Anton und Marlene und die wahrscheinlichen Unwahrscheinlichkeiten - Antje Herden - E-Book + Hörbuch

Anton und Marlene und die wahrscheinlichen Unwahrscheinlichkeiten Hörbuch

Antje Herden

4,9

Beschreibung

Ein großartiges Freundschaftsabenteuer für Jungs und Mädchen: Willkommen im Universum der Unwahrscheinlichkeiten! Nach oben fallende Regentropfen. Atmende Steine. Eiskaltes Feuer. Unmöglich? Nicht im Universum der Unwahrscheinlichkeiten! Dort landen Anton und Marlene mit einer wichtigen Mission: Sie müssen nichts weniger als die Welt retten! Zum Glück sind die beiden ein super Team und lassen sich auch von den größten Unwahrscheinlichkeiten nicht kleinkriegen. Ein überraschendes Kinderbuch über das Mut-Haben und Mut-Brauchen, über Helden wider Willen und über den abenteuerlichen Beginn einer wunderbaren Freundschaft

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Zeit:3 Std. 26 min

Sprecher:Martin Baltscheit
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Antje Herden

Anton und Marlene und die wahrscheinlichen Unwahrscheinlichkeiten

Mit Vignetten von Regina Kehn

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungProlog1. Der erste Schultag2. Lass uns die Welt retten!3. Schlimm ist schlimm4. Die nachhaltige Abstellkammer5. Das Elterngespräch6. Stecken geblieben7. Die Siegerehrung8. Die Tür9. Moosbüschel und andere Unwahrscheinlichkeiten10. Die Lichtung11. Das Flugzeug12. Die Glaskuppeln13. Das Universum der Unwahrscheinlichkeiten14. Das Feuer15. Die Mammutbäume16. Die Spiegelbilder17. Übern See, übern See18. Die Wahrheit19. Die dünne Stelle20. Blutige Ranken21. Im freien Fall22. Der vierte Mann23. Nach Hause24. Alles wie immer und doch ganz neuEpilogEin Buch ist mehr [...]

Für Aaron und Shawna und alle Jungen und Mädchen, die gerne lesen

Prolog

Etwas huschte nervös über die Straße und schlich einige Häuser weit durch die Schatten der stachligen Büsche, die niemals Wasser brauchten. Ob es sich immer mal wieder umdrehte und einen prüfenden Blick über seine Schulter warf, konnte man nicht erkennen. Es war viel zu schnell und hielt niemals stille. Außerdem hatte es gar keine Schulter. Schließlich versteckte es sich in einer Hofeinfahrt, obwohl das gar nicht nötig war. Denn niemand hatte es gesehen, und niemand würde es sehen. Zumindest jetzt am Anfang noch nicht. Es wartete eine Weile verborgen hinter einer Mülltonne. Dann huschte es weiter am hohen Tor vorbei, über den grauen Hof und schließlich zu einem offenen Fenster in das große alte Gebäude hinein.

1. Der erste Schultag

Natürlich war klar, dass es eine langweilige und auch etwas peinliche Angelegenheit mit Festakt und allem Pipapo werden würde. Aber langweilig und peinlich ist echt okay. Schlimm wäre schlimm gewesen. Obwohl: Letzten Endes war mein Schulwechsel von der Grundschule ans Gymnasium dann doch irgendwie sehr eigenartig. Aber der Reihe nach.

An diesem viel zu frühen Morgen sagte Paps beim Zähneputzen, dass ich das weiße Hemd und die beige Hose anziehen soll. Er hatte dabei diesen bestimmten Ton in der Stimme, von dem er glaubt, ich könnte ihm nicht widersprechen. Das tue ich meistens auch nicht. Allerdings nicht, weil mir der Ton besonders imponiert, sondern weil Paps sich in diesen Momenten solche Mühe gibt und weil ich ihn lieb habe. Das Hemd und die Hose hatte ich schon vor einer Woche entdeckt und mich gewundert, wessen Klamotten da in meinem Schrank hingen. Auf die Idee, dass die Sachen für mich bestimmt waren, wäre ich nie im Leben gekommen.

»Deine Mutter und ich wünschen uns, dass du bei den Lehrern an der neuen Schule einen guten Eindruck machst«, sagte Paps mit Schaum und Zahnbürste im Mund.

