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Der erfolgreiche Rechtsanwalt Friedmar Haydak wird tot aufgefunden - erfroren im spätsommerlichen Tübingen und auf demütigende Weise zur Schau gestellt. Bald wird deutlich, dass Haydak kein angenehmer Zeitgenosse war. Gnadenlos trieb er seine Prozessgegner in den Ruin. Seine Ehefrau behauptet, er habe sie misshandelt. Ein heikler Fall für die Tübinger Kripo, bei dem Kommissar Brander und seine Kollegen auf eine Mauer aus Scham, Angst und Lügen stoßen. In seinem 2. Fall schaut Kommissar Brander tief in die Abgründe der menschlichen Seele.
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Seitenzahl: 417
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Sybille Baecker
… ist gebürtige Niedersächsin und Wahlschwäbin. Nach einem Studium der Betriebswirtschaftslehre in Münster und Neu-Ulm war sie viele Jahre als IT-Prozessingenieurin in einem internationalen Unternehmen tätig. Später arbeitete sie mehrere Jahre als Pressereferentin des Volleyball-Landesverbands Württemberg in Stuttgart. Heute lebt sie nahe der Universitätsstadt Tübingen. Durch ihre Krimiserie mit dem Kommissar und Whiskyfreund Andreas Brander wurde sie zur Fachfrau für »Whisky & Crime«.
Infos: www.sybille-baecker.de
In der Kommissar-Brander-Reihe sind bisher erschienen:
(Stand 2015)
Irrwege - Branders 1. Fall
Körperstrafen - Branders 2. Fall
Eisblume - Branders 3. Fall
Neckartreiben - Branders 4. Fall
Mordsbrand - Branders 5. Fall
Fortsetzung folgt …
Sybille Baecker
Körperstrafen
Ein Kommissar Brander Krimi
Überarbeitete Neuauflage, 2015
Originalausgabe: Hermann-Josef Emons Verlag, Köln, 2009
© 2015 Sybille Baecker
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlag, Illustration: Sybille Baecker
Titelfoto: Sybille Baecker
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
973-3-7323-6969-0
Hardcover
973-3-7323-6970-6
e-Book
973-3-7323-6971-3
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Handlung und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Für Frank
PROLOG
Das Quieken der Schweine dröhnt in ihren Ohren. Laut, unaufhörlich, steigert sich zu einem panischen Kreischen, als wollte man die ängstliche Herde zur Schlachtbank bringen. Der Gestank von Mist steigt in ihre Nase. Aufdringlich. Kriecht in sie hinein, dass sie ihn schmecken kann. Feuchtes Stroh, Pisse, Kot. Ihr wird schlecht. Sie will sich übergeben. Raus. Der Gestank soll raus aus ihr. Sie würgt. Sie kann nicht. Alles ist zugeschnürt. Ihre Kehle ist zugeschnürt.
Lautes Geschrei. Wildes Gegröle. Bösartiges, brutales Lachen. Sie will sich die Ohren zuhalten. Sie will es nicht hören. Aber sie kann nur die Augen zusammenpressen. Nichts sehen, wenigstens nichts sehen.
Schreie. Schmerzvoll, gepeinigt. Es tut weh. Alles tut weh. Sie will fort. Fort. Sie kann nicht. Eine Hand hält sie, krallt sich in ihr Fleisch.
»Bitte, hört auf«, wimmert sie. Die Hand schlägt ihr ins Gesicht, hinterlässt ein eisiges Brennen. Sie weint. Ihr ist kalt. So kalt.
Das Quieken der Schweine wird lauter. So laut, dass sie bald nichts anderes mehr hört.
Die Scham. Niemals wird sie vergehen.
FREITAG
Der Tag hätte nicht schlechter beginnen können. Andreas Brander öffnete mit finsterem Blick das Garagentor. Er hatte unruhig geschlafen und war viel zu früh aufgewacht. Neben sich hatte er nur ein kaltes, leeres Bett vorgefunden. Er hatte Cecilias Kopfkissen zu sich gezogen und sich daran gekuschelt, wie ein verliebter Pennäler.
Am Abend zuvor hatte er seine Frau zum Flughafen gebracht. Drei Wochen würde er ohne sie auskommen müssen. Drei Wochen allein aufwachen, allein frühstücken, allein einschlafen. Kein Mensch zu Hause, wenn er von der Arbeit kam. Cecilia war zu einem zweiwöchigen Psychologen-Kongress nach Boston geflogen. Der Kongress startete zwar erst am Montag, aber sie wollte das Wochenende zur Akklimatisierung nutzen. In der dritten Woche würde sie eine Freundin treffen und mit ihr einige Tage durchs Land reisen.
Während Brander sich in seinen betagten Peugeot setzte, fragte er sich, ob er in den vierzehn Jahren seiner Ehe jemals so lange ohne seine Frau hatte auskommen müssen. Sicher, sie hatte immer mal wieder Fortbildungen besucht, mal eine Woche Zürich, mal zwei Tage Köln oder drei Tage London. Aber drei Wochen Boston? War das wirklich notwendig? Sie hatten lange über diese Reise diskutiert. Letztendlich hatte er aber keine Argumente gefunden, sie dazu zu bewegen, auf den Kongress zu verzichten. So oft nahm sie Rücksicht auf seinen Beruf, nahm seine vielen Überstunden und unvorhergesehenen Diensteinsätze klaglos hin. Dieses Mal war er an der Reihe, sich ihren beruflichen Plänen zu fügen. Brander seufzte abgrundtief und drehte den Zündschlüssel herum. Nichts. Ungebrochene Stille. Nicht einmal ein leises Röcheln war aus dem Motor gekrochen. Er versuchte es ein zweites Mal. Es blieb still.
»Komm schon. Lass du mich nicht auch noch im Stich«, beschwor Brander seinen Wagen. Aber auch ein dritter Versuch blieb erfolglos. Sein Peugeot hüllte sich in beharrliches Schweigen.
»So ein Mist.« Es war eher eine resignierte Feststellung, als ein Fluch, der da über seine Lippen kam. Hatte er vergessen, die Scheinwerfer auszuschalten, und die Batterie war leer? Aber das wäre ihm doch aufgefallen, als er den Wagen am Abend zuvor in die Garage gefahren hatte. Er überprüfte dennoch den Schalter. Nein, das Licht war nicht eingeschaltet gewesen. Vielleicht hatte er die Tür nicht richtig verschlossen, und die Innenbeleuchtung hatte die ganze Nacht gebrannt? Brander stieg aus, öffnete die Motorhaube, starrte ratlos auf das Innenleben seines Wagens. Er wusste, wo man Wasser und Öl nachfüllte, die Batterie erkannte er auch noch, aber dann verließen ihn seine autotechnischen Kenntnisse.
Frustriert wandte er sich ab, trat aus der Garage und raufte sich die wenigen kurzen Haare, die seine Geheimratsecken umrahmten. Das hatte ihm zu seinem Glück an diesem Morgen noch gefehlt. Sein Blick glitt über die Landschaft, die sich direkt neben der Doppelhaushälfte am Ortsrand von Entringen erstreckte. Leichter Dunst lag über den Feldern und Wiesen, die sich am Rande des Schönbuchs erhoben, hinauf bis zu dem nahen Waldgebiet. Letztes Wochenende war er dort schnaufend hinaufgejoggt. Vorbei an den Streuobstwiesen, mit Bäumen, deren Äste sich unter der schweren Last der Äpfel bogen. Dieses Jahr gab es so viele Äpfel wie schon lange nicht mehr, und viele Obstbauern hatten bereits mit der Ernte begonnen. Schließlich hatte er den Ziehweg erreicht, der nach Hohenentringen führte – eine Burganlage aus dem zwölften Jahrhundert. Heute befand sich dort ein Restaurant. Er hatte tapfer der Versuchung widerstanden, dort eine Pause einzulegen, und war fast eine Stunde durch den Schönbuch getrabt. Hinterher hatte er zwei Tage Muskelkater, sodass er kaum die Treppen zum Schlafzimmer hinaufgekommen war.
