Königliches Blut - Geheimes Verlangen - J.L. Carlton - E-Book

Königliches Blut - Geheimes Verlangen E-Book

J.L. Carlton

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Beschreibung

Nach einer verheerenden Katastrophe ist Schottland von der Außenwelt abgeschnitten und auf eigene Ressourcen angewiesen. Um das Land nach einem Bürgerkrieg zu befrieden, wurde die Monarchie wiedereingeführt. Während sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung immer mehr verschlechtern, verfällt die Oberschicht zunehmend der Dekadenz. Da erhält der Berufskiller Sam einen sehr speziellen Auftrag, den er voller Überzeugung annimmt: Königliches Blut soll vergossen werden! Aber dann kommt alles anders und anstatt sich an den Plan zu halten, entführt Sam den Thronfolger Prinz Victor. Doch damit fangen die Probleme erst an … Eine dystopische Gay Romance voller Leidenschaft und Abenteuer Band 1 von 2

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J.L. Carlton

Königliches Blut – Geheimes Verlangen

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2023

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Nina – stock.adobe.com

© theartofphoto – stock.adobe.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-607-4

ISBN 978-3-96089-608-1 (ebook)

Inhalt:

Eine dystopische Gay Romance voller Leidenschaft und Abenteuer

Nach einer verheerenden Katastrophe ist Schottland von der Außenwelt abgeschnitten und auf eigene Ressourcen angewiesen. Um das Land nach einem Bürgerkrieg zu befrieden, wurde die Monarchie wiedereingeführt. Während sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung immer mehr verschlechtern, verfällt die Oberschicht zunehmend der Dekadenz.

Da erhält der Berufskiller Sam einen sehr speziellen Auftrag, den er voller Überzeugung annimmt: Königliches Blut soll vergossen werden!

Prolog

Der Nebel aus dem nahegelegenen Loch Clair lichtete sich an diesem frühen Morgen nur langsam. Im Schutz dieser Dunstschwaden führte Sam Winter die Gruppe von Polizisten an, die sich am Vordereingang der einsam gelegenen Villa mit gezückten Waffen und unter deutlichen Warnrufen wie „New Scotland Royal Police“ und „Achtung! Polizei!“ gewaltsam Eintritt verschafften.

Andere Einheiten drangen zeitgleich durch die Terrasse im hinteren Bereich des Gebäudes ein oder sicherten das Gelände, um eine Flucht der Verdächtigen zu verhindern. Sie trafen auf keine Gegenwehr und betraten nach kurzer Zeit den großen Salon, der fast das ganze Erdgeschoss einnahm. Einige Polizisten wurden von Sam in den ersten Stock geschickt, um ihn zu sichern und zu durchsuchen. Danach sah er sich genauer im Raum um. Es herrschte ein unvorstellbares Durcheinander. An den Abdrücken in dem dicken, weichen Teppichboden erkannte Sam, dass sich von den eleganten Tischchen, Stühlen und Sesseln kaum einer mehr auf seinem angestammten Platz befand. An einer Wand hing ein zerbrochener Spiegel im goldenen Rahmen, seltsam klobige Flaschen – vermutlich voll mit schwarzgebranntem Whisky – standen auf den Tischen. Von der üppig mit Stuck und Blattgold verzierten Zimmerdecke, über die glänzenden Mahagoni-Möbel bis hin zu den funkelnden Kristallgläsern stellte der Raum eine fast erdrückende Dekadenz und einen Reichtum zur Schau, von dem der Großteil der Bevölkerung nur träumen konnte. Wahrscheinlich war es nichts im Vergleich zu dem Prunk und Protz, der im Königlichen Palast, dem Royal Palace, vorherrschte. Aber das hier reichte Sam schon völlig, um seine Wut über die katastrophale Lage, in der sich das Land befand, hochkochen zu lassen. Reiche, Adlige und die Königsfamilie lebten auf Kosten des Volkes in Saus und Braus – ohne den Anflug eines schlechten Gewissens.

Sam wurde ein wenig übel von dem Geruch nach Parfüm, Alkohol, Braten, Minze und Sex, der schwer in der Luft hing.

Einer seiner Leute, der noch nicht sehr lange Polizist war, trat neben Sam und deutete mit dem Kopf auf die drei nackten jungen Männer, die regungslos in einer Ecke des Raumes lagen. Es wirkte, als wären sie mit letzter Kraft dorthin gekrochen, und hatten sich aneinander gekauert, um sich gegen weitere Übergriffe zu schützen. Sam sah von Weitem, wie sie flach, aber regelmäßig atmeten. Sie lebten. Immerhin. Wahrscheinlich hatte sie die Erschöpfung übermannt.

„Sind das Fellys?“, fragte der junge Constable im Flüsterton. Sein Tonfall war eine Mischung aus Neugier, Abscheu und Lüsternheit.

„Das sind drei männliche Personen, die offensichtlich an F.E.S erkrankt sind“, wies Sam den Constable an seiner Seite ruhig, aber bestimmt, zurecht. Er hatte so etwas schon oft gesehen. Vielleicht zu oft. Deshalb wusste er, was zu tun war, und rief einen anderen Polizisten aus seiner Einheit zu sich. „Wir brauchen Ärzte und einen Krankenwagen. Drei Männer. Verdacht auf Felines Erregungs Syndrom. Der akute Anfall ist dem Augenschein nach vorüber. Sie befinden sich vermutlich in der Erschöpfungsphase. Geben Sie das genauso weiter. Und Sie …“ Er wandte sich an den Constable, der ihn auf die Männer angesprochen hatte. „Holen Sie augenblicklich ein paar Laken, um die armen Kerle zuzudecken.“

„Zudecken? Wozu – ist doch nicht so, dass die ein Schamgefühl hätten. Bei der Orgie, die hier ganz klar stattgefunden hat, haben die sicher jedem ihren Hintern hingehalten und um einen Fick gebettelt.“

„Laken. Jetzt. Das ist ein Befehl“, erklärte Sam mit harter Stimme und endlich trollte sich der Constable. Sam merkte sich seine Dienstnummer. Er würde den Mann bei ihren Vorgesetzten melden. Ein solches Verhalten gegenüber Opfern von sexuellem Missbrauch war völlig indiskutabel.

Sam hörte Schritte auf der Treppe hinter sich und drehte sich um. Als er sah, wer der plump wirkende Mann mit den grauen Schläfen war, den seine Leute hinunter eskortierten, revoltierte sein Magen. Nur mühsam beherrschte er sich, doch es gelang ihm, Tony Xavier mit einem ausdruckslosen Gesicht entgegenzutreten.

„Tony Xavier – ich verhafte Sie im Namen der Krone …“, fing Sam an, bis ihm Xavier rüde ins Wort fiel.

„Sergeant Sam Winter“, rief Xavier mit einem öligen Lächeln aus. „Wie lange ist das her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben?“

„Sie wurden zuletzt vor neun Monaten verhaftet“, presste Sam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Hm – und doch stehe ich wieder hier. Auf freiem Fuß. War das eigentlich das vierte oder das fünfte Mal, dass sie mich festgenommen haben?“

Auf diese Provokation einzugehen war für Sam äußerst verlockend, doch er bezwang sich und hielt den Mund.

„Also, wenn wir die zehn Mal voll haben, lade ich Sie zum Essen ein“, fuhr Xavier in jovialem Tonfall fort. „Sind eigentlich alle Ihre Verhaftungen so erfolglos wie meine?“

„Dieses Mal werden Sie vor Gericht stehen, Xavier“, sagte Sam leise. „Dieses Mal werden Sie sich nicht rauswinden können.“

Xavier machte eine wegwerfende Handbewegung. „Was wollen wir wetten, dass ich bereits heute Abend wieder ein freier Mann bin?“

„Die Beweise gegen Sie …“

„Welche Beweise? Sie haben mich doch hier überhaupt nicht erwartet. Das Haus gehört mir nicht. Ich bin zufällig hier und weiß von nichts.“

Sam knirschte mit den Zähnen. Leider hatte Xavier in einigen Punkten Recht. Die Polizei hatte einen anonymen Hinweis bekommen und war hier, um den Besitzer der Villa zu befragen und gegebenenfalls zu verhaften. Mit der Anwesenheit von Xavier hatten sie nicht gerechnet. Allerdings verwunderte es Sam auch nicht allzu sehr. Egal bei welchen Delikten die Polizei ermittelte und Nachforschungen anstellte – früher oder später tauchte dabei immer der Name Tony Xavier auf.

„Dieses Mal kriege ich Sie, Xavier.“ Sam hatte diese Drohung nicht ausstoßen wollen. Er ärgerte sich über seine Unbeherrschtheit.

Xavier musterte ihn spöttisch. „Ich glaube nicht. Seit ich Sie kenne, haben Sie nur diesen einen lächerlichen Streifen. Das spricht nicht gerade für ihren beruflichen Erfolg.“ Er deutete auf die Schulterklappen an Sams Uniform, die durch besagten Streifen seinen Rang als Sergeant innerhalb der schottischen Polizei anzeigten. „Und weshalb wollen Sie mich denn drankriegen, hm? Weil wir ein bisschen Spaß mit diesen notgeilen Fellys hatten? Wir haben denen doch noch einen Gefallen getan.“ Xavier senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern: „Hatten Sie schon mal Sex mit einem Felly, Sam? Es gibt nichts Besseres. Während eines Anfalls hat der Speichel eines Fellys eine aphrodisierende Wirkung.“

Angeekelt wich Sam einen Schritt zurück. „Zumindest werden diese drei bedauernswerten Personen vor Ihnen und Ihresgleichen zukünftig sicher sein.“

„Pah!“ Xavier zuckte mit den Schultern. „Was soll’s. Werden eben neue gemacht.“

Wut stieg in Sam auf. Dennoch stellte er sich dumm. „Wie … neue gemacht?“ Vielleicht würde es ihm so gelingen, Xavier aus der Reserve zu locken.

