Konservativ - Roland Koch - E-Book

Konservativ E-Book

Roland Koch

3,9

Beschreibung

Ob Integration oder Schulstreit, Migration oder Jugendkriminalität, Arbeitslosigkeit oder Finanzkrise, ob Gesundheitsreform oder Kriegseinsatz deutscher Soldaten: Roland Koch hat sich diesen schwierigen Themen immer gestellt. Für ihn, der sich selbst als "konservativen Reformer" bezeichnet, ist klar: Gerade in einer Zeit rasanter Veränderung und wachsender Unsicherheit ist Gestaltungskraft gefordert. Neben Sachverstand brauchen wir aber auch verbindliche Werte und Tugenden, Geschichtsbewusstsein und Rücksicht auf gewachsene Traditionen, um die anstehenden Probleme zu lösen und die Gesellschaft zusammenzuhalten. Welche Veränderungen sind akzeptabel und notwendig? Welche gefährden die Statik unserer Gesellschaft? Dieses Buch formuliert dafür klare Kriterien. Es ist Roland Kochs Abschiedsgeschenk - und ein zukunftsweisendes politisches Manifest zugleich. Er klärt, was "Maß und Mitte" für die zentralen Felder der Politik und der gesellschaftlichen Entwicklung bedeuten. Das Buch ist Summe eines politischen Lebens und überzeugende Darstellung eines konservativen Politikkonzepts. Ein Buch, das klärt. Und eine notwendige Debatte anstößt.

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Roland Koch

Konservativ

Ohne Werte und Prinzipien ist kein Staat zu machen

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten

Satz: Barbara Herrmann, Freiburg

Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-33487-0

ISBN (Buch) 978-3-451-30441-5

Dieses Buch widme ich meiner Frau Anke und meinen Söhnen Dirk und Peter. Meine Familie ist meine Quelle.

Einleitung

Sich mit einem Buch aus der aktuellen Politik zu verabschieden, ist nicht ohne Gefahren. Ich muss mir die Frage gefallen lassen: Warum jetzt, nach der eigenen politischen Arbeit? Ich versuche mit diesem Buch einen Beitrag zur Beseitigung eines Mangels zu leisten, der mich ebenso wie viele meiner Kollegen oft beeinträchtigt hat. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt für mich, ohne die übliche mediale Unterstellung von Hintergedanken und mit beginnendem Abstand von der Tagespolitik über „konservative Politik“ zu schreiben. Ich habe mich selbst im Laufe meiner politischen Entwicklung immer als „konservativen Reformer“ bezeichnet. Das in dieser Formulierung offengelegte Spannungsverhältnis drückt gut aus, worum es mir geht. Wer will heute noch zugeben, konservative Ansichten zu haben? Und dennoch entsteht in unserer Gesellschaft gerade in diesen hektischen und schwer überschaubaren Zeiten ein zunehmendes Bedürfnis, sich als Konservativer zu bekennen und nach konservativer Politik zu fragen. Wer aber die seriösen Debatten zu diesem Thema verfolgt, bekommt ein verwirrendes Bild.

„Der Ruin des Begriffs ist ein allgemeiner. Mit allem, wogegen der Konservativismus seit der Französischen Revolution sich empört hat, hat die Gegenwart ihren Frieden gemacht: Aufklärung, Börse, politischer Zentralismus, Technik, Wohlfahrtsstaat, Hedonismus, Verschuldung, kosmopolitische Haltungen, Lobbyismus.“ So beschreibt der Journalist Jürgen Kaube in der Zeitschrift Cicero (7/2010) seine historische Beerdigung des Begriffes „konservativ“. Die Ansammlung der Begriffe verstört. Wenn die zitierten Begriffe die Programmatik der Konservativen richtig umschreiben, dann ist alles, woran die Konservativen glauben, bestenfalls noch Geschichte. Dann sterben die Konservativen gerade aus.

Ein Blick in das Geschichtsbuch der Gesellschaftstheorien: 1818 veröffentlichte François René Chateaubriand seine Zeitschrift „Le Conservateur“. Sie verschwand schon nach zwei Jahren wieder, das Wort blieb und wurde spätestens 1830 auch in Deutschland verankert. Da war die Aufregung über die Französische Revolution, die mit allem Hergebrachten gebrochen hatte, gerade aufgearbeitet. Dieser Bruch mit allem ging so weit, dass sogar neue Uhren konstruiert wurden, um die neue Zeit nach dem metrischen System zu berechnen, und dass das Jahr der Revolution zum neuen Jahr eins der Weltgeschichte erklärt wurde. Chateaubriands Zeitschrift wandte sich übrigens entschieden gegen den reaktionären Kurs der Bourbonen. Konservative haben sich also zuerst gewehrt. Sie waren gegen das gezwungene, künstliche Neue nur um des Neuen willen. Aber wollten sie wirklich nur das Alte? Die Worte Natur, Geschichte und Reform müssen uns beschäftigen.

Die politische Standortbestimmung der Konservativen hat offensichtlich bis heute oder sogar gerade heute ihre Probleme. Ich lebe seit vielen Jahren mit dem Etikett des Konservativen. Dabei habe ich mich anfangs keineswegs darum beworben, unter diesem einen Begriff alle meine programmatischen Ideen zusammenzufassen. Irgendwie muss es zu diesem Etikett gekommen sein. Aber wer glaubt, das mache mich zu einem Protagonisten der Senioren, verkennt: In Wahrheit erhalte ich für meine Person und die damit vertretene Politik gerade bei den jüngeren politisch Interessierten die meiste Zustimmung – so kräftig, dass es schon wieder wundert. Familie, Nation, harter Staat, freie Marktwirtschaft, Verbot der Abtreibung sind oft die Stichworte, die mir begegnen. So ganz ausgestorben ist das Konservative noch nicht.

