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Dieser Band enthält folgende Fantasy-Romane: Der Magier Aylon (Frank Rehfeld) Das Schwert der Zentauren (Mara Laue) Der letzte Lemurier (G.Firth Scott) KEDUAN - PLANET DER DRACHEN (Alfred Bekker) Da er keine mentale Aura besitzt, wie die anderen Magier, ist man Aylon innerhalb des Magierordens nicht wohl gesonnen; von einem fanatischen Inquisitor wurde sogar ein Anschlag auf ihn verübt. Als Aylon endlich von seinem Ziehvater, dem Magier Maziroc, erfährt, wer seine Eltern waren, beschließt er, das Erbe seines Vaters anzutreten und verlässt kurz vor seiner Magierweihe heimlich Cavillon, den Stammsitz der Ishar-Magier. Mit seinem Freund Floyd, einem ehemaligen Clankrieger der gefürchteten Hornmänner, begibt er sich auf eine lange, gefährliche Reise zum Ödland von Sharolan, wo sich jenseits des Luyan Dhor Gebirges mitten im Todesstreifen die Zitadelle seines Vaters befinden soll. Dass ihm ein unheimliches, bösartiges Schattenwesen folgt, das verhindern will, dass er sein Ziel erreicht, ahnt Aylon nicht ...
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Seitenzahl: 978
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Kreaturen der Magie: 4 Fantasy Romane
Copyright
Der Magier Aylon
Prolog
Das Inquisitionstribunal
Ein Entschluss
Die Nomaden
Vergangenheit: Kinsai
Orban
Die Formerin
Der Überfall
Narben
Vergangenheit: Eibiem
Die Hüter des Waldes
Mithyr
Verbotene Wege
Therion
Der Luyan Dhor
Die Zitadelle
Scruul
Epilog
Das Schwert der Zentauren
Der letzte Lemurier: Fantasy Roman
KEDUAN - PLANET DER DRACHEN
Dieser Band enthält folgende Fantasy-Romane:
Der Magier Aylon (Frank Rehfeld)
Das Schwert der Zentauren (Mara Laue)
Der letzte Lemurier (G.Firth Scott)
KEDUAN - PLANET DER DRACHEN (Alfred Bekker)
Da er keine mentale Aura besitzt, wie die anderen Magier, ist man Aylon innerhalb des Magierordens nicht wohl gesonnen; von einem fanatischen Inquisitor wurde sogar ein Anschlag auf ihn verübt. Als Aylon endlich von seinem Ziehvater, dem Magier Maziroc, erfährt, wer seine Eltern waren, beschließt er, das Erbe seines Vaters anzutreten und verlässt kurz vor seiner Magierweihe heimlich Cavillon, den Stammsitz der Ishar-Magier. Mit seinem Freund Floyd, einem ehemaligen Clankrieger der gefürchteten Hornmänner, begibt er sich auf eine lange, gefährliche Reise zum Ödland von Sharolan, wo sich jenseits des Luyan Dhor Gebirges mitten im Todesstreifen die Zitadelle seines Vaters befinden soll. Dass ihm ein unheimliches, bösartiges Schattenwesen folgt, das verhindern will, dass er sein Ziel erreicht, ahnt Aylon nicht ...
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author
COVER A.PANADERO
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
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Alles rund um Belletristik!
Die Legende von Arcana 3
Fantasy-Roman von Frank Rehfeld
Der Umfang dieses Buchs entspricht 411 Taschenbuchseiten.
Da er keine mentale Aura besitzt, wie die anderen Magier, ist man Aylon innerhalb des Magierordens nicht wohl gesonnen; von einem fanatischen Inquisitor wurde sogar ein Anschlag auf ihn verübt. Als Aylon endlich von seinem Ziehvater, dem Magier Maziroc, erfährt, wer seine Eltern waren, beschließt er, das Erbe seines Vaters anzutreten und verlässt kurz vor seiner Magierweihe heimlich Cavillon, den Stammsitz der Ishar-Magier. Mit seinem Freund Floyd, einem ehemaligen Clankrieger der gefürchteten Hornmänner, begibt er sich auf eine lange, gefährliche Reise zum Ödland von Sharolan, wo sich jenseits des Luyan Dhor Gebirges mitten im Todesstreifen die Zitadelle seines Vaters befinden soll. Dass ihm ein unheimliches, bösartiges Schattenwesen folgt, das verhindern will, dass er sein Ziel erreicht, ahnt Aylon nicht ...
Einem großen weißen Auge gleich schien der Mond auf Cavillon herabzustarren. Sein Licht fiel auf die Dächer und Mauern und versilberte das regennasse Kopfsteinpflaster der Innenhöfe, ohne die Dunkelheit vollends aus den zahlreichen Ecken und Winkeln vertreiben zu können.
Selbst von den wenigen Bewohnern der Ordensburg, die trotz der späten Stunde noch nicht schliefen, hielt sich bei dem schlechten Wetter niemand mehr im Freien auf; nur eine Katze streunte einsam umher. Sie erreichte einen Durchgang am Fuße einer der zyklopischen, meterdicken Mauern und wollte hindurchschleichen, verharrte dann aber jäh. Vor ihr erstreckte sich ein lichtloser Abgrund, als klaffte inmitten des Durchgangs plötzlich ein Riss in der Wirklichkeit. Mit funkelnden Augen starrte das Tier in die Dunkelheit, die den Stollen erfüllte.
Nicht einmal die fast massiv anmutende Wand aus Schwärze konnte die Bewegung innerhalb des Durchgangs völlig verbergen. Mit jeder verstreichenden Sekunde schien die Finsternis dichter zu werden, stofflicher; sie wogte und waberte durcheinander, bis sie schließlich wie eine Wolke aus schwarzem Rauch ins Freie quoll. Es sah aus, als wären die Schatten selbst lebendig geworden. In rasender Geschwindigkeit gewann die Schwärze an Form, ballte sich zu einer menschenähnlichen Gestalt zusammen.
Die Katze fauchte wild. Sie krümmte den Rücken zu einem Buckel, und ihr graues Fell sträubte sich. Voller panischer Angst versuchte sie zu fliehen, doch sie war wie gelähmt. Ihr klagender, fast menschlich klingender Schrei verhallte ungehört. Die unheimliche Erscheinung glitt wie ein Schatten über sie hinweg, und im gleichen Moment ließ bodenloses Entsetzen das Herz des Tieres stillstehen.
Die Gestalt kümmerte sich nicht darum. Ohne selbst noch einmal entdeckt zu werden, fand sie ihren Weg durch Cavillon. Sie durchschritt die zahlreichen magischen Sperren und Bannzauber, mit denen der Orden der Ishar seinen Stammsitz schützte. Für jeden anderen unbefugten Eindringling, wie mächtig er auch immer sein mochte, bildeten sie unüberwindliche Hindernisse, doch der Unheimliche schien sie nicht einmal wahrzunehmen.
Ungehindert drang er weiter vor.
Vor einer Tür blieb er schließlich stehen. Ohne anzuklopfen drückte er die Klinke nieder und trat in einen nur dürftig erhellten Raum. Im Kamin prasselte ein Feuer. Eine Lampe stand auf dem Tisch und warf ihr Licht über mehrere dort ausgebreitete Schriftrollen. Ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters hatte sich darüber gebeugt und bemühte sich, die Schriftzeichen zu entziffern. Das Knarren der Türangeln ließ ihn aufblicken. Er stieß einen erschrockenen Schrei aus und starrte die von Kopf bis Fuß in einen dunklen Umhang gehüllte Gestalt an. Auch ihr Gesicht lag vollständig im Schatten der Kapuze verborgen. Der Magier war selbst hochgewachsen und kräftig, doch die unheimliche Gestalt überragte ihn um mehr als Haupteslänge.
"Wer bist du?", stieß er hervor. "Und was willst du? Sprich, bevor ich dich mit einem Zauber belege!"
Leises Lachen drang unter der Kapuze hervor. "Sei gegrüßt, Lesirian", sagte eine raue, volltönende Stimme. "Oder soll ich dich lieber Inquisitor nennen?"
"Was soll das heißen?", zischte der Magier. "Woher weißt du davon?" Es gelang ihm nicht, sein Erschrecken völlig zu verbergen, und obwohl er sich bemühte, seiner Stimme einen wütenden Klang zu verleihen, konnte er nicht verhindern, dass etwas von der Angst darin mitschwang, die er beim Anblick der unheimlichen Gestalt empfand. Der Eindringling war umgeben von einer fast greifbaren Aura düsterer Macht, gegen die sich seine eigene Magie wie ein Nichts ausnahm.
"Ich weiß alles über dich und deine Pläne, eine Inquisition der Ishar aufzubauen." Der Unheimliche kam langsam näher. "Aber sei unbesorgt. Dein Geheimnis ist bei mir sicher aufgehoben. Ich stehe auf deiner Seite."
Lesirian wich zurück. "Bleib, wo du bist!", keuchte er. "Mich kannst du nicht täuschen, Dämon. Bist du gekommen, um meine Seele zu verderben?"
Wieder lachte die Gestalt auf. "Ein Dämon? Aber nein, du täuschst. Du kennst mich nicht, aber ich bin ein Freund und will dir helfen, denn du bist ein Auserwählter. Du hast die Zeichen der Zeit erkannt, und in deiner Hand allein liegt es, den Orden der Ishar vor dem Untergang zu retten, auf den er dank der Feigheit und verräterischen Machenschaften des Rates zusteuert."
Lesirians Zweifel zerstreuten sich ein wenig. Die Worte des Fremden hätten seine eigenen sein können. Noch aber legte sich sein Misstrauen nicht ganz. Nervös fuhr er mit der Zunge über seine trockenen Lippen. "Sag mir, wer du bist", verlangte er noch einmal.
"Ein Freund", antwortete die Gestalt. "Ich bin gekommen, um dir zu helfen, denn der Orden schwebt in größter Gefahr. Ihr werdet alle untergehen, wenn du nicht eingreifst. Es geht um diesen Aylon, der in zwei Tagen zum Ishar geweiht werden soll."
Lesirian nickte. Er kannte den jungen Magier, dessen mentale Aura niemand spüren konnte, und wie die meisten anderen empfand er bei dem Gedanken an ihn Abscheu, gepaart mit unterschwelliger Furcht. "Von was für einer Gefahr sprichst du?"
"Was glaubst du wohl, würde geschehen, wenn der Abkömmling eines Dämons aus der Schattenwelt, der möglicherweise sogar für das Erscheinen der Damonen verantwortlich war, zum Ishar geweiht würde?"
