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Teetee ist verschwunden! Den Kindern der Klasse 4a fehlt die nette alte Dame, die zu ihrem Viertel einfach dazugehört. Genau wie ihre beinah magische Handtasche, aus der sie immer genau das zieht, was jemand gerade gebrauchen könnte. Die Erwachsenen scheint es nicht zu kümmern, dass Teetee nicht mehr da ist. Denn nicht allen gefällt, was sie tut. Doch die Kinder wissen, dass jedes Viertel jemanden braucht, der wirklich zuhört und sich kümmert – und Wünsche erfüllt, von denen man selbst noch gar nichts ahnte. In ihrer neu gegründeten Kommandozentrale in Herrn Mansurs Laden schmieden sie einen Plan. Mit detektivischem Gespür, Pistazien, Pfefferminztee und guten Freunden werden sie das Rätsel um Teetees Verschwinden schon knacken! Parole: Teetee!
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Unter den Kindern des Viertels kursiert das Gerücht, die Tasche der wunderlichen Dame Teetee sei magisch. Eine Zaubertasche, die Wünsche erfüllt. Doch eines Tages ist Teetee spurlos verschwunden. Die Kinder sind sich sicher: Teetee wurde entführt! In ihrer neu gegründeten Kommandozentrale in Herrn Mansurs Laden starten sie eine abenteuerliche Rettungsaktion. Denn wenn die Erwachsene sich nicht kümmern, müssen die Freunde das eben selbst in die Hand nehmen. Parole Teetee!
Ein Plädoyer für Zusammenhalt, Solidarität und Nachbarschaft
Antje Herden hat keine magische Tasche, aber einen magischen Stift, mit dem sie zahlreiche Kinder- und Jugendbücher geschrieben hat. Sie hat viele Preise für ihre Bücher bekommen, wie z. B. den Peter-Härtling-Preis 2019, und wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2020 nominiert. Es könnte durchaus sein, dass ihre Bücher Wünsche erfüllen, von denen man vorher noch gar nichts wusste. Ausprobieren lohnt sich!
Maja Bohn, 1968 in Rostock geboren, studierte an der Kunsthochschule Berlin Weißensee Kommunikationsdesign. Seit dem Abschluss arbeitet sie als freie Illustratorin und Autorin für Kinder und Schulbücher. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
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© 2020 Tulipan Verlag GmbH, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Text: Antje Herden
Bilder: Maja Bohn
Vermittelt durch die Literarische Agentur Barbara Küper
Lektorat und Redaktion: Carla Felgentreff
Umschlaggestaltung: Tulipan Verlag, Stephanie Raubach
E-Book-Erstellung: Rainer Zenz
ISBN 978-3-641-32910-5V001
www.tulipan-verlag.de
Kapitel 1 – stellt fast alle kurz vor
Kapitel 2 – geht mit einem Bang! los
Kapitel 3 – stellt noch ein paar Leute vor
Kapitel 4 – spielt im Laden von Herrn Mansur
Kapitel 5 – ist voller Honig und Pistazien und trotzdem traurig
Kapitel 6 – schmeckt nach Orangen
Kapitel 7 – zwitschert wie ein Vogel
Kapitel 8 – ist länger und wird fast schwarz
Kapitel 9 – ist eine schrecklich schlaflose Nacht
Kapitel 10 – lässt einen Verdacht aufkeimen
Kapitel 11 – ist ein Reinfall, führt aber zu einem Plan
Kapitel 12 – bringt einen ersten Hinweis
Kapitel 13 – spielt in der alten Villa
Kapitel 14 – scheint eine abgekartete Sache zu sein
Kapitel 15 – ist sehr blutig
Kapitel 16 – führt zwei lose Fäden zusammen
Kapitel 17 – läuft völlig schief
Kapitel 18 – ist für die Katz
Kapitel 19 – lässt ein Hühnchen etwas finden
Kapitel 20 – bringt endlich Licht ins Dunkel
Kapitel 21 – schmeckt allen gut
Kapitel 22 – nimmt die letzten Sorgen mit sich fort
Kapitel 23 – feiert endlich eine Party
Alle fanden Teetee merkwürdig: die Kinder, die Erwachsenen und die anderen ebenfalls. Sogar der dicke Hund vom alten Hofmann war außer Rand und Band und bellte die ganze Straße zusammen, wenn sie vorbeilief. (Der alte Hofmann und sein dicker Hund werden in dieser Geschichte allerdings nicht noch einmal auftreten.)