Die Debatte macht auch vor der CDU nicht halt. Die Parteivorsitzende Angela Merkel muss mit der nach meiner Erfahrung falschen Unterstellung leben, sie schätze das Konservative nicht. In der Partei selbst ist der Ausdruck „Sozialdemokratisierung der CDU“ ein beliebtes Instrument der Selbstgeißelung. Wenn dann der Versuch unternommen wird, das Konservative in der CDU wieder schärfer herauszuarbeiten, entstehen Papiere, die eine gesellschaftliche Grundkonzeption aus meiner Sicht nicht tragen. Jetzt verlasse ich die parteipolitische Arena und denke darüber nach, was ich den wirklich politisch Neugierigen, die Lust auf die Frage hinter den einfachen Antworten haben, zu diesem Thema verbindlich sagen soll. Verbindlichkeit ist schließlich auch eine konservative Tugend. So betrachte ich dieses Buch auch als eine Art persönliches Abschiedsgeschenk am Ende einer herausfordernden und faszinierenden Zeit in direkter persönlicher Verantwortung.

Die Konservativen leben noch. Sie wissen nur nicht mehr so genau, warum. In jeder sich rasch verändernden Gesellschaft muss und wird es eine Diskussion über Verlauf und Geschwindigkeit der Veränderungen geben. Friedrich von Gentz, einer der einflussreichen Staatsphilosophen der napoleonischen Zeit, hat die Wechselwirkung so zusammengefasst: „Zwei Prinzipien konstituieren die moralische und intelligible Welt. Das Eine ist das des immerwährenden Fortschritts, das Andere das der notwendigen Beschränkung dieses Fortschritts“ (Brief an den Historiker Johannes von Müller, zitiert nach Jakob Baxa, Einführung in die romantische Staatswissenschaft, Jena 1931, S. 231). Diskussionen über Veränderungen bringen immer „Konservative“ auf den Plan. Solange es Veränderungen gibt, und es gibt sie heute in einem historisch zu nennenden Ausmaß, wird der konservative Standpunkt nicht aussterben.

Konservative sind heute nicht heimatlos, aber planlos. Ihnen fehlt ein intellektueller Überbau zu Einstellungen und Forderungen. Gerade die Tatsache, dass konservative Positionen heute in Deutschland ein Element der aus unterschiedlichen Wurzeln kommenden Volkspartei CDU sind, macht einen verständlich abgegrenzten konzeptionellen Kern des spezifisch Konservativen unerlässlich. Das Fehlen des sichtbaren konservativen Kerns führt zu Frustration und gelegentlicher Radikalisierung derer, die sich diesem Denken verbunden fühlen, und ist zugleich das Einfallstor der vermeintlich liberalen und fortschrittlichen Vertreter, die das Konservative wegen dieser fehlenden Begründung als überlebt betrachten. Ein konservatives Konzept, das alles bewahren will, wäre Restauration. Auch wenn ich ein solches Konzept für falsch halte, wäre es wenigstens eine klare Ansage. Dann weiß jeder, wofür man ist – das Bestehende – und wogegen man ist – die Veränderung. Konservative waren im Laufe der Geschichte gegen vieles, wenn auch nicht gegen alles zur gleichen Zeit. Aber welche Veränderungen sind für sie akzeptabel und warum? Wie verändert sich die Gesellschaft, wenn Konservative sie lenken?

Konservative Politik verändert die Welt, beachtet dabei aber eine gesellschaftliche Statik von Werten und Traditionen. In der multipolaren und multikulturellen Welt des 21. Jahrhunderts sind wir zutiefst verunsichert in Bezug auf unsere Werte und unsere Traditionen. Das trifft alle. Für die Ideen eines Konservativen ist es jedoch besonders tragisch. Er ist in der Regel nicht stur genug, aus Unsicherheit alles Alte zu vertreten, aber nicht selten vor dem Zeitgeist zu ängstlich, um über den zentralen Einfluss von Werten und Traditionen überhaupt noch zu reden.

Konservative stehen im Meinungsstreit mit den Linken, die zwar gelegentlich restaurative Ideen haben, sich aber in der schieren Ablehnung des Begriffes „konservativ“ sehr einig sind. Linke vertreten zumeist die attraktive Grundposition, dass der Mensch und die Welt von Natur aus vollkommen sind und nur die Umstände dafür verantwortlich sind, dass wir eine so unvollkommene Welt mit unvollkommenen Menschen sehen. Das macht jede Veränderung leicht begründbar, muss sie doch nicht am Maßstab der Vergangenheit, sondern am Maßstab der Vollkommenheit gemessen werden. Damit aber sind Konservative nicht die Bewahrer des Bewährten, sondern die Verteidiger des Unvollkommenen.