„Natürlich. Der Bedarf nach willigen Sex-Sklaven ist da. Der Bedarf wird gedeckt.“

„Das ist ein Geständnis!“ Sam nickte den Polizisten zu, die links und rechts von Xavier standen und die sein Nicken prompt erwiderten.

„Ach ja?“ Xaviers Augen blitzten. „Ich habe lediglich eine allgemein bekannte Tatsache wiedergegeben. Sie können mir gar nichts, Sie Streifenwiesel.“ Bei Sam brannte eine Sicherung durch. Gerade als er mit geballten Fäusten auf Xavier losgehen wollte, hielten ihn zwei seiner Männer zurück.

„Er ist es nicht wert, Sam“, raunte ihm einer ins Ohr.

Xavier lachte gehässig. „Versuchter Angriff auf einen unbescholtenen Bürger. Das wird Sie teuer zu stehen kommen. Ich habe Beziehungen zu einigen Stadträten.“

* * *

Am nächsten Tag war Tony Xavier auf freiem Fuß, eine Anklage war nicht erhoben worden.

Eine Woche später hatte Sam Winter seine Kündigung eingereicht. Der Stolz, den er einmal dabei empfunden hatte, Gerechtigkeit und Krone zu dienen, war stückchenweise von seinem Abscheu über die mittlerweile nahezu allgegenwärtige Korruption und die Dekadenz der oberen Gesellschaftsschichten – insbesondere der königlichen Familie – aufgefressen worden. Und nun, da nichts mehr von seinem Stolz und von seiner Loyalität übrig war, blieb Sam keine andere Wahl, als einen Schlussstrich zu ziehen.

Sechs Wochen später war Xavier tot und Sam Winter war wie vom Erdboden verschwunden.

Kapitel 1

4 Jahre später …

September

Am Rande des Waldes angekommen, blieb Sam schwer atmend stehen. Trotz der kühlen Nacht perlte Schweiß auf seiner Stirn und verklebte seine langen Haare. Sein struppiger Vollbart juckte. Er brauchte dringend ein ausgiebiges Bad.

Die Sonne war schon untergegangen, doch der Vollmond hell genug, um Sam die Richtung zu weisen. Vor fünf Kilometern war ihm das Benzin ausgegangen. Seine abgetragene Ledermontur war eher dafür gemacht, um auf dem Motorrad zu fahren und nicht, um es mühsam über den schmalen und unebenen Waldweg zu schieben. Aber das Motorrad war sein wertvollster Besitz und es zurückzulassen war keine Option – eine Tankstelle zu suchen sinnlos. Seine illegal beschafften Bezugsscheine für Benzin waren aufgebraucht. Treibstoff war rar, trotzdem waren Fahrzeuge aller Art heiß begehrt. Hätte er sein Motorrad im Wald zurückgelassen, hätte es binnen kürzester Zeit – unfreiwillig – den Besitzer gewechselt, selbst wenn es gut versteckt gewesen wäre. Es gab genug lichtscheues Volk, das einen Riecher für unbewachte Wertgegenstände hatte. Früher, als er noch jung, idealistisch und stolz darauf gewesen war, dem schottischen Königshaus als Polizist zu dienen, war es seine Aufgabe gewesen, solche Menschen ins Gefängnis zu stecken. Heute war er selbst ein Verbrecher und verdiente seinen Lebensunterhalt durch Auftragsmorde. Es war kein schönes oder sicheres Leben, aber er hatte seine Entscheidung, dem staatlich verordneten Recht und Gesetz den Rücken zu kehren, nie bereut. Leichten Herzens hatte er Haus und Heim verlassen und gegen ein unstetes und gefährliches Nomadenleben eingetauscht. Seitdem er damals Xavier seiner Art von Gerechtigkeit zugeführt hatte, war er in gewissen Kreisen unter dem Namen Mink bekannt. Eine Karriere als Profikiller hatte zuerst nicht in seiner Absicht gelegen – es hatte sich einfach so ergeben. Nach Xaviers Tod hatte sein erster Auftrag nicht lange auf sich warten lassen und irgendwie war es immer so weitergegangen. Ab und zu lehnte er eine Anfrage ab, doch meist nahm er an. Sam schob sein Motorrad weiter, bis der Wald zu Ende war. Nur noch einige halbhohe Büsche verbargen ihn vor etwaigen neugierigen Blicken. Vorsichtig bog er ein paar Zweige zur Seite und spähte durch diese Lücke auf die altehrwürdige Universitätsstadt, die sich wie eine schläfrige Katze in einem sanften Tal ausgebreitet hatte, das von einem schmalen Fluss durchschnitten wurde. Am Stadtrand, wo die mehrstöckigen Gebäude in kleinere Häuser übergingen – nicht weit von seinem Standpunkt entfernt – konnte er das Heim seines jüngeren Bruders Bertie ausmachen. Er führte dort mit seiner Familie das geruhsame Leben eines unbescholtenen Bürgers.

Sam besuchte ihn so gut wie nie. Zum einen, um seine Verwandten nicht in Gefahr zu bringen, zum anderen, weil er auf die Moralpredigten seines Bruders gut verzichten konnte. Bertie wusste zwar nichts Genaues über Sams Lebensunterhalt, ahnte aber genug, um ihn zum Pfad der Tugend bekehren zu wollen. Vermutlich fühlte er sich als Universitätsprofessor dazu verpflichtet.

Eine Weile blieb Sam im Schutz der Büsche stehen und beobachtete die Umgebung sorgfältig. Die Häuser lagen im Dunkeln, denn die elektrische Straßenbeleuchtung funktionierte nicht. Sam schloss daraus, dass es mit der Stromversorgung mal wieder nicht zum Besten stand. Seine Annahme wurde durch das unregelmäßige, teilweise flackernde Licht bestätigt, das durch die Ritzen der Fensterläden auf die Straße drang, wo es zarte Streifenmuster auf den Boden zeichnete und das nur von Kerzen und Petroleumlampen stammen konnte. Die Bürger von Schottland waren auf solche Situationen – die in letzter Zeit immer öfter vorzukommen schienen – bestens eingerichtet. Es verwunderte Sam, denn Deansbridge lag so nahe an der Hauptstadt Jamesburgh, dass er davon ausgegangen war, hier wäre die Versorgungslage ähnlich sicher. Er selbst war noch nie dort gewesen, doch bald würde er sich mit eigenen Augen davon überzeugen können, ob in der Hauptstadt tatsächlich alles besser war als anderswo.

In den Häusern rührte sich nichts und die Straßen waren nach wie vor menschenleer. Sam quetschte sich und sein Motorrad so geräuschlos wie möglich zwischen den Büschen hindurch und schob es den leichten Hügel hinab. Er gelangte ungesehen zur Hintertür von Berties Haus und klopfte an, wobei er ein Klopfzeichen benutzte, das ihm und seinem Bruder bereits seit Kindertagen vertraut war. Einmal kurz, einmal lang, zweimal kurz. Es war der Morsecode für den Buchstaben „L“ und bedeutete für sie beide Lass mich rein. Es dauerte nicht lange und die Tür wurde geöffnet.

„Samuel“, flüsterte sein Bruder in einer Mischung aus Freude und Überraschung.

Sam verzog das Gesicht. Er konnte der Langform seines Namens nicht viel abgewinnen und obwohl sein Bruder das wusste, sprach er ihn ausschließlich so an. Sam hingegen revanchierte sich, indem er seinen Bruder konsequent Bertie anstatt Albert nannte. Bertie hasste das. Als sie noch Kinder waren, hatte alleine das gereicht, um ihn die Beherrschung verlieren zu lassen und auf den größeren Sam loszugehen. Bei diesen Rangeleien hatte Bertie stets den Kürzeren gezogen, was ihn immer nur noch zorniger hatte werden lassen.

„Hallo Bertie“, erwiderte Sam und registrierte erfreut, dass Berties Miene säuerlich wurde. Manche Dinge änderten sich einfach nie. „Kann ich heute Nacht bei dir unterkommen? Ich und mein Motorrad?“

„Du wirst es wohl wie immer im Haus behalten wollen?“, fragte Bertie mit einer Spur Resignation. Er kannte die Antwort. Der kleine Anbau, der ihm als Schuppen für Gartengerätschaften diente, war zu schlecht gesichert. Das Motorrad konnte dort allzu leicht entwendet werden.

„Du kennst mich eben, Bruderherz.“

Bertie trat beiseite und Sam schob das Motorrad ins Haus. Er stellte es wie immer auf den freien Platz unter der Treppe, die zum Dachgeschoss mit den Schlafzimmern führte. Neben den Dreirädern der Zwillinge sah seine PS-starke Maschine noch größer aus, als sie ohnehin schon war. Er folgte seinem Bruder durch eine weitere Tür in die geräumige Wohnküche, wo Berties Frau Sophia in einem Sessel saß. Obwohl es in dem Raum sehr warm war – im Herd brannte ein Holzfeuer – hatte sie sich ein voluminöses Tuch aus dickem Wollstoff um die Schultern gelegt.

