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Scheiß, scheiß, scheiß Liebe! Ohne die gäbe es da nämlich nicht diese riesengroße Lücke in Rosas Leben, seitdem ihre beste Freundin nur noch mit ihrem neuen Freund rumhängt. Doch dann ändert sich Rosas Leben schlagartig. Zum einen kommt Kim neu in ihre Klasse und Rosa ist von jetzt auf gleich fasziniert. Und Kim scheint es mit Rosa genauso zu gehen. Und dann ist da noch dieser Brief von Rosas unbekanntem Vater, der ihr einen verwilderten Garten schenkt. Rosa und Kim richten den Garten zu einem kleinen Paradies her, bauen Gemüse an, fühlen sich frei und unabhängig. Und Rosa spürt: Das zwischen ihr und Kim ist mehr als Freundschaft. Doch ist es normal, dass sie in Kim verliebt ist, wenn Kim sich weder als Junge noch als Mädchen fühlt? Ein bewegender Coming-of-Age-Roman über Pubertät, Identität, Queerness, Freundschaft, erster Liebe, Gemeinschaft – und Klimakrise
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Seitenzahl: 164
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Copyright © 2024 Tulipan Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Text: Antje Herden
Covergestaltung: Stephanie Raubach, Tulipan Verlag
unter Verwendung eines Fotos von © istockphoto/Liudmila Chernetska
ISBN 978-3-641-33023-1V001
www.tulipan-verlag.de
1
»Scheiß-, Scheiß-, Scheißliebe.«
Ich sage das laut, ich rufe, nein, ich brülle das.
Es tut einfach so sehr weh.
Und obwohl Freds Augen plötzlich unter Wasser stehen, drehe ich mich um und renne los.
Nur weg hier.
Ob Fred mir noch etwas hinterherruft, kann ich nicht mehr hören.
Weiß nicht wohin.
Hab keine Richtung im Sinn.
Gehe verlor’n.
Es rauscht in meinen Ohr’n,
das Blut der Wut.
Ich reime im Rennen.
Gestatten: Rosa, schlechte Poetin, und das aus Versehen. Nachname: Retter. Ein Witz des Schicksals oder der Familie meines Vaters. In Papua-Neuguinea soll es genau eine Person geben, die auch diesen Nachnamen trägt. In Amerika 1.117.
Egal wie viele Menschen dieses Elend mit mir teilen, ich hoffe, dass ich irgendwann für die Sprüche deswegen taub sein werde. Oder dass die eines Tages aufhören, weil es offensichtlich ist, dass ich kein Retter bin. Höchstens eine Retterin.
Zum Überfluss ist Retter ein Palindrom. Es bedeutet von vorne wie von hinten das Gleiche. So wie in diesem blöden vergangenen Jahr der erste Tag genauso furchtbar war, wie der heutige ist.
Wenigstens heiße ich nicht auch noch Anna mit Vornamen.
Anna Popanna
kommt aus Havanna
und trägt – inshallah –
einen Wonderbra.
Von wegen.
Fred hat Körbchengröße 75B. Das hatte sie mal gesagt, als wäre das ein Argument für alles, was passierte, passiert und passieren wird. Ich musste erst einmal in die Unterwäscheabteilung, um dieses 75B zu verstehen. Nun weiß ich, dass ich eine nicht existierende Körbchengröße habe. Zero Komma null und nichts.
Trotzdem würde ich lieber Anna heißen als Rosa. Denn das war die Idee meines Vaters.
Rosa Eliza. Rosa Eliza Retter.
Es ist zum Heulen.
Die Familie meines Vaters kenne ich nicht. Nicht einmal den, der körperlich daran beteiligt war, dass es mich gibt.
Ich bleibe stehen.
Bin den ganzen Weg gerannt,
steh schnaufend vor unsrer Bank.
Unsere Bank ist das schon lange nicht mehr und eigentlich hatte ich auch heute nicht hergewollt.
Trotzdem schaue ich mich nach allen Seiten um. Niemand zu sehen. Ich klettere auf die Rücklehne und richte mich langsam auf. Es ist ein bisschen wackelig.
Brauch deine stützende Hand.
Nicht.