Die Konservativen hatten als Antwort darauf nie eine dem kommunistischen Manifest ähnliche grundlegende Programmschrift. Edmund Burkes „Reflections on the Revolution in France“ aus dem Jahr 1790 taugt aus verschiedenen Gründen nicht dazu. Und auch die Entwicklung der vermeintlich so dogmatischen konservativen Positionen im Lauf der Zeit verdeutlicht: In der mit der Französischen Revolution beginnenden Geschichte des Konservativen finden sich Argumente für oder gegen die Nation, für oder gegen die Demokratie, für oder gegen Pluralismus und Moderne. Der Historiker John Greville Agard Pocock hat einmal analysiert: „Zu viele Geister haben aus zu vielen Gründen versucht, zu viele Dinge zu bewahren, als dass sich so etwas wie ein Kanon politischer Inhalte benennen ließe. Ja mehr noch: Oftmals hat der Konservative heute verteidigt, was er gestern abgelehnt hat – die Demokratie zum Beispiel“ (Pocock, „Einführung“ in Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France, Indianapolis 1987).

Manche vermeintlich kritischen Geister haben an dieser Stelle schon genug von konservativen Ideen. Andere – wie ich selbst – akzeptieren dieses Spannungsfeld zwischen Bewahren und Verändern als besonders reizvolle Grundhaltung für das wertebestimmte, geschichtsbewusste und selbstkritische Herangehen an die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. Da liegt auch die Brücke zwischen den Konservativen und den kritisch rationalen Schülern Karl Raimund Poppers, zu denen ich mich immer gezählt habe. Für die Kommunikation einer zumindest auch konservativ geprägten Politik hat die Zurückhaltung in programmatischen Fragen eine fatale Folge: Eine in konservativer Gelassenheit (Tugend) vorgetragene Ordnung der Welt (Programm) schließt immer die kritische Prüfung der realen Umgebungsbedingungen und der realen Lebenserfahrungen ein. Dogmatismus und Pragmatismus reiben sich. Das unterscheidet jedenfalls im 21. Jahrhundert Konservative von Sozialisten, die ihren historischen Materialismus keiner kritischen Reflexion opfern wollen.

Es gehört zu den Zielen dieses Buches, die Betrachtung konservativer Politik nicht mit der relativ bequemen These, konservative Kontinuität gebe es nur bezüglich der Tugend, nicht aber bezüglich des Programms, enden zu lassen. Die Unterschiedlichkeit der Menschen und ihre Würde, die daraus erwachsende Achtung der Freiheit und die Pflicht zur Mitmenschlichkeit, der Respekt vor einer die Menschen gerecht behandelnden Ordnung und die Verpflichtung zu einem Grundkanon bürgerlicher Werte wie Familiensinn und Bildungswille sind programmatische Normen, die die Zeiten überdauern und ohne die es den Wert der Tugenden ja gar nicht gäbe.

In Deutschland hat es sich eingebürgert, „konservativ“ und „rechts“ gleichzusetzen. Auch deshalb verwundert es nicht, warum es vielen so schwer fällt, von sich selbst zu sagen, sie seien Konservative, obwohl es doch so viele sind. Manchmal haben sogar führende Repräsentanten der CDU Angst, für sich und ihre Partei dieses Wort in den Mund zu nehmen. Dieser mangelnde politische Mut führt dann wieder dazu, dass diejenigen, die so denken und es nicht sagen, am Ende politisch heimatlos werden. CDU und CSU können eine rechts außen verortete Partei nur verhindern, wenn sie das konservative Element der politischen Debatte pflegen und offensiv benennen. Das muss ja nicht für jedes Parteimitglied gelten, obwohl viele auch sehr moderne Positionen durchaus vor einem konservativen Hintergrund gut erklärt werden können und müssen. Auch dazu will dieses Buch beitragen. Die Debatte ist intellektuell anspruchsvoll und manchmal, leider, hartes Brot. Aber die mangelnde programmatische Präsenz des Konservativen in der CDU macht ganze Gruppen unserer Bevölkerung praktisch mundtot, und sie müssen sich das in einer Demokratie nicht auf Dauer gefallen lassen. Glücklicherweise sind Rechtspopulisten, die in dieses sich anbahnende Vakuum vordringen wollen, diesen intellektuellen Ansprüchen praktisch nie gewachsen. Glücklicherweise ist der Gemeinschaftssinn in der Union so groß, dass sich auch in den nächsten Jahren kein Politiker von nationaler Bedeutung „vor einen rechten Karren spannen“ lässt. Aber die Zeit, die die Verantwortlichen meiner Partei haben, ihre Positionen mit Selbstbewusstsein und Stolz zu entwickeln und zu vertreten, ist nicht unbegrenzt.

Um journalistischen pawlowschen Reflexen vorzubeugen, sei hier festgestellt, dass ich nicht erwarte, dass das alles von Angela Merkel allein in der CDU geschultert wird. Ihr Profil ist für uns wertvoll. Aber auf der konservativen Seite fehlt heute in der deutschen Politik die intellektuelle Schärfe eines Alfred Dregger oder Walter Wallmann, und sie wird nur wieder entstehen, wenn junge Menschen das Gefühl haben, dass die CDU auch für diese Ideen die Plattform sein will. Die Protagonisten müssen sich dann allerdings auch die Mühe der eigenen gedanklichen Schärfe machen. Sogar die demokratische Rechte in Deutschland leidet an oft unscharfen Programmen, die schnell schrill oder dümmlich klingen. Die extreme Rechte zeichnet sich glücklicherweise wirklich durch ein kaum vorstellbares Maß an Dummheit aus. Das bedeutet: Die Formulierung einer Politik von „Maß und Mitte“, wie sie der ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg Erwin Teufel in seinem gleichnamigen Buch beschrieben hat, muss von einer stabileren Anerkennung konservativer Positionen begleitet sein. Sie müssen sich eindeutiger und verständlicher, aber auch einfühlsamer und zukunftsgewandter präsentieren. Das möchte ich an einigen Beispielen zeigen.