„Samuel!“, rief sie erfreut und streckte die Arme nach ihm aus. Sie freute sich tatsächlich immer, ihn zu sehen.

Sam beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Wange. Ihr nahm er es nie übel, wenn sie ihn mit seinem richtigen Namen ansprach.

„Dein Bart kitzelt“, beschwerte sie sich mit einem Kichern. „Seit wann hast du ihn?“

„Noch nicht lange“, antwortete Sam und kratzte sich am Kinn. Die Haut unter dem dunkelblonden Bart juckte. Sein Gesicht war es nicht gewohnt, von so viel Haaren verdeckt zu sein.

„Dafür ist er ganz schön dicht.“ Sie musterte ihn. „Ich bin mir aber noch nicht sicher, ob er mir gefällt. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass du es bist, hätte ich dich womöglich gar nicht erkannt.“

‚Perfekt‘, dachte Sam bei sich. ‚Das war Sinn und Zweck der ganzen Sache.‘ Der Bart hatte damit quasi seine Feuerprobe bestanden.

„Samuel will heute Nacht hierbleiben“, erklärte Bertie seiner Frau.

„Aber nur, wenn es keine Umstände macht“, brummte Sam. Das war nicht nur so dahingesagt. Er meinte es ehrlich. Er wollte Sophia keinen Ärger bereiten. Dazu hatte er sie zu gern.

Sophia schlug Sam leicht auf den Arm. „Umstände! Es ist natürlich ein riesiger Aufwand, die Tagesdecke von deinem Bett zu entfernen.“

„Seit wann ist das mein Bett?“

„Dummerchen“, rügte sie ihn und schlug ihm noch mal spielerisch auf den Unterarm. „Glaubst du, ich lasse jemand anders in der Kammer neben den Kindern schlafen?“

Sam senkte den Kopf um seine roten Wangen – zumindest den kleinen Teil, der trotz Bart noch zu sehen war – ein wenig zu verbergen. Aus Gründen, die ihm selbst nicht klar waren, gefiel es ihm, wenn Sophia diesen Ton bei ihm anschlug und ihn im Scherz ein wenig von oben herab behandelte, obwohl er der Älteste unter den Anwesenden war.

„Aber nun setz dich doch endlich“, sprach Sophia weiter. „Ich bekomme einen steifen Nacken, wenn ich die ganze Zeit zu dir aufsehen muss. Du bist auch im Sitzen noch groß genug. Hast du Hunger?“

„Ein wenig.“ Sam setzte sich an den einfachen Holztisch, dessen Oberfläche blank gescheuert war und wie um seine Worte Lügen zu strafen, meldete sich sein Magen in diesem Moment lautstark zu Wort. Seine letzte Mahlzeit war schon eine Weile her und sie war nicht üppig gewesen.

„Ein wenig“, wiederholte Sophia mit mildem Spott. „Bestimmt hast du wieder nur von Rattenmardern, Beeren und Pilzen gelebt. Ihr Aussteiger seid schon ein komisches Völkchen. Aber jetzt bekommst du was Vernünftiges zu essen. Wir haben noch gutes Brot und Käse. Albert, bring deinem Bruder einen Teller und etwas zu trinken. Bist du so lieb?“

„Natürlich, Schatz.“

Die Brüder tauschten einen kurzen Blick, den Sophia nicht bemerkte. Sam hatte die Ansicht seiner Schwägerin nie korrigiert: Er führte das Leben eines Aussteigers, hatte der noch vorhandenen Zivilisation den Rücken gekehrt, lebte in den Wäldern, verrichtete Gelegenheitsarbeiten und ernährte sich meist von dem, was die Natur so hergab. Ganz falsch lag sie damit nicht. Zumindest nicht, wenn man davon absah, dass er ab und zu genügend Geld in der Tasche hatte, um sich in einem Lokal zu verköstigen und er sich – anders als die normalen Aussteiger – vor Entdeckung hüten musste.

Während Bertie das Essen auf den Tisch stellte, erkundigte sich Sam nach dem Wohlergehen seiner Schwägerin.

„Wenn ich nicht ständig frieren würde, wäre alles bestens“, erklärte sie leichthin und wieder tauschten die Brüder über ihren Kopf hinweg einen Blick. „Wir haben einen neuen Arzt hier in Deansbridge. Doktor Brown. Ich war schon ein paar Mal bei ihm und ich bin sehr zufrieden mit ihm.“

Kaum merklich schüttelte Bertie den Kopf und Sam wechselte das Thema. „Und wie geht es Abby und Benji?“

„Sie kommen nächstes Jahr in die Schule!“, antwortete Sophia. „Ist das zu fassen? Es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass die beiden noch Windeln getragen haben. Und groß sind sie geworden! Aber das wirst du morgen beim Frühstück ja sehen. Jetzt schlafen sie leider schon.“

Mit einem Nicken signalisierte Sam seine Zustimmung.

Bertie musterte ihn mit einem nicht zu deutenden Gesichtsausdruck. „Ach, du bleibst dieses Mal tatsächlich zum Frühstück?“

„Ja, ganz sicher“, erwiderte Sam. „Ich werde mich ausnahmsweise nicht wie sonst bei Nacht und Nebel aus dem Staub machen.“

„Darf ich fragen, warum?“, wollte Bertie wissen.

Sam grinste breit. „Nein, eigentlich nicht. Aber weil du es bist … Ich habe noch einige Besorgungen zu erledigen und dazu ist es nicht notwendig, am frühen Morgen aufzubrechen.“ Er wurde erst zur Mittagszeit in der Hauptstadt erwartet. Für ein Frühstück mit der Familie war daher genug Zeit.

Bertie warf ihm einen leicht misstrauischen Blick zu, sagte jedoch nichts und Sam fing an zu essen. Nach einiger Zeit wurde Sophia, die bislang das Gespräch in Gang gehalten hatte, immer ruhiger. Schließlich gähnte sie hinter vorgehaltener Hand.

„Ich glaube, ich gehe zu Bett. Ich bin einfach zu müde.“ Sie stand mühsam und ein wenig umständlich auf. „Gute Nacht, Sam.“ Sie beugte sich zu ihm hinunter und das Medaillon, das sie an einer Kette um ihren Hals trug, schwang leicht vor und zurück. Das schlichte Schmuckstück hatte einmal Sams und Berties Mutter gehört und Sam freute sich, zu sehen, dass sie es in Ehren hielt.

Er küsste ihre dargebotene Wange. „Gute Nacht, Sophia.“

„Und wehe, du verschwindest doch wieder vor dem Frühstück!“, drohte sie Sam noch, bevor sie ihrem Mann einen Kuss gab.

Sam lächelte und schüttelte den Kopf. „Würde mir nicht im Traum einfallen.“

„Das freut mich“, sagte sie mit einem Lächeln. Langsam verließ sie den Raum.

Geduldig warteten die Brüder bis Sophias schleppende, schwere Schritte auf der Treppe verklungen waren.

Sam schob seinen leeren Teller zur Seite. „Okay, Bertie. Wie geht es ihr wirklich?“

Mit einer Hand fuhr sich Bertie über das Gesicht. „Schlecht“, erwiderte er mit matter Stimme. „Sie friert fast ständig, dabei ist es noch gar nicht kalt. Ich weiß nicht, wie sie diesen Winter überstehen soll. Ihre Gelenke schmerzen mittlerweile im Prinzip dauernd. Sie ist müde und …“ Bertie atmete tief durch. „Weißt du, früher gab es auch gute Tage, aber die sind furchtbar selten geworden. Sie ist … entkräftet. Anders kann man es nicht ausdrücken.“

Erschüttert lauschte Sam diesem trostlosen Bericht. Andererseits überraschte es ihn nicht. Die meisten Frauen litten an irgendwelchen Beschwerden. Manche erreichten dennoch ein hohes Alter, während andere dahinwelkten und in jungen Jahren starben. Die Ursachen dieser Frauenleiden – wie die Ärzte es in ihrer Hilflosigkeit nannten – waren unbekannt. Der Verdacht, dass alles mit dem Unfall und dessen Spätfolgen zusammenhing, lag nahe, doch zu umfassenden Forschungen fehlten Mittel, Material und Wissen. Man war in der Medizin schon vor mehr als einem Jahrzehnt an Grenzen gestoßen, die unüberwindlich schienen. Das Ergebnis waren wenige Schwangerschaften, eine hohe Rate an Fehlgeburten und die Gefahr, bei der Geburt das Leben zu verlieren. Im Kindbett zu sterben war seiner Schwägerin immerhin erspart geblieben. Dennoch tat es Sam in der Seele weh, sie leiden zu sehen und er wollte die Hoffnung auf einen Fortschritt, auf ein Medikament, auf eine Erleichterung oder sogar eine Heilung nicht aufgeben.

„Aber Sophia meinte doch, dass dieser Doktor Brown …“

„Ach, der!“, brauste Bertie auf. „Ein Quacksalber. Es ist eine Schande, wer sich heutzutage alles Arzt nennen darf.“

„Es muss doch noch andere Ärzte … gute Ärzte geben“, wandte Sam ein. „Jamesburgh ist nicht weit. Dort muss es doch …“ Er unterbrach sich. „Das heißt – brauchst du Geld? Könnt ihr euch die guten Ärzte nicht leisten? Wenn das so ist, dann musst du es mir nur sagen. Ich habe Geld.“

„Du hast Geld?“, gab Bertie ungläubig-spöttisch zurück.