"Was soll ..." Der Magier unterbrach sich. "Erzähl mir mehr darüber!"
Mit wachsendem Schrecken lauschte er den Worten der unheimlichen Gestalt. "Das ... das ist unglaublich", murmelte er schließlich. "Woher weißt du das alles? Sag mir, wer du bist."
Der Eindringling schüttelte den Kopf. "Ich habe dir alles gesagt, weshalb ich gekommen bin. Was weiter geschieht, liegt nun allein in deiner Hand. Sorg dafür, dass Aylon die Weihe nicht empfängt, denn ich selbst kann und darf es nicht tun."
Lesirian trat näher. Seine Furcht vor dem unheimlichen Besucher war weitgehend geschwunden, nicht jedoch sein Misstrauen. Auch konnte er seine Neugier kaum noch zügeln. Er wollte wissen, mit wem er es zu tun hatte. Blitzschnell packte er zu und riss dem Unbekannten den Umhang herunter.
Ein wilder, unmenschlicher Schrei ertönte. Im nächsten Moment fauchte eine eisige Sturmbö durchs Zimmer, die wie mit finsteren Fingern sowohl die Lampe, wie auch das Feuer im Kamin erstickte. Alptraumhaft rote Augen glühten in der Dunkelheit.
Der Magier keuchte vor Entsetzen. Blindlings wich er zurück, immer noch das schreckliche Bild vor Augen. Es hatte nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert, bis das Licht erloschen war, doch in dieser winzigen Zeitspanne hatte er einen Blick auf das werfen können, was sich unter dem Umhang verbarg. Es war kein Mensch gewesen, nicht einmal irgendeine andere Kreatur, sondern nichts als Schwärze: Ein Schatten, der im ersten Lichtstrahl zerflossen war.
Ohrenbetäubendes Lachen erfüllte das Zimmer, dann erlosch auch das glühende Augenpaar. Der Unheimliche hatte Cavillon wieder verlassen. Zurück blieb nur sein Umhang, der sich binnen weniger Sekunden auflöste und als Staub zwischen Lesirians Fingern zu Boden rieselte.
Und die Saat, die er gelegt hatte ...
Innerhalb der letzten Viertelstunde war es zu dunkel geworden, um mehr als vage Konturen zu erkennen, doch die flachen, regelmäßigen Atemzüge des Mädchens neben ihm zeigten Aylon, dass es eingeschlafen war. Er griff nach seiner Kleidung, die neben dem Bett verstreut auf dem Boden lag und zog einen knapp fingerlangen Metallstab aus einer Tasche des Gürtels. Ein Flämmchen sprang aus dem Stab, nachdem er auf einen kleinen Knopf gedrückt hatte, und er entzündete eine Kerze damit. In ihrem Schein betrachtete er den Stab nachdenklich. Einst hatte er seinem Vater gehört, bis dieser ihn Maziroc anvertraute. Der greise Magier hatte ihn fast zwei Jahrzehnte lang aufbewahrt und Aylon erst vor wenigen Wochen gegeben. Seinen Worten zufolge, handelte es sich um ein Feuerzeug.
Es war ein nützliches Ding, zweifellos, aber anders als zunächst vermutet hatte es nichts mit Magie zu tun, und inzwischen hatte Aylon die Funktion auch weitgehend ergründen können. Durch Drücken des Knopfes wurden zwei winzige Feuersteine aneinander gerieben, die ein brennbares Gas entzündeten. Im Grunde nichts besonderes, wenn nicht alles so klein wäre. Niemand in den bekannten Ländern Arcanas wäre in der Lage, eine so winzige Düse und so feine Schrauben zu schmieden.
Sorgfältig verstaute Aylon das Feuerzeug wieder in der Tasche, dann beugte er sich über das Mädchen. Ein entspanntes Lächeln spielte noch im Schlaf um Lirs Mundwinkel. Sanft strich er ihr eine schwarze Haarlocke aus der Stirn und betrachtete ihre schlanke Figur. Eine Spur halb getrockneten Schweißes glänzte im Tal ihrer Brüste, die sich im Rhythmus ihrer Atemzüge hoben und senkten. Aylon ließ seinen Blick weiterwandern, über ihren festen Bauch, bis hin zu dem schwarzen Dreieck zwischen ihren Schenkeln. Der Anblick ihrer Scham erregte ihn nicht sonderlich, so wie ihr gesamter, unbestreitbar schöner Körper eher bewunderndes Interesse als Begierde in ihm weckte. Der Sex mit Lir war ekstatisch und voller Leidenschaft gewesen, aber wie schon in den vergangenen Nächten ohne sonderliche Befriedigung. Sie war für ihn nicht mehr als irgendein beliebiges Mädchen, und er für sie nur irgendein - zudem reichlich unerfahrener - Mann, auch wenn Aylon zu spüren glaubte, dass sie ihn mehr mochte als ihre anderen Freier, denen sie nur rein körperlich zu Diensten war. Sie verlangte nicht einmal Geld von ihm, sondern begnügte sich damit, heimlich in seinem Bett schlafen zu dürfen, statt auf das unbequeme Lager in ihrem Zelt zurückkehren zu müssen.
Natürlich war es verboten, doch die Gefahr einer Entdeckung war äußerst gering. Die Satzungen der Ishar schrieben vor, dass jeder Adept die letzten zwei Wochen vor seiner Magierweihe abgeschieden von der Welt in seiner Kammer zu verbringen hatte, um durch Meditation innere Reinheit zu erlangen. Der Gedanke ließ Aylon spöttisch das Gesicht verziehen. Für jemanden wie ihn, der in Cavillon aufgewachsen war und fast sein gesamtes Leben hier verbracht hatte, stellte es kein Problem dar, das Kloster unbemerkt für eine Weile zu verlassen.
Erneut beugte er sich über Lir. "Wach auf", verlangte er und zeichnete mit dem Finger die Linien ihres Gesichts nach.
Sie stöhnte unwillig. "Ich will nicht."
"Du musst gehen", beharrte er. "Du weißt, dass du heute nicht hierbleiben kannst."
Lir öffnete die Augen. "Wie lange habe ich geschlafen?"
"Nur ein paar Minuten. Aber es wird Zeit. Maziroc kann jeden Moment kommen." Als sein Lehrer und Ziehvater war der Magier der Einzige, der während der zweiwöchigen Vorbereitungszeit zu ihm durfte, und er hatte angekündigt, ihn an diesem Abend noch einmal zu besuchen. "Morgen findet meine Weihe statt. Danach können wir uns treffen, so oft wir wollen."
"Schon gut, ich gehe ja." Lir stand auf und streifte ihr Kleid über. Auch Aylon schlüpfte in sein Gewand. "Ach übrigens, heute Mittag ist ein Fremder nach Cavillon gekommen", sagte sie. "Er behauptet, dass er dich kennt."
Verwundert runzelte Aylon die Stirn. "Wie hieß er?"
"Den Namen habe ich vergessen, aber ich kann ihn dir beschreiben." Lir überlegte kurz. "Er ist schlank, einen halben Kopf größer als ich, und hat schwarze Haare. Sieht recht gut aus. Er scheint Gaukler oder so etwas zu sein, jedenfalls trug er ein ziemlich auffälliges, buntes Kostüm."
"Floyd?", erkundigte sich Aylon aufgeregt. "Hieß er vielleicht Floyd?"
Lir nickte. "Ich glaube ja, zumindest so ähnlich. Er sagt, dass er dich unbedingt noch heute Nacht sprechen müsste. Soll ich ihm etwas ausrichten?"
"Aber ja, ich werde mich mit ihm treffen. Bring ihn um Mitternacht zu der Pforte, an der du immer auf mich wartest. Ich werde ihn dort abholen."
"Ach, und für mich hast du keine Zeit?" Sie zog einen Schmollmund.
"Ab morgen wieder, so viel du willst. Und jetzt mach, dass du verschwindest. Ich kann nicht mehr mitkommen, aber du kennst ja den Weg. Und pass auf, dass dich niemand sieht."
Es klopfte an der Tür. Lir gab ihm einen Abschiedskuss, dann schwang sie sich auf die Fensterbank und kletterte katzengleich an den Rankpflanzen hinab, die das Mauerwerk an dieser Seite des Ostturmes bedeckten. Nach wenigen Sekunden war sie in der Dunkelheit verschwunden.
Aylon grinste, als er daran dachte, welchen Skandal es auslösen würde, wenn der Rat der Ishar von seinem nächtlichen Treiben erfahren sollte. Schon in der zweiten Nacht seiner Meditationszeit hatte er die Einsamkeit und Langeweile nicht länger ertragen und den ersten unerlaubten Ausflug unternommen. Anfangs war es nur ein Spaß gewesen, ein harmloser Verstoß gegen die in seinen Augen unsinnige Regel. Einige Tage später hatte eine Gruppe reisender Händler und Künstler ihre Zelte vor den Mauern Cavillons aufgeschlagen. Er hatte sich heimlich unter das fahrende Volk gemischt und dabei Lir kennengelernt, die die Truppe begleitete. Es hatte ihn gereizt, sich von ihr tiefer in die Geheimnisse des Liebesspiels einweihen zu lassen, und sie war eine erfahrene Lehrerin gewesen, doch der eigentliche Grund, weshalb er sie mit auf sein Zimmer genommen hatte, war der Wunsch gewesen, ganz bewusst dieses ungeheuerliche Sakrileg zu begehen. Was genau ihn dazu getrieben hatte, war ihm jedoch immer noch unklar. Noch vor kurzer Zeit wäre schon der bloße Gedanke daran für ihn unvorstellbar gewesen. Er war bei den Ishar aufgewachsen und hatte immer ein vollwertiges Mitglied des Ordens werden wollen. Auch jetzt noch akzeptierte er ihren Ehrenkodex und teilte die Werte, die sie vertraten, aber er hatte sich verändert, seit er mit Laira und Floyd, dem Gaukler, zusammengetroffen war. Mit Laira hatte er sein erstes sexuelles Erlebnis gehabt, und wenn er sich auch mittlerweile so gut wie sicher war, dass sie ihn hauptsächlich deshalb verführt hatte, um sich seiner Hilfe zu vergewissern, war es für ihn fast bedeutungsvoller gewesen, als ihr gemeinsamer Kampf gegen den Kult der Drachenpriester. Sie hatte ihn mit einer ganz anderen Art zu denken konfrontiert, hatte ihm das Tor zu einer sinnlicheren, freizügigeren Art der Wahrnehmung aufgestoßen.