Teetee war lang und dünn wie eine Bohnenstange. Alt war sie auch. Vielleicht siebenundachtzig oder zweiundsechzig. Wahrscheinlich irgendetwas dazwischen. Sie hatte jedenfalls viele Falten.
An Teetee vorbeizugehen fühlte sich ein bisschen ungemütlich an. Obwohl niemand sagen konnte, wieso. Daran war ganz sicher nicht die Ähnlichkeit mit einer Bohnenstange schuld. Die sind ja meist ziemlich harmlos. Auch alte Leute sind im Großen und Ganzen nichts Beunruhigendes.
Teetee roch fremd, aber nicht zu sehr und fast sogar gut. Nach Rauchwerk, Käsecrackern und Zuckerwatte. Das konnte es also auch nicht sein.
Sie trug einen grauen Mantel. Im Winter war der zugeknöpft und eine karierte Wolldecke war fest drum herum geschlungen. Im Sommer wehten die offenen Mantelschöße im Wind um Teetee. Sie glänzten von innen violett. Aber auch ein Mantel, egal wie oft oder wie selten er angezogen wird, ist nicht besonders beängstigend.
Genauso wenig wie ein Badekappenturban aus lila Samt. Den trug Teetee auf dem Kopf. Ob sich darunter Haare verbargen und ob die kurz oder lang, weiß, lila oder schwarz waren, hatte noch niemals jemand gesehen.
Teetee lächelte immer. Entweder jemanden an oder vor sich hin. Die Kinder grinsten kurz zurück oder schauten auf den Boden, wenn sie ihr begegneten. Teetees Lächeln war sanft, aber seltsam. Als wüsste sie etwas, wovon niemand sonst auch nur eine Ahnung hatte. Vielleicht war es das.
Doch das Auffälligste an Teetees Erscheinung war ihre große, bauchige Tasche. Diese Tasche trug sie immer mit sich herum. Sie war aus schwarzem Leder und hatte es in sich. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn egal was passierte, egal was gebraucht wurde, Teetee zog immer das genau Passende daraus hervor. Auch wenn kaum einer sofort erkannte, dass das Herausgezogene das genau Passende war. Was aber nur daran lag, dass die meisten Menschen eben nicht wissen, was sie gerade wirklich brauchen.
Unter den Kindern kursierte das Gerücht, Teetees Tasche sei magisch. Eine Zaubertasche, die Wünsche erfüllte. Noch nie gedachte, vernachlässigte, verloren gegangene Wünsche.
Wegen der magischen Tasche und wegen ihres gewissen wissenden Lächelns fürchteten sich manche Kinder ein wenig vor Teetee. Man könnte sogar sagen, dass der ungemütliche Grusel, den sie bei Begegnungen mit Teetee empfanden, die Kinder des ganzen Viertels miteinander verband.
So unterschiedlich sie sonst auch waren.
Lene ging in die vierte Klasse. Sie hatte ein hübsches Lächeln und dunkelbraune Locken, die ihr über die Schultern fielen. Meistens trug sie jedoch einen Zopf.
Morgens war sie fast immer zu spät. Weil sie die halbe Nacht lang mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke lag und las, fiel es ihr schwer, am Morgen aufzuwachen und einen ganz normalen Lenetag zu beginnen. Manchmal schlief sie in der Schule wieder ein. Nicht nur wegen großer Müdigkeit. Lene langweilte sich schnell. Auch das hatte etwas mit den vielen gelesenen Büchern zu tun. Erstens erlebte sie in denen unfassbar spannende Abenteuer. Zweitens lernte sie ganz nebenbei Dinge über die Welt, so dass sie über vieles sogar besser Bescheid wusste als ihre Lehrerinnen. Lene hatte jedoch erkannt, dass die es überhaupt nicht leiden konnten, wenn sie etwas besser wusste. Darum meldete sie sich lieber gar nicht mehr im Unterricht. Nicht einmal in Deutsch oder Sachkunde bei Frau Felgentreff, ihrer Klassenlehrerin. So kam es, dass Lenes Schulnoten nicht besonders gut waren. (Das war eigentlich ein Beweis dafür, dass Noten nicht viel mit Klugheit zu tun haben. Doch dieser Beweis interessiert leider nicht so viele.)