„Ja. Im Augenblick sogar ziemlich viel.“ Es war die reine, lautere Wahrheit. Sam hatte für seinen nächsten Auftrag bereits eine Anzahlung erhalten, die mehr als üppig war. Geld spielte momentan keine Rolle und für seine Schwägerin hätte er so oder so mit Freuden sein letztes Hemd gegeben.

„Ist das so?“

„Ja.“

Bertie seufzte. „Dann danke ich dir für das Angebot, aber daran liegt es nicht. Finanziell könnten wir uns einen gut ausgebildeten Arzt tatsächlich leisten. Das Problem ist, dass diese hochnäsigen Snobs irgendwann beschlossen haben, das einfache Volk“, er spie diese Worte geradezu aus, „nicht mehr zu behandeln. Sie sind sich zu fein dazu. Die guten Ärzte, die etwas taugen, behandeln nur noch das Königshaus und den Adel. Alle anderen Kranken sind nicht prestigeträchtig genug für sie. Bringen ihnen keinen Ruhm und Anerkennung. Keine Vergünstigungen, Luxuswaren oder zusätzliche Benzin-Bezugsscheine.“

Mit offenem Mund starrte Sam seinen Bruder an. „Ich wusste nicht, dass es mittlerweile so schlimm steht.“

„Woher auch“, räumte Bertie ein, doch es klang bitter. „Wo du dich rumtreibst, spricht man wahrscheinlich nicht über solche Dinge wie den Niedergang der Gesellschaft.“

Sam wich dem Blick seines Bruders aus.

„Dabei habe ich immer vermutet, dass das einer der Gründe war, warum du damals alles hinter dir gelassen hast. Warum du von heute auf morgen deine Arbeit hingeworfen hast.“

„Ja, das …“, fing Sam zögerlich an, doch sein Bruder unterbrach ihn, bevor er weitersprechen konnte.

„Es ist doch nicht nur die medizinische Versorgung! Das ganze System ist korrupt. Egal wo man hinsieht. Das einfache Volk leidet. Die gewöhnlichen Menschen kommen zu kurz, und zwar in allen Bereichen. Ich habe im Archiv der Universität Aufzeichnungen gefunden – aus einer Zeit lange vor dem Unfall. Damals sind genau die gleichen Fehler gemacht worden! Und es hat ein schreckliches Ende genommen. Mit Revolutionen, Hinrichtungen und Bürgerkriegen. Das alles hatten wir nach dem Unfall zur Genüge und das ist noch gar nicht so lange her. Dabei ist jede Auseinandersetzung nur eine Verschwendung von Ressourcen und unschuldigen Menschen. Man sollte meinen, die Menschheit hätte etwas daraus gelernt. Aber das ist nicht der Fall. Wir steuern genau wieder auf eine ähnliche Situation zu. Warum ist niemand bereit, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen?“

„Du als Geschichtsprofessor musst das vermutlich sagen.“

„Deine Reaktion ist typisch und ein weiterer Hinweis dafür, dass Bildung und Wissen in unserem Land nicht den Rang einnehmen, den sie sollten.“

Sam rieb sich über den Nacken. „Wer damit zu tun hat, sein Leben zu sichern und sich zu überlegen, wie immer genügend Essen auf den Tisch kommt und wie ausreichend Feuerholz zu beschaffen ist, der befasst sich eben nicht mit dem Studium von Büchern. Das kannst du den Leuten nicht verübeln. Das Leben ist für die meisten hart genug.“

„Davon rede ich doch!“, ereiferte sich Bertie. „Die Prioritäten dieser Gesellschaft sind falsch und dienen nur dazu, das bestehende System zu erhalten.“

„Das bestehende System? Hast du etwa vor, die Monarchie abzuschaffen?“

Bertie musterte ihn eindringlich. „Bist du etwa immer noch so königstreu wie früher? Das hätte ich nicht gedacht.“

Sam knirschte mit den Zähnen. „Ich war einmal stolz auf meine Arbeit. Stolz, ein Polizist zu sein. Stolz, dem Königreich zu dienen. Aber das ist vorbei. Schon lange.“

„Gut zu wissen. Aber ich habe nicht vor, das System komplett abzuschaffen. Ich spreche davon, es zu verändern. Zu verbessern.“

„Von mir aus“, lenkte Sam halbherzig ein. „Können wir jetzt von etwas anderem reden?“ Ihm war daran gelegen, das Thema zu wechseln. Es kam seinem aktuellen Auftrag für seinen Geschmack zu nahe. Viel zu nahe.

„Es sind Menschen wie du …“, fing sein Bruder in oberlehrerhaftem Tonfall fort.

„Ja, dumm, ungebildet, ignorant.“

„Du hattest eine Führungsposition bei der Polizei inne“, gab Bertie widerwillig zu. „Natürlich bist du bei Weitem nicht so intelligent wie ich – aber völlig unterbelichtet bist du auch nicht. Sonst hättest du es nie so weit gebracht.“

„Weit gebracht! Von wegen! Ich war ein verdammtes Streifenwiesel!“, platzte Sam heraus.

„Wahrscheinlich wäre es vernünftig gewesen, wenn ich dir noch mehr Latein beigebracht hätte, aber dir hat es ja genügt, die gängigsten Floskeln zu kennen und Familienmottos auf Wappen entziffern zu können.“

„Wie auch immer“, fiel ihm Sam ins Wort, bevor sein Bruder noch mehr darauf herumreiten konnte. Vielleicht hätte er Bertie früher doch ab und zu bei einer Prügelei gewinnen lassen sollen, dann hätte er sich womöglich nicht so völlig dem Wissen und dem Lernen um des Lernens Willen verschrieben. „Nicht jeder ist wie du und hat Spaß daran, sich in staubigen Büchern zu vergraben. Und du kannst nicht allen Ernstes dieses Land mit seinen begrenzten Mitteln und Möglichkeiten mit einer Welt von vor mehreren hundert Jahren vergleichen.“

Berties Mund war nur noch ein schmaler, missbilligender Strich. „Trotzdem ändern sich manche Dinge nie.“

„Damit hast du vielleicht sogar recht“, lenkte Sam ein. „Aber genau deshalb bin ich davon überzeugt, dass man nichts ändern kann. Man muss unser Land so nehmen, wie es ist. Ich war Polizist. Ich habe versucht, etwas zu bewegen.“ Er schüttelte den Kopf. „Und das war wie Wasser mit der Gabel schöpfen. Sinnlos. Und am Ende war ich nur noch desillusioniert, verbittert und enttäuscht.“

Für einen Moment herrschte Schweigen. Dann fragte Bertie: „War das der Grund, warum du damals alles hingeworfen hast? Weil du es aufgeben hast, etwas ändern zu wollen?“

Sam fuhr sich mit einer Hand durch seine Haare. „Irgendwie schon.“

Nach dieser Antwort wirkte Bertie merkwürdig selbstzufrieden.

* * *

Der Geruch von gebratenem Speck stieg Sam aufs angenehmste in die Nase, als er nach einer ruhigen Nacht die Treppe herabkam und die Wohnküche betrat. Sein Bruder stand am Herd und schlug einige Eier in eine heiße Pfanne auf. Eiweiß und Fett zischten so verlockend, dass Sam das Wasser im Mund zusammenlief. Doch er konnte die ungestörte Vorfreude auf ein herzhaftes Frühstück nicht lange genießen.

Die Zwillinge hatten ihn gesehen, waren vom Tisch aufgesprungen und rannten auf ihn zu. Die schrillen Freudenschreie ihrer hellen Stimmen gellten in Sams Ohren. Keine Sekunde später klammerten sich kleine, warme Körper an seine Knie. Abby links und Benji rechts. Beide kreischten, um seine Aufmerksamkeit zu erheischen: „Onkel Sam! Onkel Sam!“

Es war nicht ihre Schuld, aber Sam hasste es, wenn sie ihn Onkel nannten. Um den Stich in seinem Herzen zu kaschieren, grinste er breit und hob die Kinder gleichzeitig in die Höhe. Sie kicherten und jubelten und wanden sich ein wenig in seinem sicheren, festen Griff.

„Na, ihr Strolche?“, neckte er sie und drückte beiden einen Kuss auf die weichen Wangen.

„Hast du uns was mitgebracht, Onkel Sam?“, fragte Abby eifrig.

Sam setzte eine traurige Miene auf. „Ich dachte, ihr freut euch einfach so, mich zu sehen.“

„Türlich“, nuschelte Benji, doch seine kleinen Hände waren damit beschäftigt, Sams Brusttasche zu betatschen, in der Hoffnung, dort auf die Leckereien zu stoßen, die sie nur von ihm bekamen.

„Benjamin“, rügte Bertie sofort die nachlässige Aussprache.

Benji legte den Kopf schief und zwinkerte Sam verschmitzt zu. „Natürlich, Onkel Sam“, sagte er fast schon übertrieben deutlich. „Wir freuen uns immer, dich zu sehen.“

Abby war nicht so leicht von ihrem Ziel abzubringen. „Letztes Mal hast du uns Bonbons mitgebracht.“

„Die waren toll“, bestätigte Benji. „Das waren die leckersten Honigbonbons überhaupt. Hast du wieder solche dabei?“

„Nein“, erwiderte Sam und ertrug die enttäuschten Kindergesichter nur einen Wimpernschlag lang. „Dieses Mal sind es Karamellbonbons!“

„Hurra!“, jubelte Abby und „Wo?“, fragte Benji.

