Kreona - Ney Sceatcher - E-Book

Kreona E-Book

Ney Sceatcher

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Beschreibung

Eine Stadt der Zeit Eine Stadt aus Träumen Eine Stadt unter Wasser ... Sayens Mission scheint bereits gescheitert, als ausgerechnet ein Feind die zum Tode verurteilte Diebin und ihre Mannschaft aus dem Verlies der Regierung befreit. Ungeachtet der Gefahr für ihr eigenes Leben setzen die Freunde ihre Suche nach dem magischen Buch fort, um damit die Kämpfe zwischen den Städten, den Freiheitskämpfern und der Regierung endgültig zu beenden. Mit nur einem kleinen Vorsprung vor ihren Feinden bereisen sie neue Städte und lüften gut gehütete Geheimnisse. Doch kann Sayen ihrer Crew trauen oder wird die Regierung am Ende siegen?

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Seitenzahl: 437

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ohne dich wäre ich niemals ans Ziel gekommen. Ohne dich hätte ich niemals aus meinen Fehlern gelernt.

EINFÜHRUNG

Das stürmische Abenteuer der jungen Diebin Sayen nahm im ersten Band ein jähes Ende, als sie feststellen musste, dass nicht alles so war, wie es schien. Der Kapitän der Freiheitskämpfer, Silver, war nämlich Teil der Regierung. Dank ihm lag sie nun in einem dunklen Verlies und wartete auf den Tag ihrer Anhörung. Vier der fünf Hinweise waren in ihrem Besitz, aber von dem magischen Buch fehlte nach wie vor jegliche Spur.

Ich freue mich, dass du weiterhin Teil der Reise bist, aber wie zuvor warne ich dich, gib acht!

Am Ende des Buches findest du eine Übersichtsliste der Städte und Charaktere dieser Dilogie.

INHALT

Prolog

Wo alles endete

Als die Diebin ihre Stimme wiederfand

Von Ratten im Kerker

Das rote Schiff im Hafen

D

IE ERSTE

S

TADT

Der neue Kapitän

Von Träumen, die einen gefangen hielten

Gefangen zwischen Feuer und Schwertern

So vertraut und doch so fremd

D

IE ZWEITE

S

TADT

Die nächste Stadt auf der Karte

Die Reise zu sich selbst

Gedanken bei Nacht

Die Nacht, die Herzen brach

D

IE DRITTE

S

TADT

Das Erwachen an einem fremden Ort

Wo geheime Türen zu finden sind

Silvers Geschichte

Zurück in der Wirklichkeit

Die bittere Wahrheit

D

IE VIERTE

S

TADT

Die Rückkehr in die Stadt aus Wasser

Der Kurs wird geändert

Gefangen zwischen Dunkelheit und Wasser

Am Ende bleibt nicht viel übrig

Als Taian am Horizont verschwand

Lasst das Abenteuer beginnen

Der Junge, der seine Schwester verlor

D

IE LETZTE

S

TADT

Die Stadt der Götter

Das Spiel beginnt

Der Weg hinab in die Ungewissheit

Das erste Rätsel

Das zweite Rätsel

Das dritte Rätsel

Das vierte Rätsel

Das letzte Rätsel

Die Wahrheit

Das letzte Kapitel kurz vor Ende

Die Hohe See hat ihre Mannschaft zurück

Epilog

Wichtige Charaktere aus Kreona

Die Städte von Kreona

Schlusswort

Die Autorin

PROLOG

Eine Stadt der Zeit

Eine Stadt der Spiegel

Eine Stadt aus Träumen

Eine Stadt unter Wasser

Eine Stadt in der Luft

Eine Stadt der Toten …

Vor langer Zeit einmal gab es eine Stadt der Magie. Einen Ort, an dem sich die Menschen verbunden fühlten mit der Kraft der Erde. Sie schöpften ihre Energie aus den kleinen Dingen. Aus Steinen, Pflanzen oder dem Wasser.

Anfangs war ihre Macht nicht sonderlich groß, aber mit den Jahren wuchs sie stetig. Sie erschufen Bücher, mit deren Hilfe man die Geheimnisse der darin verewigten Namen erfahren konnte, und dachten sich Sprüche aus, mit welchen man die Erde zum Beben bringen konnte. Sie stellten Tränke her, die jegliche Krankheit heilten. Aber egal, wie einflussreich und stark sie waren, den Lauf der Zeit konnten sie nicht besiegen. Aus Angst, dass ihre Macht missbraucht werden könnte, kapselten sie sich vom Rest der Welt ab. Sie luden keine Menschen mehr ein, verbargen ihr Wissen und hielten sich versteckt, wenn sich ein Schiff ihrer Stadt näherte. Selbst Nachfahren bekamen sie keine mehr.

Die Bewohner der Stadt starben irgendwann. Einer nach dem anderen, die meisten von ihnen alt und verbittert.

Am Ende gab es lediglich eine Handvoll Magier und diese widmeten sich der Aufgabe, das Geheimnis der Magie zu hüten. In all den Jahren hatten sie bemerkt, wie sehr Macht verändern konnte. Denn obwohl die Stadt der Magie bei den anderen Städten in Vergessenheit geraten war, so wusste man in der Magiestadt von all den anderen Orten. Ihnen waren die ständigen Unruhen bekannt. Die neidvollen Blicke, die unstillbare Gier. Kein Zauber der Welt vermochte diese Streitigkeiten zu schlichten.

Als die Zeit gekommen war und nur noch ein einziger Bewohner in der Stadt der Magie verweilte, nutzte er seine restlichen Tage, um eine Lösung für das Problem zu finden.

Er erschuf ein Buch, mit welchem man die Zukunft sehen konnte. Dieses versteckte er in der Hoffnung, die Menschen würden von nun an zusammenhalten und sich gemeinsam auf die Suche danach machen.

Er gab den Glauben daran nicht auf. Doch irgendwann, als die letzten Sonnenstrahlen den Horizont berührten und seine Augenlider immer schwerer wurden, musste er einsehen, dass das Leben zwei Seiten hatte. Nicht immer wendete sich alles zum Guten und manchmal schien auch das kleinste Licht am Horizont meilenweit entfernt.

KAPITEL 1

WO ALLES ENDETE

In Taian, der Stadt aus Wasser, gab es eine Legende. Eine uralte, der ich nicht einmal mehr sicher war, wo ich sie aufgeschnappt hatte. Sie besagte, dass tief unter der Stadt ein Wassergott lebte. Ein blaues Wesen mit unendlich vielen Augen und spitzen Zähnen wie die eines Haifisches. Dieser Gott, so schrecklich er auch aussehen mochte mit den langen Krallen und dem schuppigen Körper, war freundlich und gerecht. Wenn man zu ihm hinabtauchte und ihm etwas zum Essen mitbrachte, half er einem.

Aber ich befand mich nicht in Taian und hier gab es kein Wasser, nur Dunkelheit. Eine schwarze Finsternis, die keine Hoffnung zuließ.

Die Tage waren alle gleich, schienen nicht zu vergehen. Wasser tropfte von der Decke, landete auf dem kalten Boden und verschmolz dort zu einer immer größer werdenden Pfütze. Außer diesem monotonen Plätschern gab es kaum Geräusche. Manchmal hörte man das Scharren von Nägeln an den Wänden, ein leises Kratzen, das sich tief in meinen Gedanken einnistete.

»Sayen Dust?« Eine Gestalt blieb vor meiner Zelle stehen. Dichtes dunkles Haar und meerblaue Augen. Ihre schlanken Finger legte sie behutsam um die Eisenstäbe meines Gefängnisses. Hinter ihr stand ein breitschultriger Wachmann mit dunkelblauem Umhang und einer Laterne in der rechten Hand. »Wie geht es dir heute?«, fragte sie in einem sanften Ton.

Ich drehte den Kopf weg und verschränkte die Finger ineinander. Ab und an wusste ich nicht, was mir mehr die Kraft raubte. Der Hunger, meine trockene Kehle oder die Knochen, die mir vom ständigen Sitzen wehtaten.

»Sie spricht nach wie vor nicht.«

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich ihre Finger enger um das Eisen schlangen.