Weil sie schüchtern war, sprach Lene auch sonst nicht viel. Darum war sie oft allein. Und darum wirkte sie geheimnisvoll. Dass die anderen Kinder gerne mit ihr befreundet gewesen wären, ahnte sie nicht. Obwohl sie so mehr Zeit hatte, um Bücher zu lesen, vermisste Lene immer öfter einen Freund.
Cosmo hatte die Idee mit den neuen Namen gehabt. Wie bei echten Gangstern oder Rappern. Die hießen ja auch nicht von Geburt an Cro oder Alligatoah, sondern eher Carlo oder Lukas.
»Ab heute heiße ich Cosmo«, hatte Cosmo eines Tages verkündet. »Und du?«
Wanda, hätte Stulle beinahe gesagt, weil er kurz nicht bei der Sache gewesen war. Das hatte etwas mit seiner Lieblingsfernsehsendung zu tun gehabt. Aber zum Glück war ihm noch rechtzeitig eingefallen, dass Wanda wahrscheinlich ein Mädchenname ist. Um Zeit zu gewinnen, hatte er erst einmal in sein Pausenbrot gebissen.
»Stulle«, hatte er dann mit vollem Mund genuschelt.
(Dabei war ein kleines Wurststückchen herausgeflogen. Das war in Lenes Locken gelandet, weil die gerade vorüberging und Stulle ganz kurz in ihre Richtung geschaut hatte. Er hatte vor Schreck einen Schluckauf bekommen. Gesagt hatte er aber nichts. Nicht zu Lene.)
»Alles klar«, hatte Cosmo erklärt und dabei auch Lene nachgeschaut.
(Nicht wegen des Wurststückchens in ihren Locken. Von dem hatte er gar nichts mitbekommen. Sondern einfach nur so.)
Anschließend hatte er noch mal kurz nachdenken müssen. Beinahe hatte er nämlich das Gefühl gehabt, Stulle hätte sich den cooleren Spitznamen ausgesucht. Das wäre fatal gewesen. Denn Cosmo war der Stärkere. Dicker war er auch, viel dicker. Und größer. Cosmo war auch älter als Stulle, sogar älter als alle anderen in der Klasse. Das hatte zwei Gründe. Erst war er später in die Schule gekommen und dann hatte er auch noch eine Ehrenrunde drehen müssen.
Cosmos Faust saß ziemlich locker. Er ballte sie oft, streckte sie drohend nach oben oder nach vorne, je nachdem, welche Richtung ihm gerade sinnvoller erschien. Niemand wusste, ob Cosmo damit wirklich zuschlagen würde. Gesehen hatte das noch keiner. Denn da war ja noch Stulle. Der war klein und schmächtig und trug eine große Brille. Warum es Stulle jedes Mal schaffte, den aufbrausenden Cosmo zu beruhigen, wusste keiner. Die beiden kannten sich schon seit immer. Tatsache war aber, dass es Stulles Einwände und vernünftige Befürchtungen waren, die immer wieder Schlimmes verhinderten.
Das dachten die anderen Kinder, das dachte auch Stulle.
In Wahrheit war Cosmo sehr erleichtert über Stulles Besonnenheit. Schon oft hatte er sich selbst über sein heißes Blut geärgert, besonders wenn es brodelnd überzukochen drohte. Wenn Stulle ihn jedoch aufhielt, konnte Cosmo auf die angekündigten Konsequenzen wie Kopfnüsse, Backpfeifen und linke Haken verzichten, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren. Denn eigentlich wollte er niemandem eine mit der Faust verpassen.
Sara hatte gesagt, dass sie gar nicht mehr in die Schule gehen müssten.
»Ein guter Plan A ist alles. Dann braucht man auch keinen Plan B«, hatte sie Saha erklärt.
Den Spruch hatte sie von ihrem Onkel. Ihre Mutter verdrehte darüber die Augen, aber Sara fand ihn ziemlich gut.