Er atmete ein paarmal tief durch und sah zum milchig blauen Himmel. Die Luft war noch kühl und frisch, und Brander ahnte, dass es wieder ein wunderschöner milder Spätsommertag werden würde. Er strich sich noch einmal über den Kopf, sah an sich herunter, auf die leichte Wölbung, die sich unter seiner Brust und über seinem Gürtel hervordrückte. Drei Wochen hatte er Zeit. Drei Wochen. Wie viele Kilos konnte er da verlieren? Vier? Fünf? Sechs? Er lächelte entschlossen. Cecilia würde staunen, wenn sie aus Boston nach Hause kam!
Er kehrte zurück in die Garage, schloss die Motorhaube seines Wagens und strich dem alten Peugeot liebevoll über die Schnauze. Karsten wollte am Abend zu ihm kommen. Sie könnten versuchen, die Batterie zu überbrücken.
Er ging an dem Wagen vorbei zu seinem Fahrrad, suchte einen Lappen, um die Spinnenweben und den Staub von Rahmen und Lenker zu entfernen, und pumpte anschließend die Reifen auf. Bereits dabei kam er ins Schwitzen. Er ging noch einmal ins Haus, tauschte Jeans und Hemd gegen eine alte Jogginghose und ein Sweatshirt. Kleidung zum Wechseln verstaute er in einem Rucksack. Dann schwang er sich voller Elan auf sein Fahrrad.
Seine Tour durch das Ammertal wurde von einem steten Quietschen begleitet. Er hätte die Kette ölen sollen, ging es ihm durch den Kopf, und er überlegte, ob er Fahrradöl zu Hause hatte. Die Strecke zog sich flach durch das Ammertal, in der Ferne sah er die Sankt-Remigius-Kapelle, die sich auf einem Hügel über Wurmlingen erhob, zu seiner Rechten waren Maisfelder, zum Teil bereits abgeerntet. Links, direkt neben dem Landwirtschaftsweg, auf dem er fuhr, verliefen die Schienen der Ammertalbahn, etwas weiter dahinter kroch der Berufsverkehr über die kurvige B 28. Beim »Schwabentod« – eine kleine Steigung kurz vor Pfäffingen – merkte er, dass auch seine Siebengang-Nabenschaltung nicht mehr funktionierte. Er konnte nur in den dritten Gang herunterschalten und quälte sich den Weg hinauf. Kurz bevor er den höchsten Punkt erreicht hatte, musste er absteigen und schieben. Gangschaltung und Öl. Vielleicht sollte er abends in Tübingen vor seiner Heimfahrt noch kurz beim Radladen anhalten.
Er stieg wieder auf das Fahrrad und rollte den Hügel hinunter, fuhr durch Pfäffingen, ein Stück den Radweg an der B 28 entlang und gelangte schließlich wieder ins Tal. Wenige hundert Meter entfernt entdeckte er einen anderen Radfahrer im sportlichen Outfit: kurze Radlerhose, Funktionsshirt, Helm. Ob er den Radfahrer einholen könnte? Sein Ehrgeiz erwachte. Er trat kräftig in die Pedale. Bald drückte sich der Schweiß aus allen Poren und ein unangenehmes Brennen setzte in seinen Oberschenkeln ein. Der Abstand zwischen ihm und dem anderen Radfahrer verringerte sich jedoch nicht. Kurz hinter der Ortseinfahrt Tübingen bog der Radler links ab, während Brander geradeaus weiter in die Universitätsstadt fuhr.
Als er in die Sindelfinger Straße einbog, hielt er an. Musste er diesen Weg entlangfahren, um zu seiner Dienststelle zu kommen? Einen Moment lang verließ ihn sein Orientierungssinn. Vom Fahrrad aus erschien ihm die Umgebung so anders. Ein ungewohnter Blickwinkel. Seine Stirn war schweißnass, und das Sweatshirt klebte unter dem Rucksack an seinem Rücken. Er hatte Durst, aber er hatte vergessen, eine Trinkflasche mitzunehmen. Mit dem Ärmel seines verwaschenen Sweatshirts wischte er sich über das Gesicht und entdeckte dabei ein Loch im Stoff.
Er stieg wieder auf sein Rad, bog ab, fuhr über den Schleifmühlenweg und durch den Fußgängertunnel am Hagtor. Nachdem er die Eisenbahnschienen überquert hatte, trat er noch einmal ordentlich in die Pedale und erreichte völlig durchgeschwitzt die blassblaue Plattenbaufassade der Polizeidirektion in der Konrad-Adenauer-Straße. Eine architektonische Meisterleistung aus den siebziger Jahren, der auch die gelben Fensterrahmen keine Schönheit verleihen konnten. Brander war dennoch froh, endlich am Ziel zu sein. Sein Hintern begann langsam zu schmerzen, und er freute sich auf ein Glas Wasser und eine erfrischende Dusche.
Er schob das Fahrrad in den Unterstand gegenüber der Dienststelle und sah auf die Uhr. Knapp fünfundvierzig Minuten hatte er für die zwölf Kilometer benötigt. Dafür, dass er dieses alte Rad mit einer defekten Gangschaltung hatte, war das doch gar nicht so schlecht, lobte er sich.
Der Wachhabende Paul Heimle grinste breit, als er Brander die Polizeidirektion betreten sah. »Grüß Gott, Andi. Bist du durch die Ammer hergeschwommen?«
»Ist warm draußen«, entgegnete Brander gut gelaunt und stieg, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen zu seinem Büro in der ersten Etage hinauf. Im Flur kam ihm seine Kollegin Peppi entgegen.
»Mensch, Andi! Wo hast du gesteckt? Warum gehst du nicht ans Telefon?«, begrüßte sie ihn aufgebracht. Sie blieb stehen und musterte ihren Kollegen mit zusammengezogenen Augenbrauen. Eine Locke ihrer krausen schwarzen Haare fiel ihr ins Gesicht. »Wie siehst du denn aus?«
»Guten Morgen, Frau Pachatourides. Ich bin heute mit dem Fahrrad zur Arbeit gekommen, um etwas für meine körperliche Fitness zu tun. Ein wenig Bewegung täte dir übrigens auch mal wieder gut«, stichelte er, um von seinem verschwitzten Äußeren abzulenken. Augenblicklich straffte Peppi die Schultern und zog den Bauch ein, so gut es ihr Übergewicht zuließ. Fünf Kilo waren es mindestens, vermutete Brander.
»Und da kannst du nicht ans Telefon gehen? Seit einer halben Stunde versuche ich, dich auf dem Handy zu erreichen!«
»Was gibt es denn so Dringendes?« Brander ließ den Rucksack von seinen Schultern rutschen und nahm das Mobiltelefon aus der Seitentasche. Das Display zeigte ihm mehrere entgangene Anrufe an. Er hatte es am Vortag, als er Cecilia zum Flughafen gebracht hatte, auf Vibrationsalarm gestellt. Es störte ihn, dass es heutzutage keinen Ort gab, an dem nicht irgendjemand telefonierte. Da klingelte es hier, ertönte dort eine Melodie oder ein anderer nerviger Ton, und dann wurde lauthals in den Apparat gesprochen, als säßen die Leute allein zu Haus in ihrem Wohnzimmer.
Brander steckte das Telefon wieder weg. »Sorry. Was gibt es Wichtiges?«
»Wir haben einen Toten auf der Strecke nach Bebenhausen.«
»Ein Verkehrsunfall?«
»Der Tote liegt nicht auf der Straße.«
»Wo dann?«
»Komm.« Sie machte eine eilige Kopfbewegung. »Ich erzähl dir alles unterwegs.«
Brander deutete auf seine verschwitzte Kleidung. »Darf ich mich vielleicht erst einmal umziehen?«
»Später. Hendrik und Jens sind bereits vor Ort, und die Kollegen von der Kriminaltechnik sind auch schon vor zwanzig Minuten rausgefahren.«
Als Brander neben Peppi im Auto saß, machte sich sein Durst wieder bemerkbar. Er sah sich im Dienstwagen um.