»Deine Anhörung ist morgen, Diebin.«

Ich ignorierte auch diese Worte, versuchte, ruhig zu atmen, und starrte weiterhin gerade aus auf einen Fleck an der Mauer.

Die Frau hieß Azana, zumindest hatte sie das vor einigen Tagen erzählt. Sie war eines der fünf Regierungsmitglieder. Genervt seufzte sie auf: »Wie du meinst.«

Erst als sich die Schritte der beiden entfernten, stieß ich erleichtert die Luft aus.

»Würde ich es nicht besser wissen, würde ich sagen, diese Frau ist eine Hexe«, krächzte eine raue Stimme direkt aus der Zelle nebenan.

»Vielleicht ist sie das«, murmelte ich vor mich hin.

»Mach dir keine Gedanken, Kind«, fuhr die Stimme fort. »Das geht ganz schnell. Sie legen dir den Strick um, zack fliegst du. Wenn du Glück hast, wirst du bewusstlos oder es reißt dir den Kopf weg.« Ein rasselndes Lachen erklang.

»Ruhe!«, rief ein anderer Gefangener.

Ich ignorierte sie, tastete mit der rechten Hand hinter mich und zog das schwarze Buch hervor, welches ich sorgsam verborgen hielt. Wie einen kostbaren Schatz drückte ich es an mich. In dieser Dunkelheit war es unmöglich, die schwungvollen Buchstaben auf dem Papier zu entziffern. Aber das spielte keine Rolle.

Die ersten Tage wusste ich nicht, wie es weitergehen würde. Ich hatte Angst und war wütend auf mich selbst, weil ich so leichtfertig jemandem vertraut hatte, den ich im Grunde kaum kannte. Die Angst und das Ungewisse waren geblieben, allerdings hatte ich aufgehört, mir auszumalen, was mit mir passieren würde. Stattdessen versuchte ich, meinen restlichen Lebenswillen dafür zu nutzen, einen klaren Kopf zu behalten.

Vier der fünf Hinweise kannte ich bereits.

Das Buch liegt versteckt an einem Ort, an den selbst die Sonne nicht gelangt.

Der Glaube daran, dass du es finden kannst, wird dir helfen.

Ein Ort, an welchem ohne den Stern Kreativität niemals einen Platz hatte.

Den Schlüssel zu dem Ort, an dem es versteckt liegt, trägst du immer bei dir.

Mir fehlte also nur noch das letzte Rätsel und dann würde ich hoffentlich wissen, wo sich das magische Buch befand. Am Anfang dieser Reise war es mein Ziel gewesen, das Buch aufzuspüren und Dan zu übergeben. Ich hatte mir viel Geld dafür erhofft. Inzwischen wollte ich das Buch zwar weiterhin, aber aus ganz anderen Gründen. Mein Ziel war es nun, dieses Werk vor der Regierung aufzuspüren und zu vernichten.

»Sayen Dust!«

Erschrocken zuckte ich zusammen. Das Buch glitt mir aus den Händen.

»Aufstehen, mitkommen.« Zwei Wachmänner hatten sich vor dem Gitter positioniert. Einer schloss die Zelle auf, während der andere sich bereithielt, um mich zu holen. Er packte mich am rechten Oberarm und zog mich ruckartig hoch.

Schmerz bohrte sich durch meinen Arm. Eilig biss ich mir auf die Innenseite der Wange, um nicht aufzuschreien. Ehe er mich aus der Zelle manövrierte, versetzte ich dem schwarzen Buch noch einen leichten Tritt, damit es unter die Schlafbank schlitterte und so vor neugierigen Blicken verborgen blieb.

Sie führten mich vorbei an anderen Zellen. Vorbei an Menschen, deren Anblick mir im Herzen wehtat. Manche von ihnen lagen in einer Ecke und blickten starr an die Decke. Andere murmelten vor sich hin. Es gab ältere Gefangene, aber auch jüngere. Einige wirkten gesund, andere hatten offene Wunden.

»Du kannst froh sein, dass du neben Freiheitskämpfern einquartiert bist. Die sind eher leise«, sagte der Wachmann, der meinen Arm fest umklammert hielt. Der andere war dicht hinter uns. Beide trugen dunkelblaue Kapuzen, welche ihre Gesichter vollständig verdeckten. Die Wachleute der Regierung trugen alle dasselbe, hatten eine ähnlich monotone Stimme und einen auffallend selbstsicheren Gang.

Ich antwortete nicht, sondern lief weiter.

Sie führten mich eine Wendeltreppe hoch, durch zwei gut bewachte Tore. Eilig zogen sie mich durch einen langen Gang.

Obwohl die Wände genauso kalt und trostlos wirkten wie in meiner Zelle, fühlte ich mich ein wenig freier hier oben. Ich hatte sogar das Gefühl, die Luft wurde angenehmer.

»Du weißt, wie es läuft«, brummte nun der Wachmann, der bis dahin geschwiegen hatte. Der Gang vor uns war noch lange nicht zu Ende, doch ich wurde durch eine unscheinbare Tür geschoben, welche krachend hinter mir ins Schloss fiel.

Der Raum dahinter war niedrig und nicht sonderlich groß. Es gab lediglich eine Schüssel mit Wasser auf einem kleinen Tisch und eine Laterne, die rechts über mir hing. Sie flackerte und warf bedrohliche Schatten an die Wände.

Mit langsamen Schritten ging ich auf die Waschgelegenheit zu und tauchte die Hände hinein. Das Wasser war eiskalt. Meine Haut brannte, trotzdem nahm ich die Hände nicht sofort wieder heraus.

Nach einiger Zeit wusch ich mir das Gesicht und die Haare, ließ zu, dass das kühle Nass meinen Nacken hinabrann. Erst als es zweimal an der Tür klopfte, schüttelte ich das restliche Wasser von den Händen. Meine Haare waren nass, mein Kopf eisig von der Kälte, aber ich war wach und fühlte mich deutlich lebendiger.

»Mitkommen.« Die Wachleute betraten den Raum und führten mich hinaus. Sie führten mich zurück in die Zelle, durch die beiden Toren, die Wendeltreppe hinab.

Ab und an hatte ich einmal die Gelegenheit, mich kurz zu waschen. Was nach einer netten Geste der Regierung klang, hatte andere Absichten. Sie bereiteten mich für die Anhörung vor, wollten, dass ich bis dahin am Leben blieb, dass sich meine Wunden nicht entzündeten durch den ganzen Dreck im Kerker.

Ich spürte noch immer die Kälte auf meiner Haut, als die Metallstäbe bereits hinter mir geschlossen waren und ich das schwarze Buch abermals behutsam an mich presste.

»Keine Angst, Kind«, krächzte die Stimme aus der Nachbarzelle. »Es geht ganz schnell. Nur ein Ruck und dein Genick ist gebrochen.«

Ich schloss die Augen, lehnte den Kopf an die Wand und versuchte, das Gerede auszublenden. Noch immer fühlte ich den schraubstockartigen Griff an meinem Arm.

Wenn ich mir etwas wünschen könnte, würde ich mich nach Taian wünschen. Würde abends neben Dan in der Kneipe sitzen und später mit Kassie über alles Mögliche reden. Ich würde mir wünschen, dass Kassie mir mit Glitzern in den Augen eines ihrer Bücher aushändigte, dass Dan grummelnd vor mir saß und meine Beute begutachtete. Wie gerne wäre ich jetzt im Hafen, würde neben den meterhohen Schiffen stehen und zusehen, wie sie hinaus aufs Meer fuhren.

»Nur ein kleiner Ruck, dann ist es vorbei«, murmelte die Stimme wieder.

Erneut spürte ich Wasser auf dem Gesicht. Diesmal waren es warme Tränen, die meine Wangen hinabliefen. Salzig wie das Meer, wie der Wind auf hoher See. Wie sehr ich all das vermisste. Das Rauschen der Wellen, das Licht der Sonne.

Aber ich durfte nicht aufgeben. Mir fehlte nicht mehr viel. Ich musste hier raus! Und wenn ich erst einmal draußen war, würde ich dieses Buch finden. Die Regierung hatte sich mit der falschen Diebin angelegt.