Von der Lehne kann man sich auf den untersten Ast des Baumes daneben hochziehen. Weiter oben gibt es eine breite Gabelung. Zu zweit kann man dort verborgen vor den Blicken der anderen sitzen. Fred und ich haben hier Geheimnisse geteilt, uns getröstet, zusammen gelacht oder Frau Immermann auf die Frisur gespuckt, wenn die mit ihrem Spitz spazieren ging.
Irgendwann wurde es etwas eng, weil der Baum langsamer wuchs als wir. Aber dann war das vollkommen egal geworden, denn Frederike, genannt Fred, hatte sich verliebt. Blöderweise hatte sich derjenige, dessen Name nicht genannt werden darf, in Fred zurückverliebt und nun kleben die beiden aneinander, als hätte jemand eine Tube Sekundenkleber zwischen ihnen ausgedrückt.
Seit einem Jahr ist da eine Lücke in meinem Leben.
Die Fred-Lücke.
Es machte keinen Unterschied, dass Fred immer wieder versuchte, mir die SACHE zu erklären. Denn die SACHE hat mir meine beste Freundin weggenommen. Es interessiert mich nicht, dass Fred sie Liebe nennt.
Der Platz auf dem Baum kommt mir heute so klein vor, als wäre er schon immer nur für eine von uns beiden gewesen. Ich lehne mich gegen den Stamm, halte die Nase in den Wind und suche den nahenden Sommer darin. Ich glaube sogar, den Geruch nach Abenteuer zu riechen. Mein Bauch scheint das ebenfalls zu finden. Er kribbelt. Das könnte allerdings genauso gut die Ankündigung meiner ersten Menstruation sein. Mam ist auch dreizehn gewesen, als es bei ihr losging.
Die Baumkrone besteht momentan vor allem aus kahlen Ästen mit dicken klebrigen Knospen. Die sehen jedoch aus, als würden sie jeden Moment platzen. Einige haben das schon getan. Aus ihnen wedeln nigelnagelneue Blättchen im Wind. Darüber strahlt der Himmel megablau wie frisch lackiert. Ein kleines Stück davon kann manchmal genug sein, um sich glücklich zu fühlen.
Ich hab es geschafft,
sitz oben im Baum.
Will mit all meiner Kraft
nur noch nach vorne schau’n.
Meine rechte Hand findet neben mir das Loch im Stamm. Vorsichtig fasse ich hinein. Glatt und kühl schmiegt sich etwas in meine Handinnenfläche. Die alte Buche kümmert sich nämlich nicht um die Liebe und ist noch immer ein Limonadenbaum.
Ich ziehe eine Flasche Zitronenbrause aus unserem Versteck. Den Öffner trage ich am Schlüsselbund. Wir hätten den doch wieder gebraucht, wenn die SACHE endlich vorbei gewesen wäre. Aber die zieht sich hin, und als ich noch einmal im Baumloch nachschaue, ist die Flasche in meiner Hand sowieso die letzte. Ich öffne sie und trinke sie halb leer.
Plötzlich höre ich ein Geräusch und als ich vorsichtig nach unten sehe, sitzt da jemand auf unserer, ähm, auf der Bank.
Wie kommt diese Person dazu?
Dann muss ich kichern, denn diese Bank steht ja genau deswegen unter dem Baum. Damit sich da jemand hinsetzen kann.
Ich lehne mich leise wieder gegen den Stamm und schaue in den Himmel. Hin und wieder nehme ich einen Schluck.
Leider sitzt die Person noch immer auf der Bank, als die Limo leer getrunken ist. Was macht die da eigentlich? So spannend ist diese Ecke hier im Park nicht. Die Person liest kein Buch und isst auch keine Stulle, sie trinkt nichts und hat nicht einmal ein Smartphone in der Hand. Kann die nicht irgendwo anders herumsitzen und nichts tun?
Von oben erkenne ich nur Schwarz. Locken, Klamotten, Rucksack. Aber ob dieser Mensch da unter mir jung oder alt, weiblich oder männlich ist, kann ich nicht ausmachen. Ist mir auch völlig egal. Hauptsache, der verschwindet endlich. Tut diese Person aber nicht. Als wüsste die, dass ich hier oben hocke und mir wünsche, sie wäre nicht da.