Ich warf seinem Spiegelbild einen verwunderten Blick zu. Glaubten meine Eltern tatsächlich, so etwas könnte man mit einem Hemd und einer gebügelten Hose erreichen? Aber vielleicht hatten sie ja auch recht damit. Immerhin kennen sie die Erwachsenen besser als ich.

Also zwängte ich mich mit zusammengebissenen Zähnen in das schreckliche Hemd und die enge Hose. Zumindest machte es mir dermaßen verkleidet nicht mehr allzu viel aus, als sich Mama dann mit einem Kamm durch meine Haare arbeitete. Hinterher starrte ich im Flurspiegel auf meine halbwegs ordentliche Frisur. Sie war der schlagkräftigste Beweis dafür, dass die Freiheit und der Sommer zu Ende waren. Auf alle Fälle die Ferien.

Ich wollte gerade nach meinen Schuhen greifen, da traten meine Eltern vor mich hin und gingen nebeneinander in die Hocke. Ich hätte das nicht unbedingt gebraucht, aber ich wusste, dass ihnen eine letzte Ansprache zum großen Tag und auf Augenhöhe superwichtig war.

»Also, mein lieber Anton …«, begann Mama. Sie musste sich unterbrechen, weil sie versuchte, ihre Tränen hinunterzuschlucken.

»Tränen kann man erst schlucken, wenn sie einem in den Mund gekullert sind«, murmelte ich.

»Ach, mein Großer«, schluchzte Mama los.

Paps gab ihr schnell ein Taschentuch, und Mama schnaubte hinein. Das Taschentuch hatte neben meinem alten Ranzen gelegen. Den hatte ich nämlich gestern Abend noch gepackt, weil ich nicht wissen konnte, dass Mama und Paps mir heute einen neuen Schulrucksack und ein Federmäppchen mit Füller und Buntstiften schenken würden. Darum war es auch ganz umsonst gewesen, dass ich mit diesem Taschentuch versucht hatte, meinen alten Füller zu reparieren. Das hatte sowieso nicht geklappt. Blöd war allerdings, dass die Tinte im Taschentuch von Mamas Rotz und ihren Tränen wieder flüssig wurde. Darum schimmerte ihre Nase nach dem Schnauben bläulich. Ich sah, dass Paps etwas dazu sagen wollte, sich das dann aber verkniff. Was bestimmt auch besser war, denn es herrschte genug Aufregung.

»Alles klar?«, fragte Paps mich stattdessen.

»Alles klar«, sagte ich und lächelte meinen Eltern aufmunternd zu.

 

Das Gymnasium lag gleich um die Ecke. Eine Menge Eltern und Großeltern saßen bereits auf den wackligen Stühlen, die der Hausmeister in der Aula aufgebaut hatte. Er selbst stand in einer blauen Latzhose neben dem Eingang und blickte über sein Werk, auf das er sehr stolz zu sein schien. Wenn einer es wagte, zu kippeln oder seinen Stuhl etwas zu verrücken, schnaubte er laut und ärgerlich.

Die Kinder wurden vorne neben der Bühne abgestellt. Entweder weil wir heute die Hauptrollen spielten oder weil es einfach nicht genug Stühle gab. Wir waren die Letzten, die kamen, und Paps schob mich flugs in die vorderste Reihe im Kinderhaufen. Da stehe ich eigentlich nicht so gerne.

Nach einem Tusch der Big Band der Schule begrüßte der Schulleiter die neuen Kinder und deren Eltern. Er fand dafür sehr, sehr viele Worte und erzählte im Anschluss die hundertjährige Geschichte der Schule gleich mit. Das schien ihn sehr glücklich zu machen. Er strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Außer ihm strahlten noch die stolzen Eltern. Wir Kinder strahlten nicht.

Denn neben der Bühne war eigentlich viel zu wenig Platz. Ständig fiel jemand um oder tanzte aus der Reihe. Damit handelten wir uns so manches Gezische von den vordersten Stühlen ein. Dort saßen die Lehrer.

Zwischendrin winkte Mama mir zu. Selbst von hier aus konnte ich sehen, dass ihre Nase noch immer bläulich schimmerte. Ihr Winken war mir zwar etwas peinlich, ich winkte aber zurück. Bestimmt langweilte sie sich genauso wie ich mich. Wieder zischte mich jemand an.