Sam lachte und stellte die Kinder wieder auf ihre eigenen Beine. Abby und Benji zappelten ungeduldig und Sam konnte gar nicht schnell genug die Tüte herausziehen, die er sich hinter seinem Rücken in den Hosenbund gesteckt hatte, wo sie bislang vor den flinken kleinen Händen und wachen Augen verborgen gewesen war. „Hier – teilt sie euch. Und verklebt nicht alles damit.“ Er war sich sicher, dass die Warnung ihre Ohren nicht mehr erreicht hatte, zu sehr waren sie davon in Anspruch genommen, die Tüte zu öffnen und den Inhalt zu bestaunen.

Das zarte Aroma von Vanille, Zucker und Sahne vermischte sich für einen Moment mit dem Geruch nach Eiern und Speck. Sam nahm am Tisch neben Sophia Platz.

„Du verwöhnst sie.“ Es hätte wahrscheinlich eine Rüge sein sollen, doch Sophias sanftes Lächeln ließ einen anderen Schluss zu.

Sam zuckte die Schultern. „Lass mir die Freude. Es ist so ziemlich das Einzige, was ich für sie tun kann.“

„Abigail, Benjamin“, rief Bertie nach den Kindern, die sich still dem Genuss der Karamellbonbons hingaben. „Setzt euch und esst euer Porridge auf, bevor es eiskalt wird.“

„Ja, Papa“, nuschelten beide um die Bonbons in ihrem Mund herum und hopsten fröhlich zurück zu ihren Plätzen.

Bertie brachte die Pfanne an den Tisch und verteilte derweil Rührei und Speck auf drei Teller, bevor er sich setzte. Sophia schenkte Sam mit sichtlicher Mühe duftenden Kräutertee in eine Tasse ein und strahlte dabei so stolz, dass Sam ihr nicht die schwere Kanne aus der Hand nahm, wie er es im ersten Moment vorgehabt hatte, sondern sie gewähren ließ.

„Dein Kräutertee ist und bleibt der beste, den ich je getrunken habe“, lobte er sie nach dem ersten Schluck.

„Schmeichler“, wehrte sie lachend ab. „Das ganze Zeug wächst ja fast von alleine im Garten. Ich weiß nicht, ob es das zu meinem Kräutertee macht.“

Bertie gab seiner Frau einen Kuss auf die Wange. „Immerhin entscheidest du, was angepflanzt wird, und stellst die Mischung zusammen.“

Sophia drückte lächelnd Berties Hand und wandte sich dann an Sam. „Musst du nach dem Frühstück wirklich schon wieder fort? Du weißt, dass du auch länger oder überhaupt für immer bei uns bleiben könntest.“

„Tja, das wird sich schlecht machen lassen“, antwortete Sam ausweichend. „Heute kann ich auf keinen Fall länger bleiben. Ich habe etwas Wichtiges zu erledigen.“

„Und was genau?“, fragte Sophia weiter. Bertie sah von seinem Teller auf. „Was könnte wichtiger sein, als mehr Zeit mit deiner Familie zu verbringen?“

Ein schmales Lächeln wölbte Sams Mundwinkel. Bedauernd schüttelte er den Kopf. „Das kann ich euch leider nicht sagen.“

Sophia seufzte. „Verschlossen wie immer. Na schön. Reden wir von etwas anderem.“ Sie zog die Zeitung, die zusammengefaltet auf dem Tisch lag, zu sich heran. „So abseits von jeglicher Zivilisation, hast du womöglich noch gar nicht mitbekommen, dass unsere Königin schwer krank ist?“ Sie deutete auf einen der Artikel auf der ersten Seite.

Rasch schluckte Sam den letzten Bissen Rührei hinunter und warf einen – wie er hoffte – nicht allzu interessierten Blick auf die Zeitung. „Das wusste ich tatsächlich noch nicht“, erwiderte er tonlos, während sein Gehirn auf Hochtouren arbeitete. Das ließ seinen Auftrag, den er bereits vor einiger Zeit angenommen hatte, in einem etwas anderen Licht erscheinen. „Seit wann ist das so?“

„Du lebst vollkommen hinter dem Mond.“ Sophia schüttelte den Kopf. „Seit Monaten gab es Berichte darüber, dass sie nicht ganz auf der Höhe ist. Und dann hat vor ein paar Wochen das Königshaus eine offizielle Erklärung herausgegeben, dass sie ernstlich erkrankt ist.“ Sie verstummte und strich mit der Hand über ein Bild neben dem Artikel, das Königin Victoria in jungen Jahren zeigte. „Die Ärmste hat sich nie von der Geburt von Prinz Victor erholt“, sinnierte sie mit leiser, gedrückter Stimme. „Und dann die vielen Fehlgeburten. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch …“ Es war, als läge plötzlich ein Schatten auf ihrem Gemüt. „Ich hoffe, die Ärzte können etwas für sie tun.“

Unbeholfen tätschelte Sam seiner Schwägerin die Hand, die immer noch auf dem Abbild der Monarchin lag. Über ihren Kopf hinweg warf er seinem Bruder einen raschen Blick zu und war nicht überrascht zu sehen, wie Bertie in ohnmächtiger Wut die Stirn furchte und seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste.

„Um ihr Krankenlager drängelt sich alles, was eine medizinische Ausbildung nachweisen kann“, quetschte Bertie zwischen den Zähnen hervor und Sam verstand die Anspielung auf ihre gestrige Unterhaltung. So war das also. Jeder Arzt, der etwas auf sich hielt, scharwenzelte um die kranke Königin herum und verschwendete weder Mühe noch Zeit an andere Patienten.

„Mama, wir sind fertig“, unterbrach Abigail die – aus unterschiedlichen Gründen – düsteren Gedanken der Erwachsenen.

Benji schob zur Verdeutlichung seine leere Porridge-Schüssel von sich. „Dürfen wir raus zum Spielen?“

Sophia nickte und strich ihm über den Kopf.

Beide Kinder sprangen erfreut auf und Abby rief: „Onkel Sam! Du musst mitkommen und dir ansehen, was wir gebaut haben!“

„Ich komme gleich“, versicherte Sam.

„Aber bestimmt!“, forderte Benji.

„Bestimmt.“

Benji nickte ernsthaft, um diesem Versprechen, das er Sam abgenommen hatte, mehr Gewicht zu verleihen, und rannte seiner Schwester hinterher, die schon im Garten war.

Sophia atmete tief durch. „Immerhin ist aus Prinz Victor ein stattlicher Mann geworden und das, nachdem er so ein kränkliches Kind war. Der Ärmste macht sich bestimmt schreckliche Sorgen um seine Mutter.“

Sie blätterte um und Sam sprang sofort ein Foto von Kronprinz Victor entgegen. Er war ein gut aussehender, junger Mann mit breiten Schultern, schmalen Hüften und einem gewinnenden Lächeln. Es war auf dem schwarz-weißen Druck nicht zu erkennen, aber es war bekannt, dass Victor glänzendes, blondes Haar und strahlend blaue Augen hatte. Sam erinnerte sich daran, dass er damals zu Ehren der Geburt des Thronfolgers einen Tag schulfrei gehabt hatte.

„Wenn Sorgen machen so aussieht wie hier, dann hätte ich diese Sorgen auch mal gerne“, bemerkte Sam trocken, denn auf dem Foto hatte Prinz Victor rechts und links jeweils eine bildhübsche Frau im Arm und zusätzlich ein Glas mit einer garantiert alkoholischen Flüssigkeit in der linken Hand. Außerdem bedachte er den Fotografen mit einem zähneblitzenden Lächeln.

„Was soll der Ärmste denn tun?“, widersprach Sophia. „Das war eine offizielle Verpflichtung. Er ist da bestimmt nicht hin, um zu feiern, sondern um die Krone zu repräsentieren.“

„Bei der Wiedereröffnung des renovierten Golf-Clubs? Sicher doch. Klingt unheimlich wichtig.“ Sam versuchte erst gar nicht, seine Verbitterung zu verbergen.

Eine kleine Falte zeigte sich auf Sophias Stirn. „Du solltest nicht so abfällig über ihn reden. Er wird eines Tages unser König sein.“

Sam zuckte nur mit den Schultern und musterte leidenschaftslos das Foto von Prinz Victor. Er hatte in den vergangenen Jahren mehr als genug Geschichten über das einzige Kind von Königin Victoria gehört. Victor war ein junger, reicher, arroganter Partylöwe und Weiberheld, oft betrunken und ohne jedes Verantwortungsbewusstsein und er war außerdem der Grund, warum Sam in die Hauptstadt musste.

Denn Prinz Victor war der Mann, den er nach dem Willen seines aktuellen Auftraggebers umbringen sollte. Selten hatte ihm ein Job mehr Genugtuung verschafft. Er freute sich schon darauf.