Dabei gehe ich von der Überzeugung aus, dass die sich rasch verändernde gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation gerade die Sehnsucht nach Verbindlichkeiten jenseits der Tagespolitik immer deutlicher spüren lässt. Wenn daraus weder eine destruktive Zukunftsverweigerung noch eine prinzipienlose Veränderungshektik werden soll, bedarf es eines Konsenses über einige prinzipielle Fragen. Ich nenne dies den „deutschen Konsens“, weil kein Volk einen Anspruch darauf erheben sollte, die Prinzipien seines Zusammenlebens in Freiheit auch für andere verbindlich zu machen. Es geht bei diesem Konsens um die grundlegende Ordnung, in der wir leben wollen. Das ist keineswegs nur eine Frage von Gesetzen. Es ist auch die Frage von patriotischer Identifikation und der Bereitschaft der einzelnen Staatsbürger, Verantwortung zu übernehmen. Seit Chateaubriand das Wort „konservativ“ in die Debatte einbrachte, haben wir Erfahrungen gesammelt, die es für eine friedliche und von allen akzeptierte Ordnung der Zukunft zu nutzen gilt. Genau hier sind Konservative die Experten.

Die so umrissene Annäherung soll in einer Kombination aus zeitgeschichtlicher Faktenaufnahme, meinen persönlichen Erlebnissen und einer grundsätzlichen Einordnung bestehen. Neben einer Betrachtung über „das Konservative an sich“ will ich den Versuch wagen, mich der Unterscheidung zwischen dem, was nach meiner Überzeugung wirklich konservative Prinzipien sind und bleiben, und dem, was eben nur tagespolitische Ausgestaltung unseres in vielfachen Abhängigkeiten stehenden Lebens ist, zu nähern. Dabei beginne ich mit sehr grundsätzlichen Überlegungen zur Verantwortung für das Leben und versuche so, die Grundlagen für die Keimzelle jeder Gesellschaft, die Familie, deutlich zu machen. Ich werde daran anschließend über die Themenbereiche Bildung und Wirtschaft zu dem vorzudringen versuchen, was unsere bürgerschaftliche Gemeinschaft zusammenhalten kann und muss.

Natürlich werden in diesem Buch nicht alle Einzelthemen, die im Zusammenhang unseres Themas wichtig sind, in der Ausführlichkeit dargestellt, die sie verdienen. Das Thema Menschenrechte etwa wird aber auch im Zusammenhang des Kapitels über Religion oder Europa angesprochen. Entscheidend ist hier wie bei anderen Themen die Einsicht eines Konservativen, dass politisches Handeln an dem zugrundeliegenden Menschenbild Maß nimmt und danach fragt, welche Werte und Prinzipien die Freiheit des Einzelnen aber gleichermaßen auch die Bindekräfte unserer Gesellschaft und unseres Staates stärken.

1. Verantwortung für das Leben

„Wie hältst du es mit dem Lebensschutz?“

„Wie hältst du es mit dem Lebensschutz?“ Diese Frage ist vor allem für viele junge politisch engagierte Menschen in unserem Land die Gretchenfrage, wenn sie darüber diskutieren, ob sie einem Politiker das Prädikat „konservativ“ verleihen können oder nicht. Deshalb habe ich mich entschieden, meine Überlegungen genau an diesem Punkt zu beginnen, obwohl ich weiß, dass damit schon das erste Kapitel nicht zu den einfachen gehört. Das Gefühl gerade dieser jungen Menschen ist richtig: An den Fragen „Wie stehen wir zum Leben?“ und „Verliert das Leben in der modernen Welt an Wert?“ entscheidet sich, ob das Gesicht unserer Gesellschaft ein menschliches ist. Doch der Schutz des menschlichen Lebens gehört leider für gewöhnlich nicht zu den regelmäßig wiederkehrenden Punkten auf der Tagesordnung der politischen Debatte in unserem Land. Wie kommt es dennoch, dass nicht nur Jungpolitiker, sondern auch Medien ausgerechnet die persönliche Haltung eines Politikers zu den politischen Fragen des Lebensrechts als maßgeblichen Indikator dafür ansehen, wie konservativ er ist? Dieser Frage sollte man zuerst nachgehen, bevor man im Weiteren darüber nachdenkt, ob Entscheidungen im Bereich des Lebensschutzes tatsächlich ein geeignetes Kriterium für die Bewertung der konservativen Gesinnung von Politikern darstellen.