Vor lauter Stillstehenmüssen wurde ich ganz hibbelig. Um mich abzulenken, begann ich, die Fugen zwischen den Holzbrettern an der Wand zu zählen. Es waren einhundertneunundvierzig. Der Schulleiter redete immer noch, und ich begann, die Fugen noch einmal zu zählen. Vielleicht hatte ich mich ja verzählt.

Auf einmal passierte etwas ganz und gar Unglaubliches. Die einzelnen Bretter schälten sich langsam vom unteren Ende der Hallenmauer und rollten sich zu riesigen Holzschnecken zusammen. Was war denn das für ein irrer Effekt? Ich suchte den Hausmeister mit den Augen. Darauf wäre ich an seiner Stelle noch viel stolzer gewesen als auf die exakten Stuhlreihen. Dann fiel mir jedoch auf, dass niemand außer mir die stetig wachsenden Bretterschnecken zu bemerken schien. Plötzlich schnellten die wie aufgezogene Metallfedern wieder nach unten, und die Wandtäfelung sah ganz normal aus. Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Danach sah die Holztäfelung immer noch so aus, wie es sich für eine ordentliche Holztäfelung gehört. Ich hatte anscheinend vor lauter Langeweile eine Halluzination gehabt.

Nach der schier unendlichen Rede des Schulleiters spielte die Big Band ein Stück, das ungeheuer gut bei sämtlichen Großeltern ankam. Sie begannen, ihre Füße im Takt zu bewegen und die Instrumente so mit einem unangenehmen Schlurfen zu begleiten. Ich hüpfte ein bisschen auf der Stelle. Immerhin war das trotz allem Musik.

Plötzlich stand eine merkwürdige Frau auf, die wie eine etwas seltsame, aber feine Dame aussah. Sie war sehr groß und trug verschiedene glänzende Kleider übereinander. Vielleicht hatte sie sich nicht entscheiden können, welches das schönste war. Außerdem hatte sie einen Hut auf dem Kopf und eine Menge Make-up im Gesicht. Sie kam schnurstracks auf unseren zappligen Haufen zugelaufen.

»Bitten Sie mich zum Tanz, junger Herr!«, befahl sie und streckte die Hand aus.

Ich wusste sofort, dass sie mich meinte. Vielleicht weil ich direkt vor ihr stand, vielleicht weil ihre Hand mit den langen rotlackierten Fingernägeln nur wenige Zentimeter vor meinen Augen zum Halten gekommen war. Die anderen begannen zu kichern. Ich schaute auf den breiten, knallrot angemalten Mund der Frau. Es sah aus, als hätte sie in etwas sehr Blutiges gebissen. Ihr Lächeln machte es nicht wirklich besser, denn die rote Farbe hatte sich auch auf ihren Zähnen verteilt. Ich habe keine Ahnung, warum ich dann tat, was ich tat. Paps nennt so etwas eine Übersprunghandlung. So etwas passiert, wenn man sich nicht entscheiden kann, ob man lieber weglaufen oder kämpfen soll. Dann macht man plötzlich etwas völlig anderes und irgendwie total Albernes, sich die Haare kämmen zum Beispiel oder ein Wurstbrot essen. Einen Kamm oder ein Wurstbrot hatte ich nicht dabei.

»Würden Sie mir diesen Tanz spendieren, Gnädigste?«, fragte ich darum und ergriff die ausgestreckte Hand. Dabei verbeugte ich mich auch noch.

Wieder kicherte jemand. Dieses Mal war es jedoch die merkwürdige Dame. Die anderen Kinder starrten mich stattdessen stumm vor Staunen an. Die große Frau zog heftig an meinem Arm, und ehe ich mich versah, wirbelte ich durch die Luft. Hin und her und hoch und runter zerrte mich meine Tanzpartnerin. Atemlos und stolpernd folgte ich ihrer Führung und verhedderte mich dabei in ihren Kleidern. Dazu schmetterten die Posaunen und donnerte die Pauke der Big Band. Es fühlte sich an wie ein wildes Kämpfchen mit einer etwas unpassenden Musikbegleitung und nicht wie ein lustiges Tänzchen. Obwohl die merkwürdige Frau die ganze Zeit fröhlich gluckste.

»Uli, bitte, hör sofort mit diesem Unsinn auf!«, schrie plötzlich jemand.

