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Jason Dubois will um jeden Preis der Star des Pariser Balletts werden. Doch um dieses Ziel zu erreichen, benötigt er dringend Hilfe. Denn obwohl technisch perfekt, fehlt es seinen Darbietungen an Ausdrucksstärke und Emotionalität. Diese Hilfe erhält er – wenn auch nicht ganz freiwillig – von Mike Collins, dessen vielversprechende Tanzkarriere vor einigen Jahren durch einen folgenschweren Unfall jäh beendet wurde. Obwohl Jason als schwierig gilt, arbeiten beide Männer beharrlich daran, Jasons Traum zu verwirklichen. Aus anfänglicher Abneigung wird schließlich Freundschaft – und vielleicht noch etwas mehr. Doch dann geschieht etwas Unvorhergesehenes, das alles, was Mike und Jason gemeinsam erreicht haben, zu zerstören droht.
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Seitenzahl: 331
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von J. L. Carlton
© dead soft verlag, Mettingen 2019
http://www.deadsoft.de
© the author
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com
Bildrechte:
© Master1305 – istockphotos.com
© Neirfy – shutterstock.com
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-283-0
ISBN 978-3-96089-284-7 (epub)
Jason Dubois will um jeden Preis der Star des Pariser Balletts werden. Doch um dieses Ziel zu erreichen, benötigt er dringend Hilfe. Denn obwohl technisch perfekt, fehlt es seinen Darbietungen an Ausdrucksstärke und Emotionalität. Diese Hilfe erhält er – wenn auch nicht ganz freiwillig – von Mike Collins, dessen vielversprechende Tanzkarriere vor einigen Jahren durch einen folgenschweren Unfall jäh beendet wurde. Obwohl Jason als schwierig gilt, arbeiten beide Männer beharrlich daran, Jasons Traum zu verwirklichen. Aus anfänglicher Abneigung wird schließlich Freundschaft – und vielleicht noch etwas mehr. Doch dann geschieht etwas Unvorhergesehenes, das alles, was Mike und Jason gemeinsam erreicht haben, zu zerstören droht.
Everything was beautiful at the ballet,
Raise your arms and someone's always there.
„At The Ballet“ – A Chorus Line (Musical)
When you're dancing
You're fantastic
All you're dressed in
Is elastic
You make art with
Trills and spins
Can't wait till the
Show begins
„Ballet Dancer“ – The Twins
Im Übungsraum des London Royal Ballet standen einige der jungen Männer des Corps de Ballet zusammen und beobachteten, wie Jason Dubois unter den Argusaugen ihres Ballettmeisters seinen Part der aktuellen Aufführung vervollkommnete. Tatsächlich gab es an Jasons Darbietung nichts zu bemängeln. Seine Bewegungen waren graziös und doch kraftvoll, voll schwebender Leichtigkeit und doch so exakt wie ein Uhrwerk. Ein dünner Schweißfilm glänzte auf seiner hellen Haut und seine dunklen Haare, die über den Ohren und im Nacken immer etwas zu lang waren und sich dort sanft wellten, begannen sich an den Spitzen zu feuchten Strähnen zu verkleben. Der Ausdruck auf seinem schmalen, scharfgeschnittenen Gesicht blieb während seiner Darbietung unbewegt, der Blick unter den halbgesenkten Lidern wirkte konzentriert, konnte jedoch auch als hochmütig interpretiert werden.
„Er tanzt wie ein Gott“, murmelte der jüngste der Männer und machte damit keinen Hehl aus seiner Bewunderung.
„Kann man leider nicht anders sagen“, bemerkte sein Nebenmann. Sein kritischer Gesichtsausdruck wandelte sich in puren Neid, als Jason eine komplexe Pirouette präzise und völlig fehlerfrei ausführte. „Warum kann er nicht einmal wenigstens ein kleines bisschen zittern?“, brummte er. „Nur einmal. Ist doch nicht zu viel verlangt. Sag du doch auch mal was“, wandte er sich an den Dritten ihrer kleinen Runde.
Die Miene des Angesprochenen war weit entfernt von offener Anbetung. „Wenigstens ist er ein Arsch.“
„Das glaube ich nicht!“, protestierte der Erste heftig.
„Küken, das ist heute deine erste Probe. Wart’s einfach ab.“ Der ältere Tänzer machte eine abwertende Handbewegung. „Gleich ist sein Pas de deux dran. Dann wirst du es mit eigenen Augen sehen.“
„Abgesehen davon kann Martin ihn auch deshalb nicht leiden, weil er mal kurz vor einer Premiere einen One-Night-Stand mit Jason hatte und weiter nichts draus geworden ist. Ich hätte dir gleich sagen können, dass er auf diese Art schon ein paar Kerle verschlissen hat, aber du wolltest ja nicht auf mich hören, stimmt’s Martin?“
„Halt die Klappe!“, fauchte Martin. „Jason ist ein Arsch. Das wirst du ja wohl nicht bestreiten wollen! Und so perfekt, wie immer alle tun, ist er auch nicht. Er tanzt meistens wie ein kalter Fisch.“
„Ja, da muss ich dir leider recht geben. Aber der Arsch von dem Arsch …“ Ein sehnsuchtsvolles Seufzen begleitete diese Worte.
Der Ballettmeister hatte zwischenzeitlich eine der Tänzerinnen herbeigerufen, die sich mit heruntergezogenen Mundwinkeln neben Jason in Position begab. Der junge Tänzer verfolgte die Übung mit offenem Mund, während die anderen Männer teils skeptisch, teils mit kaum verhohlener Schadenfreude das Paar beobachteten. Die ersten Schritte waren unspektakulär, die folgende Hebefigur perfekt ausgeführt, doch bei der abschließenden Drehung …
„Du bist so ein arroganter Scheißkerl!“, brüllte die Tänzerin wutentbrannt.
Anstatt sich in einer eleganten Endposition – gestützt durch die Hände ihres Partners – zu befinden, rappelte sie sich gerade aus einer Schräglage auf, die sicher mit einem Sturz geendet hätte, wenn Jason nicht im allerletzten Moment nach ihrem Handgelenk gegriffen und so ihren Fall aufgehalten hätte.
„Nichts passiert!“, wehrte sie den Ballettmeister ab, der zu ihr und Jason geeilt war.
Jason zog sie in die Höhe, wo sie mit zornrotem Gesicht vor ihm stand. Er jedoch verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie mit abwertend hochgezogenen Augenbrauen an.