»Was suchst du?«
»Was zu trinken.«
»Das ist ein Auto und keine Mini-Bar.«
»Du hast ja heute gute Laune!« Brander verzog genervt das Gesicht. Eigentlich hatte er sich nach der Radtour richtig gut gefühlt. Doch Peppis Gemecker verschlechterte seine Stimmung sogleich wieder. »Dann erzähl mir wenigstens, was los ist.«
»Viel weiß ich auch nicht. Gegen halb acht kam ein Notruf. Ein Mann hat einen Toten bei einem Grillplatz gefunden. Der Grillplatz liegt an der B 27 zwischen Tübingen und Bebenhausen. Weil du noch nicht da warst, ist Hendrik mit Jens rausgefahren und hat dann auch gleich Verstärkung angefordert. Der Tote muss ziemlich übel aussehen. Hendrik wollte nicht so recht mit der Sprache raus. Schau es dir selbst an, hat er gesagt.«
»Hm.« Brander sah aus dem Fenster und dachte an Zitronen, um wenigstens etwas Flüssigkeit in seinen Gaumen zu bekommen. Seine Kehle war völlig ausgetrocknet, und in seinem verschwitzten Sweatshirt fühlte er sich nicht wohl. Ein Toter. Vermutlich ein Penner, der sich zum Sterben am Waldrand unters Himmelszelt gelegt hatte, grübelte Brander stumm vor sich hin, oder der von seinen Saufkumpanen erschlagen worden war.
»Da ist es.« Peppi deutete nach rechts auf einen Parkplatz, auf dem bereits mehrere Polizeiwagen und der Spezialwagen der Kriminaltechniker standen. Eine Absperrung war mit rot-weißem Plastikband weiträumig angebracht worden. Peppi parkte das Auto neben einem dunkelgrünen Mercedes.
Brander erkannte den Wagen des Staatsanwalts und verdrehte die Augen. Ausgerechnet Lehmann! Dieser Tag hielt wohl noch manche böse Überraschung für ihn bereit.
»Oh nein, der Lehmann! Ich dachte, der geht in Pension«, stöhnte auch Peppi neben ihm auf.
»Ende des Jahres, soweit ich weiß«, brummte Brander und stieg aus.
Neben dem Parkplatz befand sich ein schmales Feld, ein Schotterweg führte zu einem Wald, der zum Landschaftsschutzgebiet Schönbuch gehörte, und verzweigte sich am Ende des Parkplatzes. Ein Wanderschild wies links den Weg nach Bebenhausen, dessen ehemaliges Zisterzienserkloster noch hinter einer Kurve und hohen Bäumen verborgen lag. Der andere Weg führte entlang des Kirnbachs ins Kirnbachtal. Der Grillplatz befand sich etwas oberhalb dieser Verzweigung und war von Menschen in weißen Schutzanzügen bevölkert.
Brander und Peppi folgten dem abgesteckten Pfad. Vor einer zweiten Absperrung stand Staatsanwalt Klaus Lehmann und begrüßte gerade einen Kollegen vom Erkennungsdienst. Er starrte Brander entsetzt an, als dieser ihm in seinen verschwitzten, vor zehn Jahren bereits aus der Mode gekommenen Trainingsanzug gegenübertrat.
»Wie sehen Sie denn aus? Ist das Ihre neue Dienstkleidung?«
»Die Kripo trägt keine Dienstkleidung«, entgegnete Brander missmutig. War er denn an diesem Morgen nur von schlecht gelaunten Menschen umgeben? »Ich war gerade beim Sport.«
Manfred Tropper, ein Mitarbeiter der Kriminaltechnik, kniete mit dem Rücken zu ihnen und wandte ich zu ihm, als er Branders Stimme hörte. Ein hämisches Grinsen huschte über sein Gesicht, das Lehmann jedoch nicht sehen konnte.
»Grüß Gott, Andi. Gut, dass du da bist.«
»Hey Freddy.« Brander nickte ihm grüßend zu. Wenigstens ein Lichtblick.
»Wie kann es sein, dass die Ermittler, die zu diesem Fall gerufen werden, als Letzte am Tatort eintreffen? Die Spurensicherer stecken schon mitten in der Arbeit. Selbst ich …«
»Jetzt bin ich ja da!«, bremste Brander den Staatsanwalt unwirsch. Er hatte doch gesehen, dass Lehmann auch gerade erst angekommen war. »Wenn ich mir vielleicht erst einmal einen Überblick verschaffen dürfte. Ich …« Brander verstummte. Tropper war aufgestanden und hatte mit seinen Kollegen den Blick auf das freigegeben, was sie zuvor mit ihren weißen Anzügen verdeckt hatten. »Was ist …« Brander schüttelte ungläubig den Kopf. »Verflucht.« Er wandte den Blick ab, sah über die Felder zum blauen Himmel, holte tief Luft, bevor er einen zweiten Blick wagte. Er hatte das Gefühl, dass ihm die wenigen Haare in seinem Nacken zu Berge standen. Ganz langsam, Stück für Stück, versuchte er zu erfassen, was er sah, ohne daran zu denken, dass es ein Mensch aus Fleisch und Blut war, der vor ihm lag.
Er schluckte trocken, sah zu Peppi, die blass neben ihm stand.
»Eine Hinrichtung«, flüsterte sie fassungslos.
»Ich hab doch gesagt, das kann man nicht beschreiben.« Von irgendwoher war Hendrik Marquardt plötzlich aufgetaucht. Er strich sich mit der Hand durch die dunklen Haare. Das T-Shirt trug er lässig über dem Bund seiner dunklen Jeans. »So etwas hab ich noch nie gesehen.«
Brander starrte wortlos auf das Bild, das sich vor ihm auf der Wiese bot. Der Tote lag auf dem Rücken. Ein großer kräftiger Mann. An den Füßen trug er nur noch einen Schuh, der andere lag neben dem leblosen Körper. Die graue Anzugshose und die Unterhose waren auf die Oberschenkel heruntergezogen und gaben den Blick auf sein Geschlecht frei. Sakko und Hemd waren stellenweise zerrissen. Die Kleidung hatte dunkle Flecken, ein paar kleine Zweige und Laub hatten sich in den Falten verfangen. Branders Blick wanderte weiter. Die Arme des Toten waren nach oben über den Kopf gestreckt und die Handgelenke zwischen zwei Holzbrettern eingezwängt. Die Enden einer dicken Kette waren an den Brettern befestigt. Die Kette selbst lag in einer engen Schlinge um den Hals des Opfers. Das Gesicht wirkte trotz der erschlafften Muskeln seltsam verzerrt, die Zungenspitze hing aus einem Mundwinkel. Die Augen starrten leer in den Himmel.
Manfred Tropper trat von der anderen Seite der Absperrung zu Brander. »Wir haben noch nichts verändert, haben erst einmal nur Fotos gemacht.«
Brander sah eine weitere Minute auf den Toten, bevor er seine Sprache wieder fand. »Verfluchter Mist, was ist hier passiert?« Er räusperte sich und sah zu Tropper. »Kannst du mir schon etwas sagen?«
»Wir haben eine Brieftasche gefunden. Sie lag direkt neben dem Toten, könnte ihm aus der Jackentasche gefallen sein. Wenn es seine Brieftasche ist, dann heißt der Tote Friedmar Haydak. Einundvierzig Jahre, wohnhaft in Tübingen.«
»Wie sagten Sie, heißt der Tote?«, meldete sich Lehmann, der bisher einen genaueren Blick auf den Leichnam vermieden hatte.
»Friedmar Haydak«, wiederholte Tropper.
»Friedmar Haydak?« Lehmann riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. »Du meine Güte. Du meine Güte!« Der Staatsanwalt hörte nicht auf, den Kopf zu schütteln, warf nun doch einen scheuen Blick auf die Leiche. »Sind Sie ganz sicher?«
Tropper zuckte genervt die Achseln. »Ich bin vor fünf Minuten hier eingetroffen. Nein, ich bin mir nicht sicher! Vielleicht gehört ihm die Brieftasche ja auch gar nicht.«
»Du meine Güte. Du meine Güte! Wenn das Friedmar Haydak ist. Um Gottes willen …«
»Wer, um alles in der Welt, ist denn dieser Friedmar Haydak?«, hakte Brander ungeduldig nach.