Dann wurde ich in den Kinderhaufen zurückgeschoben. Ich sah, dass Paps den Kopf schüttelte und Mama ihr Gesicht verzweifelt in den Händen barg. Ich winkte ihnen fröhlich zu.

Die Big Band spielte, als wollte sie niemals mehr damit aufhören. Ich begann wieder ein bisschen auf der Stelle zu hüpfen. Nun hatte ich dazu auch mehr Platz, denn die anderen Kinder waren vor mir zurückgewichen. Wahrscheinlich hielten sie mich für einen Irren. Nur ein dünnes Mädchen mit Zöpfen stand noch immer dicht neben mir und schrie plötzlich auf. Dann hielt sie sich schnell die linke Hand vor den Mund. Mit der anderen drehte sie ihren rechten Zopf um den Zeigefinger.

»Entschuldige bitte, du bist mir auf den Fuß gesprungen«, sagte sie.

»Warum entschuldigst du dich dann bei mir?«, fragte ich überrascht. Aber bevor ich ihr sagen konnte, dass es mir leidtat, drehte sie sich weg und quetschte sich durch die anderen Kinder nach hinten. Nun stand ich ganz alleine in der ersten Reihe. Zum Glück hörte die Big Band endlich auf zu spielen. Nach der Musik sprach noch jemand sehr lange. Ich versuchte nicht einmal mehr, noch weiter zuzuhören.

Über uns schwebte eine Duftwolke aus Käsesocken, altem Staub und Müslipups. Sie wurde immer dicker. Schließlich war ich mir ganz sicher, dass man den Gestank um uns herumwabern sehen konnte. Wahrscheinlich waren wir von weiter hinten gar nicht mehr zu erkennen. Ich versuchte, so wenig wie möglich zu atmen. Leider veratmete ich mich dabei und musste furchtbar husten. Dann begannen meine Fußsohlen unter der Sommerhornhaut vom Barfußlaufen zu jucken. Da kann man sich bekanntlich nicht gut kratzen. Ich versuchte es trotzdem. Mein neuer Schulrucksack wurde auch immer schwerer, obwohl außer dem Federmäppchen und einem Schreibblock gar nichts weiter drin war. Zu allem Überfluss merkte ich, dass meine Unterhose beim Tanzen verrutscht war. In der schicken, engen Hose war es verdammt schwierig, sie wieder in die richtige Position zu ziehen.

Endlich trat eine Frau, die so aussah wie die nette Studentin in unserem Haus, auf die Bühne. Sie las Namen von einer Liste ab, die sie in der Hand hielt. Meiner war auch dabei. Da wusste ich, dass das Frau Wolfert, meine neue Klassenlehrerin, war. Es gab ein kleines Gerangel, weil wir Aufgerufenen vorlaufen und uns neben Frau Wolfert auf die Bühne stellen sollten. Wir waren die 5a. Die Eltern und Großeltern der Klasse 5a klatschten wie verrückt, als hätten wir irgendetwas Großartiges geleistet. Erst freute ich mich darüber und musste breit grinsen. Aber plötzlich überkam mich das gruselige Gefühl, dass dies für lange Zeit der letzte Applaus sein könnte, und das Grinsen fiel einfach aus meinem Gesicht.

Wir gingen wieder ab. Mama und Paps winkten mir, als ob ich auf eine sehr weite Reise gehen und wir uns nie mehr wiedersehen würden. Da kam auch schon die Lehrerin der Klasse 5b auf die Bühne. Ich drehte mich ein paarmal nach ihr um. Die Klassenlehrerin der 5b war nämlich ein Mann. Ich hatte noch nie einen Lehrer gesehen. An meiner Grundschule gab es nur Frauen und darum auch nur Lehrerinnen. Sogar der Schulleiter war eine Frau gewesen.

Wir folgten Frau Wolfert in unseren neuen Klassenraum.

»Sucht euch bitte jeder einen Platz aus«, sagte sie.

Ich setzte mich ganz hinten ans Fenster. Dann machte ich vorsichtshalber mein grimmiges Gesicht. In dem kleinen muffigen Klassenzimmer war mir meine Tanzeinlage von vorhin plötzlich furchtbar peinlich. Darum wollte ich nicht, dass sich jemand neben mich setzte und mich dabei komisch angrinste oder womöglich eine blöde Bemerkung darüber machte. Aber es fragte mich sowieso keiner, ob der Platz neben mir noch frei wäre. Die anderen schienen sich alle zu kennen. Jedenfalls taten sie, als seien sie schon sehr lange die besten Freunde.