„Du könntest dich wenigstens bei mir entschuldigen!“, schrie die Tänzerin Jason an.
„Dazu sehe ich keinen Grund.“
„Keinen …“, wiederholte sie fassungslos. „Du bist ein verdammtes Riesen-Arschloch! Du hättest mich nach der Drehung festhalten sollen! Du hast doch gesehen, dass ich zu viel Schwung draufhatte.“
„Mein Arm war genau dort, wo er hätte sein sollen. Es ist nicht meine Schuld, wenn du deine Drehung verhunzt und zu weit rechts stehst. Ich habe alles richtig gemacht.“
An diesem Punkt drängte sich der Ballettmeister zwischen das Paar. „Jason, ich habe wirklich genug von diesen Mätzchen! Mehr als genug! Das hört sofort auf!”
„Oder was?”, gab Jason gedehnt zurück. „Ihr ist überhaupt nichts passiert, außer, dass sie von mir gratis eine wertvolle Lektion gelernt hat.”
„Aber ihr hätte etwas passieren können!”
„Ich habe sie festgehalten, oder nicht? Und bis zur Aufführung wird sie gelernt haben, keine Fehler mehr zu machen. Bis jetzt ist das noch jeder meiner Partnerinnen gelungen.”
„Jason, ich rate dir noch ein Mal im Guten …”
Bevor der Ballettmeister noch mehr sagen konnte, betrat eine der Assistentinnen des Direktors den Übungsraum. Ihr Blick glitt suchend über die Köpfe der Tänzerinnen und Tänzer hinweg und blieb schließlich an Jason hängen.
„Jason Dubois“, rief sie mit lauter Stimme. „Du sollst sofort nach oben kommen. Der Direktor will dich sehen.“
Jasons Kopf drehte sich in ihre Richtung. „Jetzt?“
„Ja, jetzt.“
„Das ist es“, murmelte Jason. Sein durchtrainierter Körper streckte sich, sein Kinn hob sich noch ein wenig mehr in die Höhe. Ohne sich weiter um seine Partnerin oder den Ballettmeister zu kümmern, eilte er an der Assistentin vorbei und verließ den Übungsraum.
„Noch Fragen”, bemerkte Martin trocken und musterte den jungen Tänzer milde amüsiert, der die ganzen Vorgänge mit offenem Mund verfolgt hatte.
„Was war das denn gerade?”, stammelte er.
„Das war Jason Dubois in Hochform”, erwiderte Martin trocken.
Der junge Tänzer runzelte die Stirn. „Nein, nicht das. Das da eben. Die Assistentin. Warum soll er zum Direktor? Unser Ballettmeister hatte doch noch gar keine Möglichkeit, sich über ihn zu beschweren?”
Auch Martin zog nun seine Stirne kraus.
„Was wetten wir, dass der liebe Jason es trotz allem geschafft hat, nun endlich befördert zu werden?”, mischte sich ein anderer Tänzer ein.
„Glaubst du wirklich? Obwohl er auf der Bühne keinen Funken Emotion zeigt?”
Der andere Tänzer zuckte mit den Achseln. „Kann man nie wissen … Immerhin ist sein Onkel nicht irgendwer.”
* * *
Mit langen Sprüngen flog Jason die Stufen in das obere Stockwerk förmlich hinauf. Oben angelangt verlangsamte er seine Schritte. Obwohl er größere Anstrengungen gewohnt war, als eine simple Treppe zu erklimmen, atmete er hektisch ein und aus. Er legte eine Hand auf sein Brustbein und fühlte, wie sein Herz hämmerte. Es war ja auch kein Wunder. Diese Aufforderung des Direktors konnte eigentlich nur eines bedeuten: die langersehnte Ernennung zum Principal Dancer. Er hatte es endlich geschafft. Nach fünf langen Jahren. Jason wusste vor lauter Aufregung fast nicht mehr, wo oben und unten war.
Dennoch bezwang er sich und erst als sich seine Atmung beruhigt hatte, betrat er nach einem kurzen Klopfen das Büro des Direktors.
„Sie wollten mich sprechen?“, sagte Jason höflichkeitshalber.
„In der Tat“, erwiderte Foster. „Das wollte ich.“ Mit einer Handbewegung lud er Jason ein, Platz zu nehmen, doch der schüttelte den Kopf. Er war viel zu aufgeregt, um sitzen zu können. Foster zuckte kurz mit den Schultern und blätterte in einer Akte, die er aufgeschlagen vor sich liegen hatte. „Jason Dubois … Sie sind seit fünf Jahren bei uns und haben sich stetig hochgearbeitet. Begonnen haben Sie als Artist, dann First Artist, schließlich Soloist. Die letzten drei Jahre waren Sie First Soloist – erster Tänzer …“
„Ja, ich weiß“, unterbrach Jason. Er wusste das alles. Es war schließlich sein eigenes Leben.
„Natürlich“, bemerkte Foster unverbindlich. „Wie Sie auch wissen, verlässt uns Frederick Campbell, um seine Karriere beim Bolschoi fortzusetzen. Außerdem werden zwei weitere Principals aus Altersgründen aus dem Ensemble ausscheiden, beziehungsweise andere Rollen übernehmen. Dadurch sehe ich mich in der Lage, neue Tänzer für diese höchste Position zu nominieren.“
Jasons Zehen trommelten ein ungeduldiges Stakkato auf den Fußboden. Wann kam dieser Mann endlich auf den Punkt?
Foster räusperte sich. „Ich bin mir dessen völlig bewusst, dass Sie sich Hoffnungen machen, bei uns Solotänzer zu werden. In den letzten zwei Jahren habe ich Sie natürlich beobachtet. Wie alle anderen Tänzer auch. Im letzten halben Jahr habe ich Ihre Fortschritte besonders verfolgt. Ich habe mich mit unserer Choreographin beraten. Und ich wollte Sie über meine Absichten nicht länger im Dunkeln lassen.“
Sag es endlich, dachte Jason. Sag endlich, dass ich Principal werde. Sag es, verdammt!
„Ihre Technik … Ihre Fähigkeiten sind herausragend. Ihre Begabung ist außergewöhnlich.“ Foster atmete tief durch und Jason rieb hinter seinem Rücken mit dem Nagel seines Mittelfingers über seinen Daumennagel. „Doch solange ich hier Direktor bin, werde ich Sie niemals zum Principal befördern.“
Kälte explodierte in Jasons Körpermitte und breitete sich in alle seine Gliedmaßen aus. „Was?“, flüsterte er mit rauer Stimme.