Wusste ich doch, dass die mich provozieren will. Obwohl es natürlich sein könnte, dass die gar nicht weiß, dass ich sechs Meter über ihr in einer Astgabel sitze.
Dussligerweise fällt mir die leere Flasche runter. Erschreckt halte ich die Luft an. Zum Glück landet die der Person nicht auf dem Kopf, sondern im Gras neben der Bank. Danach passiert erstaunlicherweise nichts weiter. Also nichts, was ich erwartet hätte. Stattdessen erhebt sich die Person, nimmt die Flasche, stellt sie neben einen Mülleimer – Pfand gehört ja bekanntlich daneben – und geht weg. Ohne ein Wort, ohne überhaupt einen Blick in meine Richtung geworfen zu haben.
Als würde es mich gar nicht geben.
Unerhört.
2
Am nächsten Morgen ist einfach der Sommer da. Mitten im April. Im Schrank hängt noch das Kleid, das mir Fred geschenkt hat. Es ist ein hellblaues Trägerkleid mit einem gesmokten Oberteil. Fred hatte es nur zweimal angehabt, dann war sie herausgewachsen. Vor allem obenrum. Ich habe es nie getragen. Erst war es noch zu kühl dafür und als es wärmer wurde, waren wir keine Freundinnen mehr. Obwohl das Kleid und ich ein gutes Team gewesen wären.
Weil wir ihr nicht mehr passen,
hat Fred uns zurückgelassen.
Meine Hand zögert, danach zu greifen. Aber dann gewinnt eine komische Wut in meinem Bauch. Ich ziehe das Kleid heftig vom Bügel und dann noch heftiger über meinen Kopf. Soll es doch zerreißen. Tut es aber nicht. Stattdessen stehe ich meinem Spiegelbild gegenüber und finde das gar nicht so schrecklich.
»Bis heute Nachmittag, mein Schatz.« Mam lehnt in der Tür zu meinem Zimmer und sieht irgendwie überhitzt aus.
»Bist du nicht zu warm angezogen? Es sollen 25 Grad werden«, sage ich.
Sie blickt an ihrem dicken Sweatshirt hinunter, die wollene Hose entlang, auf die gestrickten Socken mit den Schneekristallen.
»Du hast recht. Beim Jahreszeitenwechsel schaffe ich irgendwie nie den Absprung«, seufzt sie und geht noch einmal in ihr Zimmer, um sich umzuziehen.
Nicht nur beim Jahreszeitenwechsel, liebe Frau Retter, wir beide könnten längst wieder Sonnental heißen, so wie Omi und Opi.
»Du siehst übrigens sehr hübsch aus«, ruft Mam durch den Türspalt. »Das sage ich natürlich nur unter größtem Vorbehalt. Wir alle wissen ja, dass die Reduzierung auf Äußerlichkeiten absolut nicht korrekt ist.«
Zur Sicherheit schlüpfe ich noch in meinen Hoodie.
Als ich mich auf meinem Rad der Schule nähere, bin ich plötzlich aufgeregt. Was wird Fred zu dem Kleid sagen? Dann ärgere ich mich, dass ich darüber auch nur nachdenke. Ist doch völlig egal, was diese Verräterin zu meinem Kleid sagen wird. Auch wenn das einst ihr gehörte.
Zudem bin ich ein klitzekleines bisschen zu spät und alle sind schon in den Klassenräumen. Fred und der, dessen Name nicht genannt werden darf, in Stock und Jahrgang über mir. Bestimmt nebeneinander. Wahrscheinlich Händchen haltend. Ist so etwas im Unterricht überhaupt erlaubt?
Wie immer ist Herr Langer noch ein bisschen mehr zu spät. Als sich die Tür schließlich öffnet, kommt unser Biolehrer nicht alleine herein, sondern hat jemanden im Schlepptau. Obwohl das so nicht stimmt. Denn diese andere Person betritt vor ihm den Raum, schaut sich ziemlich selbstbewusst um und nickt kurz in die Runde. Herr Langer sagt nichts, kratzt sich am Kopf und stellt seine Tasche ab.
Da setzt sich die Person ungefragt neben mich.
Hallo, gehts noch?