Seither war ihm das von starren Regeln beherrschte Leben in Cavillon manchmal schier unerträglich vorgekommen. Er hatte erlebt, welches Elend die Damonen verbreiteten, während die Ishar tatenlos abwarteten und sich aus allen politischen Angelegenheiten heraushielten, obwohl sie vermutlich die Einzigen waren, die die Invasoren aus einer fremden Welt noch aufzuhalten vermochten. Der Gedanke erfüllte ihn mit ohnmächtiger Wut, und wenn er das Gebot der Askese missachtete und sich stattdessen mit Lir vergnügte, geschah dies zum Teil als ein Akt der Auflehnung gegen den Orden, wenn auch nur vor sich selbst.
Wieder wurde an die Tür geklopft, lauter und fordernder diesmal. "Ich komme ja schon!", rief Aylon. Er richtete die Decken auf dem Bett flüchtig her, dann öffnete er. Ihm blieb gerade noch Zeit zu erkennen, dass es sich bei dem Besucher nicht wie erwartet um Maziroc handelte, dann überschlugen sich die Ereignisse. Ein halbes Dutzend Gestalten in grauen, bodenlangen Kutten drangen in sein Zimmer ein. Über den Köpfen trugen sie spitz zulaufende Kapuzen in der gleichen Farbe, die bis zu den Schultern reichten und nur zwei Schlitze vor den Augen freiließen. Aylon versuchte zu schreien, doch einer der Unbekannten presste ihm eine behandschuhte, prankenartige Hand auf den Mund und erstickte seinen Schrei, sodass er nur ein leises Stöhnen hervorbrachte.
Aylon wehrte sich verbissen, aber er war niemals besonders kräftig gewesen, sodass die unheimlichen Gestalten nur wenige Sekunden brauchten, um ihn zu überwältigen. Mit einem grausamen Ruck wurden ihm die Arme auf den Rücken gedreht. Panik überfiel ihn, doch immer noch verschloss ihm die Hand des ersten Eindringlings den Mund und erstickte jeden Schrei.
"Bindet ihn!", ertönte eine Stimme vom Eingang her. Aylon erhaschte einen flüchtigen Blick auf etwas Violettes, dann wurde er brutal herumgerissen. Lederschnüre schlossen sich um seine Hand- und Fußgelenke, etwas wurde ihm über den Kopf gestülpt und nahm ihm die Sicht. Ein scharfer, stechender Geruch stieg in seine Nase, verwirrte ihm die Sinne. Aylon erkannte, dass es sich um eine betäubende Droge handelte. Er versuchte die Luft anzuhalten, doch in seinem Kopf schien sich bereits alles zu drehen, schneller und schneller, bis er aufhörte zu denken und willenlos in einem Meer aus bodenloser Schwärze ertrank.
*
Es roch nach Kerzentalg und würzigen Kräutern, aber darunter war noch schwach der Gestank von Feuchtigkeit und Moder wahrzunehmen. Der Geruch war Aylons erste Empfindung.
Nur langsam, fast widerwillig lichteten sich die schwarzen Nebel um seinen Geist. Schrittweise kämpfte sich Aylon ins Bewusstsein zurück, doch während es ihm schon bald gelang, wieder klar zu denken, blieb sein Körper auch weiterhin wie gelähmt. Etwas Hartes umklammerte seine Handgelenke und hielt ihn aufrecht.
"Wir sollten ihn töten!", drang eine jugendlich klingende Stimme an sein Ohr. Beifälliges Murmeln ertönte. "Damit würden wir das Problem ein für allemal lösen."
"Er hat es verdient", stimmte ein anderer zu. "Wenn er eine solche Gefahr für den gesamten Orden darstellt, muss er sterben!"
"Wie sollen wir das Böse noch bekämpfen, wenn es sich erst einmal in unseren eigenen Reihen eingenistet hat?" Wieder die Stimme des ersten. "Wir müssen dieses Übel mit aller Entschlossenheit ausrotten, wenn wir etwas erreichen wollen."
"Genug!" Die Stimme klang älter und auch befehlsgewohnter als die anderen. Mit Mühe gelang es Aylon, die Augenlider einen Spalt weit zu öffnen. Er sah die sechs Maskierten, die ihn überfallen hatten, aber auch noch einen weiteren Mann, der im Gegensatz zu den Kutten der anderen eine Robe aus düsterem, violettem Samt und eine ebensolche Kapuze trug. Nun breitete der Unbekannte in einer herrischen Geste die Arme aus. "Genug!", befahl er noch einmal. "Wenn wir für das Gute streiten, müssen wir auch die Grundzüge der Gerechtigkeit achten. Jeder menschliche Angeklagte hat das Recht, sich zu seiner Verteidigung zu äußern."
"Jeder Mensch!", rief einer der anderen. "Aber ist Aylon einer? Spürt ihr bei ihm eine mentale Aura, wie sie jeder Mensch und erst recht jeder Magier besitzt? Nein, seine geistige Ausstrahlung ist nicht größer, als die eines Steines. Auf diese Art verbirgt er das Böse, das ihn beherrscht."
"Wenn er ein Mensch wäre, bräuchten wir erst gar nicht über ihn zu richten", ergriff ein weiterer Maskierter das Wort. "Aber wir wissen alle, dass er es nicht ist, deshalb sind wir ja schließlich hier. Wie wir gehört haben, soll sein Vater ein Dämon aus den Höllenpfuhlen der Schattenwelt gewesen sein, und deshalb schlummert vermutlich die gleiche finstere Macht auch in Aylon. Töten wir ihn, bevor er sie gegen uns richten kann. Er ist geschickt und verschlagen wie ein Fuchs."
"Schweigt endlich!" Die Stimme des Mannes in der Robe klang scharf wie ein Peitschenhieb. "Ich bin der Großmeister der inquisitorischen Loge, und solange ihr nicht einmal zu Magiern geweiht seid, gebe ich allein die Befehle. Wir werden Aylon verhören. Seine Mutter war eine Hexe, also fließt auch menschliches Blut in seinen Adern. Notfalls wird die Folter ergeben müssen, wie stark der Anteil des Fremden ist." Er machte eine Pause und schaute zu Aylon herüber, dann trat er näher und blieb unmittelbar vor ihm stehen. "Oh, er ist erwacht. Ich weiß, dass du mich hörst, Aylon. Die Droge lähmt dein Rückgrat, und sie verhindert, dass du mit Magie gegen uns vorgehst, aber du kannst fühlen und auch sprechen."
Aylon stöhnte. "Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir?" Das Sprechen fiel ihm ungewohnt schwer, aber es ging, während er seinen Körper unterhalb des Halses zwar spürte, jedoch nicht zu bewegen vermochte. Hilflos hing er in den Ketten; sein gesamtes Körpergewicht zerrte an den eisernen Manschetten um seine Handgelenke, während seine Füße taub auf dem Boden ruhten. Zahlreiche Kerzen warfen flackerndes Licht über die niedrig hängende Decke und die Wände aus grob behauenem Fels. Offenbar hatte man ihn in eine Höhle außerhalb von Cavillon verschleppt, sodass er nicht auf die Hilfe anderer Magier hoffen durfte.
Die Augen hinter den Sehschlitzen glitzerten böse. "Wir", antwortete ihm der Mann in der Robe gedehnt, "sind die Inquisition der Ishar, die Keimzelle eines erneuerten Ordens. Noch sind wir nur wenige, aber das wird sich bald ändern. Immer mehr Ordensbrüder wollen nicht mehr länger untätig zusehen, wie Arcana von den Dämonen der Schattenwelt unterwandert oder ein Opfer der Damonen wird, wie unsere Welt in Schutt und Asche sinkt. Wir werden uns dem Bösen mit aller Kraft entgegenstellen, und dabei zunächst unseren eigenen Orden von all denen säubern, die entweder selbst zu den Mächten des Bösen gehören, oder sie durch ihre Untätigkeit dulden."
Zustimmende Rufe ertönten. Die Worte waren ungeschickt gewählt, klangen pathetisch und großspurig, dennoch verfehlten sie ihr Wirkung auch auf Aylon nicht. Das Verlangen der Männer, den Damonen und Magiern des Dunklen Bundes endlich aktiven Widerstand entgegenzusetzen, konnte er sogar gut nachvollziehen. Was ihm jedoch Angst einflößte, war der fast religiöse Fanatismus, der in den Worten mitklang. Und was er gehört hatte, als man ihn noch für bewusstlos hielt ...
Inquisitionsgerichte waren nicht neu auf Arcana. Schon mehrfach in der Vergangenheit hatten Sekten und sogar große Kirchenbewegungen versucht, ihre Lehre mit Gewalt durchzusetzen und vermeintliche Ketzer oder Ungläubige zu verfolgen. Obwohl dergleichen im völligen Gegensatz zu den ethischen Grundsätzen der Ishar stand, schien sich nun auch innerhalb des Magierordens in aller Heimlichkeit eine solche Splittergruppe gebildet zu haben. Wahnsinn, dachte Aylon fröstelnd.
"Was wollt ihr von mir?", stieß er hervor. "Ich habe mit den Damonen nichts zu tun, und auch nicht mit irgendwelchen dämonischen Wesen."
"Oh doch, das hast du. Schließlich stammst du von ihnen ab."
"Das ist verrückt! Ihr lügt, ich bin ein Mensch wie ..."
Ein harter, mit dem Handrücken ausgeführter Schlag traf seine Lippen und brachte ihn zum Verstummen. "Du hast nur zu reden, wenn ich dich frage."
Wut und Trotz schossen in Aylon hoch, verdrängten beinahe die Angst. Er war nie besonders mutig gewesen, wohl aber jähzornig, wenn jemand ihn zu demütigen versuchte. Meist gelang es ihm, sich zu beherrschen; so auch diesmal. Mühsam zwang er sich zur Ruhe. "Ich weiß nicht einmal, wer meine Eltern waren", sagte er.
"Versuch besser nicht, uns anzulügen. Hast du das verstanden?"
"Aber ich weiß wirklich nicht, wer sie waren." Erst jetzt kam Aylon die bittere Ironie der Situation vollends zu Bewusstsein. Maziroc hatte versprochen, ihm anlässlich seiner Weihe mehr über seine Herkunft zu verraten, und ihn vermutlich deshalb an diesem Abend besuchen wollen. Die Maskierten waren ihm knapp zuvorgekommen.
Aylon hielt dem Blick seines Gegenübers stand, bis dieser den Kopf abwandte. "Vielleicht hast du recht. Es war auch für uns verdammt schwer, etwas herauszufinden. Maziroc hat dir nichts gesagt?"
"Nein, nichts", beteuerte Aylon.