Foster lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ich dachte, es wäre fair, Sie nicht Jahr für Jahr hinzuhalten, sondern mit offenen Karten zu spielen. Als First Soloist sind Sie unglaublich, aber …“
Jason wartete das Ende des Satzes nicht ab. Er drehte sich abrupt und mit dem Flair eines erstklassigen Tänzers um, verließ den Raum mit langen, energischen Schritten und warf die Tür hinter sich mit einem lauten Knall ins Schloss.
Als er wieder klar denken konnte, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass er auf der Straße stand und immer noch seine Trainingskleidung trug. Regen prasselte auf ihn herab und er erntete einige skeptische Blicke. Er war ihm völlig gleichgültig.
BALLET MIRROR – 03. April
+++ EILMELDUNG +++
Wie wir kurz vor Redaktionsschluss erfahren haben, wurde Jason Dubois – das bekannte Ausnahmetalent der Ballett-Szene – dabei gesehen, wie er in Trainingskleidung quer über die Bow Street rannte, bevor er in ein Taxi stieg. Er hat damit einiges Aufsehen erregt, denn ein kräftiger Regenschauer sorgte dafür, dass in Bezug auf Duboisʼ Unterwäsche der Phantasie nicht mehr viel überlassen wurde. Man darf sich fragen, womit er die Taxifahrt bezahlt hat, denn eine Geldbörse trug er offensichtlich nicht bei sich. Was der Auslöser für diese spektakuläre Aktion war – darüber können zurzeit nur Vermutungen angestellt werden. Laut Informationen, die BALLET MIRROR jedoch von einigen Insidern erhielt, muss es im Vorfeld zu einem Streit zwischen Direktor Nick Foster und Jason Dubois gekommen sein. Sollte sich Dubois zu einem unbelehrbaren enfant terrible entwickeln? Bislang hat es hierfür kaum Anzeichen gegeben, doch schon seit einiger Zeit wird Dubois hinter vorgehaltener Hand als „schwierig“ bezeichnet.
DANCE NEWS – 15. April
In einer Pressemitteilung vom 10. April hat das London Royal Ballet bekanntgegeben, dass der Vertrag mit Jason Dubois gelöst wurde. Seine Rollen im aktuellen Spielplan wird Thomas Hendrik übernehmen, der nach seinem ersten berührenden Auftritt vor einigen Tagen offiziell zum First Soloist ernannt wurde.
„Oh Gott!“, murmelte Jason, nachdem er auf das Klingeln an seiner Wohnung die Tür geöffnet hatte und sah, wer davor stand.
„Nicht ganz“, korrigierte Sir David Robertson, siebter Baronet of Chilham. „Nicht Gott. Nur dein Onkel.“
„Verschwinde“, knurrte Jason und versuchte, die Tür zuzuschlagen. Doch David war schneller und hielt eine zusammengefaltete Zeitung in den Türrahmen.
Jason kapitulierte. „Nette Idee“, sagte er mit einem widerwillig anerkennenden Kopfnicken in Richtung Zeitung.
„Ich lerne aus meinen Fehlern. Lässt du mich rein oder soll das ganze Haus hören, was ich dir zu sagen habe?“
„Mir egal“, erklärte Jason mürrisch, trat jedoch beiseite und ließ seinen Onkel ein. „Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?“, fragte er sarkastisch. „Muss was Wichtiges sein – du hättest sonst kaum deinen feudalen Landsitz verlassen und den ganzen weiten Weg von Canterbury bis nach London auf dich genommen.“ Er ging ins Wohnzimmer, David folgte ihm.
„So unangenehm es mir ist, dich enttäuschen zu müssen … Charles eröffnet morgen seine Galerie. Es ist somit ein glücklicher Umstand, dass ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen kann.“
Jason verdrehte die Augen und fläzte sich auf das Sofa. „Dann komm endlich auf den Punkt und nerv mich nicht länger als unbedingt nötig.“
David nahm auf dem Sessel neben dem Sofa Platz und schlug die Beine übereinander. Nachdenklich betrachtete er das Profil seines Neffen. Jason war ein gutaussehender, junger Mann. Außer, wenn er – so wie jetzt – einen hochmütigen Ausdruck zur Schau trug und dabei wirkte, als röche er etwas besonders Widerliches.
„Mir wurde zugetragen …“, begann David, nur um von Jason unterbrochen zu werden.
„Kelly hat gepetzt“, stellte er mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck fest. „Hätte ich mir denken können.“
„Dein Manager hat nur seine Pflicht getan.“
„Wenn er wirklich mein Manager wäre, dann würde er tun, was ich ihm sage.“
„Wenn du so großen Wert darauf legst – bitte. Du darfst sein Gehalt gerne selbst bezahlen.“
Jason murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.
„Möchtest du das wiederholen?“, fragte David barsch.
„Nicht wirklich“, gab Jason mürrisch zurück.
David zupfte energisch seine Manschetten zurecht. „Ich wünschte, du würdest aufhören, Eugene bei diesem seltsamen Spitznamen zu nennen.” Er wartete, ob Jason darauf in irgendeiner Form reagierte, doch er erntete nur ein vages Schulterzucken und fuhr daher fort: „Wie auch immer – so lange Eugene als dein Manager bei mir unter Vertrag steht und nicht bei dir, tut er nichts Falsches, wenn er mir von deinen Eskapaden berichtet.“
„Das waren keine Eskapaden.“
„Nach dem, was ich gehört und gelesen habe, bist du aus dem Büro des Direktors gestürmt und hast das Gebäude verlassen. In deiner Ballettkleidung. Einfach so. Ohne ein einziges Wort. Und seitdem hast du durch Abwesenheit geglänzt. Du hättest dir in diesem eiskalten Regen den Tod holen können.“
„Ich bin einfach nicht mehr hin. Keine große Sache.“ Jason zuckte lässig mit den Schultern.
„Keine große …“ David atmete tief durch und fuhr mühsam beherrscht fort: „Und dass dein Vertrag mit dem Royal Ballet deshalb aufgelöst wurde, ist also auch keine große Sache?“
Jasons Augen verengten sich und seine Lippen zogen sich zu einem schmalen Strich zusammen.
„Warum ich hier bin und dich mit meiner Gegenwart offensichtlich anöde, hat seinen Grund darin, dass ich wissen will, warum du so etwas Dummes getan hast.“
Ein überhebliches Schniefen war Jasons einige Reaktion.
