Königsfall – Die Geisel - Jeff Wheeler - E-Book

Königsfall – Die Geisel E-Book

Jeff Wheeler

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Seit Jahrhunderten befindet sich Königsfall im Krieg mit seinen Nachbarn, und auch im Inneren des Reiches herrschen Intrigen und Kämpfe. König Severn, so munkelt man, tötete sogar seine eigenen Neffen, um an die Macht zu gelangen. Verrat bestraft er augenblicklich mit dem Tod. Als ihn einer seiner Lords hintergeht, fordert Severn dessen schüchternen Sohn Owen als Geisel, der wie ein Lamm unter Wölfen zu sein scheint. Bis der Junge Verbündete am Hof findet und erkennt, dass in ihm etwas ganz Besonderes steckt ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 443

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Das Königreich Ceredigion wird von einem Usurpator beherrscht: Severn Argentine tötete angeblich seine älteren Brüder und seine Neffen, um auf den Thron zu gelangen. Die ehemalige Königin lebt zurückgezogen im Kloster der Herrin der Quelle, einzig seine schöne Nichte Elyse duldet Severn noch an seinem Hof. Von seiner Burg aus, die von tosenden Wasserfällen umgeben ist, führt er Krieg gegen seine Nachbarn und regiert sein Reich mit eiserner Hand. Verrat wird grausam bestraft.

Als Lord Kiskaddon, der Herr der Westmark, dem König in einer entscheidenden Schlacht die Treue versagt, lässt Severn dessen Sohn Jorganon hinrichten und stellt den Lord vor eine schreckliche Wahl: Er soll eines weiteres seiner Kinder an Severns Hof schicken – als Unterpfand für seine Loyalität. Kiskaddon entsendet ausgerechnet seinen jüngsten Sohn Owen, von dem er glaubt, der Segen der heiligen Quelle liege auf ihm. Am düsteren Königshof beginnt für den zarten Knaben die schrecklichste Zeit seines Lebens: die Burg ist düster und gefährlich, der finstere König macht ihm Angst und die Lords verfolgen alle rücksichtslos ihre eigenen Interessen. Zusätzlich macht ihm der Gedanke, dass ihn beim geringsten Fehltritt seines Vaters das Schicksal seines Bruders erwartet, das Leben schwer.

Doch dann lernt er eines Tages die geheimnisvolle Ankarette kennen, die verborgen in einem abgeschiedenen Turm der Burg lebt. Ankarette hat Verbindungen zur alten Königin, und sie führt Owen auf einen Pfad, der sein Schicksal für immer verändern wird …

Der Autor

Jeff Wheeler wurde 1971 in New Jersey, USA, geboren. Er wuchs in Silicon Valley auf und begann schon während seines Studiums eine Karriere bei Intel. Doch seit ihm in der Highschool Terry Brooks Die Elfensteine von Shannara in die Hände fiel, wusste er, dass seine wahre Berufung im Schreiben liegt. 2014 beendete er seine Karriere bei Intel und widmete sich ganz seiner Autorenlaufbahn. Seine Romane landen regelmäßig auf der Wallstreet Journal-Bestsellerliste. Der Autor lebt mit seiner Familie in den Rocky Mountains.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Titel der amerikanischen Originalausgabe:THE QUEEN’S POISONER
Redaktion: Uta DahnkeCopyright © 2016 by Jeff WheelerCopyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCovergestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-24177-3V002www.heyne.dewww.penguinrandomhouse.de

JEFF  WHEELER

KÖNIGS-

FALL

Die Geisel

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Johan Birken

Für Lincoln

DRAMATIS PERSONAE

Familie Argentine

Eredur Argentine: unter mysteriösen Umständen verstorbener König von Ceredigion

Dunsdworth Argentine: jüngerer Bruder Eredurs, des Verrats bezichtigt und hingerichtet; sein Sohn gleichen Namens lebt als Mündel des Königs im Palast

Severn Argentine: König von Ceredigion, jüngster Bruder Eredurs; bemächtigte sich des Throns, der Eredurs Söhnen zustand, welche verschollen sind und als ermordet gelten

Elyse Argentine: älteste Tochter Eredurs

Lords von Ceredigion

Lord Kiskaddon: Herzog der Westmark

Lord Horwath: Herzog von North Cumbria

Lord Asilomar: Herzog von East Stowe

Lord Lovel: Herzog von Southport

Lord Ratcliffe: Herr über das Espion, den königlichen Geheimdienst

Lord Bletchley: unterstützte König Severn bei der Machtübernahme, einst Herr über das Espion, hingerichtet wegen Verrats

»Die Schlacht wurde geschlagen, die Schlacht wurde gewonnen. Dabei standen die Aussichten des Königs zu siegen in Zweifel. Trotz jahrelanger Erfahrung im Kampf, treuer Freunde und obwohl er die Reichtümer Ceredigions hinter sich hatte, prophezeiten viele einen Sieg seines ehrgeizigen Angreifers. Natürlich war Verrat im Spiel. Die Omen der Quelle wurden gedeutet. Der Lord von Kiskaddon verbot seinen Männern, sich an der Schlacht zu beteiligen, obgleich sich sein ältester Sohn in der Gewalt des Königs befand. Ein unkluger Zug. Nachdem der König gewonnen hatte, wurde Kiskaddons Erbe über den Wasserfall in den Abgrund geschickt, und ich kann nur erahnen, welche Racheakte des Königs dem Lord noch bevorstehen. Ich sehe ihnen mit Freuden entgegen. Lang lebe der bucklige König!«

Dominic Mancini, Espion im Tempel Unserer Herrin der Quelle von Königsfall

1

LORD KISKADDON

Lady Eleanor saß in ihrem Gemach auf der Bank vor dem Fenster und streichelte den Kopf ihres Sohnes, der in ihren Schoß gebettet war. Owen war ihr Jüngster, das Kind, das sie beinahe bei der Geburt verloren hatte. Er war ein zarter Junge von acht Jahren, wobei er jünger aussah, und sein mattbraunes Haar war dicht und widerspenstig, sosehr sie sich auch mühte, es zu bändigen. Sie liebte es, ihre Finger hindurchgleiten zu lassen. Über dem linken Ohr war es an einer Stelle weiß, und seine Geschwister fragten immer, warum er mit diesem merkwürdigen weißen Büschel in seinem sonst dunklen Haar geboren worden war.

Diese weiße Strähne hob ihn von den anderen Kindern ab. Lady Eleanor betrachtete sie als Erinnerung an das Wunder, das sich bei seiner Geburt ereignet hatte.

Owen blickte aus tiefbraunen Augen zu ihr auf, als spürte er, dass sie in Sorge war. Er war ein anhängliches Kind und stets der Erste, der in ihre Arme lief. Als Kleinkind hatte er sich an ihren Beinen festgeklammert oder sie umarmt und dabei leise die Kosenamen seiner Eltern gemurmelt: Maman, Papan, Maman, Papan, Maman, Papan. Am liebsten hatte er sich in ihrem Bett verkrochen, wenn sie morgens aufgestanden waren, und die verbliebene Wärme genossen. Mit sechs hatte er damit aufgehört, doch nicht mit den Umarmungen und Küssen, und stets suchte er die Nähe der Eltern, besonders die ihres Gemahls, Lord Kiskaddon.

Bei dem Gedanken an ihn wurde Lady Eleanor übel vor Sorge. Sie blickte hinaus in die gepflegten Gärten von Tatton Hall, doch sie fand keinen Trost in den kunstvoll gestutzten Hecken, den terrassenförmig angelegten Rasenflächen, den großen, sprudelnden Brunnen. Sie wartete noch immer auf Nachricht vom Ausgang der Schlacht.

»Wann kommt Papan nach Hause?«, fragte Owen mit heller Stimme. Dabei sah er sie mit ernsten Augen an.

Eleanor fragte sich, ob er überhaupt nach Hause kommen würde.