Ich sah aus dem Fenster. Die Aussicht war grandios. Direkt vor mir waren die Blätter eines großen Baumes, die im Wind tanzten und in der Sonne flirrten.

»Und was ist mit dir?«, hörte ich Frau Wolfert fragen.

»Es ist kein Stuhl mehr frei«, antworte jemand leise.

Als ich nach vorne schaute, sah ich dort die Dünne mit den Zöpfen, der ich vorhin aus Versehen auf den Fuß gehüpft war.

»Dort hinten ist doch noch ein Platz«, sagte Frau Wolfert und zeigte auf den leeren Stuhl neben mir.

Ich nickte, und das dünne Mädchen mit den Zöpfen setzte sich neben mich. Eine Brille trug sie auch.

»Hallo, ich bin Marlene«, sagte sie leise.

»Ich heiße Anton«, sagte ich. »Und das mit deinem Fuß vorhin tut mir echt leid.«

»Ist schon vergessen«, sagte Marlene.

Das gefiel mir. Ich mag Menschen, die einem verzeihen können, wenn man mal etwas falsch gemacht hat. Als Marlene mich anlächelte, sah ich, dass nur die große Brille auf ihrer Nase hässlich war. Sie selbst sah eigentlich ganz normal aus. Trotz des ziemlich altmodischen Kleides, das sie trug. Aber dieser Tag war ja auch für mich einer der seltsamen Klamotten.

Frau Wolfert gratulierte uns, dass wir es mit unseren guten Zeugnissen auf das Gymnasium geschafft hatten. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass sie mich bei diesen Worten mit einem Stirnrunzeln anschaute. Schnell blickte ich wieder in die flirrenden Blätter hinaus. Meine neue Klassenlehrerin wusste garantiert die Wahrheit über mich. Das Wort gut wird man nämlich in einem Satz, in dem Antons Zeugnis vorkommt, nicht finden. Ich wäre eigentlich auch viel lieber auf die Stadtteilschule gegangen. Aber meine Eltern wollten das nicht. Dabei hatte ich mit drei Dreiern und vier Vierern hier überhaupt nichts zu suchen. Dass ich nun trotzdem in der 5a des Goethe-Gymnasiums saß, hatte etwas mit einem Test bei einem Psychologen zu tun und natürlich mit dem ordentlichen Batzen Geld, den meine Eltern der Schule gespendet hatten.

Wenn ich übrigens vorher gewusst hätte, was dieser Test mit Mama machen würde, hätte ich ihn niemals zugelassen. So aber bin ich drei Monate vorher ziemlich fröhlich zu diesem Psychoheini gegangen und habe zwei Stunden lang Fragebögen ausgefüllt. Das hat eigentlich sogar Spaß gemacht. Das Beste war jedoch, dass ich an diesem Tag nicht in die Schule musste, während die anderen eine Mathearbeit schrieben. Doch seitdem Mama das Ergebnis dieser Befragung kennt (hundertfünfzig), schaut sie mich ständig traurig an, streicht mir über die Haare und murmelt Sachen wie: »Auch du wirst deinen Weg gehen, mein Schatz.« Als wäre ich ein totaler Idiot. Dabei bedeutet das Ergebnis genau das Gegenteil.

»Hast du dazu eine Idee?«, schreckte mich plötzlich Marlenes Stimme aus meinen Gedanken.

»Wozu?«, fragte ich.

Marlene sah mich aufmerksam durch ihre Brillengläser an. »Du hast nicht zugehört«, stellte sie fest. Das stimmte.

Sie tippte mit dem Finger auf einen Zettel, der auf einmal vor uns auf dem Tisch lag. »Frau Wolfert hat den gerade ausgeteilt. Sie schlägt vor, dass wir dabei mitmachen, um uns besser kennenzulernen.«

Ich warf einen kurzen Blick auf den Zettel: Schülerwettbewerb – Rettet die Welt! stand darauf.

Das lassen sie jetzt also Kinder machen, dachte ich.

»Müssen wir da mitmachen?«, fragte ich.

»Nein«, sagte Marlene. »Nur wer möchte.«

»Ich möchte nicht«, sagte ich.