Ich habe 2006 mit großem Interesse verfolgt, wie die Delegierten der Jungen Union aus ganz Deutschland sich auf ihrer Bundesversammlung in Wiesbaden mit einem Antrag auseinandergesetzt haben, der eine Evaluation der aktuellen Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch und einen Ausbau der öffentlichen Maßnahmen zur Hilfe für junge Frauen im Schwangerschaftskonflikt forderte. Abgesehen davon, dass ich die Abtreibungsdebatte der 80er Jahre als aktives Mitglied und Amtsträger der Jungen Union selbst miterlebt und daher in sehr konkreter Erinnerung hatte, war diese Diskussion 2006 für mich auch in meiner damaligen Funktion als Landesvorsitzender der CDU Hessen von Bedeutung: Antragsteller des Papiers zum Paragraphen 218 StGB war der Landesvorstand der Jungen Union Hessen, also der Nachwuchs meiner Landespartei. Einen aktuellen Bezug oder gar einen konkreten politischen Anlass, dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen, gab es nicht. Die Versuche von Mandatsträgern aus den Reihen der Jungen Union, die Debatte aus Sorge um die mediale Wirkung und die politischen Reaktionen herunterzuspielen und den Antrag per „Überweisung an den Bundesvorstand“ schnell vom Parkett des Wiesbadener Kurhauses zu bringen, scheiterten am entschlossenen Widerstand von zahlreichen Delegierten aus verschiedenen Landesverbänden. Es schien der Basis der Jungen Union, die sich schon seit einigen Jahren als „konservative Vorhut“ begreift und darstellt, also ein wichtiges Bedürfnis zu sein, das Tabu-Thema Abtreibung zu diskutieren. Gesellschaftlich gesehen herrschte nach wie vor weitgehend Konsens über die in den 80er Jahren und nach der Wiedervereinigung Deutschlands beschlossenen juristischen Regelungen im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs. Politisch gesehen war angesichts der seit der Bundestagswahl 2005 regierenden Großen Koalition nicht wirklich davon auszugehen, dass es zu Novellierungen oder gar neuen Gesetzen in diesem Themenbereich kommen würde. Die Jungpolitiker der CDU werden all das selbst gewusst haben – und diskutierten dennoch auf ihrer zeitlich straff organisierten Jahrestagung ausführlich darüber, ob und wie sich eine dem „C“ und konservativen Wurzeln verpflichtete Union neu zu Fragen des Lebensschutzes zu positionieren habe. Warum?

Die Grundsätze: Verantwortung und Menschenwürde

In solchen und ähnlichen Begebenheiten des politischen Lebens innerhalb und außerhalb meiner Partei kommt eine Neigung zum Ausdruck, die besonders Konservativen eigen ist: Sie wollen die weiteren Zusammenhänge darstellen, das große Ganze diskutieren, in ihren Entscheidungen grundsätzlich werden. Dieser manchmal etwas sperrige, oft aber sehr hilfreiche Hang zum Grundsätzlichen liegt im Wesen des politischen Konservatismus selbst begründet. Es gibt kein Programm des politischen Konservatismus, sehr wohl aber durchgehende Spuren, die wie Bahngleise im Boden der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung verankert sind. Es sind Leitlinien und Prinzipien, keineswegs jedoch vorgefertigte Antworten auf alle denkbaren politischen Fragestellungen. Entgegen dem Vorurteil mancher Medien haben Konservative kein politisches Programm, dessen tagtägliche Abarbeitung die erste und einzige Motivation für ihr politisches Engagement ist. Politische Grundsatzprogramme, wie Parteien sie von Zeit zu Zeit formulieren, dienen immer zuerst der Selbstvergewisserung einer politischen Gruppe. Da die politische Gruppe der Konservativen über kein solches „schlaues Buch“ verfügt, das auf jede Sachfrage eine feststehende politische Antwort vorgibt, findet ihre Selbstvergewisserung vor allem im Gespräch über die grundsätzlichen Inhalte ihres politischen Bekenntnisses statt.

Der Glaube an die Einzigartigkeit jeder Person, das Bekenntnis zur Würde des Menschen und daraus resultierend der Wille zum unbedingten Schutz des menschlichen Lebens: Diese Trias gehört zum Kernbestand konservativer Überzeugungen. Während der konservative Politikansatz bei vielen politischen Fragestellungen seinen Ausdruck im Pragmatismus findet, stellt das Menschenbild der Konservativen so etwas wie einen ideellen Kern dar, der nicht zur Disposition steht, sei es politisch gelegen oder ungelegen. Vor diesem Hintergrund kann man verstehen, weshalb besonders die Diskussionen über Fragen des Lebensschutzes stets Konservative auf den Plan rufen. Wo es um den Ursprung und das Ende des Lebens geht, wird es grundsätzlich. Hier erfährt das Wissen seine Grenzen, und es beginnt die Sphäre des Glaubens. Fragen über Leben und Tod erzwingen ein Bekenntnis. So gehören Debatten über Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik (PID) und Abtreibung zu den wenigen Gelegenheiten, bei denen Konservative in seltener Einhelligkeit auftreten können und damit überhaupt erst als Konservative in Erscheinung treten. Dies erklärt, weshalb viele Konservative und ihre Beobachter in den Medien dazu neigen, die Debatten zu bioethischen Fragestellungen als Gradmesser des Konservativen schlechthin anzusehen.

Dabei können konservative Politiker in Deutschland über ihr eigenes ideelles Rüstzeug hinaus nicht zuletzt auf unsere Verfassung zurückgreifen, wenn es um Fragen des Lebensschutzes geht. Dem Grundgesetz liegt wie den meisten Verfassungen in demokratischen Staaten ein zentraler Konflikt zugrunde. Es ist die Frage nach dem richtigen Maß, nach der goldenen Mitte zwischen dem Schutz der menschlichen Würde auf der einen Seite und der Gewährung der individuellen Freiheit auf der anderen Seite. Was etwa in Fragen der Stammzellforschung mit Blick auf den Schutz der befruchteten Eizelle und der Gewährung von Forschungsfreiheit miteinander in Konflikt geraten kann, bedingt einander gleichzeitig. Unser Grundgesetz sagt nicht: entweder Würde oder Freiheit, sondern: sowohl Würde als auch Freiheit. Die Verfassungen politisch nahstehender befreundeter Staaten wie die Frankreichs und der USA legen in dieser Abwägung den Schwerpunkt auf die Freiheit, was angesichts der Französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitskriege relativ einfach historisch zu begründen ist. Ebenso historisch zu begründen ist auch die Wertentscheidung des Grundgesetzes, dem Schutz der Würde in unserer Verfassung in besonderer Weise Priorität einzuräumen. Nach den schrecklichen Gräueltaten der Nationalsozialisten war es nicht zuletzt dem klaren Bekenntnis im Artikel 1 unserer Verfassung zu verdanken, dass die Deutschen wieder einen Anspruch auf Achtung durch die anderen Völker erlangen konnten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Mit diesem Satz ist die besondere Betonung der Würde im Konflikt zwischen Würde und Freiheit Teil der deutschen Verfassungstradition geworden. Diese Feststellung ist nicht bloß juristische Prosa, sondern verpflichtet die Deutschen und im Besonderen ihre politischen Verantwortungsträger, an bioethische Fragestellungen in entsprechender Weise heranzutreten und ihren Einfluss auch in der längst international gewordenen bioethischen Diskussion entsprechend geltend zu machen.