"Foltern wir ihn, bis er die Wahrheit gesteht!", verlangte einer der Umstehenden.
Wieder rann ein eisiger Schauer über Aylons Rücken. Sein Blick glitt zu dem Becken mit den glühenden Kohlen, das nicht weit von ihm entfernt stand. Daneben lagen verschiedene Zangen und andere Folterinstrumente auf einem Tisch ausgebreitet. Aylon biss die Zähne zusammen. Immer noch lähmte die betäubende Droge seinen Körper, aber auch ihre Wirkung auf seinen Geist war noch nicht ganz verflogen. Es fiel ihm schwer, klar zu denken. Die Situation war absurd; er fühlte sich wie in einem Alptraum gefangen, aber er wusste, dass er nicht aufwachen und sich irgendwo in Sicherheit befinden würde.
Was, bei allen Göttern, warf man ihm überhaupt vor?
Für einen Moment wirkte der Inquisitor verunsichert, dann schüttelte er beinahe ärgerlich den Kopf. "Ich glaube nicht, dass er lügt. Maziroc war schon immer sonderbar." Er wandte sich wieder Aylon zu. "Aber es spielt auch keine Rolle, wie viel du weißt. Wir werden nicht zulassen, dass du zum Ishar geweiht wirst. Es wäre eine Schande, vielleicht sogar das Verderben für den gesamten Orden. Du gehörst nicht zu uns, und du wirst nie einer von uns sein. Niemand kann deine mentale Aura wahrnehmen, niemand weiß, was sich an üblen Kräften und finsterer Magie in deinem Geist verbirgt."
Aylon schwieg. Er hielt den Blick gesenkt, und die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Von Kindheit an hatte es ihm die Ablehnung, oft sogar die Furcht anderer eingetragen, dass sie seine Ausstrahlung mental nicht wahrnehmen konnten. Es hatte ihn zu einem Außenseiter gemacht. Nicht nur die anderen Jugendlichen in Cavillon, sondern auch viele der erwachsenen Magier begegneten ihm mit Misstrauen. Einzig Maziroc hatte stets versucht, diese mentale Stille als eine besondere Begabung darzustellen, was aber nichts daran änderte, dass Aylon an ihr wie unter einem Fluch litt.
"Das gleiche Stigma wie bei deinem Vater", sprach der Inquisitor mit lauter Stimme weiter. Seine Worte hallten von den Wänden wider. "Auch er besaß keine geistige Aura. Du weißt nichts über ihn? Nun, viel gibt es auch nicht zu wissen. Er kam ungefähr zur gleichen Zeit wie die ersten Damonen nach Arcana, was nahelegt, dass dies kein Zufall war. Und auch als sie nach tausend Jahren wiederkehrten, war er wie aus dem Nichts plötzlich wieder zur Stelle, angeblich, um uns im Kampf gegen sie beizustehen. Auch wenn er abstritt, etwas mit den fremden Invasoren zu tun zu haben, waren die Zeichen überdeutlich für jeden, der sehen konnte. Viele aber blieben blind, manche glaubten gar in naivem Wahn, er wäre ein Bote der Götter. Eine Hexe vom Orden der Vingala ließ sich mit ihm ein und gebar dich. Kurz darauf starb sie, wahrscheinlich durch die Hand deines Vaters, weil sie zu viel wusste. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist, aber wahrscheinlich ging es bei seinem teuflischen Plan von Anfang an um dich, Aylon. Obwohl jeder wusste, dass du keiner von uns bist, hat der Rat der Ishar alle bösen Vorzeichen ignoriert. Diese Narren haben dich in Cavillon aufgenommen und dort aufwachsen lassen, und wenn wir nicht eingegriffen hätten, hätten sie dich morgen zur Magierweihe zugelassen, ohne zu begreifen, dass alles nur zu einem gewaltigen, finsteren Plan gehört, den Orden und schließlich unsere ganze Welt zu zerstören. Gib zu, dass dies deine Aufgabe ist!"
Aylon schüttelte stumm und mit weit aufgerissenen Augen den Kopf. Er brachte keinen Ton über die Lippen. Was er hörte, entsetzte ihn. Wahnsinn!, dachte er noch einmal. Sein anfänglicher Verdacht, dass es sich bei seinen Entführern um besessene Fanatiker handelte, war zur Gewissheit geworden. Was man ihm vorwarf, konnte nur einem von Grund auf kranken Hirn entspringen.
"Antworte!", herrschte der Inquisitor ihn an. Als Aylon auch weiterhin schwieg, machte er eine knappe Geste mit der rechten Hand. Einer der anderen Maskierten löste sich aus der Reihe und verschwand aus Aylons Blickfeld. Ein weiterer trat an das Kohlebecken. Mit einem Blasebalg fachte er den Brand zur Weißglut an und schob einen eisernen Schürhaken zwischen die Kohlen.
"Du kannst dir eine Menge Schmerzen ersparen, wenn du freiwillig sprichst. Was wäre nach der Weihe morgen geschehen?"
"Ihr seid wahnsinnig!", schrie Aylon. "Ich bin kein Dämon, ich bin ein Mensch wie ihr auch! Es gibt keinen Plan und ..." Er schrie auf, als ein Hieb mit einer mehrschwänzigen Peitsche seinen Rücken traf. Obwohl er seinen Körper auch jetzt noch nicht bewegen konnte, spürte er den Schmerz mit unverminderter Deutlichkeit. Die Schnüre zerrissen das Hemd und brannten wie Säure auf seiner Haut.
"Sprich endlich!", donnerte der Inquisitor mit immer lauterer Stimme. Seine Augen glitzerten kalt wie Eisstücke. "Was wäre nach deiner Weihe geschehen? Eine besondere magische Konstellation, die den Orden von innen her zerfrisst? Ein Fluch?"
"Nichts davon", stieß Aylon hervor. "Ihr irrt euch, es gibt keinen Plan!" Ein weiterer Peitschenhieb traf seinen Rücken. Aylon hatte den Schlag vorausgeahnt und instinktiv versucht, seine Muskeln anzuspannen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Er konnte klar denken und völlig normal empfinden, dennoch war er seinen Peinigern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Diese Hilflosigkeit war das Schlimmste an allem, weit schlimmer als die Peitschenhiebe. Sie taten zwar weh, waren aber vorerst nur dazu gedacht, seinen Widerstand zu brechen. Bislang hatten sie ihn noch nicht einmal ernsthaft verletzt. Wenn die Maskierten es wirklich darauf anlegten, könnten sie ihm die Haut in Fetzen peitschen.
"Ich bin ein Mensch!", schrie er. "Ich weiß nichts von einem Plan!"
Er wusste, dass seine Beteuerungen nichts nutzten. Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. Immer stärker wichen sein Zorn über die Demütigung und die eher unterschwellige Angst einer offenen Panik. Für die Wahnsinnigen, in deren Gewalt er sich befand, stand seine Schuld längst fest. Sie wollten ein Geständnis von ihm, und sie würden ihn so lange quälen, bis sie es erhielten. Aylon wusste, dass er irgendwann an den Punkt gelangen würde, an dem er alles zugab, was man ihm vorwarf, auch wenn er etwas erfand, nur um die Tortur zu beenden. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, dies schon jetzt zu tun, um sich unnötige Schmerzen zu ersparen, aber dann wurde er sich bewusst, dass ein solches Geständnis mit großer Wahrscheinlichkeit auch das Todesurteil für ihn bedeuten würde.
Aylon erwartete einen weiteren Peitschenhieb, doch diesen verhinderte der Inquisitor mit einer knappen Handbewegung. Tadelnd schüttelte er den Kopf. "Spielst du uns immer noch etwas vor, obwohl das Spiel längst aus ist, Aylon? Oder sagst du die Wahrheit? Ich könnte versuchen, diese Information wirklich aus dir herauspeitschen zu lassen, aber das wäre wohl vergebliche Mühe. Da du das Erbe der Schattenwelt und eines ihrer Dämonen in dir trägst, werden solche Schmerzen dir nichts anhaben können."
"Das ist Irrsinn", flüsterte Aylon. "Ich lebe seit meiner Kindheit in Cavillon, und ich habe nie etwas getan, das dem Orden der Ishar schadet."
"Natürlich nicht, weil erst morgen der entscheidende Tag gewesen wäre." Der Inquisitor machte eine Pause. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen schritt er vor Aylon auf und ab. "Es ist sogar möglich, dass du gar nichts über den Plan deines Vaters weißt, sondern nur ein Werkzeug bist", murmelte er nachdenklich. "Immerhin fließt dank deiner Mutter auch zur Hälfte menschliches Blut in deinen Adern. Das Böse in dir wird sich hinter dieser Maske verbergen und auf den günstigsten Moment zum Zuschlagen warten. Wenn wir also etwas erreichen wollen, müssen wir das Böse in dir durch die Folter zwingen, sich zu erkennen zu geben."
Mit einem leisen Kichern zog der Mann am Kohlenbecken den Schürhaken aus der Glut, betrachtete ihn kurz, und steckte ihn wieder zurück. "Noch zwei oder drei Minuten, dann ist er richtig weiß glühend."
"Ihr seid verrückt", krächzte Aylon. Noch einmal bemühte er sich mit aller Kraft, die Gewalt über seinen Körper zurückzuerlangen oder sich intensiv genug zu konzentrieren, die magischen Kräfte des Reifs an seinem Handgelenk freizusetzen, doch wiederum waren seine Versuche erfolglos. Die Wirkung der Droge hatte noch kein bisschen nachgelassen. Seine einzige Chance lag darin, mit den Männern zu sprechen. Auch wenn er nicht daran glaubte, dass es ihm gelingen würde, sie umzustimmen, schaffte er es vielleicht zumindest, ein wenig Zeit zu gewinnen. "Ihr selbst seid dabei, den Orden zu vernichten." Er versuchte seiner Stimme einen möglichst festen und überzeugenden Klang zu verleihen. "Was ihr vorhabt, verstößt gegen alle Werte, auf die sich der Orden der Ishar gründet."
"Falsche Werte, wie die Geschichte gelehrt hat." Der Mann in der Robe schnaubte verächtlich. "Werte, die unsere Welt an den Rand des Verderbens geführt haben. Schwäche und Nachgiebigkeit. Um den Mächten des Bösen trotzen zu können, müssen wir ebenso hart und gnadenlos wie sie werden. Nur dann werden wir den Sieg erringen können."
"Und ihr werdet gleichzeitig so wie sie", widersprach Aylon bitter. "Was bedeutet schon Gut oder Böse? Haltet ihr es für besonders heldenhaft, einen Wehrlosen zu quälen?"