»Unser Plan A ist Instagram. Wir werden Influencer.«
Saras Onkel war begeistert. Vielleicht weil er erst fünfzehn Jahre alt war. Vielleicht weil er selbst YouTuber werden wollte. Jedenfalls hatte er ihnen geholfen, heimlich ein Account bei Instagram zu eröffnen. Denn dafür waren sie eigentlich noch zu jung.
Saha hatte sich nicht getraut zu fragen, was ein Influencer ist. Manchmal fühlte sie sich neben Sara etwas unsicher. Das hatte auch mit ihrem Namen zu tun. Die meisten fanden den komisch.
»Vielleicht haben deine Eltern ihn einfach nur falsch geschrieben? Vielleicht haben sie das R mit dem H verwechselt?«, hatte Sara überlegt.
Saha wusste das nicht. Sie konnte ihre Eltern auch nicht fragen, denn die waren Ärzte auf Reisen und halfen den ärmsten Kindern dieser Welt. Schon solange Saha denken konnte. Manchmal kam eine Postkarte, manchmal eine Mail, manchmal ein Anruf über Skype. In solchen Momenten war sie zu aufgeregt, um nach einem eventuell vertauschten R zu fragen.
Saha lebte bei ihrer Großmutter. Die wusste auch nichts darüber. »Ich fand den Namen ja erst ein bisschen komisch«, hatte Omi ihr verraten. »Aber nun ist es der schönste, den ich mir vorstellen kann.«
Saras und Sahas Insta-Account hieß PrincessSaha. PrincessSara hatte es zu Saras großem Bedauern schon gegeben. Inzwischen hatten sie zwölf Bilder mit Saras Smartphone geschossen und eingestellt.
Dreimal die Katze, die immer auf dem schwarzen Autodach schlief.
Ein toter Spatz, der noch fast lebendig aussah. (Das war kurz bevor die Katze aufgewacht war.)
Eine Spatzenfeder mit rotem Kiel, nachdem die aufgewachte Katze den toten Spatz entdeckt hatte.
Dreimal Nagellack auf Saras Nägeln, davon einmal mit Glitzer.
Je ein Foto von ihren nicht mehr ganz neuen Sneakers.
Und zweimal hatten sie heimlich Teetees Tasche fotografiert. (Leider waren beide Bilder unscharf.)
Obwohl sie insgesamt schon achtundzwanzig Likes und fünf Follower hatten (einer davon war Saras Onkel), saßen sie trotzdem noch nebeneinander in Frau Felgentreffs Unterricht. Schule war Plan B.
»Den brauchen wir aber bald nicht mehr«, hatte Sara gesagt.
Saha hatte dazu geschwiegen. Sie mochte Plan B. Sie würde es niemals laut sagen, aber Saha ging gerne in die Schule.
Nicht nur, weil Bene vor ihr saß.
Bene war ein Held. Und er hasste es.
Natürlich war es toll, wenn man in jedem Unterrichtsfach eine Eins bekam. Wenn man die meisten Tore schoss und auch noch fechten konnte. Wenn trotzdem oder gerade darum alle mit einem befreundet sein wollten und die alten Damen auf der Straße einem Süßigkeiten zusteckten, weil sie einen so nett fanden. Klavier spielen konnte Bene auch. Das war das Einzige, was er wirklich gerne tat.
Dass er es hasste, in allem der Beste zu sein, lag an seinem Vater. Der tat nämlich so, als sei das allein sein Verdienst. »Du bist mein Sohn«, sagte er. Sonst nichts. Als wäre Bene einfach nur darum in allem gut, weil er eben der Sohn seines Vaters und nicht sein eigener Bene war. Sein Vater hatte ihn auch noch nie Bene genannt. Er sagte Benedict.
Dabei war es doch Bene, der gut rechnen konnte, der stundenlang Partituren übte, der einen perfekten Pass schoss und die alten Damen auf der Straße höflich grüßte.
Gute Manieren hatte ihm seine Mutter beigebracht. Wohingegen sein Vater noch nie Fußball gespielt hatte. Weder als kleiner Junge noch zusammen mit Bene. Sein Vater sah überhaupt so aus, als hätte er noch nie im Leben irgendetwas gespielt. Er mochte es auch nicht besonders gern gemütlich und trug sogar zu Hause zum Abendbrot eine fest gebundene Krawatte.