Nichts fürchtete sie so sehr wie das Schlachtfeld. Der Lord war nicht mehr jung. Mit seinen fünfundvierzig Jahren war er mittlerweile mehr Staatsmann als Feldherr. Eleanors Blick fiel auf den leeren Rüstungsständer, der neben dem Himmelbett stand. Die Vorhänge waren zurückgezogen, die Laken und Decken säuberlich geglättet, denn ihr Gatte bestand darauf, dass ihr Bett täglich gemacht wurde. Ganz gleich, welche Schreckensmeldungen vom Hof zu ihnen dringen mochten, er schätzte die festen Zubettgehzeiten, die einfachen Rituale. Obwohl er nachts oft stundenlang wach lag und sich den Kopf über die Probleme des Königreichs zerbrach, fühlte er sich hier am wohlsten, allein mit ihr in diesem Himmelbett.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte Eleanor heiser und strich über die üppigen Locken ihres Sohnes. Man hatte Lord Kiskaddon aufgefordert, sich dem königlichen Heer am Berg Ambion anzuschließen, um den Angriff abzuwehren, und König Severn hatte ihren ältesten Sohn als Geisel genommen, um sich die Unterstützung ihres Gatten zu sichern. Vor der Schlacht hatte sie gehört, das königliche Heer sei dem des Feindes dreifach überlegen, doch hier ging es nicht um Zahlenverhältnisse. Lord Kiskaddons Loyalität war auf dem Prüfstand.

Es war nicht einfach, Severn Argentine zu dienen. Seine Zunge war wie eine dornenbesetzte Peitsche, die mit jedem Wort Wunden riss. Zwei Jahre zuvor hatte er den Kindern seines älteren Bruders den Thron genommen, und seitdem waren Intrigen, Verrat und Hinrichtungen in Ceredigion an der Tagesordnung. Man munkelte sogar, der Onkel habe seine Neffen im Palast zu Königsfall ermordet. Allein der Gedanke daran ließ Eleanor erzittern. Als neunfacher Mutter war ihr eine solche Niedertracht unerträglich. Nur fünf ihrer Kinder hatten überlebt, denn alle waren von schwächlicher Konstitution gewesen. Einige ihrer Söhne und Töchter waren als Kleinkinder gestorben, und jeder Verlust hatte ihr das Herz aufs Neue gebrochen. Und dann war ihr letztes Kind zur Welt gekommen, der kleine Owen. Ein Wunder.

Ihr lieber, nachdenklicher Junge, der sie so oft anblickte, als könnte er ihre Gedanken lesen. Sie sah ihm gern zu, wenn er allein spielte, beobachtete ihn von der Tür aus, wie er auf dem Boden kniete und Kacheln aufeinanderstapelte und wieder umstieß. Oftmals entdeckte sie ihn auch in der Bibliothek, wo er las. Sie erinnerte sich nicht mehr, wie sie ihm das Lesen beigebracht hatte, denn er war noch so klein gewesen. Es schien, als hätte er es ohne Hilfe gelernt, so wie das Atmen – er saugte die Buchstaben und Worte auf und setzte sie ohne Anstrengung in seinem Kopf zusammen. Und obwohl er sehr intelligent war, war er doch ganz Kind. Er liebte es, mit seinen Geschwistern durch den Garten zu tollen und durch das Heckenlabyrinth einem weißen Band an einem Stock nachzujagen. Natürlich war er nach kurzer Zeit außer Atem, aber davon ließ er sich nicht beeinträchtigen.

Sie würde nie den Kummer vergessen, den sie empfunden hatte, als die königliche Hebamme erklärte, ihr Kind sei tot zur Welt gekommen. Kein Schrei, kein Wimmern hatte seine Geburt verkündet, anders als die seiner acht Geschwister. Er kam blutverschmiert und reglos auf die Welt – vollkommen ausgebildet, aber ohne zu atmen. Es hatte sie niedergeschmettert, dieses Kind zu verlieren, das letzte, das sie zur Welt bringen würde. Die Tränen ihres Mannes hatten sich mit ihren vermischt, und zusammen hatten sie den Verlust beweint.

Konnte man denn gar nichts tun? Gab es keinen Trost? Keine Heilkunst, die es retten konnte?

Die Hebamme hatte den reglosen Säugling in den Armen gehalten, ihm zugeraunt und ihn auf den kleinen runzligen Kopf geküsst. Sie hatte ihnen vorgeschlagen, als Eheleute zusammen um das Kind zu trauern. Lord Kiskaddon und seine Frau Eleanor hatten den kleinen Jungen in den Armen gewiegt, eingehüllt in ein Laken, und um ihn geweint. Sie hatten ihn umarmt und geküsst, leise auf ihn eingeredet. Ihm von seiner Familie erzählt und wie sehr man ihn liebte und brauchte.

Und da geschah es.

Es war das Werk der Quelle, dessen war Eleanor sich sicher. Wie durch ein Wunder waren ihre Bitten zu dem Säugling durchgedrungen. Das tote Kind blinzelte und öffnete die Augen. Zunächst hatte Eleanor geglaubt, sie hätte sich geirrt, doch ihr Mann hatte es auch gesehen. Der Knabe hatte die Augen aufgeschlagen. Was bedeutet das?, hatten sie von der Hebamme wissen wollen.

Vielleicht verabschiedet er sich, hatte diese leise geantwortet.

Doch aus Momenten waren Stunden, aus Stunden Tage, aus Tagen Wochen geworden. Wieder ließ Eleanor die Finger durch Owens volles Haar gleiten. Er lächelte, als würde auch er sich erinnern, ein schiefes Lächeln, weil er seine Wange an ihren Schoß drückte. Seine Lider flatterten.

»Maman! Maman!«

Jessica, ihre vierzehnjährige Tochter, kam mit wehenden blonden Locken hereingerannt. »Papan kommt nach Hause, mit einem ganzen Heer!«

Eleanors Herz machte einen Sprung und füllte sich mit Hoffnung. »Du hast ihn gesehen?«, fragte sie.

»Vom Balkon aus!«, sagte Jessica, die Augen groß vor Aufregung. »Sein Kopf hat aus der Menge herausgeleuchtet, Maman. Er kommt in Begleitung von Lord Horwath. Ich habe ihn erkannt.«

Lord Horwath regierte die nördliche Grenzregion des Reichs, ihr Mann den Westen. Sie waren Standesgenossen, von gleichem Rang. Warum sollte Stiev Horwath ihren Gemahl nach Tatton Hall eskortieren? Was hatte das zu bedeuten?

Sorge erfüllte Eleanors Brust.

»Owen, geh mit deiner Schwester und begrüße deinen Vater«, sagte Eleanor. Der Junge hielt sich an ihrem Kleid fest, die Augen plötzlich argwöhnisch. Er zögerte.

»Nun lauf schon, Owen«, drängte Eleanor und erhob sich von der Bank am Fenster. Während Jessica ihren kleinen Bruder bei der Hand nahm und ihn mit sich zog, begann Eleanor auf und ab zu gehen. Ganz Tatton Hall geriet in Aufruhr, als sich die Nachricht von der Rückkehr des Lords verbreitete. Ihr Gemahl war bei der Dienerschaft sehr beliebt. Selbst der niederste Küchenjunge verehrte den großmütigen Herzog.

Eleanor hatte ein Gefühl wie von tausend Nadelstichen auf der Haut, während sie rastlos umherwanderte. Ihr Herz raste. Sie war die engste Beraterin ihres Gatten, und bisher hatte sie ihn erfolgreich um die Klippen der Intrigen geschifft, mit denen der Hof durchsetzt war und die zu mehreren grausamen Kriegen zwischen den Adelshäusern geführt hatten. War das nun vorbei?

Schwere Schritte kamen die Stufen hinauf. Eleanor knetete ihre Hände und kaute auf ihrer Unterlippe, während sie voll Sorge wartete, welche Nachrichten ihr Gemahl brachte. Immerhin war er am Leben, aber was war mit ihrem Ältesten? Was war mit Jorganon? Er war mit seinem Vater und dem König in die Schlacht gezogen. Warum hatte Jessica kein Wort von ihm gesagt?