»Sie kennen Friedmar Haydak nicht?«
Brander hob wortlos beide Handflächen zum Himmel. Er lebte zwar seit knapp dreißig Jahren im Ländle und sieben davon in Entringen, aber ein Friedmar Haydak hatte sich bei ihm noch nicht vorgestellt.
»Doktor Friedmar Haydak ist einer der erfolgreichsten Rechtsanwälte in Tübingen. Er hat eine kleine, aber sehr renommierte Kanzlei!« Lehmann wandte sich wieder Tropper zu. »Überprüfen Sie das. Und zwar so schnell wie möglich!« Er sah sich um. »Die Absperrung muss verstärkt werden. Kein Mensch, hören Sie, kein Mensch darf das hier sehen! Um Gottes willen. So würdelos, so …« Lehmann hielt sich eine Hand vor den Mund und schloss die Augen.
Brander und Tropper tauschten einen Blick. So fassungslos hatten sie den Staatsanwalt selten gesehen. Nachdenklich betrachtete Brander wieder den Leichnam zu seinen Füßen. Eine Hinrichtung, hatte Peppi im ersten Augenblick gesagt. Ja, es sah aus wie eine Hinrichtung. Aber da war noch mehr. Der Mann war nicht einfach getötet worden. In der Art und Weise, wie der Tote vor ihm lag, steckte noch eine weitere Aussage, die Brander zu erfassen versuchte. Er war zur Schau gestellt worden. Gedemütigt in seiner letzten Stunde. Ein modriger Geruch lag in der Luft. Fliegen surrten über den leblosen Körper, krochen dem Toten in Nase und Augen, setzten sich auf die nackten Genitalien. Eine Welle der Übelkeit stieg in Brander auf. Er hatte genug gesehen. Schnell wandte er den Blick zur Seite, atmete tief durch.
»Wer tut so etwas?« Er drehte sich zu den Kollegen um. »Ihr habt gehört, was der Staatsanwalt gesagt hat. Haltet die Presse und Schaulustige fern.«
»Äußerste Diskretion, bitte, Herr Kommissar Brander, äußerste Diskretion!« Lehmann war völlig erblasst.
Brander nickte stumm und wandte sich an Hendrik. »Wo ist der Mann, der den Toten gefunden hat?«
»Da hinten.« Hendrik deutete mit der Hand auf einen Mann, der gegen einen alten Opel gelehnt auf dem Parkplatz stand.
»Herr Lehmann, wenn Sie Herrn Haydak kannten, möchte ich Sie bitten, uns bei der Identifizierung zu helfen. Kommen Sie bitte etwas näher heran«, hörte Brander Troppers Stimme hinter sich, während er zu dem Fahrer des Opels ging. Tropper hatte seine eigene Art, Menschen zu zeigen, dass er sie nicht besonders mochte.
»Kriminalhauptkommissar Brander«, stellte er sich kurz darauf dem Mann vor, der ihm mit gerunzelter Stirn skeptisch entgegenblickte. »Ich war gerade beim Sport«, versuchte er, sein Aussehen zu entschuldigen. Er hatte nicht einmal seinen Dienstausweis bei sich. »Sie sind Herr …?«
»Walter Esslinger.« Er entblößte eine Reihe zahnsteinumrandeter Zähne und rauchige Atemluft stieß Brander entgegen.
»Sie haben uns benachrichtigt?«
»Ja.« Esslinger sah an ihm vorbei zur Polizeiabsperrung.
Brander schätzte den Mann auf Mitte fünfzig. Er trug eine ausgebeulte Cordhose, dazu ein kariertes Hemd und Wanderschuhe.
»Wie haben Sie den Toten gefunden?« Brander war dem Blick des Mannes gefolgt. Vom Parkplatz aus war die Leiche nicht zu sehen, Sträucher und hohe Gräser versperrten die Sicht.
Esslinger machte eine Kopfbewegung zum Kofferraum seines Wagens. »Mein Hund, die Demi. Die ist einfach ab durch die Mitte. Macht sie sonst eigentlich nicht, wissen Sie. Ich hatte den Wagen geparkt und sie rausgelassen. Die war gleich so nervös. Normalerweise wartet sie immer, bis ich mit ihr losgehe. Sie ist eine ausgebildete Jagdhündin, wissen Sie. Aber heute Morgen, da ist sie einfach plötzlich losgerannt. Zu der Grillstelle da vorne. Ich hab gedacht, was ist denn mit der los, und hab sie sofort zurückgepfiffen. Die haut nicht einfach ab, wissen Sie. Aber dann hat sie angeschlagen. Jagdhunde zeigen an, wenn sie etwas gefunden haben, wissen Sie. Bellte wie verrückt, die Demi. Da bin ich natürlich gucken gegangen. Und dann lag der Mann da.«
Brander warf einen Blick in den Kofferraum. In einer Kiste lag ein rotbrauner Jagdhund auf einer schmuddeligen Decke.
»Gehen Sie hier öfter spazieren?«
»Jeden Morgen vor der Arbeit.« Er zog eine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche seines Hemdes. »Möchten Sie auch eine?«
»Nein danke. Was haben Sie gemacht, nachdem Sie den Toten gefunden haben?«
»Ich hab die Polizei gerufen.« Esslinger zündete sich eine Zigarette an. »Dass der Mann tot war, hat man ja sofort gesehen. Ich hab die Demi gepackt, sie zum Auto gebracht und die Polizei angerufen.«
»War der Hund … ich meine … war er an der Leiche? Das müssten unsere Kollegen …«
»Nein!« Esslinger starrte Brander angewidert an. »Die zeigt nur an. Die bellt. Die war nicht dran, ganz bestimmt nicht.«
»Gut, ich wollte es nur wissen. Kennen Sie den Toten?«
»So genau hab ich mir den nicht angeguckt. Wissen Sie, ich seh nicht jeden Tag eine Leiche. Mir hat das gereicht, was ich gesehen habe.« Er nahm einen tiefen Lungenzug und blies den Qualm in den Himmel. Brander schnaufte, er mochte Zigarettenqualm nicht. Aber er wollte dem Mann nach dem, was er gesehen hatte, nicht verbieten zu rauchen.
»Sie haben also nichts verändert?«
»Nein!« Esslinger schüttelte sich. »Ganz bestimmt nicht.«
»War außer Ihnen sonst noch jemand auf dem Parkplatz?«
»Nein, das heißt …« Der Mann zog nachdenklich die Stirn in Falten. »Ein Auto fuhr gerade vom Parkplatz, als ich kam. Ich glaube, ein silberner Audi war das. Silbergrau. Fuhr Richtung Bebenhausen. Böblinger Kennzeichen, aber mehr weiß ich nicht.«
Silbergrauer Audi, Böblinger Kennzeichen. Das war doch ein Anfang. »Ich möchte Sie noch bitten, niemandem zu erzählen, was Sie hier gesehen haben.«
Esslinger nickte und blickte an Brander vorbei. »Ist das ein Verwandter von dem Toten?«
Brander sah sich um. Klaus Lehmann ging mit gesenktem Kopf zu seinem Wagen.
»Nein, das ist der Staatsanwalt.« Er wandte sich wieder Esslinger zu. »Wir sehen auch nicht jeden Tag eine Leiche.«
»Wo steckt eigentlich Jens?« Brander war zum Leichenfundort zurückgekehrt und beobachtete die Arbeit der Spurensicherer.
»Der ist runter zum Bach, nachdem er hier mal dezent in den Acker gekotzt hat. Leichen sind nichts für unseren Computerfreak«, erklärte Hendrik.
Brander verzog mitleidig das Gesicht. Jens Schöne war ein brillanter Computerfachmann und Analytiker, aber alles, was mit Verletzten und Toten zu tun hatte, schlug ihm sofort auf den Magen.