Abendbrot gab es in Benes Zuhause jeden Tag um neunzehn Uhr. Darauf bestand sein Vater, obwohl er selbst meist gar nicht dabei war, weil er noch in seiner Kanzlei arbeiten musste.
Eigentlich wollte Bene gerne einmal mit Karacho danebenschießen. Und sein Vater sollte ihn in den Arm nehmen und sagen, dass er ihn lieb hatte. Trotzdem. Oder gerade deswegen.
In Büchern hat eine Geschichte immer einen Anfang und ein Ende. Im Leben ist das oft nicht so. Meistens steckt man schon mittendrin, bevor man merkt, dass eine neue Geschichte begonnen hat. Den Anfang hat man gar nicht mitbekommen. Manche Geschichten sind ganz kurz, andere dauern Jahre. Es soll sogar welche geben, die ein Leben lang halten. Aber so was weiß man natürlich erst an seinem letzten Tag. Und der kann ruhig einige Millionen Kilometer weit in der Zukunft liegen.
Obwohl diese Geschichte über, mit und um Teetee aufgeschrieben wurde, hat sie trotzdem keinen richtigen Anfang. Denn Teetee war einfach schon immer da gewesen. Jedes Kind im Viertel kannte sie. Sie und ihre magische Tasche.
Der Anfang dieser Geschichte könnte vielleicht der Tag gewesen sein, als Bene mit dem Fahrrad gegen den Laternenpfahl krachte, umfiel und liegen blieb.
»Potzblitz und herrje, da kommt die seltsame Teetee«, raunte Cosmo Stulle zu.
Lene lief einige Schritte hinter ihnen. Cosmo war sich nicht sicher, ob er gewollt hatte, dass sie es auch hörte. (Dieses Potzblitz und herrje fand er selbst etwas blöd. Cosmo war nicht so gut im Reimen, fand er. Stulle reimte besser. Oder Bene. Aber der konnte ja sowieso alles besser.) Trotzdem hatte er irgendetwas Freches über die entgegenkommende Teetee sagen wollen. Das tat er immer. Weil er so ein wilder Kerl war. Und weil er nicht wusste, was er sonst machen oder sagen sollte, wenn die seltsame Alte mit ihrer großen Tasche an ihm vorbeilief. Heimlich und ganz tief drinnen fürchtete er Teetee ein wenig. Aber das würde er nie zugeben. Vor niemandem. Nicht einmal vor sich selbst. Die anderen kicherten, wenn er freche Reime brachte. Manchmal zumindest. Hoffte Cosmo. Lene kicherte leider nie. Und Stulle fand Cosmos Reime nervig.
»Wie geht’s, wie steht’s? Wohin des Wegs?«, fragte Teetee, als sie bei ihnen angelangt war.
Sie lächelte ihn an. Cosmo bekam heiße Ohren. Hatte sie etwa gehört, was er gerade gesagt hatte? Sah Lene, dass er nun heiße Ohren hatte? Cosmo kaute auf seiner Zunge herum. Seine geballte Faust zuckte in der Hosentasche. Was sollte er bloß antworten?
Doch Teetee war sowieso längst vorbeigegangen. Mit wehenden lila Mantelschößen.
»Zum Strand!«, rief Stulle ihr nach.
»Das ist sehr gut«, antwortete Teetee über ihre Schulter.
Stulle sagte das mit dem Strand immer, wenn einer fragte, wohin er unterwegs war. Es hatte etwas mit seinem Lieblingsbilderbuch zu tun. Einen Strand gab es weit und breit nicht. Nicht hier.
»Wieso hast du ihr geantwortet?«, fragte Cosmo.
Stulle zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht weil das höflich ist?«, hörten sie Lene murmeln.
Dann klappte die Haustür hinter ihr zu.
Im selben Moment krachte etwas.
Erschrocken drehten Cosmo und Stulle sich um. Sie sahen Benes Fahrrad am Boden liegen. Das Vorderrad drehte sich wie verrückt. Darunter lag Bene und bewegte sich kein bisschen. Der Laternenpfahl, der daneben stand, hatte nicht einmal eine Beule.