Wir Deutsche sollten für uns in Anspruch nehmen, dass eine gemeinsame Geschichte als Staat auch besondere gemeinsame Wertüberzeugungen als Volk begründet. Deutschland ist historisch gesehen nicht dazu berufen, bei der gentechnischen Veränderung des menschlichen Erbgutes begeisterter Tabubrecher und ungebremster Vorreiter zu sein. Die Frage der Würde des Menschen hat für uns in der Interpretation der Spielräume für Forschung auch in Zukunft mit Sicherheit größeren Stellenwert, als dies für Länder mit anderen Traditionen gilt. Der historische Hintergrund dieser Entwicklung sollte uns jedoch davon abhalten, die besondere Betonung unsererseits zu verwechseln mit dem nicht zutreffenden Vorwurf einer angeblich minder ausgeprägten Achtung der menschlichen Würde durch andere Nationen und Völker. Der Würdebegriff des Grundgesetzes wird ebenso wie das ihm zugrunde liegende „christliche Menschenbild“ in vielen bioethischen Debatten zitiert, ohne weitergehend ausgedeutet zu werden – was besonders bei Konservativen mit ihrem besonderen Augenmerk auf solchen Auseinandersetzungen für Unzufriedenheit sorgt. Es ist nicht Aufgabe des Politikers, philosophische und theologische Grundsatzfragen abschließend zu beantworten. Aber jeder, der politische Verantwortung übernimmt, ist zur Rechenschaft darüber verpflichtet, welche politischen Implikationen sich für ihn persönlich mit dem Schutz der Würde und dem christlichen Menschenbild verbinden. Für Politiker einer Partei mit dem „C“ im Namen gilt das in besonderer Weise. Und Konservative sollten es bei solch grundsätzlichen Fragen nicht an Klarheit mangeln lassen.

Das christliche Menschenbild beinhaltet zwei Dimensionen. Zum einen manifestiert es die Würde des Menschen als die Unverletzlichkeit der einzigartigen Identität eines jeden Menschen. Die Würde wird dem Menschen nicht gegeben, er hat sie. Das gilt für jeden Menschen, gleich, wie er entstanden ist, in welchem Entwicklungsstadium er sich befindet und in welchem körperlichen oder geistigen Zustand er ist. Diese Klarstellungen sind nur scheinbar banal, denn die meisten bioethischen Kontroversen kreisen letztlich um die Frage, ob die involvierten Akteure diese Schlussfolgerungen anerkennen oder nicht. Zum anderen besteht das christliche Menschenbild eben genau darin, dass der Mensch das Recht auf ein eigenes Handeln hat. Dieses Recht impliziert auch die Verantwortung vor den Mitmenschen und vor Gott. Grundlegend bleibt die Erkenntnis, die sowohl unser Grundgesetz als auch das christliche Menschenbild in sich tragen: Der Mensch ist nicht der Herr aller Dinge.