„Ich gehe hier nicht eher weg, bis …“
„Du willst wissen, warum ich einfach gegangen bin? Ich werde dir sagen warum! Ich bin gegangen, weil ich dort nie zum PrincipalDancer aufsteigen werde“, spie Jason voller Bitterkeit aus.
Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen starrte David seinen Neffen an. „Wie bitte?“
„Du hörst ganz richtig“, bestätigte Jason mit grimmiger Befriedigung.
„Aber – aber warum denn nur?“
„Keine Ahnung!“, brauste Jason auf. „Ich bin gegangen, bevor Foster mit seiner netten, kleinen Ansprache fertig war. Und es ist mir auch egal. Ich bin der verdammt beste Tänzer, den sie je gesehen haben und sie weigern sich … Sie weigern sich einfach, meine Leistung anzuerkennen.“ Er knirschte mit den Zähnen.
Sein Onkel starrte ihn mit besorgter Fassungslosigkeit an. „Eine Rückkehr scheint mir damit tatsächlich ausgeschlossen“, bemerkte er nach einer Weile bedächtig. „Du bist der technisch brillanteste Tänzer, den ich kenne. Und das sage ich nicht nur, weil ich dein Onkel bin. Du weißt, ich schmeichle höchst selten.“
Ein müdes Lächeln huschte über Jasons Lippen. „Du schmeichelst ständig. Aber ich bin tatsächlich der brillanteste Tänzer, den diese Ignoranten jemals unter Vertrag hatten.“
„Und nicht nur das”, entgegnete sein Onkel leichthin. „Du bist auch der egozentrischste Tänzer, den ich kenne.” Er ging nicht auf den bösen Blick seines Neffen ein. „Und jetzt? Wie soll es jetzt weitergehen?“, fragte er stattdessen.
Der böse Blick verschwand so schnell, wie er gekommen war. „Oh, ich werde dort unterschreiben, wo mir die besten Konditionen geboten werden, natürlich“, gab Jason lässig zurück.
„Wenn man dich so hört, sollte man meinen, Eugene würde in Angeboten und Anfragen bezüglich deiner Person geradezu ertrinken“, spöttelte David.
Unruhig geworden, rutschte Jason ein wenig auf dem Sofa herum.
„Jason, ich habe mit Eugene gesprochen. Wir wissen alle drei, dass für einen Tänzer deiner Klasse im Augenblick nur drei Ensembles in Frage kommen. London, Moskau, Paris. An London brauchen wir nach deinem Verhalten keinen Gedanken mehr zu verschwenden. Bleiben noch Moskau und Paris.“
„Campbell geht auch zum Bolschoi. Ich denke …“
„Nein, das denke ich nicht“, unterbrach David ihn. „Du hast dich dort letztes Jahr beworben und vorgetanzt. Du weißt sicher noch, wie das ausgegangen ist.“
Jason biss sich auf die Lippen und wandte den Blick ab.
„Sie wollten dich damals nicht“, fuhr David unbarmherzig fort. „Und ich sehe nicht, dass sie dir jetzt die Tür einrennen.“
„Dann eben Paris.“
„Als ob das so einfach wäre. Du weißt doch selbst, wie streng sie sind. Schließlich warst du selbst als Jugendlicher dort auf der Ballettschule.“
„Ich erfülle die Bedingungen“, warf Jason mit einem gehetzten Gesichtsausdruck ein. „Ich habe damals nicht nur die geforderten letzten zwei Jahre bis zum Abschluss an ihrer Ballettschule absolviert, sondern sogar die letzten drei Jahre. Ich war der Jahrgangsbeste. Sie hätten mich bestimmt in das Corps de Ballet aufgenommen, wenn ich zum Vortanzen angetreten wäre, anstatt direkt nach London zurück zu kommen und dort im Royal Ballet anzufangen.“
„Du warst der Jahrgangsbeste, das stimmt. Aber das ist fünf Jahre her …“
„Ich weiß, sie nehmen fast nur Franzosen auf, aber immerhin war meine Mutter Französin! Das muss doch …“, murmelte Jason halb in Gedanken vor sich hin.
„Müssen wir unbedingt über sie reden?“, fragte David mit einem gequälten Gesichtsausdruck. „Genügt es dir nicht, dass du unter ihrem Namen Karriere machst?“
„Es ist nicht mein Problem, dass du sie immer noch nicht leiden kannst“, gab Jason kalt zurück. „Sie ist tot! Herrgott nochmal!“
„Und du hast absichtlich ihren Namen angenommen, nur um mich damit zu ärgern!“
„Gewöhn dich daran.“
Durch jahrelange Übung folgte dieses spezielle Gespräch einer vorherbestimmten Choreographie und zeichnete sich durch eine gewisse Routine aus, die dazu führte, dass die Diskussion meist gar nicht mehr bis zum Ende geführt werden musste. Jeder der Kontrahenten kannte seine Rolle darin und wusste, was der jeweils andere zu sagen hatte. Auch heute verstummten beide Männer, bevor der Streit noch richtig begonnen hatte.
David faltete seine Hände im Schoß. Seine Mundwinkel zuckten verärgert. Jason starrte auf den Fußboden. Einige Minuten vergingen schweigend.