Als ihr Gemahl das Zimmer betrat, wusste Eleanor auf einen Blick, dass ihr Sohn tot war. Lord Kiskaddon war nicht mehr jung. Dennoch war er ein kräftiger Mann, der Stunden im Sattel sitzen konnte, ohne dass seine Kräfte erlahmten. Sein Gesicht trug einen spitzbübischen Zug, der im Widerspruch zu dem grauen Haarkranz um seine Glatze stand, doch jetzt war sein Mund fest verschlossen, das Kinn unrasiert, und der Kummer in seinen Augen nahm ihm den jugendlichen Ausdruck. Ihr Mann trauerte. Und nicht nur um den ältesten Sohn. Eleanor wusste sofort, dass er noch mehr schlechte Nachrichten brachte, schlimmer noch als der Tod ihres Erstgeborenen.

»Du bist wieder da«, hauchte Eleanor, eilte auf ihn zu und warf sich in seine Arme. Seine Umarmung war matt und kraftlos. »Jorganon ist tot«, sagte sie, obgleich sie hoffte, dass sie sich irrte.

»Ja«, bestätigte er heiser, den Mund an ihr Haar gedrückt. Er trat einen Schritt zurück und blickte zu Boden.

»Was ist geschehen?«, drängte Eleanor und nahm seine Hand. »Sag mir, was los ist! Ich ertrage es nicht, dich so gequält zu sehen!«

Er hatte Tränen in den Augen. Er, der doch so selten Gefühle zeigte. Seine Lippen zuckten. »Der König … hat den Sieg davongetragen. Es war knapp, Eleanor. So knapp. Einen Moment länger, ein Windhauch hätte den Ausgang ändern können. Ich wünschte, du wärst dort gewesen und hättest mich beraten. Doch du warst nicht da!« Sein Gesicht verzog sich. Flehentlich sah er sie an. »Vergib mir!«

Eleanor spürte, wie ihre Beine zitterten. »Was denn?«, fragte sie angstvoll.

Seine Lippen waren weiß, so fest presste er sie zusammen. »Horwath hat die Schlacht für den König angeführt. Seine Männer gerieten in Bedrängnis. Es sah aus, als könnten sie unterliegen. Der König befahl meinen Männern, Horwath zu unterstützen.« Er schüttelte den Kopf, als erlebte er diesen kritischen Moment erneut, als alles auf dem Spiel stand. »Ich habe es ihm verweigert.«

»Was?«, keuchte sie.

»Severn ist der Letzte seiner Dynastie. Sein einziger Sohn ist vor einem Jahr gestorben, danach seine Frau – vergiftet, wie es heißt. Es sah aus, als hätte ihn die Quelle dazu verdammt, am Berg Ambion zu unterliegen. Du hast es auch geglaubt, sonst hätten wir niemals …«

»Leise!«, beschwor ihn Eleanor und schielte zur Tür.

»Wir dachten, der neue König würde uns gewogen sein, wenn wir uns nicht am Kampf beteiligten. In diesem Moment der Gefahr vermutete ich, das Heer des Königs würde geschlagen werden. Severn drohte, Jorganon auf der Stelle zu töten.« Ihr Mann schlug sich mit der Faust gegen den Kopf, und seine Worte wurden zu Schluchzern. »Was habe ich nur getan?«

Eleanor schlang die Arme um ihren Gatten und drückte ihn an sich. Er war ein kluger und fähiger Mann, doch diese Qualitäten halfen am Hof von König Severn wenig. Deshalb suchte er so oft ihren Rat. Auch sie hatte geglaubt, Severns Regentschaft wäre bloß von kurzer Dauer. Ja, sie hatte ihrem Mann geraten, den König nach außen hin zu unterstützen, sich aber unbeholfen zu geben. Langsam zu sein, zu tun, als verstünde er die Befehle nicht so recht. Sie kaute an ihrem Fingernagel.

»Aber das königliche Heer hat letztlich gesiegt«, sagte Eleanor matt. »Und jetzt hält er dich für einen Verräter.«

»Es sah so aus, als würde Horwath unterliegen. Seine Männer kämpften träge. Niemand war mit dem Herzen dabei, Ceredigion gegen die Invasoren zu verteidigen. Doch dann rief der König seine Männer zusammen und ritt selbst in die Schlacht. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, Eleanor … Es waren nur zwanzig, vielleicht dreißig Ritter, aber sie brachen wie eine Sturmflut über die Feinde herein. Als würde die Quelle selbst sie antreiben. Sie stießen mit Lanzen und Schwertern vor. Der König riss seinen Gegner aus dem Sattel, dann sprang er von seinem verwundeten Pferd und tötete ihn mit dem eigenen Schwert. Die Angreifer umschwärmten ihn, doch er kämpfte mit der Kraft von einem Dutzend Männern. Seine Feinde fielen um ihn herum, und als sie seinen Triumph bemerkten, wurden Horwaths Männer zu Dämonen!« Die Augen ihres Gemahls waren geweitet vor Schreck und Erstaunen. »Severn allein hat die Schlacht entschieden, trotz seines krummen Beins und des Buckels. Also beeilte ich mich, mich dem Gefecht anzuschließen, und half, das gegnerische Heer einzukesseln. Die Krone war dem König in der Schlacht vom Kopf gefallen, und ich fand sie in einem Weißdornbusch. Ich brachte sie ihm und sagte … ich sagte, ich sei ihm treu ergeben.« Eleanor spürte, wie ihre Knie nachgaben. Sie klammerte sich an ihren Gemahl, als stünden sie allein auf einer Insel, umspült von einer wütenden See, die sie in die Brandung ziehen wollte. Seine Worte hallten in ihrem Kopf.

»Trotzdem befahl Severn Jorganons Tod«, fuhr er fort. »Er verspottete mich und sagte, vielleicht hätte ich noch mehr Söhne zu vergeben. Deshalb hat er Horwath mitgeschickt. Ich soll dir diese Nachricht überbringen, von König Severn Argentine an Lady Eleanor Kiskaddon: Wählt einen neuen Sohn, der im Palast von Königsfall unter meiner Vormundschaft leben wird. Beweist mir Eure Treue und Euren Gehorsam. Schickt mir einen Sohn als Garant für die Loyalität Eures Hauses.«

Eleanor wäre fast in Ohnmacht gefallen. Nur mit Mühe hielt sie sich auf den Beinen. Sie sah zu ihrem Mann auf. »Ich muss noch eines meiner Kinder geben?« Ihr Herz hämmerte wild in ihrer Brust, der Kummer drohte sie zu erdrücken. »In die Obhut dieses … dieses Schlächters?«

»Stiev Horwath bringt das Kind nach Königsfall«, sagte der Lord gequält. »Wenn wir uns weigern, lässt Severn unsere ganze Familie hinrichten. Auf der Stelle. Wegen Hochverrats.«

Schluchzend sank Eleanor an die Brust ihres Mannes. Sie sollte ein Kind opfern, damit die anderen überlebten. Eine solche Wahl durfte man keiner Mutter zumuten. Doch König Severn war grausam und gerissen. Möglicherweise würde das Kind, das sie an seinen Hof schickte, das einzige sein, das überlebte …

Eleanor weinte bitterlich, überwältigt von Kummer und zu keinem klaren Gedanken fähig. Welches ihrer Kinder konnte sie entbehren? Warum überließ man ihr diese Wahl, wenn nicht, um ihren Schmerz noch zu vergrößern? Wie konnte sie diese Entscheidung treffen? Wie sollte sie einen ihrer Söhne einem Mann anvertrauen, der seine eigenen Neffen getötet hatte? An den Händen dieses Königs klebte so viel Blut, dass er geradezu eine triefende rote Spur hinter sich herzog. Sie hasste Severn. Sie hasste ihn voll Inbrunst.

In ihrem Leid hörte Eleanor nicht, wie die Tür aufging und sich leise Schritte näherten. Sie bemerkte es nicht, bis sich Owens Arme um ihre Beine schlangen.

Er schmiegte sich an seine Eltern, und obwohl er kein Wort sagte, konnte Eleanor sich vorstellen, was er dachte. Nicht weinen, Maman, Papan. Nicht weinen. Alles wird gut.

Sie blickte auf ihren Sohn hinab, ihren unschuldigen Sohn. Und dann regte sich eine Erinnerung. Eine Erinnerung an die königliche Hebamme, die Owen einst das Leben gerettet hatte.

Vielleicht könnte sie eine geheime Botschaft zum Tempel Unserer Herrin der Quelle schicken, eine Bitte, ihren Sohn zu schützen, den Knaben, der schon einmal von der Quelle gerettet worden war. Sie würde die Trennung von ihrem jüngsten Sohn ertragen, die Verzweiflung, solange es einen Hoffnungsschimmer gab.