Andere Stühle sind ebenfalls frei und es hätte ja sein können, dass meine Sitznachbarin, die auch meine beste Freundin ist, heute einfach nicht da wäre. Dass das nicht stimmt, hätte diese Person nicht wissen können und darum erst einmal fragen müssen, ob der Stuhl neben mir überhaupt frei ist. Oder sehe ich etwa aus, als würde ich alleine sitzen müssen, weil niemand neben mir sitzen möchte?
›Niemensch‹, korrigiere ich meine Gedanken.
Mit Wut im Bauch fällt Gendern noch schwerer.
Fred und ich hatten zusammen damit angefangen. Wir fanden die Idee gut, dass wirklich immer von allen gesprochen wird und nicht nur alle gemeint sein sollen, wenn von Jungs und Männern die Rede ist. Auch wenn wir das Ganze nicht so megaernst nahmen und es echt Gewöhnung brauchte, jedes kleine man durch ein mensch zu ersetzen. Eigentlich waren wir ziemlich schnell bereit gewesen, damit wieder aufzuhören.
Aber seitdem Fred es peinlich findet, die kleine Pause vor dem Innen zu lassen, weil IHM das nicht gefällt, schweige ich die extralang. Jedenfalls, wenn Fred in der Nähe ist.
Dabei weiß ich gar nicht, ob sie mich überhaupt noch hören kann.
Besonders wenn ich schweige.
In dem Moment sehe ich plötzlich klar. Schwarze verstrubbelte Locken, schwarzes Hemd, schwarze Hose, schwarzer Rucksack. Diese Person da neben mir kenne ich. Die saß doch gestern so nervig unter unserem, ähm, unter dem Baum.
Ich schaue sie unauffällig genauer von der Seite an.
Schwarzer Lidstrich, verwischt.
Schwarze Wimpern, megalang.
Schwarzer Nagellack, abgeblättert.
Schwarze Ohrringe, glitzernd. Fünf Stück. Allein auf meiner Seite.
Erstaunlicherweise kann ich immer noch nicht erkennen, ob diese Person ein Junge oder ein Mädchen ist. Ich werfe einen schnellen Augenwinkelblick auf die Brust neben mir. Körbchengröße Zero Komma null und nichts.
So wie bei mir.
»Fertig?«
»Womit?«, frage ich ertappt und fühle, wie ich einen roten Kopf bekomme.
»Mit Gucken.«
Ich schaue schnell zum Smartboard, auf dem Herr Langer anfängt herumzumendeln, und schweige demonstrativ.
»Also, was willst du wissen?«
»Ähm, nichts.«
»Aha.«
Wie kann ein kleines Aha nur so provozierend klingen?
Und warum funktioniert das so gut, dass ich das Bedürfnis bekomme, mich zu verteidigen?
»Ich habe mich gefragt, wie du heißt. Du wurdest ja nicht vorgestellt«, flüstere ich.
»Kim.«
Weder Stimme noch Name verraten mir mehr. Ich will sie gerade anlächeln, da zieht die Person die linke – gezupfte, darauf wette ich – Augenbraue hoch und schaut mich richtig herablassend an. Allerdings aus eisblauen Augen, was ohne diese Herablassung ziemlich schön gewesen wäre.
»Sonst noch was?«
»Sonst nix«, sage ich. ›Blödmensch‹, denke ich.
»Und du?«
»Was, und ich?«
»Wie heißt du?«
»Rosa Eliza Retter.«
Keine Ahnung, warum ich das sage. Ein schlichtes Rosa hätte sicherlich genügt.
»Könntet ihr aufhören zu quatschen und stattdessen den mendelschen Regeln folgen? Rosa? Kim?« Herr Langer guckt plötzlich etwas irritiert. »Ach ja, das ist übrigens Kim, eure … ähm … euer …« Herr Langer unterbricht sich und guckt noch verwirrter in die Runde. Weiß er etwa auch nicht, welches Geschlecht Kim hat? Das ist ja verrückt. »Na, ihr werdet euch schon untereinander in der Pause bekannt machen.« Herr Langer wendet sich wieder seiner geliebten Biologie am Smartboard zu. Was in dem Moment ziemlich witzig erscheint, da er ja eben an der Biologie im echten Leben gescheitert ist.