"Nein, aber für notwendig. Manchmal muss man Opfer bringen, um ein größeres Unglück zu verhindern. Wir wollen nicht dich töten, sondern das Böse in dir vernichten. Vielleicht gelingt es, ohne dass du stirbst. Wir ..."
Irgendwo kollerte leise ein Stein. Im Lichtschein von Fackeln glitt ein überlebensgroßer Schatten aus dem Hintergrund der Höhle über die Wände, dann weitere. "Bleibt, wo ihr seid!", vernahm Aylon die Stimme Mazirocs. "Wenn ihr euch ergebt, verspreche ich euch ein faires Verfahren vor dem Rat der Ishar."
Der Inquisitor fuhr herum. "Hört nicht auf ihn", zischte er. "Greift sie an! Los, worauf wartet ihr? Ihr wisst, dass wir für eine gerechte Sache kämpfen." Keiner der anderen Maskierten kam seinem Befehl nach. Zwei von ihnen hoben die Hände, die übrigen blieben reglos stehen. "Verräter!", geiferte er. "Dafür werdet ihr büßen!" Das fanatische Funkeln seiner Augen verstärkte sich noch. "Du hast meine Pläne durchkreuzt, Maziroc, aber noch hast du nicht gewonnen. Zumindest von diesem Diener des Bösen werde ich die Welt befreien. Ich weiß, dass du keine Waffe trägst, und selbst wenn, könntest du mich niemals töten. Dafür hast du zu viele Skrupel, und für einen magischen Bann bleibt dir nicht mehr genug Zeit."
Mit einem hasserfüllten Keuchen sprang er auf Aylon zu. Die Klinge eines Dolches blitzte zwischen seinen Fingern auf. Mit einem Mal schien die Zeit quälend langsam zu vergehen. Aylon hatte das Gefühl, sein Herzschlag würde aussetzen. Er schaffte es nicht einmal, einen Schrei auszustoßen.
Der Inquisitor riss die Hand hoch, um zuzustoßen. Er führte die Bewegung nie zu Ende.
Urplötzlich zuckte er zusammen und verharrte, als wäre er erstarrt. Ein Blutschwall drang aus seinem Mund. Der Dolch entglitt seinen Händen, und in seinen Augen fror der Ausdruck abgrundtiefen Schreckens ein, als er im allerletzten Moment seines Lebens erkannte, welchen Fehler er begangen hatte. Sekundenlang blieb er noch reglos stehen, dann lief ein Zittern durch seine Gestalt, und er stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden. Aus seinem Genick ragten die gekrümmten Zacken eines stählernen Wurfsterns; mit solcher Wucht und Präzision geschleudert, dass die Waffe fast zur Gänze in seinem Hinterkopf versunken war. Eine Blutlache breitete sich rasch unter dem Leichnam aus.
"Ich", sagte Floyd mit einem grimmigen Lächeln und trat vor, "bin niemals unbewaffnet."
Mit tanzenden Flammenzungen leckte das Feuer über die Holzscheite im Kamin, fraß sich daran höher und verzehrte sie knisternd. Während es den Raum gleichermaßen mit Wärme und Behaglichkeit erfüllte, vertrieb es zugleich auch die letzten noch verbliebenen Schatten der Furcht.
"Lesirian war schon immer ein närrischer Hitzkopf", erklärte Maziroc. "Er war wie besessen in seinem Wahn, gegen vermeintliche Mächte des Bösen kämpfen zu müssen. Ein paarmal bemühte er sich erfolglos, in den Rat der Ishar gewählt zu werden. Und nun diese Idee mit der Inquisition - er muss vollends den Verstand verloren haben."
"Was ist mit den anderen?", wollte Aylon wissen.
"Ein paar Halbwüchsige. Keiner von ihnen hat bislang die Weihe erhalten, zwei waren sogar nicht einmal Magier, sondern nur Stallburschen. Lesirian hat ihnen eingeredet, nur durch diese Inquisition ließe sich der Orden vor dem Untergang bewahren. Wenn sie einsehen, dass sie falsch gehandelt haben, wird ihre Strafe wohl milde ausfallen."
Aylon nickte. Ihm lag nichts an Rache. Man hatte ihm ein Gegenmittel zu der lähmenden Droge gegeben, und inzwischen vermochte er sich wieder normal zu bewegen. Die Höhle hatte knapp eine Reitstunde von Cavillon entfernt gelegen, und gegen Mitternacht waren sie in das Kloster zurückgekehrt. "Wie habt ihr mich überhaupt gefunden?"
"Das ist allein Lirs und Floyds Verdienst." Der Magier lächelte. "Keine Angst, außer mir weiß keiner von dem Mädchen. Floyd verlangte, dass sie ihn heimlich zu dir führte. Ich überraschte ihn, als er gerade durch dein Fenster kletterte. Er hat uns zu der Höhle geführt, ohne seine Hilfe hätten wir dich nie gefunden. Lesirian hatte seine Spuren geschickt verwischt." Maziroc machte eine Pause. "Du kannst dir vorstellen, dass es für mich ein ziemlicher Schock war, als ich von dem Mädchen erfuhr."
Betreten senkte Aylon den Kopf. Von allen Ishar war Maziroc derjenige, gegen den sich dieses Handeln am allerwenigsten gerichtet hatte.
"Ich weiß nicht, was du dir bei diesem Unfug gedacht hast, und ich will es auch gar nicht wissen", fuhr der Magier fort. "Wenn der Rat davon erführe, würde man dich für mindestens ein Jahrzehnt von der Weihe ausschließen, von weiteren empfindlichen Strafen erst gar nicht zu reden. Aus diesem Grunde werde ich niemandem von Lir erzählen, aber ich verlange im Gegenzug, dass du noch einmal über alles nachdenkst. Was du getan hast, zeugt nicht gerade von großer Reife. Deshalb möchte ich, dass du dir wirklich bewusst bist, was du tust, bevor du morgen die Weihe empfängst."
Aylon lächelte unsicher. "Du versuchst doch nicht etwa, mich unauffällig davon abzubringen?"
"Noch ist es nicht zu spät dafür. Du bist noch nicht einmal neunzehn Jahre alt. Jeder würde es verstehen, wenn du um einen Aufschub von einigen Wochen oder auch Monaten bittest, vor allem nach den Ereignissen dieser Nacht." Maziroc seufzte. "Ich will dich zu nichts überreden. Es ist allein deine Entscheidung, nur solltest du alle Konsequenzen gründlich überdenken. Der Orden der Ishar existiert seit Jahrtausenden, doch es hat in all der Zeit noch nie ein jüngeres Mitglied als dich gegeben."
"Wie alt warst du, als du die Weihe empfangen hast?"
"Fast dreißig. Man hatte mir die Weihe auch schon früher angeboten, doch ich habe abgelehnt. Erst nachdem ich ausreichende Erfahrungen in der Welt gesammelt hatte, war ich zu diesem Schritt bereit, dann aber aus ganzem Herzen, und ich habe die Entscheidung nie bereut. Diese Zeit solltest du dir auch gönnen. Ich gebe zu, dass ich dagegen war, dich jetzt schon zur Weihe zuzulassen, doch Charalon war anderer Meinung und hat auch die anderen Mitglieder des Inneren Zirkels."
Ein Schatten huschte bei der Erwähnung des Namens über Aylons Gesicht. Er war immer noch zornig auf Charalon, den Ordensgründer der Ishar, der von unbekannten Mächten einst für ewige Zeit in die Dämmerschmiede, einen geheimnisvollen Ort zwischen den Welten, verbannt wurde und seither von dort die Geschicke des Ordens lenkte. Aylon hatte seinen Reif, ein mächtiges magisches Skiil aus den Katakomben unter Cavillon geborgen, nicht ahnend, dass dies nicht nur ein Geschenk, sondern der Beginn eines ungeheuerlichen Planes gewesen war, der schließlich zum Ende des Drachenkultes führte. Auch wenn die Intrige nicht gegen ihn gerichtet war, fühlte er sich von Charalon hintergangen und ausgenutzt.
Außerdem verspürte er Schuldgefühle Maziroc gegenüber. im Verlauf der Ereignisse in Maramon hatte er ein Gespräch seines Ziehvaters belauscht und dabei erfahren, dass der Magier selbst dem Inneren Zirkel angehörte. Um Intrigen untereinander zu verhindern, war die Identität der Mitglieder, die die Geschicke des Ordens lenkten, so geheim, dass sie sich nicht einmal untereinander kannten.
Maziroc bemerkte Aylons Verstimmung und fuhr rasch fort: "Was dich morgen erwartet, ist nicht bloß eine Zeremonie, die dir zusätzliche Rechte verleiht. Du wirst einen Eid ablegen, der dich an den Orden und unseren Ehrenkodex mit all seinen Verpflichtungen und Verboten binden wird, und das bis zum Ende deines Lebens. Ein Zurück gibt es dann nicht mehr, oder du würdest zu einem Ausgestoßenen werden, einem Paria. Was das bedeutet, brauche ich dir nicht erst zu sagen."
Aylon schwieg einige Sekunden. "Ich werde noch einmal darüber nachdenken", versprach er. Die Worte des Magiers hatten ihn in der Tat verunsichert. Er hatte sie in ähnlicher Form schon oft gehört, dennoch war ihm die Weihe gerade in den letzten Wochen fast nur noch wie eine bedeutungslose Formalität erschienen. "Wie viel stimmt von dem, was Lesirian über meine Eltern erzählt hat?", wechselte er das Thema. "Du hast versprochen, mir zu meiner Weihe mehr über meine Herkunft zu sagen."
"Ich weiß. Die Weihe ist zwar erst morgen, aber auf den einen Tag kommt es wohl nicht mehr an. Vielleicht ist es sogar besser so. Du wärest imstande, dich nur deshalb zum Ishar weihen zu lassen, um endlich etwas zu erfahren." Der Magier machte eine kurze Pause. "Nichts von dem, was Lesirian behauptete, ist wahr. Oder doch, einiges schon, aber er hat völlig falsche Schlüsse daraus gezogen." Maziroc seufzte erneut. "Also gut, ich werde dir alles erzählen, was ich über deine Eltern weiß. Aber ich muss dich warnen, es ist nicht sehr viel."
"Leben Sie noch?", unterbrach ihn Aylon. Nach allem, was er an diesem Abend bereits durchgemacht hatte, gelang es ihm jetzt, völlig ruhig zu bleiben. "Das ist für mich wichtiger als alles andere."
"Nein." Maziroc legte ihm die Hand auf den Arm. "Zumindest dein Vater nicht. Er war kein Damon, ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil, er hat maßgeblich dazu beigetragen, sie zurückzuschlagen. Aber seither ist er verschollen."