Denn mehr als einen Schimmer konnte sie nicht erwarten, das wusste sie.

»Die Cereger sind ein abergläubisches Volk. Doch das sind die meisten Narren, die auf dieser Erde wandeln. Sie hängen einem uralten Glauben an die Kraft der Quelle an, der auf Legenden fußt, die keiner mehr kennt. Alles Lug und Trug. Sie bauen riesige heilige Zufluchtsstätten an den Ufern der Flüsse. Der Tempel Unserer Herrin der Quelle von Königsfall wurde sogar in den Fluss gebaut, direkt bevor er sich als tosender Wasserfall in den Abgrund stürzt. Die Tempel bieten Männern Schutz vor dem Gesetz, und so leben viele Diebe an den heiligen Orten mit ihren schillernden Spiegelbecken, plätschernden Brunnen und bezaubernden Gärten. Tagsüber stehlen sie, nachts schlafen sie auf dem Boden des schützenden Tempels. Man nennt sie Männer der Quelle. Gemäß einer alten Prophezeiung soll ihnen Schutz gewährt werden, solange der Fluss fließt und das Wasser fällt. So verbringe ich meine Tage inmitten von Gesindel im Tempel Unserer Herrin der Quelle und beobachte die Feinde des Königs. Manchmal hasse ich meine Arbeit. Sie langweilt mich.«

Dominic Mancini, Espion im Tempel Unserer Herrin der Quelle von Königsfall

2

DER HERZOG

VON NORTH CUMBRIA

Owen konnte sich stundenlang allein beschäftigen – ob er nun Kacheln in langen Reihen aufstellte und wieder umstürzen ließ, Zinnsoldaten in den Krieg führte oder las. Im Kreis der Familie war er ein redseliges Kind, und wenn er Holzschwerter im Kampf gegen die Geschwister schwang, war oft er es, der andere zum Weinen brachte, sogar seine älteren Schwestern. Doch war auch nur ein einziger Fremder im Raum, verkroch er sich hinter einem Stuhl und betrachtete den Neuankömmling misstrauisch, bis er wieder ging.

So hatte er auch Lord Horwath beobachtet. Doch als der Lord Tatton Hall verließ, saß Owen hinter ihm im Sattel, ängstlich und so fassungslos, dass er mit niemandem hätte sprechen können. Während seine Familie hinter ihm verschwand und Tränen auf den Wangen seiner Mutter glitzerten, fragte er sich, ob er wohl jemals wieder ein Wort hervorbringen würde.

Tatton Hall war seine Welt, dort kannte er jeden Winkel, vom Keller bis zum Dachboden. Manche Orte fürchtete er – der Weinkeller war dunkel, und es roch dort komisch –, aber es gab auch Geheimverstecke, die nur er kannte und wo man ihn niemals fand. Auch die Gärten waren riesig. Zahllose Tage hatte er sich dort auf einfache Weise vergnügt, war durch das Gras gelaufen oder hatte im Laub gelegen und Ameisen und Käfer beobachtet. Er liebte die kleinen Krabbeltiere, die sich zusammenrollten, wenn er sie aufhob, und wie Kieselsteinchen über seine Handfläche kullerten. Wenn er dann stillhielt, entrollten sie sich, bewegten ihre Beinchen wieder, und er ließ sie auf seiner Hand im Kreis herumlaufen.

Owen war gern draußen in der Natur, aber noch lieber war er drinnen. Bücher faszinierten ihn, und Buchstaben hatten auf seine Augen eine ähnliche Wirkung wie die Krabbeltiere auf seine Haut. Wenn er las, versank er in einem Traumland, wo ihn kein Flüstern oder Rufen erreichte. Er verschlang jedes Buch, das er in seine kleinen Finger bekam, und merkte sich alles, was er darin las. Sein Hunger nach Büchern war unstillbar, und am liebsten waren ihm Geschichten von den Abenteuern der von der Quelle Gesegneten.

Tatton Hall verschwand zum Geklapper der Hufe. Owens gesamte Kindheit blieb hinter ihm zurück. Horwath saß steif im Sattel. Während des Ritts sprach er nicht mit Owen. Nur wenn sie den Pferden gelegentlich eine Rast gönnten, erkundigte er sich, ob Owen hungrig oder durstig war oder austreten musste.

Der Lord war kein Riese, und er war älter als Owens Vater. Das Haar unter der schwarzen Samtkappe war dicht und grau und kurz im Nacken. Am Kinn trug er den passenden Spitzbart dazu. Sein Gesicht war streng und säuerlich und zeigte Owen, dass es ihm keine Freude bereitete, einen achtjährigen Burschen durch das Königreich zu eskortieren, und dass er die Sache schnell und schmerzlos hinter sich bringen wollte. Doch während der Lord fast genauso schweigsam war wie Owen, waren die Ritter seines Hauses viel interessanter zu beobachten.

Alle Edlen des Reiches trugen Wappen und hatten Leitsprüche. Owen war stolz auf das Wappen seiner Familie, das er seit Anbeginn seines Lebens kannte. Es nannte sich Aurum und zeigte einen diagonalen Streifen von einem kräftigen Blau, geziert von drei goldenen Hirschköpfen mit spitzen, dornenartigen Geweihen. Horwaths Wappen zeigte einen goldenen Löwen mit von einem Pfeil durchbohrten Maul auf rotem Grund. Owen mochte es nicht, denn er musste immer daran denken, wie weh es dem Löwen tun musste. Der Lord trug das Wappen auf seinem Waffenrock, und sein Fahnenträger, der gleich hinter ihnen ritt, trug eine Flagge mit dem gleichen Wappen, um aller Welt zu verkünden, wer sie waren und dass nicht mit ihnen zu scherzen war. Da einige Ritter neben den Schwertern Pfeil und Bogen trugen, hielt Owen auch deswegen den Mund.

Im Laufe der Reise verlor er jedes Zeitgefühl. Mehrere Tage waren vergangen. Im Morgengrauen rüttelte ihn der Lord aus dem Schlaf, sah ihn streng an und führte ihn zurück zum Pferd. Owen schwieg. Der Lord schwieg. So ging es, bis sie nach Königsfall kamen.

Mit drei war Owen mit seiner Familie in der Königsstadt von Ceredigion gewesen, doch das war lange her, und er erinnerte sich kaum daran. Als sie jedoch über die Hauptstraße auf die Stadt zuritten, verbanden sich die Erinnerungsfetzen, und sie erschien ihm vage vertraut.

Das Besondere an der Stadt war, dass sie an den Ufern eines breiten Flusses stand, dicht an einem jähen Abgrund, in den sich die Fluten als tosender Wasserfall ergossen. Ganz gleich, wie angeschwollen oder wie niedrig der Fluss auch war, der Wasserfall war immer da. In der Mitte des Flusses erhob sich eine große Insel, auf der eine heilige Zufluchtsstätte stand – der Tempel Unserer Herrin der Quelle von Königsfall. Schroffe Felsen ragten zwischen den fallenden Wassermassen hervor. Auf manchen hielten sich dürre Bäume, die dem Sog der schäumenden Gischt trotzten.

Owen wusste, dass der Tempel seinen Namen aufgrund alter Legenden trug, doch Genaueres hatte er seinen Büchern nicht entnehmen können. In den Texten, an denen er sich versucht hatte, wimmelte es von Rittern, Schlachten und ungleichen Königreichen, die nicht mehr existierten, aber alles wurde so langweilig und ausschweifend beschrieben, dass er das Interesse verloren hatte. Die Tempelanlage hatte zwei stämmige Türme, und unter mehreren Bögen, die sich über der hinteren Mauer spannten, strömte Wasser hervor und erinnerte an den Wasserfall. An einem Flussufer lag die Stadt mit ihren Giebeldächern und rauchenden Kaminen. Doch der Lärm von meckernden Ziegen, brüllenden Ochsen und klapperden Karren und Kutschen wurde fast ganz vom Getöse des Wasserfalls geschluckt. Am anderen Flussufer erhob sich der Königspalast, neben dem Tatton Hall wie ein Spielzeug gewirkt hätte.