In dieser Nacht schlief ich das erste Mal durch. Trotz der Kälte und der Rufe meiner Mitgefangenen wachte ich nicht auf. Wurde nicht wach, weil irgendetwas über meine Beine kroch oder mich Albträume weckten. Die Augen schlug ich erst auf, als Azana vor der Zelle stand.

»Sayen Dust.« Sie lächelte und zeigte dabei eine Reihe perfekt angeordneter weißer Zähne. Ihre Augen ruhten auf mir, schienen sich darüber zu freuen, dass ich zusammengekauert dalag. Ihre Fingernägel waren schwarz. An jedem Finger trug sie einen Ring mit einem Stein. Jeder hatte eine andere Farbe und schimmerte selbst in diesem trostlosen Licht. »Darf ich?«, fragte sie höflich, öffnete das Schloss und betrat den Raum.

Heute war sie allein, kein Wachmann in Sicht.

Azana zog das Gitter hinter sich zu, stellte die Laterne auf den Boden und setzte sich neben mich auf die Pritsche. »Ich rate dir, mit mir zu sprechen«, ermahnte sie mich, immer noch ein Lächeln aufgesetzt.

Erst jetzt sah ich das kleine schwarze Schriftzeichen, welches sich an ihrem linken Handgelenk befand. Eine Art Musiknote.

»Du bist so jung.« Sie schüttelte den Kopf. »Dein ganzes Leben liegt vor dir.« Ihre Stimme wurde kräftiger. Azana schien keine Angst zu haben. Immerhin befand sie sich direkt neben mir und schien keine Waffen bei sich zu haben. Völlig gelassen saß sie da, die Beine übereinandergeschlagen, den Kopf leicht schräg. Sie strahlte eine unglaubliche Macht aus, ein Gefühl, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Langsam rückte ich etwas von ihr ab.

»Deine Eltern machen sich bestimmt Sorgen.« Sie hielt inne und schien auf meine Antwort zu warten.

Auch diesmal schwieg ich.

»Gut, dann lassen wir das mit der Freundlichkeit.« Ihr Lächeln verschwand. »Ich bin eines der fünf Regierungsmitglieder. Wäre es nach mir gegangen, würdest du bereits auf dem Grund des Meeres liegen. Diebe mag ich nicht. Solche Menschen sind unehrenhaft.« Azana schloss kurz die Augen, ehe sie mich wieder ansah.

Vage erinnerte ich mich an die Dame aus dem Gasthaus in Fandora, der Stadt der Wahrheit, die mir erzählt hatte, dass die Augenfarbe davon abhing, was man oft fühlte oder sah. Bei Azana war ich mir sicher, dass die Kraft des Meeres ein Teil von ihr war.

»Doch Silver ist der Meinung, du könntest uns nützlich sein.«

Bei diesem Namen zuckte ich unweigerlich zusammen. Silver, der Freiheitskämpfer – oder eben doch nicht, wie sich am Ende unserer Reise offenbart hatte. Er war ein Lügner, ein Betrüger und Teil der Regierung. Selbst jetzt klopfte mein Herz bei seinem Namen einige Takte schneller, aber die Wut auf ihn war größer. Denn nicht nur ich saß in einer Zelle. Irgendwo hier unten hielt man die gesamte Mannschaft gefangen. Gesehen hatte ich bisher niemanden von ihnen. Weder Bell noch Smith oder Scetch. Keinen Conu, keinen Bill und keinen Torren. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt.

»Also hoffe ich, er behält recht, denn du hast genau zwei Möglichkeiten.« Azana fuhr über ihr azurblaues Kleid. »Entweder du erzählst uns ein wenig über die Freiheitskämpfer und bestätigst, dass all diese Leute mit dir an Bord waren, oder …« Ihre Stimme wurde immer leiser. »Du stirbst noch heute.«

Ich schluckte und räusperte mich kurz. »Warum muss ich das bestätigen?« Meine Stimme klang eigenartig. Die letzten Tage hatte ich geschwiegen, jegliche Fragen ignoriert. Ich konnte nicht einmal genau sagen, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, ob es zwei oder bereits drei oder vier Wochen waren. Es war unmöglich, ohne ein Fenster etwas von der Außenwelt mitzubekommen.

»Müssen tust du gar nichts. Es ist deine freie Wahl.«

Wieder schluckte ich, aber diesmal, um meine Wut in den hintersten Winkel zu verbannen. Das eine freie Wahl zu nennen, war in etwa so, wie einen Vogel in einen Käfig zu sperren und ihm zu sagen, man würde ihm die Freiheit schenken.

»Die Regierung ist nicht schlecht, auch wenn du das denken magst. Wir mögen nur Ordnung und Gerechtigkeit, darum räumen wir auf. Das Buch ist am sichersten in unserem Besitz, und da wir nun sämtliche Hinweise haben, wird es bald so weit sein. Es nützt dir also nichts, wenn du wie ein kleines Kind beleidigt spielst.«

»Ihr habt nicht alle Hinweise«, verbesserte ich.

»Bist du dir sicher?« Sie ließ ihren Blick langsam durch die Zelle schweifen.

»Das Rätsel aus der Stadt der Masken habt ihr nicht.« Noch während ich das sagte, ärgerte ich mich darüber, dass meine Stimme alles andere als selbstsicher klang.

»Ach, die Königin aus Malufra ist eine äußerst nette Dame. Sie lud uns auf einen ihrer Bälle ein und offenbarte uns am Ende des Abends das fehlende Rätsel. Unser Hauptproblem war der Hinweis aus Puera Lisa. Denn wie du gewiss weißt, verblasst die Schrift, wenn man schreckliche Dinge tut. Keiner von uns konnte ihn lesen, nicht einmal Silver. Er erinnerte sich auch nicht mehr an die Worte.«

Fassungslos krallte ich meine Finger in die hölzerne Bank. Ich dachte daran, wie er mich gefragt hatte, was draufstand.

»Du magst schlau sein. Aber lass dir einen kleinen Rat von jemandem geben, der mehr Lebenserfahrung hat.« Azana stand auf, strich sich das Haar zurück und schenkte mir einen besonders abschätzigen Blick. »Liebe ist die mächtigste Waffe der Welt.« Sie nickte, um ihre Worte noch einmal zu unterstreichen. »In wenigen Augenblicken wirst du zur Anhörung gebracht. Entscheide dich weise.«

KAPITEL 2

ALS DIE DIEBIN IHRE STIMME WIEDERFAND

Azana hatte recht behalten. Es dauerte nicht lange, da erschienen vier Wachmänner. Jeweils einer hielt mich am Oberarm fest, während einer vor mir und einer hinter mir lief. Den Weg kannte ich inzwischen auswendig. Die Wendeltreppe hoch, durch die beiden Tore. Den Gang durchquerten wir heute jedoch vollständig. Dahinter befand sich eine weitere Treppe, welche uns ein Stockwerk höher brachte.

Mit Erreichen der letzten Stufe veränderte sich meine Umgebung. Die Mauer wurde deutlich heller, ein dunkelblauer Teppich lag auf dem Boden und an den Wänden hingen Landschaftsgemälde. Noch ein Stockwerk höher gab es sogar edle Kronleuchter über unseren Köpfen.

Weitere Wachmänner eilten umher, postierten sich vor Türen und folgten mit ihren Blicken unseren Schritten. Türen fielen ins Schloss, Stimmen drangen an meine Ohren. Vergeblich versuchte ich, mir den Weg einzuprägen, aber nach sechs Kurven und sieben Abzweigungen gelang es mir nicht mehr, ihn im Gedächtnis zu behalten.

Erst als ein breites Tor in Sicht kam, hielten die Wachleute an.

Sofort eilte ein hagerer Mann mit schwarzen Hosen und einem ebenso schwarzen langen Mantel auf uns zu. Er hatte graue Locken, einen Dreitagebart und braune, fast gelbliche Augen. »Name?«

»Sayen Dust, die Diebin«, antwortete ein Wachmann.

Er nickte, zog ein Stückchen Pergament aus seiner Manteltasche und tippte zufrieden darauf. »Nur herein mit ihr.«

Das Tor ging auf und ich wurde hindurchgeschoben. Es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, wo ich mich befand. Im Gegensatz zu den vorherigen Gängen und Räumen war es hier außergewöhnlich hell.