„Es wird schwierig sein – vielleicht sogar unmöglich – in Paris angenommen zu werden“, brach David schließlich die Stille. „Das jährliche Vortanzen findet im November statt. Du hättest also noch ausreichend Zeit, um dich vorzubereiten. Ein solcher Quereinstieg, wie du ihn vorhast, ist nicht das übliche Vorgehen. Aber die Voraussetzungen, um als Premier Danseur anzufangen, hast du allemal.“
„Premier Danseur?“ Jasons Kopf ruckte nach oben. Er starrte David mit einem wilden Ausdruck in den Augen an. „Nein – das kannst du vergessen! Das wäre exakt derselbe Rang, den ich im Royal Ballet hatte. Wenn ich nach Paris gehe, dann nur als Danseur Étoile. Die Krone der Ballett-Welt.“
„Das ist nicht dein Ernst!“ David lachte auf, dann stutzte er. Jasons Gesichtsausdruck hatte nichts von der wilden Bestimmtheit eingebüßt. „Es ist dein Ernst.“ Er stöhnte, stellte beide Füße auf den Boden und beugte sich in seinem Sessel nach vorne. „Jason – das geht nicht! Du weißt genauso gut wie ich, dass die Étoiles nicht vortanzen, sondern genau wie die Principals ernannt werden. Das ist in Paris nicht anders als in London.“
„Ich weiß“, erwiderte Jason halsstarrig. „Aber du kennst Gott und die Welt und alle schulden sie dir einen Gefallen. Mach was. Es ist mir egal, wie du es anstellst, Onkelchen, aber ich werde mich nicht noch einmal abspeisen lassen. Ich bin der Beste und ich will den Rang einnehmen, der mir zusteht.“
David sank zurück in den Sessel. „Von mir hast du diese beispiellose Arroganz nicht“, bemerkte er verwundert. „So langsam erhärtet sich mein Verdacht, warum dich das Bolschoi nicht nehmen wollte.“
Jason überging diesen Einwand. „Ich brauche nur eine Chance. Eine Chance, mich zu beweisen. Danach werden sie mich in Paris mit Kusshand nehmen. Willst du mir nun helfen, oder nicht?“
„Ich werde dir helfen. Ich werde dazu garantiert alle Gefallen einfordern müssen, die mir jemals jemand geschuldet hat, und es wird mich vermutlich das letzte Hemd kosten, aber ich werde es tun, weil ich von deiner Begabung und von deinem Können überzeugt bin.“
„Falls diese modische Geschmacksverirrung, die du gerade trägst, dein letztes Hemd sein sollte, dann wäre es darum nicht schade.“ Jason deutete mit einem Grinsen auf Davids pflaumenblauen Anzug, zu dem er eine wildgemusterte pinkfarbene Krawatte trug.
„Normale Menschen sagen Danke.“
„Normale Menschen vielleicht. Ich warte noch auf die Auflistung der Bedingungen.“
„Ich werde sie dir zu gegebener Zeit mitteilen“, gab David humorlos zurück. „Und vergiss in der Zwischenzeit nicht, dass dein Plan B ein zweitklassiges Ballett-Ensemble in Südamerika sein könnte.“
BALLET MIRROR – 03.Mai
Pariser Ballett unter neuer Leitung!
(…) die an Skandalen reiche – nur zweijährige – Amtszeit des umstrittenen Alan Malchamps hat nun endlich nach zahlreichen Querelen ein vorzeitiges Ende gefunden. Seine Nachfolgerin wird die ehemalige Primaballerina Odette Lafleur, deren unerreichte Darstellung der Kameliendame jeden zu Tränen rührte und daher zurecht immer noch unvergessen ist. BALLET MIRROR wurde vor einigen Jahren die Gunst zuteil, von Madame Lafleur höchstpersönlich durch ihre private Kunstsammlung geführt zu werden, die neben erlesenen Gemälden auch zahlreiche Skulpturen beherbergt und (…)
+ + +
Wo ist Jason Dubois?
Nach seinem letzten aufsehenerregenden Auftritt in durchnässter Ballett-Kleidung in Covent Garden wurde Jason Dubois nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Auch für gewöhnlich gut unterrichtete Kreise ist sein gegenwärtiger Aufenthaltsort ein ungelüftetes Geheimnis. Hat sich der exzentrische Tänzer womöglich selbst in eine Klinik eingewiesen, um seine Temperamentsausbrüche in den Griff zu bekommen? Im Augenblick muss es bei Spekulationen bleiben.
„Mike, hier ist die Liste mit den Anmeldungen für den Anfängerkurs nächste Woche.“
Mike Collins sah von seiner Arbeit an dem altmodischen Schreibtisch auf und nahm den Zettel aus der Hand seiner Mutter entgegen. Das kleine Büro füllte sich rasend schnell mit dem betäubenden Duft von Margarets Lieblingsparfüm, das sie heute besonders verschwenderisch aufgetragen hatte, und dem leicht stechenden Geruch ihres Haarsprays, mit dem sie ihre blondierte Dauerwelle – deren Fasson in den letzten 20 Jahren stets unverändert geblieben war – nicht minder großzügig bedacht hatte.
„Danke, Mum.“ Mike überflog die Namen und versuchte, möglichst flach zu atmen. Wieder zu viele einzelne Frauen. Er sah von der Liste auf und warf seiner Mutter einen sprechenden Blick zu.
„Ja, ich weiß. Ich habe es auch gesehen. Ich habe schließlich Augen im Kopf. Es sind wieder zu viele Einzel-Damen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Und wenn schon. Dann musst du eben bei den Fortgeschrittenen nachfragen, ob es unter den Herren Freiwillige gibt, die uns aushelfen können.“
Mike stützte einen Ellbogen auf und kratzte sich am Kopf. „Das war schon beim letzten Kurs verdammt knapp. Das kann nicht ewig …“
„Papperlapapp.“ Margaret Collins machte eine wegwerfende Handbewegung. „Bis jetzt hat es immer geklappt. Warum soll es ausgerechnet dieses Mal nicht klappen?“
„Ich wollte nur mal erwähnen, dass wir eventuell einigen Damen absagen müssen, wenn wir nicht genügend Herren auftreiben können. Was das bedeutet, ist dir ja wohl hoffentlich klar.“
Margarets Augen weiteten sich. „Wie sprichst du eigentlich mit deiner Mutter?“
„Klartext. Ich spreche Klartext mit dir, weil ich manchmal Zweifel habe, ob du dir über den Ernst der Lage im Klaren bist. Die Tanzschule läuft mies und in der Kasse herrscht seit Jahren chronische Ebbe.“ Mike fuhr sich mit beiden Händen durch seine kurzen dunkelblonden Haare, doch die unangenehme Tatsache, dass er seiner Mutter ebenfalls nur auf der Tasche lag, ließ sich nicht so einfach aus seinen Gedanken vertreiben.
Die Ballettstunden, die er anbot, erfreuten sich nicht gerade besonders großer Beliebtheit und trugen kaum etwas zur Deckung der gesamten Kosten bei. Wenn nicht bald ein Wunder passierte oder wenigstens ein zweites Dirty Dancing im Kino anlief und einen neuen Tanz-Boom und einen Run auf die Tanzschulen auslöste, sah es für die Zukunft tatsächlich finster aus. Es war jetzt schon schwierig, die Gehälter für die Tanzlehrer Rose und Timothy zu bezahlen, von denen letzterer sogar nur am Wochenende einige Kurse leitete.
„Du redest schon fast so daher wie dieser ekelhafte Mensch von der Bank.“ Seine Mutter schniefte.
„Bank?“ Mike wurde hellhörig. „Du warst bei der Bank? Was haben sie gesagt? Wie hoch sind die Schulden mittlerweile?“
„Damit musst du dich nicht belasten“, erklärte sie in einem Tonfall, der klarmachte, dass sie nicht gewillt war, über dieses Thema mit ihrem Sohn zu sprechen.