»Fahr mit ihm zurück in die Dienststelle und trommle unsere Leute zusammen. Um halb elf treffen wir uns zu einer ersten Besprechung.« Brander wandte sich wieder Tropper zu. »Freddy, was weißt du bis jetzt?«
»Heilandzagg! Du kôsch es nedd vrhebbe!« Tropper erhob sich seufzend. Wenn sich der Ermittler auch sonst immer um ein deutliches Hochdeutsch bemühte, beim Schimpfen gewannen seine schwäbischen Wurzeln die Oberhand. »Viel kann ich dir wirklich noch nicht sagen. Der Mann war schon tot, als er hierher gebracht wurde. Vermutlich sind der oder die Täter ein Stück in den Wald hineingefahren, sodass sie ihn nur noch hier heraufschleifen mussten. Da vorn auf dem Weg entlang des Kirnbachs haben wir relativ gute Reifenspuren gefunden. Von dort zieht sich eine Schleifspur bis hierher.« Tropper zeigte auf eine Stelle seitlich des Grillplatzes, wo zwischen Sträuchern ein schmaler Trampelpfad zum Wanderweg verlief.
»Sie? Mehrere Täter?«
Tropper zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Es war sicherlich nicht leicht, den Toten hierher zu bringen. Er ist groß und schwer. Laut Ausweis eins neunundachtzig, und ich vermute, der bringt locker neunzig Kilo auf die Waage.«
»Wie kommst du darauf, dass er schon tot war?«
»Die Leichenstarre ist so gut wie weg, und die Totenflecken sind nicht wegdrückbar, das deutet darauf hin, dass der Mann mindestens seit sechsunddreißig Stunden tot ist, eher länger. Und er hat hier nicht bereits seit zwei Tagen gelegen. Bei der Witterung und den Temperaturen in den letzten Tagen sähe er sonst nämlich anders aus. Wenn du mich fragst, liegt der noch nicht lange hier.«
»Außerdem kommen hier täglich zig Menschen vorbei. Irgendwer hätte ihn längst gefunden«, mischte sich Peppi ins Gespräch. »Guck dir die Grillstelle an. Da haben doch gestern noch welche gegrillt.«
Tropper nickte. »Ich würde vermuten, dass die Leiche irgendwann heute Nacht hergeschafft wurde.«
»Denkst du, dass die Papiere, die ihr gefunden habt, zu dem Toten gehören?«
»Er ist es. Ich hab Lehmann genötigt, sich die Leiche genauer anzuschauen.« Tropper konnte sich ein boshaftes Grinsen nicht verkneifen.
Brander schüttelte missbilligend den Kopf.
»Du willst doch immer so schnell wie möglich alle Fakten!«, rechtfertigte sich Tropper.
Dem konnte Brander nicht widersprechen. »Sonst noch was?«
»In der Innentasche seines Sakkos war ein Handy. Es ist ausgeschaltet. Vermutlich ist der Akku leer.«
»Hast du eine Idee, wie oder woran er gestorben ist?«
Tropper wog abschätzend den Kopf hin und her. »Nein, da müssen wir auf die Rechtsmedizin warten. Unsere gute Maggie hat allerdings gerade Urlaub. Ich muss schauen, wen ich rankriege.«
Peppi lenkte den Wagen zurück über die B 27 Richtung Tübingen. Brander saß auf dem Beifahrersitz und starrte aus dem Fenster, seine Zunge klebte am Gaumen. Er musste unbedingt etwas trinken. Das Bild des Toten hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt. Er hatte schon einiges in seiner Laufbahn bei der Kripo gesehen. Menschen, die sich von einer Brücke gestürzt oder vor einen Zug geworfen hatten. Prostituierte, Hausfrauen, alte und junge Männer, die brutal zusammengeschlagen worden waren. Einen erschossenen Polizisten. Einen misshandelten Studenten. Einen erstochenen Jogger. Er vermied es, an die toten Kinder zu denken, die er gesehen hatte.
Dieser Mord, das war keine Tat im Affekt gewesen, keine spontane Handlung, dessen war Brander sich sicher. Er schien geplant und durchdacht. Und eine Tatsache unterschied ihn von den Fällen, an denen er bisher gearbeitet hatte: Der Mörder hatte sich nicht die Mühe gemacht, seine Tat zu verdecken. Im Gegenteil. Er hatte die Leiche sorgfältig arrangiert. Die Welt sollte sehen, was er getan hatte.
»Lehmann sagt, Haydak war verheiratet und hat einen vierzehn- oder fünfzehnjährigen Sohn«, durchbrach Peppi seine Gedanken.
Brander räusperte sich, damit er sprechen konnte. Was gäbe er jetzt für ein Glas Wasser. »Hat er sonst noch etwas über den Toten gesagt?«
»Er beschrieb Haydak als ehrgeizig und kompromisslos. Er muss so etwas wie ein Staranwalt gewesen sein. Die Fälle, die er übernahm, hat er in der Regel auch gewonnen.«
»In welchem Bereich war er tätig?«
Peppi sog laut die Luft durch die Zähne. »Ich glaube, Lehmann sprach von Wirtschaftsrecht. Bin mir aber nicht sicher.«
»Wir können ihn nachher noch mal fragen.« Brander räusperte sich erneut. »Ich hab einen Brand. Wenn ich nicht bald was zu trinken kriege, verdurste ich.«
»Wieso bist du überhaupt heute mit dem Fahrrad zur Arbeit gekommen?«
»Weil so schönes Wetter ist.«
Peppi warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Das kannst du deiner Großmutter erzählen.«
»Mein Auto ist kaputt.«
»Und ich dachte schon, du willst abnehmen! Die halbe Woche jammerst du rum, was für einen Muskelkater du vom Joggen hast, und heute kommst du mit dem Rad zur Arbeit.«
Brander vermied es, Peppi in ihrer Annahme zu bestätigen. Von seinem Plan, ein paar Kilo abzuspecken, musste niemand etwas wissen. Das würde die Kollegen nur dazu reizen, ihn von seinen guten Vorsätzen abzubringen. Er lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf ihren Fall. »Hast du so etwas schon einmal gesehen?«
Peppi zögerte mit ihrer Antwort. »So etwas Ähnliches. Ein Aussteiger aus der rechten Szene. Sie haben ihn zusammengeschlagen, Hakenkreuze in die Haut geritzt und ihn danach aufgehängt.«
Brander stöhnte teilnahmsvoll auf. »Hier in Tübingen?«
»Nein, das war zu der Zeit, als ich bei der Bereitschaftspolizei in Göppingen war.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Es war mein zweiter Einsatz. Ich hatte Albträume danach und wollte den Dienst quittieren.«
Brander warf einen besorgten Blick auf seine Kollegin. Er wusste, dass sich hinter ihrer Ruppigkeit ein sensibles Gemüt verbarg. »Wenn was ist, du kannst jederzeit mit mir reden.«
Zurück in der Dienststelle ging Brander eilig duschen und wechselte die verschwitzten Sportsachen gegen Jeans und ein frisches Hemd. Anschließend machte er sich auf den Weg zum Besprechungsraum. Peppi hatte ihm eine Flasche Mineralwasser an seinen Platz gestellt, was Brander mit einem dankbaren Lächeln in ihre Richtung quittierte.
Der Raum quoll fast über vor Beamten. Brander wunderte sich. Lag es daran, dass es in den letzten Wochen recht ruhig in der Abteilung gewesen war und alle nach Arbeit gierten, oder hatte man so viele Kollegen zusammengetrommelt, weil es sich um einen toten Juristen handelte? Brander gab einen kurzen Abriss dessen, was sie gesehen und erfahren hatten. Hendrik reichte dazu ein paar Fotos herum, die er von Tropper bekommen und vor der Sitzung ausgedruckt hatte. Brander gab den Kollegen Zeit, sich die Bilder anzusehen und die Informationen zu verarbeiten.
»Sieht aus wie eine Kreuzigung«, mutmaßte Karl-Heinz Barowsky, nachdem er das Foto eine ganze Zeit lang aus verschiedenen Perspektiven betrachtet hatte. Der sechsundfünfzigjährige Kollege legte das Bild zur Seite, drückte die Hände ins Kreuz und verzog das Gesicht. Seit einigen Wochen klagte er hin und wieder über Rückenschmerzen.
»Das finde ich nicht«, entgegnete Jens Schöne. Seine ohnehin blasse Hautfarbe hatte sich von dem Schock am Morgen noch nicht wieder erholt. Die dünnen blonden Haare standen von seinem Kopf ab, als wären sie elektrisch geladen. Brander sah ihn aufmerksam an.