Die Haustür wurde wieder aufgerissen und Lene stürmte heraus. Sie hockte sich an Benes Seite, direkt neben Teetee, die bereits das Fahrrad von ihm heruntergehoben und gegen die Laterne gelehnt hatte.
»Bene«, flüsterte Lene. »Brauchst du Hilfe?«
Zum Glück trug Bene einen Helm. Vielleicht hatte der gerade irgendwas gerettet, denn Bene blinzelte ein paarmal, öffnete dann die Augen und hatte seinen hellblauen Beneblick.
»Alles in Ordnung mit dir, mein Junge?«, fragte Teetee.
Bene nickte mit den Augenlidern. Den Kopf konnte er noch nicht bewegen. Zuerst mussten sich die Bienen beruhigen, die dadrinnen summten und brummten. Ein Vogel und ein paar Sterne hingen dort auch herum, obwohl die genauso wenig in seinen Kopf gehörten wie die Bienen.
»Soll ich Pflaster holen?«, fragte Lene und deutete auf Benes Knie, das blutete.
»Pflaster habe ich in meiner Tasche«, sagte Teetee und griff hinein.
Sie kramte und wühlte, dann zog sie ihre Hand wieder heraus. Darin hielt sie einen kleinen Vogel.
»Das ist kein Pflaster«, stellte Cosmo fest.
»Wenn du meinst«, sagte Teetee lächelnd.
Der kleine Vogel hatte weiß-rosa-braunes Gefieder und einen sehr langen Schwanz. Er kuschelte sich in Teetees zu einem Nestchen geformte Hände und schaute sich mit großen Knopfaugen um.
»Das ist eine Schwanzmeise«, sagte Stulle leise.
Eigentlich hatte er das nicht sagen wollen. Es sollte niemand wissen, dass er sich für Vögel interessierte. Schon gar nicht Lene. Vögel waren uncool. Und sonntags bei Sonnenaufgang mit seinem Vater und einem Feldstecher im feuchten Gras am Waldrand zu hocken und Vögel zu beobachten war noch uncooler.
Aber Lene wandte kurz die Augen von Benes blutendem Knie und schaute zu Stulle auf.
Cosmo sah diesen Blick und irgendetwas zwickte in seiner Brust. Vielleicht sollte er sich auch für Vögel interessieren?
»Ist trotzdem kein Pflaster«, brummte er.
»Wer weiß«, zwitscherte jemand. Das war aber nicht die Schwanzmeise, sondern Teetee. »Jedenfalls kann sie nun aus meiner Tasche in die Freiheit umziehen.«
»Sie hat in Ihrer Tasche gewohnt?«, rief Stulle und riss die Augen auf.
Teetee nickte. »Ich habe sie vor zwei Wochen im Park gefunden. Sie war aus dem Nest gefallen. Aber nun scheint sie ausgewachsen. Schaut!«
Sie warf die kleine Meise in die Luft. Die flatterte aufgeregt mit den Flügeln, fing sich und landete wohlbehalten auf Benes Fahrradhelm. Dort öffnete sie ihren Schnabel und begann zu zwitschern.
»Singen muss sie aber noch üben«, knurrte Cosmo.
Bene lag währenddessen am Boden und schaute in die Wolken. Die zogen heute schneller vorbei als sonst. Vielleicht fiel es ihm darum so schwer, die einzelnen Wolkenbilder zu benennen. Bevor er Drache auch nur denken konnte, war der schon ein Schaf geworden. Dann saß da auch noch dieser Vogel auf seinem Fahrradhelm und sang. Zusammen mit dem anderen Vogel, der vorhin in seinem Kopf aufgetaucht war, und mit den Millionen Bienen. Bene versuchte mitzusummen. Ein ziemlich schräges Konzert.
Da fiel ihm etwas auf. Warum lag er eigentlich am Boden? Und warum hockten Lene, Cosmo, Stulle und die merkwürdige Teetee um ihn herum? Wollten sie etwa dem Konzert zuhören? Normalerweise hatte er nicht so viel Publikum. Sonst war da nur Mama und manchmal Oma, wenn er Klavier spielte.