Eine steinerne Brücke führte vom Palast zur Tempelinsel, mehrere Holzbrücken verbanden die Insel mit der Stadt am anderen Ufer. Die rauschenden Wassermassen hörte man schon aus Meilen Entfernung wie einen beständigen Sturm. Es war ein atemberaubender Anblick, und Owen lehnte sich immer wieder zur Seite, um besser sehen zu können.

Der Palast erhob sich auf einem grünen Hügel mit üppigen Wäldern. Er war auf mehreren Ebenen errichtet, hatte scharfkantige Mauern und gut ein Dutzend Türme, von denen das königliche Banner wehte. Owen erspähte Gärten und Bäume, die sich hinter den alten Schlossmauern erhoben, und für sein unerfahrenes Auge sah es aus, als stünde dieser Palast schon seit Tausenden von Jahren. Er wirkte wie ein Relikt aus einer anderen Zeit, ein gefährlicher Ort. Dennoch waren die steinernen Mauern frei von Efeu und Ranken und sorgfältig instand gehalten.

Das also war sein neues Zuhause. Der König hatte Owen in den Palast beordert, wo er sein Mündel sein würde. Jorganon hatte vor ihm in Königsfall gewohnt, und jetzt war er tot. Hatten Maman und Papan beim Abschied deswegen so geweint? Der Palast wirkte nicht wie ein Zuhause. Als sie in die Stadt ritten, empfingen sie Fanfaren am Tor, und Hunderte Fremde starrten Owen an. In manchen Gesichtern stand Mitleid, was seine Sorge und Scheu nur noch vergrößerte, also vergrub er das Gesicht im Mantel des Lords.

Die Hufe klapperten auf dem Pflaster der Straßen, als sie durch die Stadt und das allgegenwärtige Getöse des Wasserfalls ritten. Schließlich spähte Owen wieder hinter dem Lord hervor und betrachtete die Läden und Menschenmassen, doch die Eindrücke überwältigten ihn. Die schiere Größe der Stadt war unbegreiflich, Lärm und Getümmel überforderten seine Sinne, und sosehr er dagegen ankämpfte, kamen ihm Tränen. Warum war niemand aus seiner Familie da, um ihn zu schützen? Warum hatte man ausgerechnet ihn nach Königsfall geschickt? Warum nicht eines seiner älteren Geschwister?

Nach einer Weile bemerkte Horwath die leisen Schluchzer und drehte sich nach ihm um. »Was ist, Junge?«, fragte er unwirsch.

Owen sah ihn an, zu verschüchtert, um ein Wort herauszubringen, geschweige denn seine Gefühle zu offenbaren. Verzweifelt versuchte er, die Tränen zu unterdrücken, doch dadurch wurde es nur schlimmer. Er spürte, wie sie seine Wangen herabrollten. Trauer und Einsamkeit brachen ihm das Herz. Die letzten paar Tage waren ihm wie ein Albtraum erschienen, doch mehr und mehr begriff er, dass dieser Albtraum sein neues Leben war.

Der Lord winkte einen seiner Ritter zu sich. »Hol dem Jungen von dem Stand dort drüben einen Honigkuchen.«

»Sehr wohl, Herr«, sagte der Ritter und trieb sein Pferd an.

Owen wollte keinen Honigkuchen. Er wollte zurück nach Tatton Hall, doch das hätte er niemals gesagt. Schlotternd klammerte er sich am Mantel des Lords fest und kämpfte gegen die Übelkeit an, während er auf den pfeildurchbohrten Löwen auf dem Wappen starrte. Das Pferd setzte seinen langsamen Gang fort, bis der Ritter zurückkehrte und Owen einen hellbraunen Honigkuchen anbot, der mit kleinen dunklen Samen bestreut war. Obwohl er ihn nicht wollte, nahm Owen ihn ohne ein Wort des Danks an und hielt ihn fest. Er war weich und größer als seine Hand, und der süße Duft erinnerte Owen an die Küche zu Hause. Bald verstummten seine japsenden Schluchzer, und er rieb sich die feuchte Nase am Ärmel. Der Kuchen war verlockend, und schließlich gab Owen nach und biss hinein. Er war süß, und die Samen knackten leise zwischen den Zähnen. Owen hatte noch nie einen solchen Honigkuchen gegessen, doch er schmeckte köstlich, und er schlang ihn hinunter.

Sie ritten auf eine der Brücken zur Tempelinsel zu, und Owen wurde unruhig. Es machte ihm Angst, einen so reißenden Fluss zu überqueren. Was, wenn die Brücke zusammenbrach, während sie darüber ritten? Was, wenn sie in den Wasserfall stürzten und in den Tod gerissen wurden? Er lächelte bei dem Gedanken an den Sturz und stellte sich vor, was für ein Spaß es wäre – bis das Ende kam. Die Strömung zerrte an der Holzbrücke, und plötzlich lag ihm der Honigkuchen schwer im Magen. Er klammerte sich noch fester an Horwaths Mantel und spürte das Stampfen der Hufe.

Bald hatten sie die Insel erreicht, doch es gab keinen Grund, die heilige Stätte zu betreten. Männer standen im Brunnenhof, ein paar von ihnen stützten die Arme auf die Brüstung, um den Lord und sein Gefolge vorbeiziehen zu sehen. Es waren verwahrloste Bettler, und einige starrten Owen mit unverhohlener Neugierde an. Er blickte zu ihnen auf, dann vergrub er das Gesicht wieder in den Falten des Mantels.

Schnell hatten sie die kleine Insel überquert und ritten auf die steinerne Brücke zu. Die Türme des Palasts waren so hoch und spitz, dass es Owen schien, als könnten sie Wolken wie Seifenblasen platzen lassen, wenn diese zu tief hingen. Die im Wind flatternden Wimpel zeigten teils die königlichen Löwen von Ceredigion, teils das persönliche Wappen des Königs, das er auch nach der Einnahme des Throns noch trug: den weißen Keiler. Owen hatte Schweine immer als freundliche Kreaturen betrachtet und gemocht, doch das Wildschwein mit den mächtigen Hauern auf schwarzem Grund war angsteinflößend.

»Wir sind fast da, Junge«, brummte der Lord. Das Pferd mühte sich über die Brücke und dann den sanft ansteigenden Hügel empor. Die bräunlichen Schlossmauern wirkten eigentlich eher freundlich als unheilvoll, doch die Wirkung wurde durch das weiße Wildschwein zerstört, das über sie herrschte. Und einer der Türme stach Owen ins Auge. Er war schlanker als die anderen und sah aus wie ein Messer. Owen erschauderte.

Sie erreichten die Zugbrücke und ritten unter dem Fallgitter hindurch in den Schlosshof. Sie waren im Königspalast, doch er lag nicht im Herzen des Reichs, zumindest nicht, soweit Owen von den wenigen Karten wusste, die sein Vater besaß. Vielmehr lag er im Osten, und der Fluss strömte einige Wegstunden von hier entfernt ins Meer. Schiffe konnten ein Stück weit die Mündung emporfahren. Von dort musste die Fracht auf Maultiere verladen und über gewundene Straßen zur Stadt gebracht werden. Der Palast wurde durch den Fluss geschützt, durch den Hügel, durch die Quelle selbst, wie es hieß.

Stallknechte kamen und nahmen ihnen die Pferde ab, und kurz darauf lief Owen einen steinernen Korridor entlang. Der flackernde Schein der Fackeln vertrieb einen Teil der Finsternis, doch es gab kaum Fenster. Deshalb war es kühl und dunkel, obwohl es draußen ein warmer Sommertag war. Owen sah die Banner und Wandteppiche, roch brennendes Öl und Leder und Stahl, während er neben dem Lord herlief, und sein Magen war in Aufruhr. Er war diesen Gang als kleines Kind entlanggelaufen. Merkwürdig, dass er sich daran erinnerte. Er wusste, dass sie auf den Thronsaal zugingen.

Ein hochgewachsener Mann kam auf sie zu, ein gutes Stück jünger als der Lord, mit goldbraunem Haar unter einer schwarzen Kappe. Er trug eine schwarze Tunika mit geschlitzten, silberfarben unterlegten Ärmeln und glitzernden Juwelen, und sein energischer Gang war der eines Mannes, der immer in Eile war. Sein Kinnbart war sehr kurz geschnitten, und obwohl er viel größer war als Lord Horwath, wirkte er weniger kräftig.