Vor mir lag ein Saal mit hohen Fenstern. Ihre Verglasung und auch die langen Vorhänge zu ihren Seiten waren dunkelblau. Ebenso der Teppich zu meinen Füßen und die fünf Sessel, die weiter hinten auf einem Podest standen. Die Kronleuchter an der Decke waren mindestens so groß wie die Flagge unseres ehemaligen Schiffes. An den Wänden hingen zusätzlich Laternen. Man hatte einige Stühle aufgestellt, auf vielen davon saßen Menschen und sprachen wild durcheinander. Neugierig drehten sie sich um, als meine Schritte und die der Wachmänner auf dem dunklen Marmorboden widerhallten. Erst als wir den Teppich erreichten, wurde es ruhiger im Saal.

Der Weg nach vorn fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Ich spürte die Blicke auf mir, vernahm leise Stimmen. Bestimmt sah ich genau so aus, wie man sich eine Verbrecherin vorstellte. Blaue Flecken und Schrammen auf der Haut, zerzauste Haare, trübe Augen. Den Mund zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Jemand drückte mir auf die Schultern und rammte mir seinen Fuß in die Kniekehle. Ich knickte ein, kniete vor den dunkelblauen Sesseln, auf denen sich niemand befand.

Das hagere Kerlchen von vorhin kam angerannt, positionierte sich neben mir und entfaltete seinen Zettel. »Meine Damen und Herren, es geht los. Die heutige Anhörung betrifft eine Gruppe skrupelloser Freiheitskämpfer.« Seine Stimme war kräftig, hallte von jeder Wand wider und schien den ganzen Raum einzunehmen. »Begrüßt mit mir die Regierung.« Er klatschte, während die Menschen hinter uns jubelten. Auf einmal war die Fröhlichkeit zum Greifen. Alle freuten sich, konnten es wohl kaum erwarten, bis es endlich losging.

Rechts von mir öffnete sich eine Tür und Azana betrat den Raum. Sie hatte ihr azurblaues Kleid gegen ein nachtschwarzes eingetauscht. Ihre Haare waren hochgesteckt und kleine Perlen darin befestigt. Mir kam es vor, als wären ihre Augen noch blauer als zuvor, die Wimpern noch dichter. Elegant, fast königlich schritt sie zu den Sesseln und ließ sich auf dem ersten nieder.

Dicht hinter ihr folgte eine Frau mit schulterlangen, nahezu weißen Haaren. Ihre Haut war ebenso hell, beinahe durchsichtig. Selbst von meinem Standpunkt aus bemerkte ich die Adern auf ihren Armen. Sie trug eine schwarze Hose und eine weite dunkle Bluse. Um ihren Hals baumelte eine Kette mit einem großen blauen Stein. Sie lächelte den Menschen kurz zu, bevor sie sich neben Azana setzte.

Nach ihr kam ein Mann mit Bart herein. Er war etwas älter, feine silberne Strähnen durchsetzten seine schwarzen Haare. Eine Narbe zog sich quer über seinen Hals. Auch er strahlte diese sonderbare Macht aus, sogar weit mehr als Azana. Kam es mir nur so vor oder wurde das Jubeln im Saal noch lauter?

Das nächste Mitglied der Regierung hielt sich bedeckt. Ein Mann mit dunkelblauem Umhang, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, man erkannte nur sein Lächeln. Selbst seine Hände hatte er in schwarze Handschuhe gesteckt. Auf seine Kleidung waren verschiedene Orden und Abzeichen genäht worden. Er setzte sich und hob kurz die Hand.

Als die Tür ein letztes Mal aufging, senkte ich den Blick. Erneut verstärkte sich das Klatschen und Jubeln. Ich brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, dass Silver den Saal betreten hatte. Ich hörte seine Schritte, den Klang seiner Stiefel auf dem Boden. Vor meinen Augen tauchte sein Gesicht auf. Die dunklen Augen, die kleine Narbe und das spöttische Grinsen. Auf einmal wurde mir schlecht und ich war froh, auf dem Teppich zu knien.

Es dauerte eine Weile, bis das letzte Murmeln und Flüstern erstarb.

»Protokollführer!« Azanas Stimme war wie immer kräftig. »Was liegt uns vor?«

Erst jetzt sah ich auf, versuchte mich aber auf das hagere Männchen zu konzentrieren.

»Diese junge Frau hier«, er zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf mich, »wird beschuldigt, eine Freiheitskämpferin zu sein.«

Azana nickte. »Was wirft man ihr vor?«

Der Mann räusperte sich, strich das Pergament in seinen Händen glatt. »Man wirft ihr vor, unehrlich gehandelt zu haben. Sie soll nicht im Interesse der Gemeinschaft agiert haben. Außerdem wird sie etlicher Diebstähle bezichtigt. Von Mord und schrecklichem Verhalten gegenüber der Regierung wird ebenfalls gesprochen.« Er streckte das Dokument in die Höhe.

Mord? Kopfschüttelnd sah ich ihn an. Niemals hatte ich jemandem das Leben genommen.

Ein Raunen ging durch die Menge.

»Wann hat man sie festgenommen?« Jetzt sprach der Mann mit der Narbe. Er wirkte desinteressiert, fast schon gelangweilt.

»Vor genau sieben Tagen wurde ihr Schiff aufgegriffen. Zusammen mit ihr wurden weitere Freiheitskämpfer festgesetzt.«

»Verzeihung!«, krächzte ich. Ich räusperte mich noch einmal. »Ermordet habe ich niemanden.«

Hinter mir fing eine Dame an zu kichern. Erst das Nicken eines Wachmannes ließ sie verstummen.

»Du sollst schweigen, solange man dich nicht auffordert zu sprechen. Hat man dir das nicht beigebracht?«, fragte der Protokollführer an mich gewandt.

Schluckend senkte ich den Kopf. Es würde nicht einfach werden, mich zu verteidigen, wenn jeder eine Verbrecherin in mir sah.

»Wie ist ihr Name?« Die Frau mit den weißen Haaren beugte sich vor.

Nun bemerkte ich, dass ihre Augen ebenso hell wie ihre Haut waren. Milchig, fast weiß. Nicht so silbern wie die der Königin von Sanses, aber genauso leblos.

»Sayen Dust.« Der hagere Mann streckte den Rücken durch. »Eine Diebin aus Taian, Stadt aus Wasser.«

»Taian?« Der Mann, der eine lange Narbe am Hals trug, schien auf einmal interessiert. »Das ist doch diese …« Nachdenklich blickte er an die Decke und strich sich über den dunklen Bart.

»Handelsstadt«, sagte Azana eilig. »Das ist die mit den vielen Schiffen.«

»Genau die.« Er nickte, ehe er sich wieder gelangweilt zurücklehnte.

»Wir haben hier also eine Diebin. Eine junge Frau mit dem Namen Sayen Dust, welche im Auftrag der Freiheitskämpfer schreckliche Dinge getan hat. Wie lautet ihre Bestrafung?«, fuhr der Protokollführer fort.

»Ich habe noch ein paar Fragen.« Azana hob eilig die linke Hand. Sie stand vom Sessel auf und schritt die wenigen Stufen hinab, bis sie direkt vor mir stehen blieb. Wie gerne wäre ich aufgestanden, aber ich wusste, die Wachmänner hätten es nicht zugelassen. »Gibst du zu, dass du eine Freiheitskämpferin bist?«

Ich mied ihren Blick, sah zu den bunten Ringen an ihren Händen. »Eine Freiheitskämpferin bin ich nicht«, stellte ich richtig.

»Nicht?« Sie lachte auf. »Was hast du dann auf ihrem Schiff gemacht?«

Die Menschen hinter mir fingen wieder an zu flüstern. Bestimmt zerrissen sie sich die Mäuler über mich.

»Verzeiht.« Langsam hob ich den Kopf und blickte ihr in die Augen. »Eines Eurer Mitglieder befand sich ebenfalls auf diesem Schiff, und wie sich herausstellte, war er auch kein Freiheitskämpfer.«

Das Raunen und Tuscheln wurde immer lauter. Einer der Wachmänner klopfte mit dem Knauf seines Schwertes an eines der Tore. Sofort kehrte erneut Ruhe ein.