Chancen und Risiken der Biotechnologie

Besonders im Hinblick auf die biotechnologischen Möglichkeiten des Menschen scheint die Erfahrung jedoch genau gegenteilig zu sein: Die Zahl der Dinge, über die der Mensch verfügen kann, nimmt zu. Ich halte diese Entwicklung keineswegs nur für bedenklich und gefährlich. Der biotechnologische Fortschritt bringt Chancen und Risiken mit sich. Auch aus konservativer Sicht gilt es, beides zu betonen, da mit einer einseitigen Betrachtung der Gefahren und Risiken weder die Realität treffend beschrieben noch den Zielen des Lebensschutzes langfristig gedient ist. Das ist der Grund, weshalb ich in meiner Amtszeit als Ministerpräsident den Diskurs über dieses Thema nicht nur mit den Kirchen und Lebensschützern, sondern stets auch mit den Forschern und Biotech-Unternehmen gesucht habe. Wir neigen in Deutschland zur Problematisierung in einem Ausmaß, das oft nichts Gutes mehr zulässt. In Hessen hat die Debatte über die Anwendung von biotechnologischen Verfahren heftigere Wellen geschlagen als in anderen Bundesländern. Nicht nur in der Politik, sondern auch in den Genehmigungsbehörden hat bei Anfragen aus der Pharmaindustrie und Biotech-Branche oft und lange die Skepsis überwogen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Humaninsulinanlage am Standort der früheren Höchst AG in meinem Heimat-Wahlkreis. Nachdem man über Jahre hinweg die Genehmigung diskutiert hatte, entstand dort die weltgrößte Produktionsanlage für Humaninsulin. Sie deckt heute nicht nur den europäischen Bedarf ab, sondern darüber hinaus auch einen Großteil des Bedarfs auf dem US-amerikanischen Markt. Dieses Beispiel hat mich seinerzeit ermutigt, als Ministerpräsident 2001 das Ziel auszurufen, Hessen mit Hilfe der bereits bestehenden exzellenten Infrastruktur zum Biotechnologiestandort Nummer eins in Deutschland und Europa zu machen. Mein Anspruch war es, dass wir Deutschen den zu erwartenden Quantensprung in der Biotechnologie nicht bloß als passive Zuschauer erleben, sondern seine maßgeblichen Taktgeber werden. Diesen Anspruch sollten wir auch weiterhin formulieren, gerade mit Blick auf das Ziel, ethisch verwerfliche Verfahren, Techniken und Anwendungen so gut es geht zu verhindern oder mindestens in ihren Auswüchsen zu vermindern. Doch wer so argumentiert, gerät schnell ins Schussfeld aller Teile der an diesem Themenbereich interessierten Öffentlichkeit: Der Forschungsgemeinschaft und ihren starken Lobby-Verbänden gilt man als Bremser, der Chancen verpasst, den Lebensschutz-Verbänden ist man zu offen für einen Dialog, dessen Kernfrage nach ihrer Sicht der Dinge – Leben oder Tod – keine Offenheit zulässt. Ich sehe es nach wie vor als einen wichtigen Beitrag an, in diesen Jahren des Booms der Biotechnologie für Differenzierung geworben und damit Korridore für eine vernünftige Diskussion eingerichtet zu haben. Es war etwa 2002 nicht selbstverständlich, als Landesregierung einen Biotech-Kongress zu veranstalten. Die Klarstellung, dass der Umgang mit menschlichem Erbgut etwas prinzipiell anderes als die Forschung nach der Genomstruktur des Reiskorns ist, wurden nicht von allen anwesenden Vertretern der Pharmafirmen und Forschungslabore gleichermaßen positiv aufgenommen. Ein wichtiger Beitrag der Konservativen in diesen komplexen Debatten besteht gerade darin, die Dinge beim Namen zu nennen und diese Ehrlichkeit und Konsequenz auch von den übrigen Akteuren einzufordern. Um sich jedoch erfolgreich für Transparenz einsetzen zu können, muss man an der Debatte teilnehmen und kompetent mitdiskutieren können.

Viele Konservative glauben gerade mit Blick auf den biotechnologischen Fortschritt, den Zug der Zeit nicht mehr steuern, geschweige denn aufhalten zu können. Angesichts mächtiger wirtschaftlicher Interessen auch in diesem ethisch sensiblen Bereich fühlen sie sich machtlos. Ihre Sorge ist durchaus berechtigt. Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder etwa sprach weit im Vorfeld der ersten Entscheidung zur Forschung an embryonalen Stammzellen in einem Interview im Mai 2001 davon, dass der Schutz von menschlichen Embryonen zwar moralisch geboten sei, es aber ebenso zu unserer moralischen Verantwortung gehöre, dass wir uns um Arbeit und Wohlstand kümmerten. Schröder konstruierte einen Gegensatz zwischen Embryonenschutz und Wirtschaftswachstum. Ich führe es auch auf den damaligen Einsatz der Union zurück, dass diese Frage nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten in den biotechnologischen Debatten von heute eine deutlich untergeordnete Rolle spielt. Ich selbst erinnere mich an viele Debatten zu diesem Thema in dieser Zeit, etwa an eine ausführliche Podiumsdiskussion über die Risiken des biotechnologischen Fortschritts in der evangelischen Akademie in Hofgeismar. Für mich stand damals schon fest, dass die Forschung im Bereich der Biotechnologien zwar von ökonomischem Mehr- oder Minderwert sein kann, nie aber das Schicksal unserer Gesellschaft definieren wird. Deshalb muss auch heute noch gelten: Wer gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit dem Embryonenschutz über die Proklamation der Hoffnung auf neue Arbeitsplätze die gesellschaftliche und demokratische Grundlage entziehen will, handelt zutiefst gewissen- und verantwortungslos. Er vergeht sich damit langfristig am Rechtsbewusstsein der Menschen in unserem Land und richtet damit einen möglicherweise folgenschweren Schaden an.

Es brauchte gerade in diesen Jahren der großen Hoffnung auf die Entwicklung neuer Medikamente und Therapien viel Mut, um sich als Politiker für die Diskussion dieser weitreichenden Entscheidungen die notwendige Zeit zu nehmen. Viel Zeit war und ist auch deshalb notwendig, weil wir angesichts der neuen technischen Möglichkeiten vor neuen moralischen, ethischen und juristischen Herausforderungen stehen, für die wir noch keine ausreichenden ethischen Bewertungskriterien entwickelt haben. Unsere bisherigen ethischen Grundprinzipien können nicht mehr so einfach angewandt werden wie bisher. In der neuen Auseinandersetzung geht es um die Abwägung des höchsten Rechtsguts, Leben gegen Leben. Diese höchste Form der Abwägung war bisher nur in seltenen Extremsituationen gegeben, etwa im Fall der Notwehr oder im Fall des Schwangerschaftsabbruchs wegen einer Gefahr für das Leben der Mutter.