"Und was ist mit meiner Mutter?"
"Sie hieß Miranya und war wirklich eine Vingala. Soweit hatte Lesirian recht. Von ihr hast du deine magischen Kräfte geerbt. Einige Monate nach deiner Geburt verschwand sie spurlos. Ich habe jahrelang nach ihr geforscht - vergebens. Niemand weiß, was aus ihr geworden ist. Ich weiß, was du jetzt denkst, Aylon, aber mach dir keine falschen Hoffnungen. Es ist so gut wie ausgeschlossen, dass sie noch lebt."
Aylon antwortete nicht. Er hatte nichts anderes erwartet. Seit Jahren schon fand er sich mit dem Gedanken ab, dass seine Eltern tot waren. Wäre es anders, hätte er nicht ohne einen einzigen Besuch von ihnen in der Obhut der Ishar aufzuwachsen brauchen. Doch auch wenn seine Trauer nicht besonders stark war, traf ihn diese endgültige Bestätigung seiner Vermutung härter, als er erwartet hatte. Er hatte seine Eltern nie kennengelernt, sie waren nur Fremde für ihn, und doch musste er gegen Tränen ankämpfen, die ihm in die Augen stiegen. "Erzähl mir mehr von ihnen", bat er mit belegter Stimme.
"Das ... ist nicht so einfach", murmelte Maziroc stockend. "Du wirst enttäuscht sein. Gerade was deinen Vater betrifft, gibt es so vieles, was ich selbst nicht verstehe." Er zögerte. Für einen Moment schienen seine Gedanken in weite Ferne zu schweifen, dann ging ein Ruck durch seine Gestalt, und er lächelte traurig. "Dein Vater hieß Kenran'Del. Er war ein sehr ... außergewöhnlicher Mann."
Wieder machte Maziroc eine Pause, und sein Blick schien ins Leere zu irren.
"Was war mit ihm?", hakte Aylon nach, als der Magier nicht von sich aus weitersprach. "Welche Verbindung gab es zwischen ihm und den Damonen?"
"Keine", murmelte Maziroc. "Jedenfalls keine direkte. Bis heute weiß niemand, woher er in Wahrheit gekommen ist. Obwohl wir befreundet waren, hat er auch mir gegenüber stets nur Andeutungen gemacht. Doch es scheint festzustehen, dass er ebenso wie die Damonen aus einer fremden Welt nach Arcana kam, durch eine Art magisches Tor, ähnlich den Weltenbreschen. Allerdings kam er aus einer ganz anderen Welt als die Damonen, aber ganz gewiss nicht aus den Höllenpfuhlen der Schattenwelt, wenn es sie überhaupt gibt. Du hast sicherlich schon Vermutungen über das Feuerzeug angestellt. Es entstammt einer weit überlegenen Kultur, soviel ist sicher. Niemand in den uns bekannten Ländern könnte so etwas anfertigen, und dein Vater besaß noch mehr solcher Hilfsmittel. Genau wie bei dir konnte man auch seine mentale Aura nicht wahrnehmen. Dies und die anderen Hilfsmittel wie das Feuerzeug, die er bei sich führte, schienen zu bestätigen, dass er ein uns weit überlegenes Wesen war. Nur wenige haben ihn persönlich kennengelernt, doch von ihnen waren die meisten von seiner übernatürlichen Abstammung überzeugt, obwohl er dergleichen immer bestritten hat. Erst nach uns nach habe ich selbst erkannt, dass er letztlich nur ein sehr einsamer Mensch war, den ein unglückliches Schicksal hierher verschlagen hat."
Verwirrt senkte Aylon den Blick. "Da er starb, war er ganz offensichtlich kein überirdisches Wesen", sagte er mit dumpfer Stimme. "Wie ist es geschehen?"
"Ich habe nicht behauptet, dass er tot ist", korrigierte Maziroc. Ihm fiel dieses Gespräch sichtlich schwer. Im Laufe seines offenbar bereits nach Jahrhunderten zählenden Lebens war er abgeklärt und ruhig geworden, und seit Aylon ihn kannte, hatte er den Magier noch nie so nervös erlebt, wie jetzt. Ununterbrochen knetete Maziroc seine Hände. "Stets hat er nach einem Weg zurück in seine eigene Welt gesucht. Das änderte sich erst, als er deine Mutter kennenlernte und du geboren wurdest. Als Miranya ihn jedoch wenig später aus unbekannten Gründen völlig unerwartet verließ, brach für ihn eine Welt zusammen. Zu dieser Zeit teilte Charalon ihm mit, dass es über die Dämmerschmiede möglicherweise einen Weg zurück in seine Heimat gäbe, und Kenran'Del ergriff diese Chance. Er ließ dich in meiner Obhut zurück und ging zu Charalon, und seither hat niemand mehr etwas von ihm gehört."
"Er hat mich einfach so zurückgelassen und ist fortgegangen?", murmelte Aylon bitter.
"So darfst du es nicht sehen", behauptete Maziroc. "Dieser Entschluss ist ihm so schwer gefallen wie kein anderer, doch er konnte nicht anders handeln. Wenn es ihm irgendwie möglich wäre, wollte er schon bald zurückkehren, um auch dich zu holen oder dich zumindest zu besuchen." Er räusperte sich, um seine Kehle freizubekommen. "Es kann sein, dass er wirklich in seine Heimat zurückgekehrt ist, es für ihn aber keinen Weg mehr hierher zurück gab, doch es kann auch sein, dass er den Versuch mit seinem Leben bezahlt hat."
"Und meine Mutter? Gibt es wirklich keinerlei Hinweis, wo sie geblieben ist?", unterbrach Aylon. "Was ist mit den anderen Vingala? Wissen Sie auch nichts?"
"Nein." Maziroc schüttelte den Kopf. "Glaub mir, sowohl dein Vater und später auch ich haben alles versucht, um sie zu finden, aber es war umsonst. Niemand hat sie seither mehr gesehen."
Einige Minuten lang herrschte Schweigen. Stumm hingen beide ihren Gedanken nach. "Demnach ist immer noch unbekannt, woher mein Vater stammte", murmelte Aylon schließlich. "Und somit auch, wer ich bin. Möglicherweise hatte Lesirian sogar recht."
"Unsinn!", widersprach Maziroc entschieden. "Fang bloß nicht erst an, dir so etwas einzureden." Er musterte Aylon eindringlich. "Dein Vater wollte nicht, dass ich dir vor deiner Weihe etwas über ihn erzähle, aber ich hatte noch einen weiteren Grund dafür. Das Feuerzeug war nur eine Kleinigkeit, er hat noch ein anderes Erbe hinterlassen. Verborgen in einer Zitadelle, die allein du zu betreten vermagst, warten seine Besitztümer auf dich, die er einst zurückließ, als er sich auf den Weg zur Dämmerschmiede machte. Dort wirst du vielleicht auch über ihn mehr erfahren."
"Was?" Aufgeregt sprang Aylon von seinem Stuhl hoch. "Wo ist diese Zitadelle? Ich werde ..."
"Immer mit der Ruhe", fiel ihm Maziroc ins Wort und drückte ihn mit sanfter Gewalt auf den Stuhl zurück. Dann griff er nach seiner mitgebrachten Tasche, nahm eine Karte heraus und entrollte sie auf dem Tisch. "Genau diese Reaktion habe ich erwartet - und befürchtet. Ich wusste, du würdest sofort dorthin wollen, aber du wirst dich wohl oder übel noch einige Monaten gedulden müssen." Er deutete auf einen Punkt fast am rechten oberen Kartenrand, noch nordöstlich der Nordermark. "Die Zitadelle liegt hier, im Ödland von Sharolan, mitten im Todesstreifen. Eine Reise dorthin ist schon unter normalen Umständen gefährlich, um diese Jahreszeit wäre sie unmöglich. Um überhaupt nach Sharolan zu gelangen, muss man zunächst von Therion aus den Luyan Dhor überwinden. Die Bergpässe sind jedoch den gesamten Winter über eingeschneit. Vor dem Frühjahr besteht keine Chance, die Zitadelle zu erreichen."
"Noch haben wir nicht Winter", erinnerte Aylon. "Selbst im Nordosten kann es noch zwei, drei Wochen dauern, bis der erste Schnee fällt."
"Aber man braucht mindestens zwei Monate, um den Luyan Dhor zu erreichen."
"Nur wenn man die normale Route durch den Süden nimmt." Aylon beugte sich tiefer über die Karte und zeichnete mit dem Finger eine direkte Verbindung zwischen Cavillon und der Zitadelle, eine gerade Linie durch die Nordermark. "So bräuchte man nur einen Bruchteil der Zeit."
Maziroc lachte laut auf. "Du weißt ja nicht einmal, was du da sagst. Ein Spaziergang durch die Hügel von Skant, sicher. Wenn es weiter nichts ist ... Kein Problem. Aber ich fürchte, du würdest mehr als nur zwei Wochen brauchen, um einen ausreichend großen Begleitschutz für einen solchen Ausflug ins Heimatland der Hornmänner anzuwerben, selbst wenn du genügend Geld hättest. Das gesamte Gebiet wird von den Clans beherrscht." Er lachte noch einmal. "Nein, Aylon, vor dem Frühjahr lässt sich nichts machen, glaub mir. Die Clanskriege liegen erst wenig mehr als ein Dutzend Jahre zurück, doch die Hornmänner besitzen fast schon wieder ihre alte Macht. Niemand kann ihr Gebiet einfach so durchqueren."
Mühsam zwang Aylon seine Enttäuschung nieder. Der Gedanke, monatelang wie bisher untätig warten zu müssen, nachdem er nun endlich wusste, wo er einen konkreten Hinweis auf seine Herkunft erhalten konnte, erschien ihm unerträglich. "Warum gerade in einer so abgelegenen Gegend wie Sharolan?", murmelte er.
"Ich weiß es nicht, aber er wird seine Gründe gehabt haben. Wahrscheinlich gerade weil dieses Gebiet so abgelegen liegt, dass sich kaum einmal ein Reisender dorthin verirrt. Außerdem hat er diese Sternenzitadelle nicht nur versiegelt, sondern sie auch durch ein System von Fallen gegen unbefugte Eindringling geschützt, aber er versprach mir, die Zitadelle würde dich erkennen, sobald du erst einmal dort wärest. Sobald die Pässe frei von Schnee sind, werde ich eine Expedition für die Reise dorthin ausrüsten. Ich war schon einmal dort, doch damals habe ich nur einen kleinen Teil dessen gesehen, was sich dort befindet, und das Wenige hat mir bereits Angst gemacht. Aber in der gegenwärtigen Situation könnten die dort verborgenen Geheimnisse für den ganzen Orden von größter Wichtigkeit sein."