Unauffällig werfe ich noch einmal einen Blick neben mich. Aber Kim verzieht weder grinsend den Mund noch amüsiert die Augenbraue.
Diese Person scheint keinen Humor zu haben.
Jedenfalls nicht meinen.
Ich schnuppere ein bisschen, ob ich etwas riechen kann. Ein Parfum, ein Deo oder ein Rasierwasser. Obwohl Letzteres ganz offensichtlich nicht gebraucht wird. Weder von Kim noch von sonst jemandem in der Klasse. Außer natürlich von Can, der es dafür gleich für alle mitbenutzt.
»Kernseife«, raunt Kim. Die Augenbraue schlägt einen perfekten Bogen der Arroganz.
Den Rest der Stunde verbringen wir in absolutem Schweigen. Aber immer wieder muss ich heimlich zu Kim gucken.
Wie unter Zwang.
Ich weiß absolut nicht, warum.
Als nach dem Pausengong alle in den Hof strömen, folge ich unauffällig Kims Kernseifengeruch. Ich plane das gar nicht, es passiert einfach. Als hätte ich den telepathischen Befehl einer fremden Macht zu einer geheimen Mission bekommen.
Was tut dieser neue Mensch in der Pause?
Mit wem spricht der?
Welches Klo benutzt der?
Letzteres interessiert mich tatsächlich auch.
Es gibt an unserer Schule Toiletten für Mädchen und Jungen. Und die für Lehrer. So zumindest steht es an den Türen. Das müsste in Zeiten der Diversität eigentlich mal dringend überdacht werden. Sehr viele Menschen dürften in diesem Gemäuer nämlich gar nicht pinkeln. Frauen beispielsweise grundsätzlich nicht.
Beinahe tipple ich wie auf Zehenspitzen hinter Kim her und vergewissere mich sogar eventueller Spontanversteckmöglichkeiten. Ich möchte bei dieser seltsamen Verfolgung auf keinen Fall erwischt werden.
Sogar von hinten sieht Kim spektakulär aus. Es muss am Gang liegen, diese besondere Art, wie Kim sich bewegt. Gerader Rücken und Kinn hoch, wiegende Schultern und dann noch dieser Schlenker in der Hüfte. Als wäre Kim als Geschenk für diese Welt geboren worden und nicht andersherum.
Vielleicht sollte ich das auch einmal probieren. Obwohl ich das so nie fühlen würde.
Und natürlich Kims Klamotten. Hemd und Hose wie gebügelt, aber kein bisschen spießig. Sondern sehr, sehr cool.
Plötzlich dreht Kim sich um.
Erst da fällt mir auf, dass es nicht den geringsten Grund gibt, warum wir uns zu zweit in diesem abgelegenen Teil des Schulgebäudes befinden sollten.
»Rosa Eliza Retter, wie schön. Machst du deinem Namen Ehre und rettest mich?« Kim lächelt.
Kims Lächeln ist schön. Der Mund, die Grübchen, die Eisaugen.
Kims Lächeln ist arrogant. Die linke Augenbraue.
Ich würde dich retten, entketten und betten.
Was immer es ist, das du vermisst.
Nomen est omen.
Doch was ist dein Pronomen?
Denn manche Namen sind kein Zeichen,
weil sie vom Standard abweichen.
Schwierige Situationen erzeugen offensichtlich kompliziertere Reime in meinem Kopf.
Doch was kann ich tatsächlich für dich tun, du schöner Mensch?
Nahrung, Unterkunft, Lebensberatung oder Gesellschaft?
Ich merke es selbst und hüstele innerlich.
»Hab mich verlaufen«, sagt Kim dann auch nur.
»Komm mit, ich zeig dir den Weg«, druckse ich, drehe mich um und laufe brüsk zurück. »Ich hatte hier übrigens etwas Wichtiges zu tun«, werfe ich Kim über meine Schulter hinweg zu und hoffe, das klingt wenigstens geheimnisvoll, wenn nicht sogar verrucht.
»Hab ich mir schon gedacht«, sagt Kim hinter mir und ich weiß, dass es das nicht tat.
»Steht dir voll gut.«
Fred. Das Kleid. Das habe ich ganz vergessen. Außerdem kann Fred das gar nicht wirklich sehen. Immerhin verdeckt der Hoodie mehr als die Hälfte.