Konfliktfall Stammzellforschung

Angesichts der weltweit zunehmenden Forschung mit embryonalen Stammzellen wurde die Politik 2002 vor die Herausforderung gestellt, diese Abwägung auch im Fall der Stammzellforschung vorzunehmen und ein für alle Mal gesetzlich festzuschreiben. Es ging um die Frage, ob und in welchem Umfang es erlaubt sein soll, mit den in früheren Jahren bei der künstlichen Befruchtung außerhalb des Mutterleibs „überzählig übrig gebliebenen“ befruchteten Eizellen „verbrauchend“ zu forschen. Jedem, der sich seriös mit dieser Art von Forschung auseinandersetzt, muss klar sein, dass dabei die Tötung der befruchteten Eizellen in Kauf genommen wird, ja sogar fest mit ihr gerechnet werden muss. Konservative können sich auf Diskussionen darüber, ob hier schon von menschlichen Wesen gesprochen werden kann oder nicht, nur begrenzt einlassen. Immer, wenn es darum geht, zeitliche Fristen für den Beginn und das Ende menschlichen Lebens festzulegen, tendieren Konservative aus Erfahrung zu Recht zu derjenigen Lösung, die am wenigsten für Willkür anfällig ist. Das gilt mit Blick auf das Ende des menschlichen Lebens, das erst in dem Moment, in dem alle Köperfunktionen erloschen sind, als gegeben angesehen werden kann. Und das gilt für den Beginn des Lebens im Moment der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Dies ist der früheste Zeitpunkt, an dem davon gesprochen werden kann, dass alle grundlegenden Bestandteile für ein neues Leben zusammengekommen sind. Überlässt man die befruchtete Eizelle ihrer natürlichen Entwicklung, spricht die größte Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein weiterer Mensch auf die Welt kommt. Der Mensch entwickelt sich als Mensch und nicht zum Menschen. Die Diskussion um die Verwendung embryonaler Stammzellen war insofern komplexer, als dass die in Kühlschränken eingefrorenen befruchteten Eizellen bei natürlichem Gang der Dinge einem Dasein entgegensehen mussten, das durch An- und Abschalten des Kühlschranks seine Grenzen finden würde, nicht jedoch durch Geburt, Aufwachsen, Altern und Tod. Die von vielen in die Diskussion eingebrachte Option der Adoption war und ist nur begrenzt realistisch, geht es doch Eltern, die eine In-Vitro-Fertilisation wünschen, vor allem darum, eigene Kinder auf die Welt zu bringen. Das ethische Dilemma, vor das die Politik durch die Debatte in den Jahren 2001 und 2002 gestellt worden ist, hatte seinen Ursprung also schon Jahrzehnte früher in der Zulassung der künstlichen Befruchtung. Um die Erfolgsquote eines solchen Eingriffs in ausreichendem Maße zu erhöhen, wurden seinerzeit mehr Eizellen entnommen als anschließend wieder eingepflanzt werden konnten. Erst das heutige Embryonenschutz-Gesetz verbietet die Befruchtung überzähliger Eizellen außerhalb des Mutterleibs. Die einfache Forderung danach, die künstliche Befruchtung wieder zu verbieten, hätte das Problem des ethisch verantwortbaren Umgangs mit den bereits eingelagerten befruchteten Eizellen nicht gelöst.

Über menschliches Leben kann nur dann verfügt werden, wenn damit menschliches Leben geschützt oder gerettet wird. Dies ist meines Erachtens eine der festen Schienen, an denen sich Konservative im Bereich des Lebensschutzes orientieren können. Eine so sensible Materie wie die der Forschung an embryonalen Stammzellen verbietet die Verallgemeinerung von Fragestellungen und zwingt uns zur Präzisierung der jeweiligen abzuwägenden Sachverhalte. Ich persönlich glaube, dass wir auch in der Stammzellforschung zur Abwägung von Leben gegen Leben verpflichtet sind. Denn es stellt sich die Frage, ob es nicht möglich, wenn nicht sogar geboten sein könnte, die befruchteten Eizellen, die ohne Perspektive auf ein menschliches Leben normaler Gestalt existieren, für die Entwicklung lebensrettender Therapien einzusetzen. Natürlich muss dabei gleichzeitig sichergestellt werden, dass Eizellen nie zum Zweck der Forschung befruchtet werden. In diesem Fall würde ein Leben geschaffen, um es anschließend zu töten. Diese Verobjektivierung verbieten die Grundsätze unseres christlichen Menschenbilds. Die Abwägung zugunsten der Stammzellforschung kann man hingegen durchaus in Einklang mit dem christlichen Glauben bringen. Denn das Christentum lebt wie alle anderen Religionen aus einer Vielfalt von Abwägungsentscheidungen und nicht nur aus absolut gesetzten Aussagen. Die Rückfrage von Theologen, welches Leben konkret durch die von mir in Kauf genommene embryonale Stammzellen verbrauchende Forschung gerettet werde, war und ist berechtigt. Es scheint mir jedoch keineswegs evident zu sein, dass die mögliche Rettung durch die Arbeit von Forschern nicht schon eine ausreichende Legitimation ist. Hinzu kommt, dass wir nach wie vor nicht einmal wissen, wie viele befruchtete Eizellen in den Kühlschränken deutscher Kliniken und Labore einlagern. Zur ganzen Wahrheit dieser Diskussion gehört nämlich auch, dass in einem Land, in dem zu Recht jeder Verkehrstote und jede Krankheit statistisch erfasst werden, keine verlässliche Auskunft darüber eingeholt werden kann, wie viele befruchtete Eizellen wo in Deutschland wie lange bereits gehortet werden.