Mike saugte an der Innenseite seiner Wange, versuchte sich zu beruhigen und sagte dann doch etwas. „Mum, ich werde nächstes Jahr 30! Ich bin kein kleiner Junge mehr mit aufgeschürften Knien.“
Ihr Blick wurde für einen Moment schärfer und richtete sich auf die Stelle des Schreibtisches, unter der sich sein rechtes Knie befinden musste. Er senkte beschämt den Kopf und rieb sich automatisch über den Oberschenkel, der auch prompt begann, zu schmerzen, jetzt da er wieder daran erinnert worden war.
„Trotzdem …“, murmelte er lahm. „Du könntest mich ruhig in alles einweihen und …“
Doch Margaret hörte ihm nicht mehr zu. Sie suchte in den Taschen ihres Kleides nach einem Taschentuch. Als sie es gefunden hatte, putzte sie sich mit einem ziemlich prosaischen Geräusch die Nase, nur um sich dann umso graziöser die Augenwinkel zu betupfen. „Als dein Vater noch gelebt hat, war alles einfacher.“ Sie schniefte erneut. „Da hätten es diese Kerle von der Bank nicht gewagt, so frech zu werden.“
Mike atmete tief aus. „Mum, als Paps noch gelebt hat … da hat die Tanzschule auch noch Gewinn gemacht. Heute allerdings …“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah sich um. Die Einrichtung der Tanzschule, die seine Eltern vor Jahrzehnten und unter großen Mühen ins Leben gerufen hatten, war veraltet und einfach nicht mehr zeitgemäß. Eigentlich sollte dringend renoviert werden, um so vielleicht wieder mehr junge Menschen anzusprechen.
„Wir müssen mit der Zeit gehen und Kurse für moderne Tänze anbieten. Streetdance oder Hip-Hop oder so was in der Art. Was eben bei den Kids gerade angesagt ist“, äußerte er nachdrücklich, obwohl er schon von vorneherein wusste, dass er auf verlorenem Posten kämpfte. Seine Mutter hatte sich schon früher geweigert, sich und das Angebot ihrer Schule anzupassen. Während ihrer Jugend war die Disco-Welle gerollt wie verrückt, doch sie hatte sich trotzdem irgendwann auf Eins-zwei-Cha-Cha-Cha eingeschossen und jeden neuen Trend einfach abgetan.
Ihre Mundwinkel bogen sich verächtlich nach unten. „Du redest schon wie deine Schwester!“
Mike biss sich kurz auf die Lippen, bevor es aus ihm herausbrach: „Weil sie verdammt noch mal recht hatte! Wenn wir in der heutigen Zeit überleben wollen, müssen wir uns und unser Angebot anpassen!“
„Weil Marie-Louise auch so gut über alles Bescheid weiß“, stieß Margaret giftig wie immer hervor, wenn die Sprache auf Mikes Schwester kam. „Dann hatte sie womöglich auch damit recht, als sie einfach mit diesem Zirkusclown durchgebrannt ist und mich im Stich gelassen hat.“
„Er war kein Zirkusclown. Er war Zirkusdirektor“, korrigierte Mike mit matter Stimme, obwohl er wusste, dass sein gewohnheitsmäßiger Einwand keine Beachtung finden würde.
„Sie hat mich im Stich gelassen!“, beharrte Margaret und darüber konnte man nicht debattieren, denn es entsprach den Tatsachen. Anstatt weiter in der Tanzschule die Lateinamerikanischen Tänze und Rock ʼnʼ Roll zu unterrichten, war sie eines schönen Tages mit einem Wanderzirkus mitgereist, weil sie sich unsterblich in den Chef verliebt hatte. Vielleicht auch, weil Marie-Louise und ihre Mutter nie wirklich miteinander ausgekommen waren. Zwischen den beiden Frauen waren – seit Mike denken konnte – mit schöner Regelmäßigkeit die Fetzen geflogen. Auch nachdem es nach kurzer Zeit mit dem Zirkusdirektor aus und vorbei gewesen war, war seine Schwester trotzdem nicht nach Hause zurückgekommen, sondern war weiter fröhlich durch die Welt – und von Mann zu Mann – gezogen.
„Trotzdem“, versuchte es Mike erneut und wieder fand er kein Gehör.
„Du weißt genau, dass wir uns keine neuen Tanzlehrer für dieses angeblich ach so moderne Gehopse leisten können.“
Mike kapitulierte. Gegen dieses Argument kam er nicht an. Die Gehaltsansprüche neuer Tanzlehrer würden tatsächlich jenseits von dem liegen, was sich seine Mutter mit ihren Einnahmen und ihrer Witwenrente leisten konnte. Es war ein Teufelskreis.
„Okay, ich kümmere mich um Gastherren für den Anfängerkurs. Zufrieden?“, lenkte er ein.
„Das war alles, was ich wollte“, erklärte Margaret und sah auf ihre Armbanduhr. „Ach herrje – der Walzerkurs für Hochzeitspaare fängt gleich an.“ Mit diesen Worten rauschte sie aus dem kleinen Büro und ließ nur ihre Parfümwolke zurück.
Mike versuchte, durch heftiges Wedeln mit der Anmelde-Liste den aufdringlichen Duft von sich fernzuhalten. Vergeblich. Er ergab sich in sein Schicksal. Aufstehen, um ein Fenster zu öffnen war im Augenblick keine Option, jetzt da sein Bein wieder angefangen hatte, zu schmerzen.
Sein Blick glitt zu der Wand, an dem ein schwarzgerahmtes Bild seines Vaters hing. Paps fehlte wirklich an allen Ecken und Enden. Er war die gute Seele der Tanzschule gewesen, der innovative Geist, der unerschütterliche Optimist. Bei dem Versuch, seinen Vater in jeder Hinsicht zu ersetzen, scheiterte Mike. Dass er um sein eigenes Scheitern wusste, machte die ganze Sache nicht besser.
Nur einmal ein kleines bisschen Glück, dachte er. Nur ein einziges Mal. Zum Beispiel jetzt. Jetzt wäre echt ein guter Zeitpunkt.
Diesen Moment wählte das Telefon auf seinem Schreibtisch, um zu klingeln und Mike lachte. Sein Lachen hatte jedoch einen verzweifelten Unterton.