»Ich denke nicht, dass es eine Kreuzigung sein sollte«, fuhr Jens fort. »Nur die Handgelenke wurden in dem Holz eingeklemmt, der Kopf steckt in einer Schlinge, die Beine sind frei. Es erinnert mich eher an eine Foltermethode aus dem Mittelalter.«
»Wurde er denn gefoltert? Was sagt die Rechtsmedizin?«, fragte Hendrik Marquardt. Im gleichen Augenblick klingelte sein Handy. Er warf einen Blick auf das Display und drückte den Anrufer weg. »’tschuldigung.«
»Wir haben noch keinen Bericht«, erklärte Brander. »Die Leichenschau wird sicherlich noch dauern. Wir müssen die Umgebung des Leichenfundorts abklappern. Vielleicht hat irgendjemand etwas gesehen. Freddy meinte, dass die Leiche maximal eine Nacht dort gelegen hat. Der Zeuge, der uns gerufen hat, hat einen Wagen mit Böblinger Kennzeichen gesehen, der heute Morgen, als er kam, den Parkplatz verließ. Ein silbergrauer Audi. Den müssen wir finden.«
»Die Fesselung«, überlegte Jens laut. »Könnte die auf Sadomaso-Spielchen hindeuten?«
Lehmann verschluckte sich an seinem Kaffee.
Brander zuckte mit den Achseln. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wir wissen noch zu wenig über Haydak.«
»Um Gottes willen! Natürlich nicht!«, stieß Lehmann empört hervor.
»Wissen Sie das genau?«
Der Staatsanwalt gab ein paar undeutliche Laute von sich. Er wusste es nicht, konnte es sich aber nicht vorstellen, deutete Brander die Reaktion. »Wir stehen noch ganz am Anfang der Ermittlungen. Wir dürfen nichts ausschließen.«
»Was ist mit der Presse?«, fragte Michael Jahraus von der Öffentlichkeitsabteilung.
»Nur das Nötigste. Ein toter Jurist, Todesursache unbekannt, keinen Namen.« Brander kratzte sich am Kopf. »Zeugen. Schreib noch, dass wir Zeugen suchen, die in der Nacht von Donnerstag auf Freitag etwas Ungewöhnliches bemerkt haben.«
Jahraus nickte und machte sich Notizen.
»Was ist mit der Familie von Herrn Haydak?«, meldete sich der Staatsanwalt zu Wort, er hatte seine Sprache wiedergefunden.
Brander presste einen Moment lang nachdenklich die Lippen zusammen und ließ seinen Blick über die Gesichter der Mitarbeiter der Sonderkommission gleiten. Konnte er diese Aufgabe an einen Kollegen delegieren? Er entschied sich dagegen. »Frau Pachatourides und ich werden zu Haydaks Frau fahren und mit ihr sprechen.«
»Gib mir noch eine halbe Stunde, bevor wir uns auf den Weg zu Frau Haydak machen«, bat Brander Peppi, nachdem die Sitzung beendet war. »Ich muss kurz in Ruhe nachdenken.«
»Okay. Kaffee?«
Brander nickte. Während Peppi Richtung Kaffee-Ecke verschwand, ließ er sich an seinem Schreibtisch nieder, stützte die Ellenbogen auf und legte den Kopf in die Hände. Einen Moment lang schloss er die Augen. Auch wenn er in der Kriminalinspektion 1 arbeitete, kam ein Mordfall immer unerwartet, traf ihn jedes Mal doch irgendwie unvorbereitet. Er brauchte einen klaren Kopf, musste Abstand zwischen sich und dem Bild des Ermordeten bekommen, um alles analytisch und nüchtern zu betrachten. Er nahm ein leeres Blatt Papier und einen Bleistift, skizzierte ein paar Bäume, fügte eine Grillstelle mit Bänken umrandet hinzu, zeichnete schemenhaft die Umrisse eines Körpers. So war es besser. Mit diesem Bild konnte er arbeiten.
Ein Klopfen unterbrach seine Gedanken. Als Brander den Kopf hob, stand Hendrik bereits im Raum.
»Kann ich dich kurz sprechen?« Hendrik spielte nervös mit dem Ring an seinem Finger.
»Was gibt’s?« Eigentlich war Brander ärgerlich, dass man ihn in seiner Ruhe gestört hatte, Hendriks Unsicherheit überraschte ihn jedoch. Hendrik war normalerweise ein sehr selbstbewusster Mann, der immer für gute Stimmung im Team sorgte. Jetzt wirkte er eher wie ein Lehrling vor seinem Meister.
»Kann ich … kann ich heute Mittag frei haben?«
Brander verzog unwillig das Gesicht. Sie standen am Anfang einer Mordermittlungen, da wurde jeder Kollege gebraucht, das wusste auch Hendrik. »Ist was passiert?«
»Nein, aber … Anne hat einen Termin …« Hendrik zögerte. »Einen wichtigen Termin. Ich habe ihr versprochen, auf den Kleinen aufzupassen. Der Termin steht schon seit ein paar Wochen.«
»Ist was mit Anne?« Brander kannte Anne Dobler. Sie war Hendrik Marquardts Lebensgefährtin und hatte bis zur Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Louis ebenfalls bei der Kriminalinspektion 1 gearbeitet. Die junge Beamtin hatte sich damals Hals über Kopf in den als Casanova berüchtigten Kollegen verliebt, und aus einer unüberlegten gemeinsamen Nacht war eine Schwangerschaft geworden. Nach einigem Hin und Her waren die beiden nun seit über einem Jahr zusammen.
»Nein …«
»Könnt ihr den Termin denn nicht verschieben? Du weißt doch, wie es hier gerade am Anfang …«
»Andi, bitte. Es ist wichtig!«
»Was für ein Termin ist das?« Brander dachte an die zierliche Frau, mit der er gern, aber leider viel zu kurz zusammengearbeitet hatte. Ihm kam ein Gedanke. »Ist Anne wieder schwanger?«
»Gott bewahre!«, entfuhr es Hendrik. »Und außerdem geht dich das auch überhaupt nichts an!« Er stand sichtlich unter Spannung, aber er hatte Recht. Branders Fragen war viel zu persönlich gewesen.
Hendrik atmete mit zusammengepressten Lippen tief durch, bevor er etwas ruhiger weiter sprach. »Kann ich jetzt frei haben oder nicht?« Sein Handy klingelte erneut, wieder drückte er den Anruf weg.
»Alles in Ordnung?« Brander sah den Kollegen prüfend an.
»Kannst du mir nicht einfach eine Antwort auf meine Frage geben?«
»Ja, natürlich. Mach Feierabend. Wir werden heute schon noch ohne dich auskommen. Kommst du morgen?«
»Ja.«
Kopfschüttelnd sah Brander Hendrik hinterher, der eilig sein Büro verlassen hatte.
☼
Familie Haydak bewohnte eine alte Villa nahe am Neckar, unterhalb des Schlossbergs. Wie gewöhnlich hatte Peppi, als leidenschaftliche Autofahrerin, den Platz hinter dem Lenkrad übernommen, während Brander auf dem Beifahrersitz die Umgebung betrachtete.
»Schon schön«, sagte Brander, als sie durch die Neckarhalde fuhren.
»Was?«
Brander deutete auf eine Jugendstilvilla zu ihrer Linken. »Das Haus von der Burschenschaft Germania.«
»Ganz toll.« Peppi war auf Burschenschaften nicht gut zu sprechen, weil sie Verbindungen generell für frauenfeindlich hielt. Dass es sich bei der Burschenschaft Germania um eine schlagende Verbindung handelte, verstärkte ihre Meinung noch, daran änderte auch eine gut erhaltene, gepflegte Villa nichts.
»Hübsche Fassade. Und dahinter? Hast doch damals gesehen, wie es bei diesen Burschenschaften zugeht«, erinnerte sie Brander an ihren ersten Fall, den sie in Tübingen gemeinsam bearbeitet hatten.