»Das ist ein Nachhaltigkeitswettbewerb«, sagte Marlene. »Es ist Ehrensache, da mitzumachen, glaubst du nicht?«

Nun schaute ich Marlene aufmerksam an. »Nein, das glaube ich nicht«, sagte ich.

Ich konnte das Wort Nachhaltigkeit echt nicht mehr hören. Wie war es möglich, dass das noch immer nicht alle kannten und sich so verhielten? In der Grundschule hatten wir sogar das Schulfach Nachhaltigkeit gehabt. Da lernten wir, dass wir zur Schule laufen sollen und unser Pausenbrot nicht in Alufolie gewickelt sein darf. Im Fernsehen wurde ständig von Nachhaltigkeit geredet, und in der Zeitung wurde jeden zweiten Tag darüber geschrieben. Zu Hause predigte Mama Nachhaltigkeit. Darum gibt es bei uns nur noch sonntags Hähnchen, und ich muss die leeren Flaschen in den Altglascontainer schleppen. Von wegen Kinder und Weltretten und so.

»Weißt du denn überhaupt, was das ist?«, fragte Marlene.

Ich schlug die Hände vor das Gesicht und schüttelte stöhnend den Kopf.

»Es kommt von bleiben, also dass etwas eine lange Zeit ausreicht, die Rohstoffe zum Beispiel und –«, begann Marlene zu erklären und drehte ihren Zopf um den Finger.

»Marlene, ich weiß, was Nachhaltigkeit ist«, unterbrach ich sie. »Ich möchte bei diesem Wettbewerb trotzdem nicht mitmachen.«

Das wollten aber einige andere aus der Klasse. Darum erklärte Frau Wolfert die ganze Sache genauer: »Ihr sollt euch etwas ausdenken, das die Nachhaltigkeit unterstützt und verbessert. Etwas, das die Ressourcen schont.«

»Aha! So etwas wie Uwe Bommel also«, rief ein Junge, der sich um die Stelle des Klassenclowns zu bewerben schien.

»Wer ist denn Uwe Bommel?«, fragte Frau Wolfert verwundert und schaute ganz hektisch auf ihrer Liste nach, ob sie einen Namen übersehen hatte und Uwe Bommel vielleicht noch ganz alleine in der Aula herumstand.

»Der ging in meine alte Klasse und schont die Ressourcen wie verrückt«, krähte der zukünftige Klassenclown. »Er wäscht sich nicht und trägt jeden Tag dasselbe T-Shirt. Spart Seife, Waschmittel und Wasser.«

Die halbe Klasse prustete los.

Frau Wolfert lächelte. »Man soll aber nichts Nachhaltiges entdecken, sondern etwas Nachhaltiges erfinden«, sagte sie.

Da lachte die ganze Klasse.

Unsere Lehrerin gab uns den neuen Stundenplan und eine Liste mit den Heften und Materialien, die wir für das Schuljahr besorgen sollten. Dann durften wir unsere Federmäppchen und Schreibblöcke wieder einpacken, die Stühle auf die Bänke stellen und gehen.

»Mach’s gut, Anton«, sagte Marlene.

Sie drückte mir etwas in die Hand und wurde dabei ganz rot im Gesicht. Ausgerechnet in dem Moment sah ich, dass einer ihrer Zöpfe viel kürzer war als der andere.

»Marlene?«

»Ja?«

»Ähm …«

»Das ist meine Telefonnummer«, sagte sie. »Falls du es dir noch anders überlegst, kannst du mich anrufen. Wegen des Wettbewerbs, meine ich.«

Dann rannte sie zur Tür hinaus.

2. Lass uns die Welt retten!

Irgendwie war der Zettel mit dem Nachhaltigkeitswettbewerb in meinen Rucksack gerutscht. Kurz bevor ich ihn in den Papierkorb neben meinem Schreibtisch fallen ließ, fiel mein Blick noch einmal darauf. Darum sah ich, dass das Ganze vom Institut der Zukunft veranstaltet wurde. Von einem Institut der Zukunft hatte ich noch nie gehört. Ich setzte mich an den Rechner im Wohnzimmer und googelte danach. Zu dem Begriff erschienen nur zwei Links. Hinter dem einen öffnete sich dieselbe Seite, die ausgedruckt in meinem Papierkorb lag. Der andere Link führte zur Webseite des Instituts. Dort war allerdings nicht viel los. Außer einer Begrüßung mit dem Foto eines menschenleeren Konferenzsaals war nichts weiter eingestellt. Seltsam.