Bene konnte nicht wissen, dass Saha im Haus gegenüber oft bei offenem Fenster auf ihrem Bett lag und seinem Spiel lauschte. Sie hatte dann das Gefühl, mit Bene ein Geheimnis zu teilen. Obwohl das natürlich Unsinn war, weil ja nicht einmal Bene davon wusste.
Saha und Sara kamen gerade die Straße entlanggelaufen. Sara hielt ihr Smartphone gezückt. Wie immer war sie auf der Suche nach einem neuen Foto für PrincessSaha. Da entdeckte sie einen wundersamen Vogel, der auf einem Fahrradhelm hockte und sang. Im Fahrradhelm steckte Bene, der am Boden lag, in die Wolken starrte und das Vogellied mitsummte. Sara blinzelte zweimal. Aber das Bild war immer noch da und konnte darum kein inneres sein.
»Das ist ja verrückt«, murmelte sie und machte schnell ein Foto.
»Was ist denn mit Bene passiert?«, rief Saha währenddessen erschrocken.
»Er ist gegen die Laterne gefahren«, antwortete Stulle. »Jetzt hat er einen Vogel.«
»Ha, ha!«, machte Cosmo. »Der ist gut.« Dann wandte er sich an die Mädchen. »Das war ein Wortwitz«, erklärte er.
»Super erkannt, Alter«, meinte Stulle.
Lene musste grinsen. Bene auch. Aber nur ganz vorsichtig.
»Ich habe nicht nur einen Vogel, sondern zwei«, krächzte er. »Einen auf dem Kopf und einen innen drin.«
»Auweia«, hauchte Saha.
»Wie spannend«, meinte Sara.
Plötzlich hörte die kleine Schwanzmeise auf zu singen. Sie drehte sich um, hüpfte zweimal hoch und wieder runter, streckte ihr puscheliges Hinterteil raus und –
»Die Meise hat Bene auf die Nase gekackt«, erzählte Cosmo allen noch einmal, was sie gerade selbst gesehen hatten.
Das Konzert in Benes Kopf verstummte mit einem letzten Tirili.
»Geht es wieder?«, fragte Teetee und hielt Bene ein feuchtes Tuch aus ihrer Tasche hin.
Er nickte, nahm das Tuch und wischte sich den Vogeldreck von der Nase. Dann setzte er sich auf. Alle starrten ihn an. Bene musste zwar noch einmal kurz die Augen schließen, um das Karussell, auf dem er saß, anzuhalten, aber dann ging es tatsächlich wieder. Die anderen atmeten erleichtert auf.
»Kacken sagt man übrigens nicht«, meinte Stulle dann.
»Na, wie denn sonst?«, fragte Cosmo.
Groß machen, wollte Stulle sagen, hielt sich aber zurück und zuckte mit den Schultern.
»Defäzieren«, murmelte Lene.
»Defäwas?«, fragte Cosmo.
»Das kommt aus dem Lateinischen. Defaecare heißt reinigen. Wir sagen das zu Hause«, erklärte Lene. Ihre Stimme wurde beim Sprechen immer leiser. Es war ihr furchtbar peinlich, dass sie das den anderen erzählte.
Aber Bene grinste noch etwas breiter. »Ich bin mir sicher, dass neunundneunzig von hundert Kindern dieses Wort noch nie gehört haben.« Er war sehr froh, dass er über Dinge wieder sicher sein konnte.
»Ist es nicht verwunderlich, dass es für so etwas Wichtiges gar kein gutes Wort gibt?«, fragte Teetee in die Runde.
Alle nickten verblüfft.
»Darüber habe ich noch nie nachgedacht«, rief Cosmo.
»Dabei macht man es doch jeden Tag«, sagte Sara und Saha kicherte ein bisschen.
»Nun, wenn hier alles wieder in Ordnung ist, dann gehe ich mal weiter.« Teetee erhob sich, richtete ihren Mantel, nahm ihre Tasche, warf allen ein sanftes Lächeln zu und ging davon.
»Was ist denn nun mit dem Pflaster?«, rief Cosmo ihr nach.
»Mein Knie blutet nicht mehr«, stellte Bene fest.
»Seht ihr!«, flötete Teetee fröhlich.
»Sie ist wirklich seltsam«, murmelte Stulle.
Dann fuhr ein Transporter vor und versperrte ihnen die Sicht.