»Das war aber nicht die Burschenschaft Germania. Du kannst nicht alle über einen Kamm scheren. Ach, komm, lass uns nicht darüber reden.« Er wollte nicht an den alten Fall erinnert werden.
Sie ließen das Verbindungshaus hinter sich, folgten der Straße ein gutes Stück und parkten den Wagen schließlich am Straßenrand vor einer schmiedeeisernen Gartenpforte. Peppi beugte sich über die Pforte, um einen Blick auf das Haus werfen zu können, das ein Stück höher hinter hohen Büschen und Bäumen versteckt lag.
»Erfolgreich, hat Lehmann gesagt. Ich würde sagen, Geld wie Dreck.« Peppi drückte auf den Klingelknopf, während Brander ihr einen tadelnden Blick zuwarf. In ihm stieg wieder das bekannte Unwohlsein auf. In wenigen Augenblicken würde er der Ehefrau des Ermordeten gegenüberstehen und ihre heile Welt aus den Angeln reißen. Da nützte alles Geld, aller Luxus nichts. Gefühle hatte jeder Mensch, und der plötzliche Tod eines geliebten Menschen traf die Angehörigen oft ins tiefste Innere, ließ die äußere Fassade zusammenbrechen, legte ihre Seele für alle sichtbar und schutzlos auf den kahlen Boden.
»Ja, bitte?«, tönte eine weibliche Stimme fragend aus der Gegensprechanlage.
»Kriminalpolizei Tübingen. Wir würden gern mit Frau Haydak sprechen«, erklärte Brander.
Sie hörten ein Summen, öffneten das eiserne Tor und stiegen die Stufen zum Hauseingang hinauf. Am Ende der steinernen Treppe führte ein schmaler Weg zur Haustür, der links und rechts von einem gepflegten Blumenbeet gesäumt war.
Vor ihnen erhob sich ein zweistöckiges Gebäude. Die Fassade war restauriert worden, ausladende Fensterbänke und schnörkeliger Verputz zierten die Mauern. An einer Seite des Mauerwerks rankte sich der Wein fast bis zur Dachrinne hinauf. Drei Stufen führten zum Eingang, die links und rechts von schlanken gewundenen Säulen, die ein Vordach trugen, flankiert wurden.
Eine Frau, Anfang fünfzig, in altmodischer Stoffhose und legerer Bluse erwartete sie.
»Frau Haydak?«, fragte Brander zögernd.
»Nein, ich bin die Haushälterin. Margot Hilbers. Worum geht es bitte?«
»Das möchten wir gern mit Frau Haydak persönlich besprechen.«
Die Haushälterin musterte sie einen Augenblick, dann drehte sie sich um. »Folgen Sie mir bitte.«
Sie führte die beiden Kommissare durch einen düsteren Flur. Neben einem Schrank stand eine schwere antike Kommode mit einem gold umrahmten wuchtigen Spiegel. Ihm gegenüber hing ein mannshohes Bild und zeigte in gedeckten Farben die Szenerie eines belebten Straßencafés. Ein dicker Teppich dämpfte ihre Schritte.
Am Ende des Gangs öffnete Frau Hilbers eine Tür und bat sie herein. Nach der Dunkelheit im Flur betraten sie nun ein helles, geräumiges Wohnzimmer, an das ein Wintergarten grenzte. Brander blinzelte. Auf einer moosgrünen Ledergarnitur im englischen Stil saß eine zierliche Frau und sah ihnen entgegen. Sie erhob sich, als Brander mit seiner Kollegin das Zimmer betrat. Sie trug ein elegantes helles Kostüm, die blonden Haare waren zu einem gepflegten Pagenschnitt frisiert. Ihr dezentes Make-up konnte ihre Blässe nicht verbergen.
»Frau Haydak, die beiden Herr…« Die Haushälterin kam ins Stocken. »Die beiden Herrschaften sind von der Kriminalpolizei.«
Brander trat auf sie zu und reichte ihr die Hand. »Kriminalhauptkommissar Brander.« Er deutete auf Peppi. »Meine Kollegin, Frau Pachatourides.«
Unsicher sah Tabea Haydak in die Gesichter der beiden Kriminalpolizisten.
»Danke, Frau Hilbers«, sagte sie schließlich und gab ihrer Angestellten mit den Augen zu verstehen, dass sie den Raum verlassen sollte. »Setzen Sie sich, bitte.«
Brander ließ sich auf das schwere dunkelgrüne Ledersofa nieder. Frau Haydak setzte sich ihm gegenüber, die Knie fest zusammengepresst, die Unterschenkel leicht zur Seite gedreht, den Oberkörper aufrecht, fast steif.
»Bitte, was kann ich für Sie tun?«
»Frau Haydak, es geht um Ihren Mann«, begann Brander zögernd. Er fühlte sich unwohl, und das lag nicht nur daran, dass er dieser Frau die Nachricht über den gewaltsamen Tod ihres Mannes überbringen musste. Trotz des Sonnenscheins, der durch die großen Fenster drang und die grüne Ledergarnitur auf dem hellen flauschigen Teppich wie eine Mooswiese aussehen ließ, perfekt arrangiert mit einem in Gelb und Orange gehaltenen Blumenstrauß auf dem niedrigen Glastisch, wirkte der Raum kalt. Oder war es die Frau, die ihm so steif gegenübersaß, als käme sie aus einem strengen Mädcheninternat? Sie sah ihn unverwandt an, ohne den Hauch einer Mimik. Puppengleich, nicht ernst, nicht neugierig, nicht ängstlich.
»Wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen?«, fragte Brander, und Peppi, die sich in einen Sessel ihm schräg gegenübergesetzt hatte, hob irritiert die Augenbrauen. Er hätte selbst nicht sagen können, warum er mit dieser Frage das Gespräch eröffnete.
»Wie bitte?« Eine leichte Unruhe legte sich auf das Puppengesicht. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Bitte, Frau Haydak …«
»Gestern.«
»Gestern?« Brander stutzte. Vielleicht hatte Lehmann sich geirrt. Vielleicht war der Tote nicht Friedmar Haydak. Vielleicht war es ein dummer Zufall, dass man die Papiere bei dem Toten gefunden hatte.
»Ja, gestern.«
»Wann gestern?«
Wieder eine leichte Unruhe. »Gestern Abend.« Es klang eher wie eine Frage.
»Und wo ist Ihr Mann jetzt?«
»Wo soll er sein? In seinem Büro natürlich.«
Brander und Peppi wechselten einen Blick miteinander. »Können Sie uns die Adresse und Telefonnummer bitte geben? Wir müssen dringend mit Ihrem Mann sprechen.«
Frau Haydak stand auf und verließ mit unsicheren Schritten das Wohnzimmer. Brander ließ seinen Blick durch den Raum gleiten, betrachtete die mit edlen Gläsern sparsam eingerichtete Vitrine.
»Das kann doch gar nicht sein!«, zischte Peppi ihm zu.
Er hob eine Hand, um die Kollegin zum Schweigen zu bringen. Wenige Minuten später hatte Frau Haydak ihnen die Visitenkarte ihres Mannes gegeben und sie wieder zur Tür begleitet.
»Wenn sie ihren Mann gestern noch gesehen hat, kann der Tote unmöglich Friedmar Haydak sein«, überlegte Peppi laut, als sie wieder im Auto saßen. Sie machte keine Anstalten loszufahren.
»Mhm«, stimmte Brander ihr zu. Er sah auf die Visitenkarte in seinen Händen: »Rechtsanwaltskanzlei Friedmar Haydak & Partner«. Er nahm sein Handy und wählte die angegebene Nummer.
»Rechtsanwaltskanzlei Haydak und Partner. Sie sprechen mit Juliane Schlee«, meldete sich nach dem zweiten Klingeln eine sympathische Frauenstimme.
»Kriminalpolizei Tübingen, Brander. Ich würde gern mit Herrn Haydak sprechen.«
Am anderen Ende wurde es kurz still, dann fragte die sympathische Stimme: »Worum geht es denn bitte?«
»Das würde ich gern mit Herrn Haydak persönlich besprechen.«
»Herr Haydak ist zurzeit nicht im Büro.«
»Und wann kommt er wieder?«
»Ich …«, wieder schwieg die Rechtsanwaltsgehilfin einen Moment. »Kriminalpolizei, sagten Sie?«
»Ja«, antwortete Brander geduldig.
