dem Schafott gelandet. Wir mussten so gut wie alles zurücklassen!“
Als Lucille einen abfälligen Laut von sich gab, nahm ihr Vater sie beim Ellbogen. „Es ist Zeit zu für uns zu gehen, Lucille, zumal du und James noch einen langen Heimweg vor euch habt. Kommen Sie, Lady Faraday“, wandte er sich spöttisch an seine Gattin und nickte Evelyn zu, ehe er Enid und seine Tochter aus dem Raum geleitete. Lord Harold und Annabelle folgten ihnen.
Vor Erleichterung sackte Evelyn regelrecht in sich zusammen, richtete sich jedoch im nächsten Augenblick erstaunt auf, als Annabelle über die Schulter blickte und ihr ein zaghaftes mitfühlendes Lächeln schenkte.
Schließlich verklangen die Schritte ihrer Verwandten in der Halle. Mit einem befreiten Aufseufzen drehte Evelyn sich um – und sah sich zwei jungen Gentlemen gegenüber.
„Hallo, Evelyn.“ Ihr Cousin John lächelte zögernd.
Evelyn hatte John das letzte Mal bei ihrer Hochzeit gesehen. Er war groß und attraktiv, ähnelte seinem Vater im Äußeren ebenso wie im Charakter. Auch wenn er sich nie offen gegen Lucille gestellt hatte, war er in den schwierigen Jahren ihrer Kindheit so etwas wie ein geheimer Verbündeter gewesen.
Evelyn warf sich in seine ausgebreiteten Arme. „John! Wie schön, dich zu sehen! Warum hast du mich nicht eher besucht? Und wie gut du aussiehst!“
Er wurde rot und trat einen Schritt zurück. „Ich bin inzwischen Anwalt und habe eine Kanzlei in Falmouth. Und … nun, ich war nicht sicher, ob ich willkommen sein würde, nach allem, was du von meiner Familie erdulden musstest. Es tut mir leid, dass Lucille sich dir gegenüber noch immer so feindselig verhält.“
„Wenigstens bist du mir freundlich gesinnt.“ Evelyns Blick glitt zu dem Gentleman neben John. Ihr Lächeln verblasste. Stattdessen starrte sie ihr Gegenüber verblüfft an.
Ein Grinsen breitete sich im Gesicht des jungen Mannes aus, das seine Augen indes nicht erreichte. „Sie ist eifersüchtig auf dich“, sagte er kaum hörbar.
„Trev?“, fragte Evelyn ungläubig.
Edward Trevelyan nickte. „Comtesse d’Orsay, ich bin geschmeichelt, dass Sie sich an mich erinnern.“