»Dann halten wir also fest.« Sie schritt von mir weg, die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Du warst rein zufällig auf dem Schiff?«

»Nein.« Weiterhin vermied ich es, in Silvers Richtung zu sehen. »Ich war auf der Suche nach dem magischen Buch. Daher bin ich mit einer anderen Mannschaft in See gestochen, allerdings wurden wir überfallen. Notgedrungen schloss ich mich dieser Crew an, da mir zu Ohren kam, dass sie das gleiche Ziel verfolgten. Erst später fand ich heraus, dass es sich um Freiheitskämpfer handelte.«

Azana hatte ihre Runde beendet und blieb erneut vor mir stehen. »Würdest du die Menschen dieser Mannschaft wiedererkennen?« Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. So klein, dass ich mir sicher war, den Menschen hinter mir würde es gar nicht auffallen. Ein triumphierendes Lächeln nur für mich. Es sollte mir zeigen, dass sie mich genau da hatte, wo sie mich haben wollte.

»Protokollführer!« Azana wandte sich an den Mann mit dem Pergament in der Hand. »Bringt bitte die anderen Verbrecher herein.«

Er gab den Wachen ein Zeichen und sogleich öffnete sich das Tor zu meiner Linken. Vor Erleichterung wäre ich beinahe aufgesprungen.

Bell war die Erste, die hereingebracht wurde. Ich erinnerte mich daran, wie frei und glücklich sie auf dem offenen Meer gewesen war. Wie sehr sie es genossen hatte, wenn der Wind durch ihre Haare fuhr, während sie am Steuer stand. Von dieser fröhlichen Bell schien jedoch nicht mehr viel übrig zu sein. Man hatte ihr die Perlen, die Bänder und die Ketten von den Handgelenken entfernt. Nur noch weiße Stellen auf der sonst sonnengebräunten Haut deuteten darauf hin, dass da einmal etwas gewesen war.

Hinter ihr kam Smith, der Koch mit dem auffälligen Schlangentattoo an der Schläfe.

Danach erschien Wesley, aber ohne seinen geliebten Hut.

Sie alle waren da. Selbst Bill und Conu. Torren kam ganz zum Schluss, direkt nach Scetch. Obwohl ich niemals ein gutes Verhältnis zu dem Matrosen hatte, tat es mir unglaublich leid, dass er hier war. Dunkle Augenringe zeichneten sich unter seinen Augen ab, sein Körper zitterte vor Anspannung.

»Nun, Diebin.« Nachdem man die Mannschaft von Silver in einer Ecke aufgestellt hatte, trat Azana erneut zu mir. »Erkennst du diese Menschen?«

Bell sah mich an, schenkte mir ein kurzes Nicken, bevor sie ihr Kinn anhob und in die Ferne blickte.

In meiner Magengegend krampfte sich alles zusammen. Mein Herz raste, mein Hals war trocken.

»Ich frage dich noch einmal.« Diesmal war ihr Tonfall energischer. »Kennst du diese Menschen? Sind das die Freiheitskämpfer, die mit dir auf dem Schiff waren?«

Wenn ich jetzt das Falsche sagte, würden sie darunter leiden.

»Sie scheint stumm zu sein«, bemerkte der Protokollführer.

»Nein, ich kenne diese Menschen nicht«, rief ich so laut wie möglich.

Bell fing abermals meinen Blick ein. Unsicherheit stand in ihren Augen.

»Das sind keine Freiheitskämpfer«, fügte ich hinzu.

Azana schnalzte mit der Zunge. »Was meinst du dazu?« Sie machte einen Schritt zur Seite und wandte sich an Silver. Er saß auf seinem Sessel, die Kleidung sauber, die Stiefel poliert. Den Dreitagebart hatte er nicht mehr, die Haare waren ordentlich gekämmt. Auch er trug dunkle Kleidung, einen dunkelblauen Mantel um seine Schultern. Aber egal, wie sehr er sich herausputzte und vorgab, ein Teil von dem hier zu sein, was blieb, waren die rabenschwarzen Augen und die feine silberne Narbe über seinem rechten Auge, die nicht hierher passten.

Er erwiderte meinen Blick.

»Also?« Azana wirkte ungeduldig.

»Erspart euch das!«, schrie jemand dazwischen.

Überrascht sah ich mich um.

Scetch wand sich aus dem Griff eines Wachmannes. »Dieser Lügner wird Euch nie die Wahrheit erzählen«, spie er aus und deutete auf Silver. Dieser schien weiterhin gelassen. »Wir sind Freiheitskämpfer und wir werden Euch besiegen!«

Bell zog an seinem Arm und wollte ihm etwas zuflüstern, doch Scetch war schneller. Er stieß sie von sich weg, den Finger noch immer in Silvers Richtung gestreckt. »Noch nie habe ich jemanden gesehen, der sich so unehrenhaft verhalten hat wie du.«

Zwei Wachleute kamen angestürmt, aber nun war es Silver, der die Hand hob. »Lasst ihn.«

»Feigling!« Scetch spuckte auf den Boden.

Erst jetzt kniff Silver die Augen zusammen. Feigling.

So hatte ihn sein Bruder genannt und so hatte ich ihn genannt.

»Ruhe!« Der Mann, der sein Äußeres verhüllt hatte, fuhr mit der Hand energisch durch die Luft. »Das ist eine Anhörung und kein Gasthaus«, donnerte seine Stimme durch den Saal. »Azana, fahr bitte fort, damit das ein Ende findet.«

Zufrieden nickte sie. »Dann nehme ich die Worte dieses jungen Mannes als Bestätigung.« Sie lächelte Scetch an. »Die Herrschaften werden angeklagt, gegen die Regierung und somit gegen die obersten Herrscher gehandelt zu haben. Ihre Beweggründe waren keine guten. Ihre Gedanken nicht von reiner Natur. Sie werden dafür ihre gerechte Strafe erhalten.«

»Wie in anderen Fällen beträgt die Strafe für Freiheitskämpfer Tod durch den Strang«, erklärte der Protokollführer.

»Nicht wie in anderen Fällen. Normalerweise sperren wir sie bloß weg. Aber diese Herrschaften haben bewusst gegen uns agiert«, warf Azana ein.

»Und die junge Frau?« Die Dame mit den schneeweißen Haaren legte ihren Kopf leicht schräg.

»Sayen Dust wird ebenfalls des Hochverrates bezichtigt. Sie hat uns belogen, in die Irre geführt und gezeigt, dass wir ihr nicht vertrauen können«, sprach Azana. »Auch ihr blüht dieses Schicksal.«

»Tod durch den Strang«, wiederholte der Protokollführer.

Wieder jubelten die Menschen hinter mir und klatschten begeistert. Wie naiv sie doch waren. Fühlten sich sicher, befreit vom Abschaum. Wie konnten sie abends nur in den Spiegel schauen und zufrieden mit sich selbst sein?

»Wartet!«, rief ich dazwischen. Meine Stimme war mehr ein Krächzen und wurde von den anderen Rufen übertönt.

»Wartet!«, versuchte ich es erneut. »Verzeihung!« Ich biss die Zähne zusammen und schluckte meine Angst hinunter. Sterben wollte ich nicht.

Die Wachmänner packten meine Arme, zogen mich auf die Beine.

»Hört mir zu!«, schrie ich, aber keiner tat es. Ich trat um mich, versuchte, mich zu wehren, doch die Diener der Regierung waren stärker.

Völlig gelassen hoben sie mich hoch, als ob ich nicht mehr wöge als eine Feder.»Silver!«, rief ich jetzt, drehte mich um, um ihm ein letztes Mal in die Augen zu sehen, aber er hatte sich abgewandt und lief Richtung Ausgang.

Nur Azana saß noch auf ihrem Sessel. Zufrieden strich sie sich durch die dunklen Haare.

KAPITEL 3

VON RATTEN IM KERKER

Ihr macht einen Fehler!«, schrie ich und stemmte mich gegen sie.

Doch die Wachleute ignorierten mich. Sie zerrten mich an den abschätzig dreinblickenden Schaulustigen vorbei. Den Gang entlang und an etlichen Abzweigungen vorüber.