Er hob ab und meldete sich. „Tanzschule Collins. Was kann ich für Sie tun?“
„Hallo Mike! Ich bin’s, Kelly. Erinnerst du dich noch an mich?“
Die Gegenwart verschwamm vor Mikes Augen und er versank in einer Zeit, in der er noch selbst als Balletttänzer auf der Bühne gestanden hatte.
„Meine Güte, Kelly! Wie lange ist das her?“, rief er, sobald er sich wieder gefasst hatte, und sich sicher sein konnte, dass seine Stimme nicht zitterte.
„Müssen wohl sechs oder sieben Jahre sein.“
„Ein bisschen mehr als sieben Jahre. Der widerspenstigen Zähmung … Das war fast genau zwei Jahre bevor ich … aufgehört habe.“
„Du warst damals wirklich gut.“
„Ich war einer der vier Diener von Petrucchio“, wehrte Mike mit einem halben Lachen ab. „Nicht wirklich aufregend.“
„Du warst gut“, erklärte Kelly mit Nachdruck. „Ich war damals auch nur Assistent des Choreographen und Mädchen für alles.“
„Du hast deine Chance genutzt.“
„Na ja … ich bin irgendwie immer noch Mädchen für alles. Aber immerhin bin ich das jetzt für Jason Dubois. Und damit wären wir dann auch schon beim Grund für meinen Anruf.“
Mike hielt die Luft an. Natürlich wusste er, dass Kelly schon seit einigen Jahren ausschließlich für Jason Dubois arbeitete. War das das Wunder, worauf er gehofft, das er herbeigesehnt hatte? Aber was konnte Kelly – oder Jason Dubois – nur von ihm wollen? Ausgerechnet von ihm? Er hatte seit Jahren keine Bühne mehr betreten.
„Sir David möchte dich sehen“, fuhr Kelly fort.
„Sir David“, wiederholte Mike. Er musste verwirrt geklungen haben, denn Kelly beeilte sich, seine Äußerung näher zu erläutern.
„Sir David Robertson. Jasons Onkel.“
„Kelly, ich weiß, wer Sir David ist. Jeder, der ab und zu den Teil Kunst und Kultur in der Zeitung liest, weiß, wer Sir David ist. Was ich nicht weiß – was will Sir David ausgerechnet von mir?“
„Das soll er dir am besten selbst sagen.“
Mike fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Die andere Hand presste den Hörer des Telefons so stark gegen sein Ohr, dass es fast schon weh tat. „Kelly! Verdammt! Sag’ mir doch einfach …“
„Bedaure.“ Kelly blieb hart. „Sir David will dir das Angebot selbst machen und ich werde einen Teufel tun und ihm zuvorkommen.“
„Angebot?“, echote Mike mit schwacher, hoffnungsvoller Stimme. „Es geht also um einen Job?“
Kelly grummelte leise etwas vor sich hin. „Halt einfach deine Klappe und tu überrascht, ja? Sir David erwartet dich morgen auf seinem Landsitz in Canterbury. Hast du was zu schreiben? Ich gebe dir die genaue Anschrift. Du hast doch ein Navi in deinem Auto?“
„Ja, ich … natürlich hab ich ein Navi“, murmelte Mike hektisch und kritzelte die Adresse, die Kelly ihm diktierte, quer über die Anmeldeliste des Anfängerkurses.
„Sehr gut. Also bis morgen. 14 Uhr. Sei auf alle Fälle pünktlich.“
„Ja … ich meine … nein … ich … Danke, Kelly.“
„Nichts zu danken. Bis morgen.“
Mike lauschte der Stille am anderen Ende der Leitung. Es kostete ihn überraschend viel Willenskraft, den Hörer vom Ohr zu nehmen und aus der Hand zu legen. Wie betäubt starrte er ins Leere. Was zur Hölle war das gerade gewesen? Doch bevor er genauer darüber nachdenken konnte, stand Rose vor ihm. Obwohl sie noch nicht lange hier war, hatte sie sich mit ihrer unverbesserlich guten Laune in der Tanzschule schon viele Freunde gemacht. Sie war noch jung, hatte ihre Ausbildung zur Tanzlehrerin erst kürzlich abgeschlossen, weshalb ihr auch ein geringeres Gehalt gezahlt werden konnte, als normalerweise üblich. Mike fürchtete, dass sie sich bald nach einem anderen – besseren – Job umsehen würde. Er würde ihre roten Locken, die immer versuchten, aus ihrem Dutt auszubrechen, und ihre Sommersprossen vermissen.
„Mike?“ Sie schnippte mit den Fingern vor seinem Gesicht und Mike kehrte mit einem Ruck in die unschöne Wirklichkeit zurück. „Hoch mit dir. Deine kleinen Ballettmäuschen warten nur noch auf dich.“
„Schon so spät?“ Mit zerknirschter Miene schoss er in die Höhe. Die ruckartige Bewegung forderte sofort ihren Tribut. Vor Schmerz verzog er das Gesicht, verlagerte sein Gewicht und atmete langsam aus. Wütend auf sich selbst, knirschte er verhalten mit den Zähnen. Mittlerweile sollte er es besser wissen. Falsche Bewegung, falsche Belastung und seine eigenen Übungen hatte er auch schleifen lassen.
Roses Stirn krauste sich mitleidig. „Ich glaube, das Wetter schlägt wieder um. Richtiges Aprilwetter. Dabei haben wir schon Mai.“
Mike ging nicht auf ihr gut gemeintes Geplapper ein. Mit hängenden Schultern griff er nach seinem Stock, der am Schreibtisch lehnte. Langsam hinkend folgte er Rose.
Es war fast beschämend einfach gewesen, sich einen Tag von der Tanzschule freizunehmen. Die Kurse, die er gab, fanden nur vier Mal in der Woche statt. Ansonsten machte er sich mehr oder weniger als bessere Schreibkraft und Buchhalter nützlich, kümmerte sich also um die Dinge, für die seine Mutter weder Interesse noch Geduld aufbrachte. Und so fand sich Mike am nächsten Tag nach einer eintönigen Autofahrt durch strömenden Regen vor Reigate Hall, dem Landsitz von Sir David, wieder.
Es war kein schlossähnliches Gebäude wie einige der Herrenhäuser, die gegen Entgelt zur Besichtigung freigegeben waren, doch es war immer noch imposant genug, um Mike zu beeindrucken. Wenn Kelly nicht bereits in der Auffahrt auf ihn gewartet hätte – Mike war sich nicht sicher, ob er nicht einfach wieder umgedreht und unverrichteter Dinge zurückgefahren wäre. Er fühlte sich hier so fehl am Platze, wie eine Promenadenmischung zwischen lauter Königspudeln.