Ganz unten auf der Seite gab es ein Kontaktfeld. Ich klickte auch darauf. Es poppte aber nur ein Briefformular auf. Ich überlegte kurz und tippte dann etwas ein:

Sehr geehrte Zukunftsforscher,

was kann man denn bei Ihrem Nachhaltigkeitswettbewerb gewinnen?

Liebe Grüße

Anton

 

Konnte ja nicht schaden. Ich drückte auf Senden. Die Antwort kam ziemlich schnell, so als hätte jemand nur darauf gewartet, dass ich ihm schreiben würde.

Hallo Anton,

zuallererst kannst du natürlich gewinnen, dass die Welt gerettet wird. (LOL) Außerdem werden die Sieger zur großen Ehrung in unser Institut eingeladen und erhalten einen Präsentkorb.

Viel Glück und eine gute Idee wünschen dir die Wissenschaftler des Instituts der Zukunft

Moment mal. LOL? Von einem Wissenschaftler? Das glaubte ich keine Sekunde. Und was sollte das denn für ein Preis sein? Präsentkörbe kannte ich von Opos letztem Geburtstag. Er war fünfundsechzig geworden, und beinahe jeder Gast hatte so einen Korb voller Wurst, Schnaps und Schokolade mitgebracht.

Aber irgendetwas hatte meine Neugierde geweckt. Oder besser gesagt: Etwas, das fehlte, machte mich äußerst neugierig. Über das Institut gab es nämlich überhaupt keine Informationen. Vielleicht gab es dieses Institut der Zukunft in Wirklichkeit gar nicht, und das Ganze war nur ein Fake. Keine Ahnung, warum mir sofort dieser Gedanke kam. Das wäre allerdings eine riesige Sauerei gewesen. Dieses Institut wollte ich gerne einmal sehen.

 

Später gingen Mama und ich in die Stadt und kauften die Schulsachen von der Liste ein. Auf dem Rückweg sah ich Marlene, die gerade in einem großen Haus verschwinden wollte.

»Hallo Marlene«, grüßte ich im Vorbeigehen.

Mama blieb natürlich stehen. »Ach, bist du eine neue Mitschülerin von Anton?«, fragte sie.

Marlene blieb ebenfalls stehen. Ich ärgerte mich, dass ich etwas gesagt hatte. Marlene drehte an ihrem Zopf und nickte. Dabei lunzte sie zur Tür, die gerade wieder zuschlug. Aber Mama interessierte das nicht.

»Ich bin Antons Mutter«, sagte sie. »Wir haben gerade die Schulsachen gekauft.«

»Aha«, machte Marlene.

Wahrscheinlich wusste sie nicht, was sie dazu sagen sollte. Ich hätte es jedenfalls nicht gewusst. Damit es keine peinliche Gesprächspause gab, hob ich die Tüte mit den Heften hoch und raschelte ein bisschen damit.

»Aha«, machte Marlene noch einmal.

»Genau«, sagte ich und nickte.

»Ich gehe hier zum Ballett«, sagte Marlene dann und zeigte auf den Eingang.

»Das ist ja schön!«, rief Mama begeistert. Sie bekam diesen sehnsüchtigen Ausdruck, der ihr auch in der Mädchenabteilung im Kaufhaus in die Augen steigt. Da war ich wieder einmal sehr, sehr froh, dass meine Mutter einen Sohn hat.

»Ja«, sagte Marlene und drehte wie verrückt an ihrem Zopf. »In der sechsten Etage direkt unterm Dach.«

Ich hatte das Gefühl, ich sollte auch noch irgendetwas sagen. »Wie viele Stockwerke hat denn das Haus?«, fragte ich. Etwas Besseres fiel mir nicht ein.

Marlene schaute mich überrascht an, und ich zuckte mit den Schultern.

»Na ja, wahrscheinlich sechs. Das Ballettstudio ist ja ganz oben«, antwortete sie.

»Klar, das sagtest du ja gerade«, murmelte ich.

»Mhm«, machte Marlene.

Und in dem Moment sah ich es. »Das gibt es ja gar nicht!«, rief ich.