»Ah, Stiev, wusste ich es doch«, begrüßte er Horwath. »Die Fanfare hat Euch angekündigt. Hier entlang, hier entlang, der König ist bereits auf dem Weg. Wir müssen uns beeilen!«

»Ratcliffe«, erwiderte Horwath mit einem knappen Nicken. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Nur Owen fühlte sich durch das hektische Gebaren des Mannes genötigt, schneller zu laufen.

Ratcliffe rieb sich unruhig die Hände. »Der Quelle sei Dank haben wir die Schlacht überlebt«, raunte er. »Ich hatte große Bedenken. Ist das der Sprössling von Kiskaddon?« Er warf Owen einen verächtlichen Blick zu, dann gluckste er geradezu melodisch. »Sie haben sich für den Jüngsten entschieden. Als ob ihnen das helfen würde. Der König ist außer sich vor Wut, wie Ihr Euch vorstellen könnt. Außerdem schmerzt sein Bein noch immer von der Wunde, die er sich in der Schlacht zugezogen hat. Die Ärzte meinen, sie würde gut verheilen, aber Ihr wisst ja, dass er nicht stillsitzen kann! Ich wünschte, wir könnten ihn dazu bringen, nicht immer auf und ab zu laufen, damit er sich anständig erholt. Was gibt es Neues aus der Westmark?«

Horwath verzog keine Miene, während sie weiter den Gang entlangliefen. »Das werde ich dem König gleich erzählen«, meinte er knapp.

Ratcliffe verzog das Gesicht, und seine Nasenflügel blähten sich. »Wie Ihr wünscht, hütet nur Eure Geheimnisse. Aber lasst Euch gesagt sein, dass der König mir gestattet hat, noch mehr Spitzel für das Espion zu rekrutieren. Wenn sich ein Bäckersweib beim Frühstück über den König beschwert, erfahre ich es noch vor der Abenddämmerung. So, da sind wir.« Er vollführte eine ausladende Geste, als sie den Thronsaal betraten.

Owen wäre fast über die Kante des Teppichs gestolpert, als er in den weitläufigen Saal trat, und musste sich fangen. Er starrte die riesigen Banner an, die von Stangen an den Wänden hingen, die hohe Decke, die von einer Vielzahl von Balken getragen wurde, und die schmucklosen Fenster hoch oben in der Mauer. Nur wenig Licht drang durch sie in den Saal, nicht genug, um Wärme oder Gemütlichkeit zu verbreiten. Ein paar Diener liefen mit Tellern und Weinkrügen umher, und im Kamin prasselte ein großes Feuer. Vier Brunnen sprudelten lebhaft an den vier Ecken der Estrade, doch der Thron darauf war leer.

»Wo ist der König?«, wollte Horwath wissen.

»Er kommt! Er kommt! Wir warten, bis es ihm beliebt zu erscheinen, nicht umgekehrt.« Ratcliffe wirkte aufgeregt, als gäbe es gleich seine Lieblingsspeise. Owen warf ihm einen besorgten Blick zu, halb versteckt hinter dem Mantel von Lord Horwath. Dann ertönten Schritte. Schritte in Stiefeln, aber ungleichmäßig, fast zögerlich. Owen vergrub sich noch tiefer im Mantel und sah zu, wie ein Diener die Tür aufhielt. Ein Bläser hob sein Horn an die Lippen und kündigte mit ein paar schrillen Tönen König Severn Argentine an, den Sieger der Schlacht am Berg Ambion.

Den gefürchteten Herrscher von Ceredigion.

Alle im Saal erhoben sich.

»Vor seinem Tod war Eredur, der Bruder des Königs, ein gut aussehender, liebenswerter Mann. Stark und mutig und, um der Wahrheit Genüge zu tun, mit einem Blick für schöne Frauen. Er war der älteste von vier Brüdern, von denen drei nun tot sind. König Severn ist der jüngste, der letzte Erbe dieses großen Hauses, das jahrhundertelang geherrscht hat. Er kam verkrüppelt zur Welt wie die Wurzel einer Eiche. In Mut und Stärke steht er seinem Bruder in nichts nach, nur an den sanften Eigenschaften mangelt es ihm. Es heißt, die Zunge des Königs sei schärfer als sein Dolch. Ich habe es am eigenen Leibe erfahren und pflichte dem bei.«

Dominic Mancini, Espion im Tempel Unserer Herrin der Quelle von Königsfall

3

KÖNIG SEVERN

Ein Schatten strich über die flackernden Fackeln, als der König in den Saal humpelte, und es war der Schatten auf dem Boden, den Owen zuerst sah. Seine Augen weiteten sich vor Angst. Das also war der Mann, der ihn nach Königsfall bestellt hatte. Der König, den alle Welt fürchtete.

König Severn kam mit schlurfenden Schritten herein, das Gesicht vor Wut oder Schmerz oder einer Mischung aus beidem zu einer Grimasse verzogen. Was Owen als Erstes ins Auge stach, war die schwarze Kleidung. Der König trug hohe, schwarze Stiefel mit einer Reihe von Schnallen und goldbestickten Bordüren an den Nähten mit Stechpalmzweigen. Sein schwarzer Waffenrock, geschlitzt und unterlegt mit Samt und Seide, verbarg gerade so eben ein schwarzes Kettenhemd, das bei jeder Bewegung leise klirrte. Eine lange Goldkette signalisierte seinen Rang. An den Armen trug er breite, schwarze Lederschienen, und seine Hände waren zu sehnigen Fäusten geballt, eine um den Griff eines Dolches an seinem Gürtel. Sein wehender dünner schwarzer Umhang enthüllte das gekrümmte Rückgrat und die schiefen Schultern. Der gebeugte Rücken führte zu einem humpelnden Gang, minderte aber nicht seine Geschwindigkeit.

Verdrossen winkte er dem Bläser ab, als schmerzten ihn die Töne in den Ohren. Dann bestieg er die Estrade mit seinem kühnen, krummen Gang und setzte sich auf den Thron.

Durch seine entschiedene Pose konnte man leicht übersehen, dass eine Schulter höher stand als die andere, zumal er einen Ellbogen auf die Armlehne stützte und das Kinn zwischen Fingern und Daumen hielt. Sein Haar war lang und schwarz, ohne die kleinste Spur von Grau, und steckte unter einer schwarzen Kappe mit einer Perle, die vom königlichen Wappen herabhing. Owen hatte sich einen König mit grauem Haar und Bart vorgestellt, und Severn hatte keins von beidem. Sein Gesicht hätte ansehnlich sein können, wäre es nicht von einer verbissenen Wut gezeichnet gewesen, die sich in allen Zügen ausdrückte. Er schnaufte atemlos und warf einen Blick auf die vor ihm Versammelten.

»Eure Majestät«, sagte Ratcliffe mit ausladender Geste und einer Verbeugung.

Auch Lord Horwath senkte den Kopf und verbeugte sich leicht.

»Raus!«, blaffte der König den Dienern entgegen, die mit Silbertabletts auf ihn zukamen. Die Angesprochenen huschten davon und verließen den Saal.

Nun wandte sich der König Horwath zu und schien Owen zu bemerken, der sich hinter diesem verbarg. Als der Blick aus den dunklen Augen des Königs auf ihn fiel, zog sich Owen der Magen zusammen. Er würde kein Wort herausbringen. Seine Angst war zu groß.

»Sie hat ihren Jüngsten geschickt«, sagte der König und verzog die Lippen zu einem verächtlichen Lächeln. »Das überrascht mich. Nun, sie haben ihren Zug gemacht. Jetzt bin ich an der Reihe.« Er verlagerte sein Gewicht auf dem Thron und zuckte vor Schmerz zusammen. Mit der linken Hand zog er den Dolch ein Stück aus der Scheide und stieß ihn wieder hinein. Die Geste erschreckte Owen noch mehr, als der König sie wiederholte.