So wie Fred gerade meine Sicht.
Kim lehnt alleine an der Ostwand und trinkt aus einem Thermobecher.
Ich denke sofort: ›Kaffee. Schwarz, wie eine finstere Seele.‹
Dabei trinkt noch niemand in meinem Alter das bittere Zeug. Außer Fred, aber die ist auch nicht in meinem Alter, sondern Lichtjahre weit entfernt. Obwohl sie gerade vor mir steht. Wegen des verschobenen Raum-Zeit-Gefüges zwischen uns kann ich sie allerdings kaum erkennen. Darum drehe ich mich einfach um und gehe weg.
»Rosa, du benimmst dich wie ein kleines Baby.«
›Und du kriegst wahrscheinlich bald eins, wenn du nicht aufpasst.‹ Das habe ich zum Glück nur gedacht und nicht laut gesagt. Innerlich fahre ich jedoch heftig zusammen.
Im letzten Jahr hatten wir das zweite Mal Sexualkunde. Ich weiß also alles darüber, was es zu wissen gibt. Aber als wir uns zusammen um diese schreiende Babypuppe gekümmert hatten, die wir reihum für einen Tag und eine Nacht mit nach Hause nehmen mussten, hätte ich nie gedacht, dass so etwas mal Freds und meine Freundschaft zerstören würde.
Da kommt mir wieder Kims Gesicht in den Sinn und ich überlege, ob ich vielleicht doch noch nicht alles über Sexualität weiß. Plötzlich ist es mir megapeinlich, dass ich das auch nur gedacht habe.
3
Am nächsten Morgen erwische ich mich vor dem Spiegel. Das ist nicht ungewöhnlich oder gar schlimm. Denn da stehe ich jeden Tag, bevor ich in die Schule gehe. Mit mehr oder weniger guter Laune. Schlimm ist der Haufen Klamotten neben mir, den ich bereits an- und wieder ausgezogen habe.
»Rosa?«
Wenn Mam mich Rosa nennt, ist die Lage ernst. Entweder macht sie sich Sorgen oder sie ist sauer auf mich.
Ich gebe es zu.
Außerdem steht es mir quasi ins Gesicht gemalt.
Ich habe Mams Wimperntusche benutzt.
Zumindest habe ich das versucht. Nun verkleben Tuscheklumpen meinen Wimpernkranz. Es sieht aus, als hätte ich pro Auge nur drei riesige Monsterwimpern. Fred hatte mir zeigen wollen, wie man sich schminkt. Aber dazu war es nicht mehr gekommen.
Ich ziehe schnell das Shirt über meinen Kopf und verharre mit den Armen über mir, als hätte mich Mam mitten in der Bewegung unterbrochen.
»Ist alles okay?«, fragt sie von der Tür her.
»Mhm«, mache ich unter dem Shirt.
»Ich meine nur, es ist schon ziemlich spät.«
»Ich beeile mich.« Unter dem Shirt kann ich nicht sehen, ob Mam den Klamottenhaufen bemerkt hat oder ob sie wieder gegangen ist. Ich habe aber überhaupt keine Lust auf irgendwelche Erklärungen. Ich weiß es ja selbst nicht, warum ich heute unbedingt zum ersten Mal meine Wimpern tuschen musste. Also bleibe ich wie erstarrt in meiner ulkigen Position. Doch langsam werden meine Arme lahm. »Bist du noch da?«
»Was sagst du?«, ruft Mam von der Tür.
»Alles gut. Schönen Tag dir.«
»Dir auch, mein Schatz.«
Die Wohnungstür klappt und ich kann endlich das Shirt wieder herunterziehen. Leider kann ich so auch wieder etwas sehen. Was mache ich mit diesen verklebten Wimpern? Warum besitze ich nur solche überaus kindischen Klamotten?
Ich weiß nicht genau, wie ich das Mascara abbekomme, außerdem ist es inzwischen nicht nur ziemlich, sondern echt spät. Vielleicht bemerkt es ja keiner. Doch das Shirt und die Hose ziehe ich schnell wieder aus und schlüpfe in das Kleid von gestern.
Ich werde Nachhaltigkeit