"Vielleicht", entgegnete Aylon ohne rechte Begeisterung. "Wir werden sehen."
Maziroc stand auf. Er rollte die Karte zusammen und schob sie in seine Tasche zurück. "Jetzt brauchst du erst einmal Ruhe. Die Nacht ist schon halb vorbei, und morgen ist ein wichtiger Tag für dich. Versuch, noch ein paar Stunden zu schlafen. Und denk darüber nach, ob du dich wirklich schon reif genug für die Weihe fühlst."
Aylon nickte. "Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen", versicherte er noch einmal. Er zögerte. "Ich weiß, eigentlich dürfte ich außer dir keinen Besuch empfangen", sagte er dann. "Aber nach den Geschehnissen heute Abend kommt es darauf wohl nicht mehr an. Ich würde Floyd gerne sprechen und mich bei ihm bedanken. Es wird nicht lange dauern."
"Darauf habe ich nur gewartet." Maziroc lächelte. "Ich habe deshalb sogar schon mit dem Rat gesprochen. Da es sich um eine besondere Situation handelt, hat man nichts dagegen. Aber wirklich nur ein paar Minuten." Er ging zur Tür. "Ich werde Floyd holen."
Aylon wartete, bis die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, dann zog er unter seinem Hemd die Karte hervor, die er Maziroc unbemerkt entwendet hatte. Der Magier hatte verlangt, er solle noch einmal über die Weihe nachdenken, doch Aylon hatte seine Entscheidung während der letzten Minuten bereits getroffen - eine andere Entscheidung als zuvor. Er verspürte ein schlechtes Gewissen, den beinahe väterlichen Freund so zu hintergehen, aber er wusste, dass er nicht anders handeln konnte. Bis zu einem gewissen Grad würde auch Maziroc dafür Verständnis haben. Seine Mahnungen bezüglich der Weihe waren unnötig gewesen. Aylon war entschlossen, zum Zeitpunkt, wenn sie stattfinden sollte, bereits viele Meilen von Cavillon entfernt zu sein. Noch vor Anbruch der Morgendämmerung würde er die Ordensburg heimlich verlassen. Natürlich könnte er es offen tun, er war erwachsen und niemandem über sein Handeln Rechenschaft schuldig, aber er wusste, dass Maziroc dennoch mit allen nur möglichen Mittel versuchen würde, ihn zurückzuhalten.
Mittlerweile war Aylon fast dankbar für die Entführung. Ohne diesen Vorfall hätte er am nächsten Tag sonst vermutlich die Weihe über sich ergehen lassen, ohne weiter darüber nachzudenken. Ausgerechnet Lesirian hatte ihm erst die Augen geöffnet, was für ein Fehler das gewesen wäre. Die Magierweihe war in der Tat mehr als nur eine formelle Aufnahme in den Orden. Der Eid würde ihn bis ans Ende seines Lebens an die Ishar binden, und dazu fühlte sich Aylon noch nicht bereit; sogar weniger als je zuvor. Nicht, solange er nicht wusste, wer er wirklich war. Lesirian mit seinen Träumen von einer Inquisition und Erneuerung des Ordens mochte in seiner Radikalität eine Ausnahme darstellen, aber viele Ishar dachten zumindest in Grundzügen ähnlich wie er. Cavillon war für Aylon nie eine wirkliche Heimat gewesen, aber nun fühlte er sich mehr noch als zuvor wie ein Fremder hier, den man höchstens duldete, deshalb jedoch noch lange nicht akzeptierte oder gar mochte.
Er gehörte nicht hierher, und daraus würde er noch in dieser Nacht die Konsequenzen ziehen.
Ohne anzuklopfen öffnete Floyd die Tür und trat ein. Er trug noch die gleiche geckenhafte Kleidung wie in der Höhle, wo sie sich jedoch nur kurz gesehen hatten: ein schreiend buntes Hemd mit Rüschenbesatz und aufgeplusterten Ärmeln, um die Schultern einen ebenfalls bunt gemusterten Umhang und auf dem Kopf einen Hut mit breiter, an einer Seite hochgebogener Krempe und einer Pfauenfeder daran. Floyd war ein Mann mit vielen Talenten und noch mehr Berufen: Er war Gaukler, Abenteurer, Taschendieb, Schausteller, Akrobat, Grimassenschneider, Sänger, Spieler und anderes mehr, und doch war alles letztlich nur eine Tarnung, die ihn seit mittlerweile über einem Jahrzehnt schützte. Niemand, der ihn nicht näher kannte, würde hinter seiner Maske den Floyd T'sarill vermuten, der von den Clans der Hornmänner gejagt wurde, wie kein anderer Mensch.
"Aylon!" Floyd eilte auf ihn zu und umarmte ihn. "Nachdem wir uns im Drachentempel getrennt haben, habe ich befürchtet, du wärst tot."
"Dazu gehört schon mehr als ein lausiger Drache", gab Aylon lächelnd zurück, die damaligen Ereignisse bewusst verharmlosend.
"Warum hast du in der ganzen Zeit nichts von dir hören lassen? Ich habe nur durch reinen Zufall von deiner Weihe erfahren. Fast ein Wunder, dass es mir noch rechtzeitig gelungen ist herzukommen."
"Hauptsache, du hast es geschafft."
"Ja, und ich muss unbedingt mit dir sprechen, bevor du morgen diesen Eid ablegst. Ich hoffe für dich, du weißt, was du tust."
Aylon schmunzelte. "Hat Maziroc dich gebeten, mir das zu sagen, weil er hofft, dass ich auf dich eher höre, als auf ihn?"
"Nein." Floyd schüttelte ernst den Kopf. "Ich bin in erster Linie überhaupt erst nach Cavillon gekommen, um dich davor zu warnen. Ich habe ein einziges Mal in meinem Leben vor einer vergleichbaren Entscheidung gestanden. Auch wenn ich damals im Gegensatz zu dir nicht frei wählen konnte, habe ich noch heute darunter zu ..."
"Gib dir keine Mühe", fiel ihm Aylon ins Wort. "Du brauchst mich nicht erst zu überreden. Ich werde den Eid nicht leisten, sondern Cavillon noch in dieser Nacht verlassen. Kommst du mit?"
Floyd schluckte und musterte ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Ungläubigkeit. Er war überrumpelt worden, und es dauerte einen Moment, bis er begriff, was die Worte zu bedeuten hatten. "Du willst - was?"
"Cavillon verlassen, und zwar heimlich", sagte Aylon entschlossen. "Es dürfte nicht schwer sein, sich bei den Händlern vor dem Kloster ein Pferd und Proviant zu besorgen. Wirst du mich begleiten? Glaub mir, ich kann jede Hilfe dringend gebrauchen."
"Wohin willst du denn überhaupt?"
Aylon sagte es ihm.
Der überraschte Ausdruck auf Floyds Gesicht wechselte zu Bestürzung, dann offenem Schrecken. "Nicht einmal ein Wahnsinniger würde dir dabei helfen", keuchte er.
Aylon lächelte still vor sich hin.
Der Busch wuchs dicht wie ein Dschungel auf dieser Seite des Flusses; eine düstere Wand aus niedrig hängenden Zweigen, mannshohem Unterholz und ineinander verwobenen Schatten. Die Kronen der alten Bäume waren im Laufe der Zeit zu einem fast undurchdringlichen Dach zusammengewachsen, unter dem es auch am hellen Tag noch dämmrig war, sodass die Nacht hier niemals ganz zu enden schien. Nur vereinzelt drang fahles Sonnenlicht zwischen den Blättern durch und malte helle Flecken auf den Waldboden.
Der Tag war überraschend warm für diese Jahreszeit; es herrschte eine feuchte, stickige Wärme, die durch den kühlen Hauch, den der Wind von Zeit zu Zeit von der Wasseroberfläche herüberwehte, nur noch betont zu werden schien. Auch wenn dem Kalender nach längst der Herbst hereingebrochen war, so stöhnte das Land hier doch noch unter der Glut, die die Sonne von einem wolkenlosen Himmel herabsengte. In der Luft lag der Geruch des Dschungels, aber der Wind brachte auch den Geruch ausgedörrter, verbrannter Erde und fauligen Wassers mit sich. Eine bedrückende, grabesähnliche Stille hatte in weitem Umkreis vom Wald Besitz ergriffen. Die Vögel, die normalerweise in den Zweigen der dicht stehenden Bäume nisteten und den ganzen Tag über lärmten und schrien, waren ebenso wie die anderen Tiere geflohen oder verstummt, und selbst das unermüdliche Wispern des Windes im Blätterdach des Waldes wirkte gedämpft.
Aylon spürte eine leichte Berührung im Nacken und erschlug mit einer mittlerweile schon fast zur Gewohnheit gewordenen Bewegung eine Stechmücke. Vorsichtig erhob er sich auf Hände und Knie, lauschte einen Moment mit angehaltenem Atem und stemmte sich dann in eine halb liegende, halb hockende Position hoch. Sein Blick glitt nervös über das schmale Band des Flusses und die braunen, verbrannt wirkenden Büsche, die das jenseitige Ufer säumten. Er wusste, dass er - obwohl kaum eine Armeslänge vom Waldrand und dem Ufer des Larc entfernt - von der anderen Seite aus praktisch unsichtbar war. Er war zusammen mit Floyd drüben gewesen, und von dort wirkte der Dschungel im Gegenlicht der Sonne wie eine massive, mit grünen und braunen Tupfern gesprenkelte Wand, die nicht nur jeden Laut, sondern auch jede Bewegung verschluckte.
Nein, gesehen werden konnten sie nicht, aber das musste nicht viel zu bedeuten haben. Die Stille war umso verräterischer. Wenn die Männer, die dort drüben lagerten, nicht gerade taub waren, sondern die Stimmen der Natur auch nur ansatzweise zu deuten vermochten, dann würden sie spüren, dass hier etwas nicht stimmte. Floyd und er lagen seit mehr als zwei Stunden hier, regungslos und ohne auch nur das geringste Geräusch zu verursachen, aber ihre Hoffnung, dass die Vögel und die anderen Waldbewohner, die sie mit ihrem Auftauchen vertrieben hatten, zurückkehren würden, hatte sich bislang nicht erfüllt. Der Wald war so still wie ein gewaltiges, grünes Grab.