»Horwath ist überrascht, Euch auf den Beinen zu sehen, Majestät«, sagte Ratcliffe höflich. »Euer Bein schmerzt noch immer, wie wir sehen.«

»Ich habe diesen Thron nicht bestiegen, um mich verhätscheln zu lassen«, unterbrach ihn der König. »Ich hätte mein Bein auf dem Berg Ambion zurückgelassen und mich mit den Armen nach Königsfall gezogen. Ich brauche keine Krankenwärterin. Ich brauche treue Männer. Meine Feinde sind gefallen. Außer einem.« Er bedachte Owen mit einem bohrenden Blick. »Wie ist dein Name, Junge?«

Owens Stimme versagte ihm den Dienst. Er wusste, dass er nicht sprechen konnte. Zitternd stand er vor dem König, mit einer Zunge trocken wie Sand.

Eine Falte, die von Verärgerung zeugte, bildete sich auf der Stirn des Königs, während er auf eine Antwort wartete, die man nicht mit der Brechstange aus Owen herausgebracht hätte. Die Panik machte Owen ganz schwindlig. Er war starr vor Schreck, seine Beine so nutzlos wie sein Mund.

»Der Knabe heißt Owen«, erklärte Lord Horwath mit seiner brummigen Stimme. »Und ich habe kein Wort von ihm gehört, seit wir Tatton Hall verlassen haben.«

»Ein Stummer?« Severn lachte boshaft. »Eine angenehme Ergänzung am Hof. Hier ist es sowieso schon viel zu laut.« Wieder rutschte er auf seinem Thron hin und her. »Wie haben sie die Nachricht in Tatton Hall aufgenommen, Stiev?«

»Schlecht, wie Ihr Euch vorstellen könnt«, antwortete Horwath.

Der König lachte erneut. »Das kann ich mir allerdings vorstellen.« Dann wandte er sich an Owen. »Dein ältester Bruder ist im Wasserfall gelandet, weil mir dein Vater die Treue versagt hat. Er ist keinen ehrbaren Tod in der Schlacht gestorben, anders als der Sohn dieses edlen Lords.«

Seine Eltern hatten Owen vom Schicksal seines Bruders erzählt, und er erschauderte, wenn er daran dachte, wie Jorganon, an ein Kanu gebunden, in die Tiefe gestürzt war. Owen wusste, dass auf diese Weise im Reich die Hinrichtungen vollzogen wurden, obwohl er es noch nie gesehen hatte. Es war ein schrecklicher Gedanke, dass es ihm und dem Rest seiner Familie genauso ergehen könnte.

»Sein Schwiegersohn«, korrigierte Ratcliffe leise.

Der König sah Ratcliffe gehässig an. »Glaubt Ihr, das kümmert mich, Dickon? Der Gemahl seiner Tochter starb am Berg Ambion, und dennoch hat Stiev Horwath seine Pflicht erfüllt und das Kiskaddon-Balg hierhergebracht, statt nach Hause zu reiten und Tochter und Enkelin zu trösten. Seine Pflicht …«, flüsterte er heiser und hielt einen Finger steif empor wie einen Dorn. »Die Pflicht steht bei Stiev an erster Stelle. Deswegen traue ich ihm, Dickon. Deswegen traue ich Euch beiden. Ihr erinnert Euch an den kleinen Reim, den Stiev am Abend vor der Schlacht in seinem Zelt fand? Lord Horwath seid geschickt, haltet euch im Kampf zurück, morgen endet Severns Glück. Die Botschaft kam von einem unserer Feinde, vermutlich von dem Vater dieses Bengels, um seinen Kampfgeist mit Zweifeln und Angst zu vergiften. Ihr erinnert Euch, was Stiev getan hat, Dickon?«

Ratcliffe verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust und sah verdrossen aus. »Jeder hätte diese Botschaft hinterlassen können, Eure Majestät. Ich untersuche noch immer, wie sie …«

»Spielt das noch eine Rolle, Dickon?«, herrschte ihn der König an. »Am Ende war es ein Spitzel aus Eurem Espion. Die Giftmischerin der Königin, was weiß ich! Aber Stiev hat mir die Botschaft auf der Stelle ausgehändigt. Kalt wie das Eis der nördlichen Gletscher, aus denen er kommt. Über die er für alle Zeiten herrschen wird. Pflichterfüllung und Treue. Diese Tugenden sind mehr wert als sein Gold.« Der König beugte sich vor, legte die Finger wieder um den Griff des Dolches, vollführte neuerlich diese Bewegung – zog ihn ein Stück aus der Scheide und stieß ihn zurück –, und wieder zuckte Owen zusammen.

»Ich war auch am Berg Ambion«, sagte Ratcliffe mit klagendem Unterton. »Mein Espion war es, der den Verräter entlarvte, während die Schlacht um uns herum tobte.«

Der Mund des Königs verzog sich zu einem Lächeln. »Und ich werde Euch diesen Dienst nicht vergessen, mein Freund. Ihr seid loyal, deswegen habe ich Euch das Espion anvertraut, aber ich habe auch nicht vergessen, dass Männer aus dem Espion versucht haben, mich zu ermorden«, sagte er. »Stiev hingegen war mir immer treu.«

Ratcliffes Gesicht wurde rot vor Zorn. »Es ist nicht gerecht, Euer Hoheit, mir das vorzuhalten! Das war vor meiner Zeit. Der Hofmarschall steckte dahinter, und Ihr habt ihn dafür ohne Prozess in den Wasserfall geworfen.«

»Das tat ich im Zorn«, antwortete der König und lehnte sich zurück. Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte Gericht halten sollen.« Er strich seinen Waffenrock glatt, und die Armschiene glänzte im Licht der Fackeln. »Das waren finstere Tage. Überall lauerte Verrat. Eredur hat die Bälle in der Luft gehalten, doch als er starb, fielen sie alle zu Boden.« Sein Ausdruck wurde etwas weicher, als schmerzte ihn die Erinnerung an seinen Bruder noch immer. Dann verhärtete sich sein Gesicht erneut, und er wandte sich an Owen.

»Du bist meine Geisel«, sagte er barsch. »Du bist das Treuepfand für deine Familie. Dein großer Bruder war vor dir Geisel, und er ist tot. Sollte deine Mutter glauben, ich würde dich im Falle ihres Ungehorsams verschonen, nur weil du ein Kind bist …«, seine Stimme wurde zu einem regelrechten Knurren, »… dann kennen sie die Entschlossenheit und Strenge ihres Königs schlecht. Du stehst unter meiner Obhut, Owen Kiskaddon, und ich werde nach Belieben über dich verfügen. Du bleibst im Palast.« Er deutete mit einem Schwenk der Hand auf den großen Saal. »Das hier ist jetzt dein Zuhause. Wirf Münzen in die Brunnen, Junge, und bete, dass mir deine Eltern die Treue halten. Am Berg Ambion hätte ich deinen Vater beinahe gleich mit zum Tode verurteilt. Doch ich übe mich in Geduld.« Er lachte leise, und seine Mundwinkel hoben sich zu einem teuflischen Grinsen. »Du kannst dich darauf verlassen, dass ich deinen Vater auf die Probe stellen werde, Bürschchen. Hoffentlich ist ihm dein Leben mehr wert als das deines Bruders. Dickon, Ihr passt auf den Jungen auf. Weist ihm eine Kammer zu und eine Gouvernante. Ich möchte ihn jeden Morgen zum Frühstück mit den anderen Kindern sehen.«

Owen zuckte überrascht zusammen. Vor lauter Angst hatte er nicht alles verstanden, was der König gesagt hatte, aber eins war klar: Die Sache war komplizierter, als seine Eltern behauptet hatten. Sie hatten gesagt, der König hätte ihn an den Hof bestellt und würde ihn als Mündel annehmen. Doch jetzt wurde er in die Obhut eines Mannes gegeben, der offenkundig keine Kinder mochte. Sie hatten gesagt, er bräuchte keine Angst zu haben, weil es am Königshof Leute gab, die ihm wohlgesonnen waren. Auch das war eine Lüge. Owen war verwirrt und verängstigt, und sein Heimweh steigerte sich ins Unerträgliche.