»Es tut mir leid, ich weiß leider nicht, wann Herr Haydak wieder kommt.«
»Wann haben Sie denn das letzte Mal mit ihm gesprochen?«
»Also … am … ich …« Sie räusperte sich, und Brander meinte zu hören, wie sie ihre Schultern straffte. »Am Telefon darf ich leider keine Auskünfte geben.«
»Wenn Herr Haydak sich bei Ihnen meldet, sagen Sie ihm doch bitte, er soll sich umgehend bei der Polizeidirektion in Tübingen melden.« Brander gab ihr die Telefonnummer.
»Im Büro ist er nicht«, berichtete Brander, nachdem das Gespräch beendet war.
»Vielleicht hat sich Freddy geirrt, und er ist noch gar nicht so lange tot.« Peppi sah nachdenklich zu dem Eisentor, hinter dem sich Haydaks Haus verbarg.
Brander nahm erneut das Telefon zur Hand.
»Freddy, wie sicher ist es, dass der Tote Friedmar Haydak ist?«
»Sehr sicher. Lehmann hat ihn doch identifiziert. Größe und Aussehen stimmen. Warum fragst du?«
»Du sagst, er ist mindestens schon zwei Tage tot?«
»Länger, mindestens drei Tage.«
»Könnte er nicht auch erst vor ein paar Stunden gestorben sein?«
»Also, Andi, ich bin kein Anfänger. Wenn ich mich irre, lass ich mich in den Schreibdienst versetzen.«
Bei dieser Vorstellung musste Brander grinsen. Der hagere Freddy Tropper mit Kopfhörern und Drei-Finger-Suchsystem vor einer Computertastatur. »Seine Frau behauptet, sie hat ihn gestern noch gesehen.«
»Wenn sie ihn zu der Grillstelle geschafft hat, hat sie nicht einmal gelogen.« Das war Freddys trockener Humor.
Brander steckte das Mobiltelefon in seine Hosentasche.
»Ich glaube, wir sollten uns doch noch einmal etwas intensiver mit Frau Haydak unterhalten.«
Tabea Haydak saß noch immer in dem Wohnzimmer mit der moosgrünen Ledergarnitur.
»Sie sind schon wieder da?« Eine Mischung aus Überraschung und Unsicherheit spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider.
»Frau Haydak, Ihr Mann ist nicht in seinem Büro.«
»Ach? Nein?«
Peppi zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen. Sie konnte es nicht leiden, wenn sie das Gefühl hatte, dass jemand sie bewusst anlog. Bevor Brander einschreiten konnte, ging sie bereits zum Angriff über. »Frau Haydak, Ihr Mann ist tot. Wir haben ihn heute Morgen gefunden.«
»Ach?«, sagte Frau Haydak wieder und sah Peppi ein wenig ungläubig an. Da war kein großes Entsetzen oder Erstaunen auf ihrem Gesicht. Der Ansatz eines Lächelns zeichnete sich auf ihren Lippen ab. Ein Lächeln, das automatisch kam, wenn ein Mensch in eine Situation geriet, die er nicht kontrollieren konnte, bei der er nicht wusste, wie er reagieren sollte. Brander hatte dieses Lächeln schon bei Augenzeugen von schlimmen Unfällen und brutalen Verbrechen beobachtet. Gesichtszüge, die jeden Augenblick drohten, sich zu einer schmerzvollen Grimasse zu verziehen.
»Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt lebend gesehen?« Brander setzte sich ihr gegenüber auf das Sofa.
»Ich weiß nicht«, antwortete Tabea Haydak. Sie sank wenige Millimeter in sich zusammen.
»Sie sagten vorhin, Sie haben ihn gestern gesehen«, half Brander ihrem Gedächtnis auf die Sprünge.
»Nein, das stimmt nicht. Ich habe ihn nicht gesehen.«
»Warum haben Sie uns angelogen?«
»Ich …« Sie sah zu Peppi. »Friedmar ist tot?« Sie sprach jetzt langsam, fast schleppend, als wäre sie sehr erschöpft. »Hatte er einen Unfall?«
»Nein.« Peppi musterte die Frau misstrauisch. »Er wurde ermordet.«
Frau Haydak nickte und lächelte wieder verwirrt.
»Haben Sie Ihren Mann umgebracht?«, fragte Peppi geradeheraus.
Brander fluchte innerlich und beobachtete besorgt Tabea Haydaks Reaktion. Das verwunderte Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen.
»Nein.« Sie wich mit dem Oberkörper ein Stück zurück, ohne sich jedoch gegen die Sofalehne zu lehnen. Ihr Körper war völlig angespannt. Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie verharrte einen Moment, dann richtete sie sich wieder auf, das Grinsen war verschwunden. Fast ängstlich sah sie jetzt zu Brander. »Sind Sie sicher, dass er tot ist?«
»Es tut mir leid, ja.« Brander beugte sich ein Stück vor, stützte die Unterarme auf die Oberschenkel, sah der Frau in die Augen. »Frau Haydak, warum haben Sie uns angelogen?«
»Kennen Sie meinen Mann? Sind Sie mit ihm befreundet?« Sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Argwohn spiegelte sich darin wieder. Verwirrung, die in Angst umschlug. »Verschwinden Sie! Lassen Sie mich in Ruhe! Sie lügen! Jawohl, Sie lügen! Er ist nicht tot. Nein. Er ist nicht tot!«, schrie sie plötzlich los.
Brander hob beschwichtigend die Hände. »Frau Haydak, beruhigen Sie sich bitte wieder.«
»Raus! Gehen Sie!« Sie sprang auf und wies mit der Hand energisch zur Tür. »Frau Hilbers!«
In der nächsten Sekunde stand die Haushälterin vor ihnen, als hätte sie hinter der Tür auf den Ruf ihrer Chefin gewartet.
»Die Herrschaften wollen gehen.« Tabea Haydak bedachte die Kommissare mit einem wirren Blick.
»Nein, Frau Haydak, wir werden nicht gehen.« Auch Brander hatte sich erhoben. »Ihr Mann ist tot, und wir müssen mit Ihnen reden.«
»Sie lügen!«
Margot Hilbers ging zu ihrer Chefin, fasste sie an den Armen und drückte sie sanft auf das Sofa. »Bitte beruhigen Sie sich, Frau Haydak. Ich mache Ihnen einen Drink, ja? Einen Martini? Den mögen Sie doch so gern.«
»Ich denke, es wäre besser, wenn wir ihren Hausarzt verständigen«, mischte sich Brander ein.
»Es gibt keinen Hausarzt«, erklärte die Angestellte. Sie nahm eine Flasche Martini von einem gläsernen Teewagen und füllte den Alkohol in ein Glas.
Frau Haydak saß wieder zur Puppe erstarrt auf dem Sofa.
»Er ist tot?«, fragte sie plötzlich zaghaft und sah die Kommissare mit großen Kinderaugen an.
Brander nickte und versuchte zu erfassen, was in dieser Frau vor sich ging.
»Frau Hilbers, wir müssen Felix anrufen.« Sie seufzte bebend. »Es ist vorbei.« Dann brach sie weinend zusammen.
Peppi hatte den Notarzt gerufen, der Tabea Haydak ein starkes Beruhigungsmittel verabreichte und den Kommissaren weitere Befragungen untersagte. Die Haushälterin brachte sie zur Tür.
»Frau Hilbers, wer ist Felix?«, fragte Brander, bevor sie gingen.
»Felix ist der Sohn der Haydaks. Er besucht das Internat in Salem.«
»Kommt er am Wochenende nach Hause?«
»Nein, er kommt nur alle vierzehn Tage und war letztes Wochenende hier. Allerdings – unter den gegebenen Umständen …«
»Wie alt ist der Junge?«
»Fünfzehn.«
Wie Lehmann gesagt hatte.
»Wir werden noch einmal mit Frau Haydak und ihrem Sohn sprechen müssen.«
»Ich werde es ihr ausrichten.« Margot Hilbers öffnete die Tür.