»Wieso nicht?«, fragte Mama erstaunt. »Alle Häuser in dieser Straße haben doch sechs Stockwerke.«

»Das meine ich nicht!«, rief ich. Aufgeregt deutete ich auf ein Schild an der Wand. »In diesem Haus ist auch das Institut der Zukunft. Das hat doch diesen Wettbewerb ausgeschrieben.«

»Ich dachte, du wolltest nicht mitmachen«, sagte Marlene.

»Was denn für ein Wettbewerb?«, fragte Mama.

Mist! In dem Moment war klar, dass ich nun keine Chance mehr hatte. Mama würde darauf bestehen, dass Marlene und ich an diesem Wettbewerb teilnehmen. Also konnte ich auch gleich kapitulieren.

»Ich habe es mir noch einmal überlegt, Marlene. Lass uns doch mitmachen«, sagte ich darum.

»Okay«, sagte Marlene einfach.

»Was denn für ein Wettbewerb?«, fragte Mama noch einmal.

»Wir sollen die Welt retten«, sagte ich.

Mama lachte. »Na, wenn es weiter nichts ist.«

»Entschuldigung. Ich muss jetzt hoch, der Unterricht fängt gleich an«, unterbrach Marlene leise Mamas Lachen.

»Ich kann dich ja nachher mal anrufen«, schlug ich vor. »Wenn du überhaupt noch magst?«

»Okay. Auf Wiedersehen«, sagte Marlene und verschwand im Inneren des Hauses.

»Die war ja sehr nett«, meinte Mama, als wir weitergingen. »Eine etwas seltsame Frisur, aber wirklich sehr süß.«

Ich tat so, als hätte ich das nicht gehört.

 

Nach dem Abendessen rief ich bei Marlene an.

»Was?«, knurrte eine weibliche Stimme durch das Telefon. Ich konnte nicht heraushören, ob das ein Mädchen, eine Frau oder eine mürrische Alte war.

»Guten Abend. Hier ist Anton. Ich möchte bitte Marlene sprechen«, sagte ich.

»Alles klar, aber fasse dich kurz, okay, Alter? Ich erwarte ein wichtiges Gespräch … Maaaaaleeeene!!! Da ist ein Typ für dich!! Ein Anton«, schrie es auf der anderen Seite. »Wusste gar nicht, dass du einen Freund hast!«

»Hallo Anton«, sagte Marlene. »Entschuldige bitte. Das war meine Schwester Luisa. Sie hat Pubertät.«

»Die Arme«, sagte ich.

Marlene kicherte.

»Also, was erfinden wir nun für diesen Wettbewerb?«, fragte ich.

»Mhm, etwas aus dem Ärmel schütteln ist nicht so einfach«, sagte Marlene. »Was hältst du denn vom Thema Konsum?«

»Oh, nee! Konsuuum«, stöhnte ich. »Klar, alle kaufen zu viel, schmeißen zu viel weg und zerstören damit unseren Planeten. Aber was sollen wir denn dagegen erfinden?«

»Vielleicht einen Verhau-Automaten«, schlug Marlene vor. »Der könnte an der Kasse im Supermarkt stehen und jeden, der zu viel im Einkaufswagen hat, einfach verhauen.«

Für einen Moment war ich sprachlos. Marlene war ja richtig witzig!

»Entschuldige bitte, das war nur ein doofer Scherz«, sagte sie da leise.

»Du musst dich nicht immer entschuldigen«, beeilte ich mich zu sagen. »Außerdem war das superwitzig.«

»Wirklich?«, fragte Marlene.

»Wirklich«, sagte ich.

»Wir könnten morgen zusammen in den Supermarkt gehen. Vielleicht finden wir da eine gute Idee«, schlug sie vor.

 

Genau das machten wir dann am nächsten Tag. Aber vorher passierte noch die seltsame Geschichte mit der Kaugummiblase.

In der dritten Stunde, direkt nach der großen Pause, hatten wir Biologie. Die dazugehörige Biologielehrerin hieß Frau Jennick und war eine ziemlich dicke Frau mit großen klimpernden Ohrringen und einer aufgebauschten Turmfrisur, die sich nicht bewegte. Frau Jennick hatte eine hohe Stimme und lächelte viel. Allerdings nur mit dem Mund und nicht mit den Augen.

»Die mag ich nicht«, flüsterte ich Marlene zu.

Marlene drehte ihren Zopf und kaute auf einem Kaugummi herum.

»Hast du etwa einen Kaugummi im Mund?«, schrie da Frau Jennick.