»Wartet!« Panik zerrte an mir wie ein Sturm auf dem offenen Meer. Obwohl es noch nicht so weit war, spürte ich jetzt schon den Strick um meinen Hals.

In Taian gab es keine Todesstrafe. Dort wurden die Menschen einfach eingesperrt und mussten ihre Strafe absitzen.

»Hört mir zu.« Wieder versuchte ich, gegen die eisernen Griffe der Wachmänner anzukommen, doch vergeblich. Stattdessen packten sie nur noch fester zu und zogen mich schneller durch die Gänge. Die Männer zerrten mich zurück in die Zelle, versetzten mir einen kräftigen Stoß, der mich augenblicklich stolpern ließ.

Entkräftet blieb ich auf dem Boden liegen.

»Genieße deine letzten Tage«, sagte einer der Diener der Regierung, dann verschwanden sie.

Die Kälte war es, die mich wachhielt. Immer kurz bevor ich einnickte, begann mein Körper zu zittern. Völlig kraftlos ließ ich das schwarze Buch zu Boden gleiten. Lesen würde ich es nun nie. Diese Gelegenheit bekam ich nicht mehr. Ich würde sterben, würde mein Leben in Kürze verlieren. Über den Tod hatte ich mir bislang kaum Gedanken gemacht. Wie fühlte er sich an?

Einmal hatte mir Kassie ein Buch gezeigt. Darin war ein Abbild des Todes. Ein knochiger Mann mit dunklem Umhang und einer Sense. Das Bild zeigte, wie er lächelnd an eine Tür pochte.

Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, klopfte es plötzlich gegen die Gitterstäbe.

»Schläfst du schon?«

Zuerst befürchtete ich, es wäre Azana, denn sie war bislang die Einzige gewesen, die mir Besuche abgestattet hatte. Doch zu meiner Verwunderung war es ein anderes Regierungsmitglied. Die Frau mit den schneeweißen Haaren stand vor meiner Zelle.

»Nein«, sagte ich und richtete mich eilig auf. Kam sie, um mir zu sagen, dass der Termin für meine Erhängung vorverlegt wurde?

»Lulie, benannt nach der Göttin des Mondes.« Sie tippte auf den blauen Stein, der um ihren Hals hing.

Lulie trug dasselbe wie bei der Verhandlung. Zusätzlich hatte sie sich jetzt allerdings noch einen dunklen Umhang über die Schultern gelegt und eine Kapuze ins Gesicht gezogen. Die hellen Haarsträhnen schauten trotzdem hervor.

»Jemand möchte mit dir sprechen.« Sie zog einen Schlüssel aus ihrer Hosentasche und sperrte die Zelle auf. »Aber du musst leise sein und dich beeilen.«

Ich nickte hastig, ohne wirklich zu verstehen, was gerade vor sich ging.

Lulie öffnete die Zellentür und wartete geduldig, bis ich hindurchgeschlüpft war. Dann deutete sie mir an, ihr zu folgen.

»Wohin bringt Ihr mich?«, fragte ich im Flüsterton. Fröstelnd rieb ich mir die Arme. Entgegen meiner Erwartung wählte sie nicht die Wendeltreppe nach oben, sondern entschied sich, durch das Verlies zu laufen. Die meisten Gefangenen schliefen bereits. Andere schenkten uns nur müde Blicke.

Lulie drehte sich nicht um und lief immer schneller. Sie brachte mich zu einer kleinen Tür, die von zwei Männern bewacht wurde. Als sie erkannten, wer vor ihnen stand, öffneten sie eilig.

»Glaubst du, dass man Menschen einteilen kann?«, wollte sie unvermittelt wissen. Dabei führte sie mich weiter durch einen niedrigen Gang, ehe wir eine steile Treppe hinaufstiegen. Wir mussten beide die Köpfe einziehen, damit wir uns diese nicht an der Decke anschlugen. Fackeln an den Wänden beleuchteten den Weg.

»Wie?« Zögerlich folgte ich ihr.

»Gewisse Menschen teilen andere ein. Sie unterteilen sie gerne in Gut oder Böse. Machst du das auch?«

Ich wusste nicht recht, was ich darauf antworten sollte. »Verzeihung, aber ich verstehe die Frage nicht.«

Lulie blieb vor einer Tür stehen. Blitzschnell packte sie meine Hand, sodass mir nicht einmal die Gelegenheit blieb, diese zurückzuziehen.

»Ich teile Menschen ein, Sayen.« Damit ließ sie mich los, klopfte gegen das Holz und trat dann zur Seite.

Sofort wurde die Tür aufgezogen und Lulie schubste mich hindurch. Bevor ich meinen Mund zum Protest aufbrachte, stand ich in einem winzigen Zimmer. An den Wänden drängten sich Regale mit bunten Büchern. Ein breiter Schreibtisch befand sich genau vor dem Bild eines edel gekleideten Mannes. Ein roter Teppich schmückte den Boden und viele kleine Kerzen spendeten spärliches Licht.

»Sayen.« Silver stand vor mir. Er hatte den Umhang abgelegt, trug aber immer noch seine feine Kleidung.

»Du?« Eilig machte ich einen Schritt zurück und knallte dabei mit dem Rücken gegen die Tür. »Keine Ahnung, was ich sagen soll«, brachte ich hervor, nachdem wir uns eine Weile angeschwiegen hatten. Seinen Blicken wich ich aus, sah auf meine Hände. Meine Fingernägel waren eingerissen, Dreck befand sich unter ihnen.

»Wie geht es dir?«, fragte er mit seltsam belegter Stimme.

Bei seinen Worten musste ich auflachen. »Wirklich?« Angewidert schüttelte ich den Kopf. »Wie soll es mir gehen? Wie soll es uns gehen? Wir sitzen im Kerker!«

»Würdest du mir einen Moment zuhören?« Er machte einen Schritt auf mich zu, aber ich hob abwehrend die Hände und machte ihm deutlich, dass er stehen bleiben sollte.

»Warum? Warum hast du das gemacht? Wir haben für dich nach den Hinweisen gesucht.« Wäre ich nicht so entkräftet gewesen, wäre ich ihm womöglich an die Gurgel gegangen, aber ich musste meine Kräfte einteilen.

»Es war mein Auftrag.« Er wandte sich von mir ab und lief zum Schreibtisch. Das Buch, welches aufgeschlagen darauf lag, erkannte ich sofort. Es war sein Buch, das, in welches er sämtliche Notizen über die Städte hineingeschrieben hatte. »Vor einigen Monaten beschlossen wir, dass wir die Suche nach dem magischen Zukunftsbuch anders angehen mussten. Die meisten Städte respektierten uns zwar, gaben aber die Hinweise nicht so leicht her. Also hat Aza …«

»Aza?«

»Azana, wie sie sich selbst nennt«, sagte er eilig. »Aza kam mit der Idee, dass wir uns eine neue Identität beschaffen. Ich schlug vor, dass ich das übernehmen könnte. Das Leben hier ist toll, zweifellos, dennoch hab ich das Meer vermisst.« Er räusperte sich und setzte sich in den Schreibtischsessel. »Ich besorgte mir ein Schiff und suchte mir eine Mannschaft. Von überall her holte ich sie. Aus der Stadt der Musik, der Stadt aus Glas oder der Stadt aus Stein. Sogar in Trelian, der Stadt der Bäume, gabelte ich jemanden auf. Torren. Die letzte Stadt, die ich bereiste, war Taian.«

Bei seinen Worten hob ich fragend die linke Augenbraue. »Taian?«

»Ja. Kurz bevor wir uns begegneten, war ich in Taian.«

»Was hast du da gemacht?« Während die Frage über meine Lippen kam, blickte ich mich im Zimmer um. Im Grunde erinnerte mich alles hier an Silvers Kajüte. Die vielen Bücher, die Unordnung auf dem Schreibtisch. Es fehlte nur die Weltkugel mit den kleinen roten Pfeilen.