Kellys vertrautes Gesicht und die große, immer noch etwas schlaksige Gestalt flößten ihm jedoch genügend Mut ein, um aus seinem Auto auszusteigen. Seinen Stock ließ er allerdings im Kofferraum. Ob aus Stolz oder Eitelkeit – darüber war er sich selbst nicht ganz im Klaren. In seinem Blutkreislauf planschten genügend Schmerzmittel herum, um sich Sir David weitgehend ohne sein lästiges Hinken und so normal wie möglich präsentieren zu können. Als er Kelly die Hand schüttelte, bemerkte er den raschen Blick, den dieser seinem Bein schenkte und er biss die Zähne zusammen. Diesen Blick kannte er zur Genüge. Dieses kurze, bemüht unauffällige Starren und die gespielte Gleichgültigkeit, die unweigerlich darauffolgte. Er war daran gewöhnt, jedoch hatte er gehofft, dass gerade Kelly es nicht tun würde. Doch was die Neugier anging, waren wohl alle Menschen gleich.
Sie tauschten einige Floskeln darüber aus, wie lang sie sich nicht gesehen hatten und bekräftigten, dass sie sich überhaupt nicht verändert hatten. Allerdings waren Kellys kinnlange, leicht buschige Haare mittlerweile nicht mehr ausschließlich schwarz, sondern von zahlreichen silbrigen Fäden gleichmäßig durchzogen. Als die Begrüßung abgeschlossen war, ging Kelly voran und Mike folgte ihm über die Freitreppe hinein ins Haus. Drinnen ging Kelly so zielstrebig eine weitere Treppe hinauf, dass es Mike merkwürdig vorkam. Er selbst war von der Pracht der Eingangshalle wie erschlagen. Staunend besah er sich die holzgetäfelten Wände mit Schnitzereien, die alten Gemälde, Rüstungen und Marmorbüsten.
„Sag mal, du kennst dich hier ziemlich gut aus, oder wie sehe ich das?“, fragte er Kelly.
„Ich war schon ein paar Mal hier“, erwiderte Kelly so beiläufig, dass es Mike eher wie ein Ausweichmanöver denn eine Antwort vorkam.
Im ersten Stockwerk angekommen, gingen sie einen Flur entlang, dessen dicke Perserteppiche ihre Schritte dämpften. Vor einer der vielen Türen hielt Kelly an und klopfte kurz, bevor er sie öffnete. Er hielt die Tür für Mike auf und sagte: „Darf ich dir Sir David vorstellen?“
Mike atmete tief durch, trat ein und stand Sir David gegenüber. Natürlich wusste er, wie Sir David aussah. Die Presse versorgte ihre Leserschaft mit ausreichend Fotografien, doch es war überraschend, wie klein er tatsächlich war. Mike überragte ihn fast um Haupteslänge. Ebenso überraschend war für Mike auch, dass sich Sir David in seinem privaten Umfeld genauso exzentrisch kleidete, wie er das für gesellschaftliche Anlässe tat. Noch nie hatte Mike jemandem gegenübergestanden, der einen grell azurblauen Anzug zu einem blassgrünen Hemd trug.
„Mister Collins. Es ist mir eine Freude, Sie in meinem bescheidenen Heim begrüßen zu dürfen.“
Wie benommen schüttelte Mike die ihm dargebotene Hand und brachte ein krächzendes „Sir David“ zustande.
„Aber bitte, nehmen Sie doch Platz.“ Mit einer einladenden Geste wies Sir David auf einen Sessel.
Das Möbel sah sehr nach Museumsstück aus und daher ließ sich Mike nur mit äußerster Vorsicht darauf nieder, während Sir David stehen blieb. Hilfesuchend sah sich Mike nach Kelly um, der neben einem elegant gedrechselten und mit Schnitzereien verzierten Schreibtischchen stand. Augenscheinlich hatte er vor, sich im Hintergrund zu halten.
„Sie werden sich fragen, warum ich Sie um Ihren Besuch gebeten habe.“ Mit dieser Floskel eröffnete Sir David das Gespräch. Dabei schenkte er Mike einen aufmerksamen Blick.
„Nun ja … ich … um ehrlich zu sein – ja.“
Für Sekundenbruchteile hob ein mechanisches Lächeln Sir Davids Mundwinkel. „Verzeihen Sie mir bitte, wenn ich Sie noch einen Moment lang auf die Folter spanne. Ich fürchte, bevor ich Ihnen mein Anliegen vortrage, ist es notwendig, ein klein wenig auszuholen.“ Sir David warf Kelly einen flüchtigen Blick über die Schulter zu. „Eugene, Schätzchen, Zigarette“, forderte er und hielt auffordernd seine Hand mit zwei ausgestreckten Fingern in die Höhe.
Zwei hellrote Flecken zierten Kellys Wangen, doch er zögerte keinen Moment und entnahm einer der zierlichen Schubladen des Schreibtischchens eine Zigarette, die er zwischen Sir Davids Finger steckte.
„Sie haben doch nichts dagegen?“, fragte Sir David höflich, doch Mike war klar, dass er hier nicht wirklich um seine Meinung gefragt wurde.
„Es ist Ihr Haus.“
„Möchten Sie auch eine?“
„Nein, danke. Ich rauche nicht.“
„Es ist auch eine grässliche Angewohnheit“, gestand Sir David seufzend, nur um gleich wieder in einen äußerst befehlsgewohnten Ton zu verfallen. „Eugene, Schätzchen, Feuer.“
Mike musste kurz den Blick abwenden, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Sir Davids Weisungen und Kellys Reaktionen griffen wie gut geölte Zahnräder ineinander, liefen so reibungslos ab, wie ein tausendfach aufgeführtes Stück. Kelly war hier nicht nur ein paar Mal zu Gast gewesen. Oh, nein! Dahinter steckte mit Sicherheit eine ganz andere Geschichte. Um sich abzulenken, studierte Mike die Gemälde an den Wänden. Dabei fiel ihm auf, dass sich um eines der Bilder eine helle Fläche auf der Tapete abzeichnete, die fast wie ein zweiter Rahmen wirkte.
„Sie wissen ja wohl, dass ich Kunsthändler bin“, erklang Sir Davids Stimme und Mike beeilte sich, seine Aufmerksamkeit wieder seinem Gastgeber zuzuwenden.
„Ja, natürlich.“