»Er … er ist jetzt mein Problem?« Ratcliffe machte keinen Hehl aus seiner Verbitterung. »Ich dachte, Ihr würdet ihn Horwath anvertrauen!«

Der König blickte zur Decke, als suchte er zwischen den Balken nach Geduld. »Stiev ist der Herzog von NorthCumbria, Dickon! Sein Schwiegersohn ist tot, er muss sich um seine Tochter und deren Kinder kümmern. Die Schlacht wurde zwar gewonnen, Dickon, aber ich werde erst wieder ruhig schlafen, wenn der Frieden eine Saison lang gehalten hat! In den letzten zwei Jahren hatte ich nichts als Ärger und Katastrophen!« Die Stimme des Königs polterte wie Donner. Er wollte sich vom Thron erheben, fiel aber wieder zurück. Vielleicht schmerzte ihn das Bein. »Ihr leitet das Espion. Da werdet Ihr doch einen Eurer Männer auswählen können, der den Burschen bewacht. Mehr verlange ich nicht. Reißt Euch gefälligst zusammen!«

Ratcliffes Gesicht war finster vor Zorn, doch er schwieg.

Eine große Hand legte sich auf Owens Schulter. Owen sah sich um. Es war die Hand von Horwath, der auf ihn herunterschaute. Der Lord sagte nichts, doch sein Blick war voll Mitgefühl.

Ratcliffe fasste sich schnell, obwohl seine Wangen noch immer von der Rüge gerötet waren. »So sei es, Eure Majestät«, sagte er, »ich suche eine Amme für dieses Baby.« Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.

Owen war kein Baby, doch zu seinem Entsetzen kamen ihm die Tränen, und er begann, stumm zu weinen. Gerade hatte er ein wenig Vertrauen zu Horwath gefasst, und nun ging dieser Mann zurück in den Norden. Jetzt lag sein Wohl in den Händen von Ratcliffe, einem ungeduldigen, großspurigen Mann, den Owen fürchtete. Seine Eltern hatten ihn als Geisel einem König überantwortet, vor dessen Zorn nicht mal die engsten Vertrauten sicher waren.

»Weint er etwa?«, fragte Ratcliffe angewidert. »Wisch dir die Augen, Bürschchen, und hör sofort auf zu flennen!«

Owens kleines Herz brach, und er konnte die Tränen nicht zurückhalten. Wie der Wasserfall, der vor dem Palast rauschte, flossen sie einfach immer weiter.

»Hör endlich auf damit!«, polterte Ratcliffe und kam auf ihn zu.

In diesem Moment drang eine weibliche Stimme durch den Thronsaal, leise, aber streng: »Was aufhören muss, meine Herren, ist dieses Geschrei. Ihr habt das arme Kind zu Tode erschreckt.«

Owen drehte sich nach der Stimme um, doch durch den Tränenschleier erkannte er nicht mehr als langes, goldblondes Haar. Die Gestalt kniete sich vor ihn hin, nahm ein Taschentuch und tupfte ihm das Gesicht ab. Dann schob sie Horwaths Hand von Owens Schulter und legte ihre eigene schmale Hand an die Stelle. Das verschwommene Bild klärte sich, und zum Vorschein kam ein Mädchen, das nur wenig älter war als Owens große Schwester Jessica. Sie hatte grüne Augen mit blauer Maserung und das hübscheste Gesicht, das er je gesehen hatte. Ihr Kleid war aus geschmeidiger lavendelfarbener und blauer Seide, und sie trug einen weißen Surcot mit einem golddurchwirkten Vorderteil.

Als sie freundlich lächelte und ihm voll Mitgefühl und Wärme in die Augen sah, war sie die Verkörperung der berühmten Herrin der Quelle – einer Dame voll Weisheit, Anteilnahme und vollendetem Zartgefühl, die selbst mächtige Ritter durch ihre bloße Anwesenheit in die Knie zwang. Und wie in der Legende schien sie die Wogen des Sturms zu glätten, der gerade noch gewütet hatte.

»Onkel«, sagte sie und wandte sich an den König. »Gestattet mir, den Jungen in die Küche zu bringen und ihm einen Lebkuchen zu geben, während Lord Ratcliffe sich um seine Unterbringung kümmert.«

Owen schielte verstohlen zum König und staunte über die Veränderung in seiner Mimik. Seine Wut schien verflogen, der eben noch angespannte Blick weich, als er seine Nichte ansah. Seine Hand ruhte auf dem Dolchknauf, doch er zog die Klinge nicht heraus. Er lächelte sogar. »Wenn Ihr es wünscht, Elyse«, sagte er und entließ sie mit einem zustimmenden Wink.

»Komm«, sagte Lady Elyse zu Owen, erhob sich langsam und hielt ihm die Hand hin. Er klammerte sich wie ein Ertrinkender an ihre zarten Finger. Dann blickte er zu Lord Horwath auf. Er wollte ihm danken, doch er brachte noch immer kein Wort heraus. Es schmerzte ihn, dass er stumm bleiben musste.

Der Herzog sah Owen in die Augen, mit einem Blick, der für einen achtjährigen Jungen nicht zu deuten war. Sein dichter Kinnbart verdeckte den Zug um seinen Mund. Er nickte Owen zu, als würde auch er ihn entlassen. Owen löste sich aus dem Schutz seines Mantels und folgte Lady Elyse aus dem Saal.

4

DIE KÖCHIN UND

DER HAUSHOFMEISTER

Die Küche lag im Erdgeschoss des Palastes, also war sie hier und da von wuchtigen Pfeilern durchsetzt, die das mächtige Gemäuer stützten, doch es gab auch hohe Fenster, die offen standen und Licht und Luft hereinließen. Durch sie wirkte die Küche hell und heiter, ganz anders als der Thronsaal. Der Anblick entlockte Owen ein Lächeln – das erste, seit er von zu Hause fortgegangen war. Genauso wie in der Küche von Tatton Hall herrschte hier rege Betriebsamkeit, und es gab jede Menge zu sehen. Wurstringe an Haken, Bänke und Tische, beladen mit dicken Fischen und Schalen mit Gemüse. Einen abgetrennten Bereich, wo Kräuter und Gewürze in dicken Büscheln von der gewölbten Decke hingen. Diener eilten ein und aus, mit Weinkaraffen, Brotkörben und Käseplatten. Selbst der Boden mit den rautenförmigen Kacheln war interessant. Anderswo gab es Matten, doch in der Küche war der Boden gefegt und glatt, und Owen ging durch den Kopf, dass es der perfekte Ort wäre, um Kacheln aufzustellen und umzuwerfen.

»Du kannst ja lächeln!«, freute sich Elyse und drückte sachte seine Hand. »Gefällt dir die Küche?«

Er nickte energisch und beobachtete eine Frau dabei, wie sie drei Brotlaibe auf einem Holzschieber aus dem Ofen holte. Elyse führte ihn durch das Gewühl der Diener und Mägde auf die Frau bei den Öfen zu, die Schieber und Brote auf einem geziegelten Tisch abgelegt hatte.

Sie war klein und hatte rotbraunes Haar, das unter einer Haube hervorquoll, und sie trug eine Schürze voller Mehl. Sie hatte eine kleine Narbe an der Wange, doch als sie sich umdrehte und Lady Elyse sah, hellte sich ihr Gesicht erfreut auf.

»Ach du liebes bisschen, Prinzessin! Ihr werdet mit jedem Tag hübscher. Eure Mutter war eine bezaubernde Schönheit, und Ihr werdet noch heller strahlen. Werdet Ihr eine alte Köchin umarmen?«

Elyse war viel größer als die Köchin, aber sie drückte sie herzlich. Dann ging sie neben Owen in die Hocke. Sie streichelte seinen Kopf, was ein wenig kitzelte; dann fasste sie ihn bei den Schultern, als würde sie ihn offiziell einem Publikum präsentieren.

»Liona, das ist Owen Kiskaddon. Er ist ein Gast des Königs und wird eine Weile im Palast wohnen.«

Die Köchin strahlte noch breiter. »Der kleine Bruder von Lord Jorganon! Und so ein großer junger Mann!«, sagte sie fröhlich und tippte sich nachdenklich ans Kinn. »Ihr seid sicher schon zehn, habe ich recht?«

Owen spürte, wie er vor Stolz errötete, doch er schüttelte den Kopf. »Ich bin erst acht.«