»Der König von Taian besitzt zahlreiche Weltkarten. Da ihr eine Handelsstadt seid, habt ihr ein beachtliches Wissen über Kreona. Ich war dort, um mir ein paar Karten zu beschaffen. Darum sind wir uns begegnet. Wir waren auf dem Rückweg, als ich euer Schiff entdeckt habe.«

»Ihr habt es angegriffen.«

»Sagen wir es so: Der König wollte uns die Karten lediglich für sehr viel Geld aushändigen. Da ich diesen Betrag nicht bei mir hatte, haben wir sie einfach mitgenommen. Ich dachte, er schickt seine Männer, die uns stellen sollen, weil er ebenfalls das Buch möchte. Erst während des Kampfes fiel mir der Irrtum auf.«

»Und warum erzählst du mir das?«

»Ich will dir helfen.« Silver schob den Sessel zurück und stand auf. Er legte einige Dokumente auf dem Schreibtisch zur Seite, schloss das Buch. Dabei fuhr er sich durchs Haar. Mittlerweile kannte ich ihn gut genug, um zu wissen, dass er das bloß tat, wenn er nervös war.

»Helfen?«

Von draußen erklangen Stimmen. Unsicher musterte ich Silver. Was, wenn das eine weitere Falle war und er nur ein paar Antworten von mir brauchte?

»Die Regierung braucht das Buch. Ich habe ihrem Plan zugestimmt und ich wusste, irgendwann würden sie uns aufgreifen. Aza will euch verschwinden lassen, will jeden von euch unter der Erde sehen, da ihr vier der fünf Hinweise kennt. Ich hab versucht, sie umzustimmen, aber auch die anderen sind der Meinung, dass ihr zu viel wisst.«

Abermals musste ich lachen. Diesmal war es ein eher heiseres, fast schon hysterisches Lachen. »Also müssen wir sterben?«

Er sagte nichts und ordnete weiterhin das Chaos auf seinem Schreibtisch.

»Silver? Oder heißt du überhaupt so?« Azana hatte mir am ersten Tag von der Geschichte hinter dem Namen erzählt. Warum man ihn so nannte.

»Ja, hier ist das mein Name.« Er nickte zögerlich.

»Und wie hast du zuvor geheißen?«

»Das spielt keine Rolle mehr.« Er lehnte sich gegen den Tisch, die Arme vor der Brust verschränkt. »Als die Regierung damals Puera Lisa zerstört hat, hat sie auch einen Teil von mir zerstört. Was davor war, hat keine Bedeutung mehr.«

Wütend ballte ich die Fäuste. »Siehst du! Das ist genau das Problem!«

Überrascht sah er mich an.

»Diese Menschen haben deine Heimat vernichtet, deine Familie, und was machst du? Du schließt dich ihnen an.«

Er seufzte. »Ich erwarte nicht, dass du es verstehst. Hör mir lieber zu, denn viel Zeit haben wir nicht.«

Ich holte tief Luft und versuchte, mich zu beruhigen. Mir blieb keine andere Wahl.

»Die Regierung besteht aus fünf Leuten. Aber das allein macht sie nicht aus. Wir befinden uns hier in Solfar, der Stadt der Regierung.«

»Solfar?« Noch nie hatte ich diesen Namen gehört, geschweige denn gewusst, dass die Regierung ihre eigene Stadt hatte.

»Das erkläre ich dir später.« Mittlerweile klang er gestresst. »Wie gesagt, wir befinden uns in der Stadt der Regierung. Andere können diese Stadt nicht sehen. Sie ist gut getarnt und versteckt. Darum weiß niemand außer ein paar Adligen davon. Von hier aus haben wir den Überblick über alle Städte. Da uns niemand entdecken kann, laufen auch nicht viele Wachen herum. Die meisten Diener der Regierung leben in den übrigen Städten und behalten die Lage im Auge.«

In all den Nächten hatte ich versucht, mich zu erinnern, wie ich in meine Zelle gekommen war, aber die Erinnerung daran fehlte komplett. Das Letzte, das ich wusste, war, dass die Wachleute mich in Puera Lisa aufgegriffen hatten. Es kam mir vor, als hätte ich die Zeit dazwischen verschlafen.

»Sie haben dir einen Trank gegeben«, erklärte Silver. Manchmal wirkte es, als wüsste er, was ich dachte. Es war nicht das erste Mal, dass er Antworten auf Fragen hatte, die ich mir bloß in Gedanken stellte.

»Einen Trank?«

»Er sorgt dafür, dass man vieles vergisst, schenkt einem allerdings auch Kopfschmerzen.« Silver lächelte. »Im Übrigen war ich erstaunt, wie höflich du bei der Anhörung warst. So kenne ich dich gar nicht.«

Ich wusste, er wollte mich zum Lachen bringen, aber den Gefallen tat ich ihm nicht. Stattdessen wandte ich mich ab und blickte wieder auf meine eingerissenen Fingernägel. »Und nun?«

»Wie gesagt, ich werde dir helfen. Ich brauche nur noch etwas Zeit.«

»Die habe ich nicht mehr.« Meine Finger verkrampften sich.

»Ihr werdet in drei Tagen gehängt. Bis dahin habe ich einen Plan.«

»Und Bell und die anderen?« Ich dachte an die junge Frau mit den vom Wind zerzausten Haaren. »Was ist mit ihnen?«

Ein Klopfen erklang an der Tür.

»Gleich«, rief Silver. »Ich werde sie nicht zurücklassen.«

Die Tür schwang auf und Lulie steckte ihren Kopf herein. »Du solltest dich beeilen«, sagte sie an mich gewandt.

»Ich werde dir helfen«, versprach Silver noch einmal, bevor er mich sanft, aber bestimmt aus der Tür schob.

Lulie vergewisserte sich nicht, ob ich ihr folgte, sondern lief denselben Weg, den wir gekommen waren. Auch jetzt schenkten uns die Gefangenen kaum Beachtung.

»Danke«, beeilte ich mich zu sagen, als wir wieder in meiner Zelle standen.

»Dank nicht mir.« Sie schüttelte den Kopf. »Silver riskiert sein Leben für euch. Ich habe ihm nur geholfen, weil ich ihm einen Gefallen schulde.« Ihre hellen Finger wanderten zu der blauen Kette. »Pass auf dich auf, Mädchen mit dem flammenden Haar.« Mit diesen Worten zog sie die Kapuze tiefer ins Gesicht und verschwand in der Dunkelheit.

Irritiert schaute ich auf die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte. Hoffentlich konnte ich Silver diesmal vertrauen.

KAPITEL 4

DAS ROTE SCHIFF IM HAFEN

Drei Tage waren nicht viel Zeit. Ich versuchte, wach zu bleiben und kniff mir immer wieder in den Arm, wenn sich meine Augenlider langsam schlossen. Die Müdigkeit raubte mir die letzten Kräfte, aber ich hatte Angst, dass ich etwas verpasste. Normalerweise müsste ich meine Kräfte sammeln, aber falls das wirklich meine letzten Tage auf Erden waren, wollte ich nicht schlafen.

Seit der Anhörung gab es keine Waschgänge mehr. Mein Essen und Trinken wurde ebenfalls reduziert. Dafür sagte der Mann in der Nachbarzelle nichts mehr. Er hatte aufgehört, von Stricken und Genickbrüchen zu sprechen. Ab und an vernahm man sein Schnarchen oder leise Worte.

Manchmal kamen die Wachmänner und nahmen jemanden mit. In seltenen Fällen brachten sie die Personen sogar zurück. Jedes Mal, wenn ich ihre Schritte hörte, klopfte mein Herz schneller. Da mir jegliches Zeitgefühl fehlte, wusste ich nicht einmal, wie viele Minuten, Stunden oder gar Tage bereits vergangen waren und wie viele mir noch blieben.

Azana ließ sich nicht mehr blicken, aber ihr zufriedenes Gesicht würde mir für immer im Gedächtnis bleiben. Wie glücklich sie gewirkt hatte, als verkündet wurde, dass wir sterben würden. Als hätten sich damit ihre Probleme in Luft aufgelöst.

Wenn ich nicht darüber nachdachte, wie viel Zeit wohl inzwischen verstrichen war, kreisten meine Gedanken um Bell und die restliche Crew. Seit der Anhörung hatte ich keinen von ihnen gesehen.