* * *

Das Abschiednehmen von seiner Familie hatte mehr Zeit in Anspruch genommen, als Sam das vorgesehen hatte. Zum Glück hatte er großzügig geplant und so konnte er sein Motorrad, wie er es vorgehabt hatte, bei Bertie stehen lassen und seinen Weg zu Fuß bestreiten. Er wusste leider nicht genau, ob die Polizei genügend Informationen über den Mink gesammelt hatte, um zu dem Schluss zu kommen, dass er über ein Motorrad verfügte und wie dieses aussah. Das Risiko war ihm letzten Endes zu groß gewesen, anhand seines Fahrzeugs enttarnt zu werden. So ließ er es lieber zurück, um sich zu Fuß auf den Weg nach Jamesburgh zu machen. Berties Angebot, ihm sein Fahrrad zu leihen, hatte er ausgeschlagen. Ein Fahrrad! Was nicht noch alles! Nein, da verzichtete er gerne drauf. Die paar Meilen würden ihn nicht umbringen. In etwas mehr als einer Stunde würde er die Hauptstadt erreicht haben.

Er verließ das Haus seines Bruders durch die hintere Tür. So konnte seine Familie im Ernstfall behaupten, sie hätten ihn seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Erst nach einem kleinen Umweg über Wiesen und verlassene Grundstücke betrat er die breite Hauptstraße und mischte sich dort unauffällig unter die Passanten. Da Deansbridge eine Universitätsstadt war, fielen Fremde glücklicherweise nicht auf. In Städten konnte man meist problemlos untertauchen, das wusste Sam aus Erfahrung – nur bei kleinen Dörfern, wo jeder jeden kannte, musste man sich vorsehen.

Die Luft war kühl, doch die Sonne schien warm auf ihn herab, während er Deansbridge verließ und der Straße folgte, die aus dem Ort hinausführte. Kaum hatte er das letzte Haus hinter sich gelassen, erstreckten sich links und rechts von der Straße ausgedehnte Ackerflächen. Ein Großteil der Ernte war eingebracht und die Äcker lagen zumeist brach. Nur hier und da erkannte er einzelne Felder mit grünen Schösslingen, deren erste, zarte Blättchen in langen, geraden Reihen wuchsen. Er tippte auf eine Art von Wintergetreide. Die bäuerliche, vermeintliche Idylle war eine bittere Notwendigkeit in einem Land, dessen Infrastruktur praktisch nicht existent war. Um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, war man dazu übergegangen, alles, was zum Überleben erforderlich war, vor der eigenen Haustür anzubauen, um nicht auf unzuverlässige Transporte angewiesen zu sein.

Hier in der malerischen Hügellandschaft der Lowlands standen der Landwirtschaft wenigstens ausreichende Flächen zur Verfügung, die für den Anbau von Getreide, Obst und Gemüse geeignet und mit einfachen Hilfsmitteln zu bewirtschaften waren. Je weiter man in den Norden – zu den Highlands – kam, desto schlechter waren die Bedingungen für den Ackerbau.

Einige Pferdefuhrwerke und kleine Transportfahrzeuge überholten ihn oder kamen ihm entgegen. Die wenigen Fußgänger, die ihm begegneten, waren in der entgegengesetzten Richtung unterwegs und nur zwei Fahrradfahrer strebten wie er auf die Hauptstadt zu. An einem Markttag war auf dieser Strecke sicher mehr Verkehr, doch Sam war es so recht. Er musste sich mit niemandem unterhalten und konnte in Gedanken ein letztes Mal den Plan durchgehen, der ihm von seinem Auftraggeber vorgeschlagen worden war und an dem er nichts auszusetzen gehabt hatte.

Sam war mit gefälschten Empfehlungsschreiben und ebenso gefälschten Papieren versorgt worden. Darüber hinaus war es seinem Auftraggeber auch gelungen für ihn einen Posten bei der Palastwache – den Guardsmen – zu beschaffen. Wie, das war Sam herzlich gleichgültig. Er musste nur noch dort auftauchen und alles andere würde seinen Gang gehen. Sobald er Teil der Wachmannschaft war, würde außer seinem Vorgesetzten niemand mehr auf ihn achten. Uniformen hatten das so an sich. Er wusste das aus eigener Erfahrung. Als uniformiertes Fußvolk verlor man für Außenstehende jegliche Individualität und ging in der Masse unter. Alles, was er dann noch brauchte, war eine Gelegenheit. Sollte heißen: ein Ort, an dem er mit dem Prinzen alleine war, eine Möglichkeit, die Tat unbemerkt durchzuführen und eine gute Chance, unbehelligt, unbeschadet und unerkannt zu entkommen. Das war der Knackpunkt an dem ganzen Plan und das Einzige, was Sam wirklich wichtig war: Er wollte mit dem Leben davonkommen. Um diese Kriterien zu erfüllen, würde er Zeit und Geduld brauchen. Aber davon hatte Sam jede Menge.

Die Straße führte einen sanften Hügel hinauf und als Sam dessen Scheitelpunkt erreicht hatte, war die Hauptstadt bereits zu sehen. Von seinem Bruder wusste er, dass die Stadt vor dem Unfall einen anderen Namen getragen hatte, doch der war in Vergessenheit geraten. Zu Ehren des geschätzten Oberhaupts des Bondwick Clans, James Taylor, war die Stadt in Jamesburgh umbenannt worden. Taylor hatte nach einer Zeit von Unruhe und Bürgerkrieg wieder Frieden über das Land gebracht und war zu König James VIII gekrönt worden. James VIII hatte schließlich in Jamesburgh seine ständige Residenz aufgeschlagen und es zur Hauptstadt von Schottland erklärt.

Sam blieb stehen und versuchte, Einzelheiten in dem Häusermeer zu erkennen, um sich zu orientieren. Von seinem Standpunkt aus war der Royal Palace jedoch nicht zu sehen und so gab er es auf. Es war vermutlich kein Problem, sich vor Ort durchzufragen. Bestimmt konnte ihm jeder Einwohner den richtigen Weg weisen.

Kapitel 2

In einem der lang gestreckten, hallenden Flure des Royal Palace herrschte Prinz Victor den Sekretär der Königin an: „Zum letzten Mal, Rosebank! Ich wünsche, meine Mutter zu sprechen.“

Die goldgerahmten, wertvollen Ölgemälde, die an der Wand gegenüber der Fensterreihe hingen, zeigten Porträts vergangener Herrscher und Adliger. Und alle schienen missbilligend auf den jüngsten Spross des Königshauses herabzublicken, der sich trotz seiner vornehmen Abstammung offensichtlich nicht zu benehmen wusste.

Rosebank, ein etwas schmächtiger Mann, dessen Schneider Anweisung hatte, in alle seine Jacketts Schulterpolster einzunähen, zuckte mit keiner Wimper. „Wie ich Ihrer Königlichen Hoheit bereits mehrfach versichert habe, ist das leider nicht möglich. Die Ärzte sind gerade bei Ihrer Majestät“, beteuerte er in gemessenem Tonfall.

Victor atmete konzentriert durch die Nase. „Wann sind die Ärzte mal nicht bei ihr?“, gab er zurück. Am Ende des Flures sah er die hohe, mit Blattgold verzierte Tür, welche in die Gemächer seiner Mutter führte. Es war nicht sehr weit. Möglichst unauffällig versuchte er, sein Körpergewicht zu verlagern und einen kleinen Schritt zur Seite zu machen.

Doch Rosebank schien das Manöver bemerkt zu haben, denn er machte die leichte Seitwärtsbewegung des Prinzen mit und vereitelte somit dessen Vorhaben, einfach an dem Sekretär vorbeizustürmen, um zur Königin zu gelangen.

„So nehmen Sie doch Vernunft an“, fuhr Rosebank begütigend fort.

Der Tonfall war weit davon entfernt, bei Victor die gewünschte beruhigende Wirkung zu entfalten. „Rosebank, Sie vergessen sich“, schleuderte er dem Sekretär kalt entgegen und musterte ihn von oben herab. „Und wenn Sie hundertmal der Privatsekretär meiner Mutter sind, so haben Sie doch kein Recht, mir den Zugang zu ihr zu verweigern.“

„Königliche Hoheit, ich …“, setzte Rosebank an, wurde jedoch von einer Bewegung hinter dem Prinzen abgelenkt, verstummte und neigte ehrerbietig den Kopf.

Victor drehte sich um und sah sich seinem Stiefvater Clarence gegenüber, der jovial lächelte.

„Aber, aber – was ist denn hier los? Man hört euch ja durch den halben Palast zanken.“ Sein schwarzer Schnurrbart, dessen dünne Enden mit viel Pomade in Form gehalten wurden, geriet dabei leicht ins Zittern wie ein dürres Blatt an einem Zweig.

Er ging um Victor herum und stellte sich neben Rosebank. Victor grub die Fingernägel in seine Handfläche, bis es schmerzte und der Drang, etwas Dummes zu tun, nachließ.