Und mit ein klein wenig Pech würde es ihr Grab werden, dachte Aylon unbehaglich. Die Schwarzseherei gehörte im Allgemeinen nicht gerade zu seinen ausgeprägtesten Charaktereigenschaften, aber er hatte gelernt, sich auf seine Nase zu verlassen, wenn es darum ging, einen Hinterhalt zu wittern, und hier roch es nicht nur nach einer Falle.
Es stank geradezu danach.
Das Gebiet, in dem sie sich befanden, gehörte zu den gefährlichsten Landstrichen Arcanas, dennoch wirkte alles so friedlich, als handelte es sich um einen der Parks in Cavillon. Und die Männer auf der anderen Seite des Flusses ... Aylon musste sich fast mit Gewalt ins Gedächtnis rufen, dass sie es nicht mit unerfahrenen Dummköpfen zu tun hatten, einer Bande gewöhnlicher Räuber und Halsabschneider, die sich mit einigen Taschenspielertricks an der Nase herumführen ließen. Diesen Fehler hatten schon andere begangen. Die Gerippe, die vor der Furt auf Pfähle gespießt waren und in der Sonne bleichten, kündeten von ihrem Schicksal.
Am jenseitigen Ufer entstand Bewegung. Die verbrannten Büsche teilten sich, und eine hochgewachsene, von Kopf bis Fuß in eine Rüstung aus dunklem, matt schimmerndem Horn gehüllte Gestalt trat an den Fluss. Einige Sekunden blieb der Mann reglos stehen und schaute sich um. Aylon verspürte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken und hatte für einen schrecklich langen Moment das Gefühl, der Unbekannte würde ihn direkt anstarren. Dann ließ dieser sich in die Hocke sinken, löste seine Feldflasche vom Gürtel und füllte sie aus dem Fluss, bevor er sich nach einer Weile wieder erhob und zwischen den Büschen verschwand.
Aylon atmete erleichtert auf. Der Anblick hatte ihn innerlich aufgewühlt, ihm die Erinnerung an seine erste Begegnung mit den Hornmännern in Maramon und die damit verbundenen Geschehnisse im Tempel des Drachen ins Gedächtnis zurückgerufen. Damals hatte er gehofft, ihnen niemals wieder begegnen zu müssen. Nein, dachte er noch einmal. Sie durften ihre Gegner nicht unterschätzen. Jeder noch so kleine Fehler würde ihr letzter sein. Die Männer in den Hornrüstungen waren Killer.
Mehr noch: die berüchtigtsten, die es gab.
Clanskrieger.
Von Kindheit an hatte man sie zu skrupellosen Mördern ausgebildet, die für Geld - und manchmal auch zum puren Vergnügen - töteten und überall, wo sie auftauchten, eine Spur von Tod und Leid zurückließen. Aylon machte sich nichts vor. Gnade hatten Floyd und er nicht zu erwarten, falls sie entdeckt wurden. Mit viel Glück vielleicht einen schnellen und schmerzlosen Tod, und selbst das war kaum mehr als ein hoffnungsvoller Wunsch, vor allem, was Floyd betraf. Der Gaukler hatte einst zu den Hornmännern gehört und war ihnen abtrünnig geworden. Für diesen Verrat stand er seit fast einem Jahrzehnt auf der Todesliste der Clans ganz oben. Fiel er ihnen lebend in die Hände, würde das Maß seiner Folterqualen zur Legende werden, und als sein Begleiter hatte Aylon eine nicht minder harte Strafe zu erwarten.
Behutsam stand er auf und zog sich - rückwärts gehend und ohne den Blick auch nur eine Sekunde vom Larc und dem jenseitigen Ufer abzuwenden - tiefer in den Dschungel zurück. Das glitzernde blaue Band des Flusses verschwand schon nach wenigen Schritten hinter einer verfilzten Wand aus Blättern und dornigen Zweigen. Erst jetzt wagte er es, sich umzudrehen und etwas schneller zu gehen. Er erreichte die kleine Lichtung, auf der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Floyd war nicht hier, lag wie er zuvor irgendwo am Waldrand und beobachtete den Rastplatz der Hornmänner. Aylon ließ sich auf einen umgestürzten Baumstamm sinken und griff nach dem Beutel mit ihren Vorräten. Jeder Muskel in seinem Körper schmerzte vom langen bewegungslosen Liegen, und seine Haut juckte am ganzen Körper so stark, dass er nur mühsam dem Drang widerstehen konnte, sich zu kratzen - was den Juckreiz letztlich nur noch verstärkt hätte, wie er wusste. Er trank einen Schluck Wasser und kaute lustlos auf dem zähen, trockenen Dörrfleisch herum, das sie vor drei Tagen von einem Händler gekauft hatten, nachdem ihr aus Cavillon mitgeführter Proviant zur Neige gegangen war. Das Fleisch schmeckte entsetzlich und verursachte ihm Übelkeit, aber er zwang sich trotzdem zum Essen. Sie hatten nicht gewagt, ein Feuer zu entzünden, obwohl der dichte Dschungel wahrscheinlich sowohl den Schein der Flammen, wie auch den Rauch verschluckt hätte. Aber in ihrer Situation konnten sie gar nicht vorsichtig genug sein. Eine einzige Nachlässigkeit würde den Tod bedeuten.
Es raschelte leise im Gebüsch, dann teilten sich die Zweige, und Floyd trat auf die Lichtung. Aylon sah flüchtig auf, und grüßte ihn mit einem Kopfnicken. Der Gaukler wirkte ebenso müde, wie er selbst. Schon als sie vor fünf Tagen die Grenze zur Nordermark überschritten hatten, hatte er sein auffällig buntes Gewand gegen einen erdfarbenen Umhang sowie ein Wams und eine Hose aus dunklem Leder vertauscht, die inmitten des Waldes eine ebenso gute Tarnung darstellten, wie Aylons dunkelgrüne Kleidung. Zahlreiche Pusteln und kleine Beulen bedeckten sein Gesicht und die nackte Haut an Armen und Beinen. Das einzige Leben, das sie bei ihrer Ankunft nicht verscheucht, sondern anscheinend eher sogar angelockt hatten, waren Insekten. Und sie hatten sich - vor allem bei Floyd - ausgiebig für das Vertreiben ihrer üblichen Nahrung entschädigt.
"Sie haben Zelte aufgeschlagen", berichtete der Gaukler überflüssigerweise. "Nach einer kurzen Rast sieht das nicht aus. Ich fürchte, sie werden über Nacht hier lagern."
Aylon wartete, bis er sich gesetzt hatte, und hielt ihm stumm den Beutel mit Lebensmitteln hin.
Floyd verzog das Gesicht. "Willst du mich vergiften?", fragte er, griff dann aber doch zu und begann - wenn auch mit sichtlichem Widerwillen - zu essen. "Wenn wir den Hornmännern etwas von diesem Zeug unterjubeln könnten, wären unsere Probleme gelöst", kommentierte er. "Selbst sie würden vor diesem Fraß die Flucht ergreifen."
Aylon raffte sich zu einem müden Lächeln auf, sagte aber nichts, sondern erhob sich, um nach den Pferden zu sehen, die sie ein paar Schritte entfernt an einem Baum angebunden hatten. Die Tiere waren unruhig und begrüßten ihn mit nervösem Schnauben. Es waren langbeinige, schlanke Steppenpferde mit glänzendem Fell und schlanken Fesseln; Tiere, die für die ebenen Weiten des Westens geboren waren. Der dicht wuchernde Dschungel bereitete ihnen sichtliches Unbehagen. Aylon tätschelte ihnen einen Moment lang die Hälse und band ihnen dann die Futtersäcke um. Geduldig wartete er, bis sie gefressen hatten, verstaute die Beutel sorgfältig wieder und stellte zwei Schalen mit Wasser vor ihnen ab. Die Tiere bekamen in den letzten Tagen weitaus mehr Pflege als ihre Reiter; aber das stand ihnen auch zu. In diesem Teil des Landes hing das Leben eines Menschen weitgehend von seinem Pferd ab. Ein Reiter konnte sich zur Not noch halb bewusstlos im Sattel halten oder sogar festbinden, wenn es gar nicht mehr anders ging - war aber sein Pferd erschöpft oder gar verletzt, dann waren beide verloren. Es gab einige Nomadenstämme hier, die Karawanen gegen Bezahlung freies Geleit durch ihr Gebiet garantierten, aber das bedeutete noch lange nicht, dass man auf ihre Hilfe hoffen durfte. Im Gegenteil, auch sie waren stets auf leichte Beute aus, und es gab Gerüchte, wonach so mancher verschollene Reisende nicht den Hornmännern, sondern den Nomaden in die Hände gefallen wäre.
Als Aylon auf die Lichtung zurückkam, hatte Floyd sein karges Mahl beendet. "Wir sollten weiterreiten", drängte der Gaukler, schluckte den letzten Bissen hinunter und spülte mit einem Schluck Wasser nach, bevor er sich die Hände an einem Grasbüschel abwischte. "Vielleicht finden wir eine andere Furt in der Nähe."
Aylon setzte sich neben ihn, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich gegen einen Baumstamm. Eine wohltuende, schwere Müdigkeit ergriff von seinem Körper Besitz; eine Müdigkeit, die ihm in den letzten Tagen zu einem fast vertrauten Begleiter geworden war und nur auf einen unachtsamen Moment wartete, um ihn zu überwältigen. Er schloss für ein paar Sekunden die Augen, riss die Lider aber mit einem Ruck wieder auf, als er spürte, wie der Schlaf nach ihm griff. Seufzend nahm er die Hände herunter, setzte sich wieder auf und schüttelte den Kopf. "Vielleicht", murmelte er. "Aber so langsam, wie wir in diesem Dschungel vorankommen, kann es auch mehrere Tage dauern. Es gibt nun mal keine genauen Karten von diesem Gebiet. Wir sind jetzt schon ziemlich weit von unserem Weg abgekommen. Jede weitere Meile müssen wir am anderen Ufer wieder zurückreiten."
Floyd schnaubte und starrte finster zu Boden. "Die ganze Sache ist vorsätzlicher Selbstmord. Ich frage mich, warum ich bei diesem Wahnsinn auch noch mitmache. Wir sollten umkehren und die südliche Route über die freien Städte nehmen, wie ich es von Anfang an vorgeschlagen habe."
"Das hätte einen Umweg von mindestens einem Monat bedeutet", hielt Aylon ihm entgegen. "Sogar eher zwei oder gar noch mehr."
"Und wenn schon. Lieber später, als gar nicht ans Ziel kommen. Zumindest hätten wir auf eine Karawane warten und uns ihr anschließen sollen."