Meine Augenlider wurden wieder schwerer, fielen langsam zu. Durch die Müdigkeit hatte ich oft wirre Gedanken. Ich dachte an Sanses, an die Königin mit den silbernen Augen, die sich lächelnd danach erkundigt hatte, ob sie noch den anderen Teil meines Herzens haben dürfte. Immerhin brauchte ich ihn jetzt nicht mehr. Ab und an hatte ich das Gefühl, jemand würde in der Zelle stehen und mit mir sprechen. Aber die Worte verstand ich nicht. Farben schienen über die Wände zu kriechen, vereinten sich an der Decke zu einer Einheit und formten Bilder wie im Theater von Arkaris, der Stadt der Kunst. Masken tanzten durch die Lüfte, aber sobald ich nach ihnen griff, verblassten sie zu kleinen Wolken. Wenn ich dann die Augen erneut öffnete, konnte ich nicht sicher sagen, was von all dem Wirklichkeit war und was ich mir eingebildet hatte. Die Stimmen der anderen Gefangenen, die Schreie und die Protestlaute wandelten sich irgendwann in das Rauschen des Meeres.

»Sie ist krank«, hörte ich eine Stimme nah an meinem Ohr. »Hat fürchterliches Fieber, das arme Kind.«

Hände strichen über meine Wangen, fühlten meine Stirn. Energisch schlug ich sie weg, genau wie die Masken vor wenigen Stunden.

»Und was machen wir nun?«

Ich wollte ihnen sagen, sie sollten leise sein, aber keine Worte verließen meinen Mund. Mein Hals schmerzte, die Stirn pochte.

Jemand strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Sayen.«

Wieder waren Hände in meinem Gesicht. Flüssigkeit tropfte in meinen Mund, ließ mich schlucken, obwohl mir der Hals so schrecklich wehtat.

Etwas Schweres wurde um meinen Hals gelegt, kühl fühlte es sich an auf meiner warmen Haut.

»Fühlst du dich besser?« Eine Frauenstimme.

Auch jetzt antwortete ich nicht, drehte mich zur Seite und kniff die Augen fest zu. Vielleicht würde ich irgendwann erneut aufwachen und alles wäre wieder in Ordnung.

»Du musst aufstehen, nicht schlafen.«

Ich öffnete den Mund, aber meine Stimme schien nicht zu funktionieren, dabei war ich mir sicher, ich hatte etwas gesagt.

Ein Knall erklang direkt an meinem Ohr.

Nun riss ich die Augen auf. Zuerst tanzten bloß schwarze Punkte durch die Luft, dann sah ich, dass ich nicht allein war.

Ein zweites Mal knallte es gewaltig, der Boden schien zu beben, und plötzlich hing der Geruch von Rauch in der Luft.

»Aufstehen, Prinzessin der Diebe.« Silver hatte sich zu mir herabgebeugt. Neben ihm stand Lulie. Beide trugen viel zu weite dunkle Umhänge.

»Wir haben wenig Zeit. Also entweder stehst du auf und folgst mir oder ich lasse dich hier und du schläfst weiter.«

»Was?«, krächzte ich. Meine Hände tasteten nach meinem Hals, an dem auf einmal die blaue Kette von Lulie hing und sich eigenartig anfühlte.

»Sie ist aus einer sonderbaren Stadt.« Lächelnd deutete sie auf ihr Schmuckstück. »Man sagt, dass jeder Stein auf dieser Welt eine Kraft beherbergt. Der Blaue schenkt Lebensenergie.«

»Lebensenergie«, murmelte ich.

»Du hast Fieber, aber ich denke, die paar Schritte solltest du schaffen«, fuhr Silver dazwischen. »Oder?«

Ich nickte und griff völlig automatisch nach dem schwarzen Buch unter der Bank. »Und die anderen?«

»Komm jetzt.« Er beugte sich zu mir herab und legte meinen Arm über seine Schulter. »Stütz dich bei mir ab und versuch, nicht aufzufallen.«

Jemand legte mir einen Umhang über. Das zusätzliche Gewicht ließ mich für einen Moment taumeln.

»Komm«, drängte Silver erneut.

Sein vertrauter Geruch stieg mir in die Nase. Ich schloss wieder die Augen, da ich Angst hatte, ich würde sonst zusammenbrechen, weil sich alles drehte.

Da mir nichts anderes übrig blieb, stützte ich mich auf Silver und machte einen Schritt nach dem anderen. Meine Umgebung blendete ich aus. Der Umhang und die Kette um meinen Hals wogen schwer. Sie zogen und zerrten an mir, fast hatte ich das Gefühl, ich wäre unter Wasser.

»Bald hast du es geschafft.«

Was hatte ich geschafft?, wollte ich fragen, aber mein Mund war staubtrocken. Zu meiner Erleichterung stiegen wir keine Stufen hinauf, sondern welche hinab.

Immer schneller lief Silver voran und zog mich mit. »Geht es dir besser?«

Ich nickte nur, da ich Angst hatte, anderenfalls müsste ich mich übergeben. Der Schwindel wurde stärker. Nun krachte es wieder fürchterlich in unserer Nähe und der beißende Rauchgestank nahm zu.

»Ist dir dieses Buch so wichtig?« Er lachte auf.

»Ja«, presste ich hervor und drückte es mit der freien Hand fest an mich.

»Bloß noch ein paar Stufen«, rief er.

Die Erde unter uns zitterte.

Aus den wenigen Stufen wurden etliche mehr. Fast schon monoton hob und senkte ich meine Füße. Die Augen hielt ich weiterhin geschlossen. Ein Tritt nach dem anderen, nur nicht zu schnell. Unerwartet gab der Boden unter mir nach und ich fiel auf etwas Weiches.

»Sayen?«

Erst jetzt traute ich mich, die Augen zu öffnen. Meine Hände griffen in Sand, vor mir lag das Meer. Dunkle Wellen krachten an hohe Felsen, bevor sie sich zurückzogen und mit neuem Schwung heranbrandeten.

»Meer?« Ich lachte auf und grub meine Hände tiefer in den weichen Untergrund. Wind zerrte an meinen Haaren, und wenn ich mit der Zunge über meine Lippe fuhr, hatte ich das Gefühl, es schmeckte leicht salzig.

»Ja, wir sind zurück am Meer.« Silver kniete neben mir. Er hatte mir seinen linken Arm auf den Rücken gelegt, die Augenbrauen sorgenvoll zusammengekniffen. Sein Umhang war nach hinten gerutscht und gab seine zerzausten Haare frei. »Aber wir müssen weiter«, sprach er und stand wieder auf. »Wir folgen dem Pfad bis zum Hafen.«

Ich drehte mich um. In der Dunkelheit sah ich nur einen hohen dunklen Turm, der in den Himmel ragte.

»Solfar wird auch die Stadt der Luft genannt.« Er räusperte sich. »Alles, was die Regierung besitzt, ist deutlich höher gebaut, sodass die Wolken es verstecken. Außerdem findet man die Stadt auf keiner Karte, der Standort ist geheim und durch Magie verborgen.«

»Dann waren die Kerker gar nicht unter der Erde?« Fasziniert blickte ich hoch.

»Nein, das hast du dir nur eingebildet.«

»Träume ich?«, fragte ich ihn vorsichtig. Der Schwindel verblasste allmählich. Dennoch fühlte es sich eigenartig an, wieder am Meer zu sein, den Sand unter den Händen zu spüren und den Wind in den Haaren.

»Nein, du träumst nicht. Aber komm jetzt, ich bringe dich zum Schiff.« Silver klopfte mir auf den Rücken und lief dann gebückt durch die Nacht. »Schaffst du es alleine?«, vergewisserte er sich.

Komischerweise fühlte ich mich mittlerweile deutlich besser. Ich richtete mich auf und griff kurz an meinen pochenden Kopf, bevor ich ihm folgte.

»Wir setzen die Segel noch heute Nacht. So sehen sie uns nicht«, flüsterte er leise, während er geduckt weiterlief.

»Was war überhaupt dieses Krachen?« Immer wieder blickte ich mich um und hielt beim kleinsten Geräusch inne.

»Das war Lulies Idee. Eine Ablenkung, damit sich die anderen auf die Explosion in einem der leeren Gänge konzentrieren.«