„Ich bitte um Vergebung, Königliche Hoheit“, entschuldigte sich Rosebank mit einem weiteren Neigen seines Kopfes zu dem Königsgemahl hin. „Ich habe nur versucht, Prinz Victor zu erklären, dass er im Augenblick nicht bei Ihrer Majestät vorsprechen kann.“

„Im Augenblick!“, brauste Victor auf. „Dass ich nicht lache! Das geht schon seit Wochen so!“

Die Weste aus bordeauxrotem – mit silbernen Fäden durchwirktem – Stoff spannte sich über Clarences wohlgerundeten Bauch, als er tief einatmete, sich zu seinem Stiefsohn vorbeugte und die Stimme senkte, als wäre es ein vertrauliches Gespräch unter vier Augen. „Victor, mein lieber Junge, du übertreibst etwas. Du hast deine liebe Mutter doch erst vor fünf Tagen gesehen. Glaub mir, ihr Zustand hat sich seither kein bisschen geändert – so sehr mich das auch betrübt. Ich verstehe ja völlig, dass du bei ihr sein willst, aber … die Sorge auf deinem Gesicht zu lesen, kann ihrer Genesung nicht zuträglich sein.“ Seine Mundwinkel zogen sich kummervoll nach unten, was zusammen mit seinem in die Höhe gezwirbelten Schnurrbart nahezu grotesk aussah. „Ich wollte es dir nicht sagen, aber nach deinem letzten Besuch hatte sie einen Rückfall. Es hat sie sehr bekümmert, dich so besorgt zu sehen.“

Diese Worte trafen Victor wie ein Schlag ins Gesicht. Betroffen sah er seinen Stiefvater an, der den Blick mit trauriger Miene und einem leichten Nicken erwiderte. Victors Mund war mit einem Mal trocken. Er schluckte krampfhaft und fragte leise: „Ist das wahr?“

„Warum sollte ich dich anlügen, mein lieber Junge? Was hätte ich davon?“

„Ich – ich weiß nicht“, murmelte Victor und sah zur Seite.

Die entstehende Pause nutzte Rosebank, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. Er wandte sich an den Prinzen. „Darf ich Königliche Hoheit daran erinnern, dass Sie in zwei Stunden bei Lady Angela zum Lunch erwartet werden?“

In Gedanken bei seiner schwerkranken Mutter und dem Umstand, dass seine Besuche ihr nicht guttaten, war Victor nicht ganz bei der Sache und zu aufgewühlt, um sich so zu benehmen, wie es sich für einen Prinzen geziemte. Er entgegnete daher reichlich flapsig und mit abfällig herabgezogenen Mundwinkeln: „Worum geht es dieses Mal? Versucht die heilige Angela, den Not leidenden Feldmäusen zu helfen? Oder will sie Spenden sammeln, um die Winterfütterung der hungernden, herrenlosen Katzen sicherzustellen? Vielleicht soll ich heute mal wieder einen Vortrag halten, wie die Armen in unserer Gesellschaft besser über die Runden kommen würden, wenn sie nur etwas sparsamer wären?“

Clarence schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Du solltest nicht so reden, Victor. Die Ansprache, die du neulich zu diesem Thema gehalten hast, war außerordentlich eloquent. Ich verstehe nicht, wie du nun …“

„Die Rede war von Rosebank!“, fiel Victor ihm aufgebracht ins Wort. „Ich habe sie nur abgelesen.“

Der Sekretär überging diesen Ausbruch geflissentlich und fuhr mit seinem Anliegen fort, als ob nichts gewesen wäre. „Lady Angela gibt heute ausnahmsweise keinen Charity-Lunch. Der Zweck Ihrer Anwesenheit dient nicht so sehr der Wohltätigkeit, als eher … dynastischen Interessen. Miss Grace Holbourne wird Ihre Tischdame sein, Königliche Hoheit.“

Victor blinzelte langsam und schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf. „Meine Mutter ist todkrank und ihr habt nichts Besseres im Sinn als mich zu verkuppeln?“, rief er fassungslos. „Ich habe im Augenblick wirklich andere Sorgen!“

„Die Sicherung der Thronfolge sollte Ihnen als Kronprinz Sorge genug sein“, erwiderte Rosebank mit sanfter Schärfe. „Durch die Erkrankung Ihrer Majestät ist es sogar wichtiger denn je, die Nachfolge zu gewährleisten. Das Geschlecht der Cunninghams ist seit der Thronbesteigung Ihres Großvaters, König Victor I., ein Garant für Stabilität und Sicherheit. Wenn die königliche Linie mit Ihnen endet, dann sind die Auswirkungen nicht abzusehen. Wollen Sie das Land durch Ihre beharrliche Weigerung, sich zu vermählen, in einen weiteren Bürgerkrieg stürzen?“

Victor hasste es, wenn er so in die Enge manövriert wurde. Natürlich wollte er keinen Krieg verursachen. Wer wollte das schon? Ihm war auch bewusst, dass er irgendwann heiraten und wenigstens ein Kind zeugen musste, um den Fortbestand der Monarchie zu sichern. Er hatte nur gehofft, es müsste nicht so bald sein. Bislang waren ihm nur gelegentlich einige geeignete junge Damen in den Weg geworfen worden, aber man hatte ihn in Ruhe gelassen, wenn er für keine von ihnen ein bleibendes Interesse signalisiert hatte. Er hatte angenommen, es würde genügen, sich bei allen möglichen Anlässen mit einer oder zwei hübschen Frauen im Arm ablichten zu lassen, um alle zufrieden zu stellen. Die Hoffnung, mit dieser Strategie noch einige Jahre lang durchzukommen, hatte sich offensichtlich als trügerisch erwiesen.

Rosebanks kleine Ansprache hatte Victor reichlich unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Er würde heiraten müssen. Und wenn er die Blicke der beiden Männer, die ihm gegenüberstanden, richtig deutete, dann galt: je eher, desto besser. Ihn schauderte. Der Wunsch, sich mit seiner Mutter zu beraten, war stärker denn je. Nach einem letzten, sehnsüchtigen Blick auf die Tür, die für ihn verschlossen bleiben würde, wandte er sich an Rosebank.

„Niemand will einen Bürgerkrieg“, erklärte er.

„Das freut mich, zu hören, Königliche Hoheit“, erwiderte Rosebank glattzüngig. „Bislang hat der Kronrat es hingenommen, dass Sie eine junge Dame nach der anderen abgelehnt haben. Obwohl sie alle als Königsgemahlin geeignet gewesen wären – und noch dazu kerngesund.“

Bevor Victor etwas erwidern konnte, räusperte sich Clarence vernehmlich und tätschelte Victor – ein wenig gönnerhaft – den Oberarm. „Du solltest dich jetzt vielleicht besser umziehen, mein lieber Junge. Du möchtest doch sicher nicht zu spät bei Lady Angela erscheinen.“

„Als ob es eine Rolle spielte, was ich möchte“, murmelte Victor laut genug, damit seine Bemerkung durchaus verstanden werden konnte, aber auch genauso gut ignoriert werden konnte, als wäre sie niemals getätigt worden.

Clarence und Rosebank zogen – wie von Victor erwartet – die Ignoranz-Variante vor und taten so, als hätten sie nichts gehört. Der Anstand gebot es, dass er sich mit einem knappen Kopfnicken von seinem Stiefvater verabschiedete, doch niemand konnte von ihm verlangen, dem Sekretär dieselbe Höflichkeit zuteilwerden zu lassen. Er drehte sich auf dem Absatz um und schlug den Weg zu seinen Gemächern ein. Das Geräusch seiner Schritte verhallte in dem langen Flur.

* * *

Anders als der Prinz, entfernte sich Clarence nicht, sondern blieb neben Rosebank stehen, was diesen dazu veranlasste, ebenfalls auszuharren. Kaum war Victor außer Sicht- und Hörweite, richtete Clarence mit gesenkter Stimme das Wort an den Sekretär. „Wie steht es um die Königin?“

Mit sorgenvoll gefurchter Stirn schüttelte Rosebank den Kopf. „Königliche Hoheit, ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Majestät immer noch im Koma liegt. Sie hat seit gestern das Bewusstsein nicht wiedererlangt.“

Clarence zog ein besticktes Taschentuch hervor und hielt es sich vor den Mund. „Wie lange werden wir es noch geheim halten können?“

„Meiner Einschätzung nach … nicht mehr lange.“

„Victor …“

„Dem Prinzen wird diese Nachricht zur gegebenen Zeit übermittelt werden.“

Clarence wischte sich mit dem Taschentuch über sein Gesicht und steckte es wieder ein. „Er wird erst in sechs Monaten 27 Jahre alt und damit thronmündig.“

Rosebank wiegte bedächtig mit dem Kopf. „Eine Regelung aus vergangenen Tagen, die nichtsdestoweniger immer noch Bestand hat. Im Falle eines Ablebens Ihrer Majestät wäre Prinz Victor somit erst nach seinem Geburtstag in der Lage, die Krone zu tragen. Damit ist ebenfalls ausgeschlossen, dass er während der derzeitigen, höchst bedauerlichen Handlungsunfähigkeit der Königin die Regierungsgeschäfte weiterführt.“

„Es ist also unabwendbar …“

„Einen Regenten einzusetzen“, vollendete Rosebank ohne zu Zögern den Satz. „Eine Aufgabe für die lediglich Sie in Betracht kommen“, schloss er und verneigte sich ehrerbietig vor dem Königsgemahl.

* * *

Das Echo seiner Schritte hallte Victor in den Ohren, als er den Weg zu seinen Gemächern im Westflügel einschlug. Seit er denken konnte, hatte er diese vier Räume bewohnt und sie waren ihm – besonders während seiner Teenager-Zeit – zu einem tröstlichen Zufluchtsort geworden. Auch heute übte die vertraute Umgebung ihre beruhigende Wirkung auf ihn aus. Nur hier konnte er wirklich er selbst sein. Nur hier konnte er frei atmen. Einen Moment blieb er in seinem Empfangszimmer stehen, genoss die Strahlen der schrägstehenden Sonne, die gefiltert durch die zarten Gardinen den Raum in weiches Licht tauchten. Sein Lieblingssessel in der Ecke schien förmlich nach ihm zu rufen. Am liebsten wäre er diesem Ruf gefolgt, um mit einem Buch aus den Regalen seiner eigenen, kleinen Bibliothek den restlichen Tag zu vertrödeln. Doch die Pflicht rief ebenfalls und ihm blieb keine Wahl. Mit schlurfenden Schritten ging er in sein Ankleidezimmer, wo ihn sein Kammerdiener Henry mit einer betont vorwurfsvollen Miene erwartete. Er trug die vorgeschriebene dunkelblaue Livree aller Palastbediensteten, nur sein Revers war mit einem zusätzlichen schmalen silbernen Streifen verziert, der seine Position hervorhob und seine grauen Schläfen betonte. Die Hände hinter seinem Rücken verschränkt, die hochgewachsene Gestalt steif aufgerichtet, musterte er Victor missbilligend.

„Wo warst du nur so lange? Es ist höchste Zeit, wenn wir dich noch halbwegs präsentabel herrichten wollen.“ Sein Blick glitt über den Prinzen hinweg und blieb schließlich an dessen Gesicht hängen. Er runzelte die Stirn. „Über wen hast du dich geärgert?“

Victor grinste schief. „Ist das so offensichtlich?“

„Für andere vielleicht nicht. Aber für mich schon.“

„Du kennst mich einfach zu gut.“

Der Kammerdiener trat näher, zog seine weißen Handschuhe aus und berührte mit seinen bloßen Fingern den Hals des Prinzen. „Wäre auch schlimm, wenn es anders wäre“, murmelte er dabei.

Victor bog bereitwillig seinen Kopf zur Seite, um die vertraute Berührung zuzulassen, um den tastenden Händen mehr Raum zu geben. Er seufzte leise und schloss die Augen.

„Und? Wer war es?“

„Wer war was?“

„Über wen du dich aufgeregt hast“, erläuterte Henry. „Oder nein, lass mich raten! Es war Rosebitch, richtig?“

Als sein Diener den Spottnamen benutzte, mit dem sie beide den Sekretär schon seit einiger Zeit bedachten, entschlüpfte Victor ein glucksendes Lachen. „Henry Michael Davenport“, tadelte er mit ironischem Unterton.

Henry zeigte sich unbeeindruckt. „Oje, alle meine Namen. Stecke ich jetzt in Schwierigkeiten?“ Er berührte Victors Stirn und Schläfe.

Der Prinz zuckte mit den Schultern. „Dafür bist du viel zu unentbehrlich.“ Er zwinkerte, wurde jedoch sofort wieder ernst. „Rosebitch wollte mich nicht zu meiner Mutter lassen. Wenn ich das nächste Mal mit ihr spreche werde ich ihr nahelegen, ihn zu entlassen. Dieser Kerl wird mit jedem Tag impertinenter.“

„Was war es dieses Mal?“, fragte Henry und zog Victor das Jackett aus. „Außer, dass er dich nicht zur Königin vorgelassen hat?“

„Ich soll heiraten“, erwiderte Victor. Sein Blick verdüsterte sich. Er wusste, er sollte sich weiter entkleiden, während der Diener sorgsam sein Sakko weghängte, doch seine Finger verharrten reglos an dem Verschluss seiner Hose.

„Mal wieder?“, warf Henry trocken ein, ohne Victor anzusehen. Er bürstete eine schwarze Hose aus, um auch noch die allerletzten Staubflusen zu entfernen. Er wandte sich Victor zu, um sie ihm zu reichen, und hielt in der Bewegung inne, als er die zusammengepressten Lippen des Prinzen wahrnahm.

„Ich fürchte, dieses Mal ist es ihnen ernst.“

„Ja – dann …“ Henry stockte, bevor er fortfuhr: „Dann wäre es von Vorteil, wenn es eine junge Dame wäre, die … Verständnis für deine … besondere Situation hat.“

Victor schwieg, schlüpfte schließlich doch noch aus seiner Hose, knüllte sie zusammen und warf sie mit Wucht in eine Ecke des Raumes.

Henry reichte ihm wortlos die neue Hose, die er die ganze Zeit in den Händen gehalten hatte, und Victor zog sie an. Eine Weile reichte Henry ihm stumm weitere Kleidungsstücke und half ihm am Ende, seine Krawatte gerade zu richten.

„Victor …“

Victor drehte seinen Kopf auf die Seite und starrte auf den spiegelnden Parkettfußboden. Seine Stimme hatte einen bitteren Klang. „Lass gut sein. Ich weiß, dass ich keinen Ausweg finden werde. Das Los eines Königs! Das eigene Glück spielt keine Rolle, wenn man der Diener des Volkes ist.“

„Deine Vorgänger haben sich in dieser Beziehung nicht gerade mit Ruhm bekleckert“, gab Henry trocken zurück.

„Henry“, mahnte Victor sanft. „Du redest hier auch von meiner Mutter.“

„Trotzdem“, beharrte der Diener, ohne mit der Wimper zu zucken. „Du wirst es besser machen.“

Victor schüttelte den Kopf. „Aus naheliegenden Gründen bin ich nicht besonders darauf erpicht, die Last der Krone allzu bald zu spüren.“

Henry räusperte sich verlegen und glitt für einen Augenblick wieder zurück in seine Rolle als ehrerbietiger Kammerdiener. Er deutete eine Verbeugung an. „Natürlich nicht.“ Er wartete einen Moment, in dem er Victor aufmerksam musterte. Da der nichts erwiderte, sondern nur gedankenverloren zum Fenster hinausstarrte, sprach Henry weiter: „Abgesehen von all dem – wie fühlst du dich?“

„Nicht besonders“, gab Victor zu. „Musst du das ernsthaft fragen?“

„Dann warte einen Moment. Ich mische dir etwas an.“ Henry entfernte sich durch eine gut getarnte kleine Tür, die ins Badezimmer führte.

Victor achtete nicht auf das sachte Klirren von Glas und Metalllöffel, mit denen Henry hantierte, sondern trat an das Fenster und sah hinaus auf die Parkanlagen, die sich auf der Rückseite des Palastes erstreckten. Noch war der hohe Zaun, der alles umgab, durch Büsche und Bäume verborgen. Lange würden die bunt leuchtenden Blätter jedoch nicht mehr an den Zweigen hängen. Bald würde es kalt und dunkel werden und die kahlen Äste würden sich wie die Arme von Ertrinkende in einen trüben, grauen Himmel recken.

Henrys Stimme riss Victor aus seinen unerquicklichen Gedanken.

„Hier, trink das, dann fühlst du dich besser.“ Er hielt ihm ein Glas hin, das zur Hälfte mit einer milchigen Flüssigkeit gefüllt war.

„Danke“, sagte Victor leicht geistesabwesend und nahm das Getränk entgegen. Doch bevor er es trank, musterte er seinen Diener über den Rand des Glases hinweg. „Schmeckt es so scheußlich wie immer?“

„Sag du es mir“, erwiderte Henry unbeeindruckt und beobachtete wie Victor das Getränk gehorsam schluckte und hinterher eine Grimasse zog.

„Ja. Genauso scheußlich. Aber … ich weiß nicht … diese Mischung fühlt sich nicht ganz so effektiv an, wie die, die du mir letzten Monat zusammengestellt hast.“

„Wenn du dieses Gefühl hast, dann wird es auch so sein. Ich kümmere mich gleich darum. Aber eins nach dem anderen. Vergiss nicht deine Pfefferminz-Pastillen.“ Er reichte Victor, der die Nase rümpfte, ein in grellbunten Farben auffällig verziertes Pillendöschen. Er betrachtete es mit einem leicht angeekelten Gesichtsausdruck und steckte es trotzdem in seine Hosentasche.

„Das ist mir alles so zuwider.“ Victor hatte nur halblaut vor sich hingemurmelt, doch Henry hatte ihn verstanden. Es war nicht das erste Mal, dass der Prinz diese Worte geäußert hatte.

„Ich wollte, ich könnte mehr für dich tun“, gab er mit ernster Miene genauso leise zurück.

Ein melancholisches Lächeln spielte um Victors Lippen. „Du tust schon genug. Ich wünschte nur …“ Er beendete den Satz nicht, sondern schüttelte den Kopf und sagte: „Ohne dich wäre alles vollkommen unerträglich.“

Statt einer Antwort strich Henry ihm eine ungebärdige Haarsträhne hinter das Ohr. „So. Jetzt siehst du präsentabel aus.“

„Was würde ich nur ohne dich tun?“, sagte Victor. Es war nur zur Hälfte ein Scherz und beide wussten das.

* * *

Je näher Sam der Hauptstadt kam, desto mehr Details konnte er ausmachen. Die einzelnen Gebäude verschwammen nicht länger im Graubraun des Häusermeers, sondern konnten nach Größe, Farbe und Form unterschieden werden. Es war bald Mittagszeit und Sam hielt nach den typischen Rauchfahnen der Kamine Ausschau, doch es waren keine zu sehen. Die Stromversorgung war hier – so nahe an der königlichen Residenz – wohl tatsächlich sicherer und besser. Offensichtlich musste nicht, wie in anderen Städten, auf Kohle, Holz oder gar Torf zurückgegriffen werden, um die Funktion von Herd und Heizung sicherzustellen.

Die Straße, der Sam folgte, wurde breiter und die Löcher in dem gesprungenen Asphalt waren immerhin mit grobem Kies ausgebessert worden.