"Krieg, Seuchen und kein Stück Brot" - Ernst Gusenbauer - E-Book

"Krieg, Seuchen und kein Stück Brot" E-Book

Ernst Gusenbauer

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Beschreibung

In der historischen Aufarbeitung des Ersten Weltkriegs stand auch in Österreich lange Zeit die militärische Sichtweise im Vordergrund. Diese einseitige Ausrichtung erzeugte aber ein Bild vom Krieg als einem Ereignis, das kaum Auswirkungen auf das Alltagsleben der Menschen fern vom unmittelbaren Kriegsgeschehen hatte. Glücklicherweise hat sich in jüngerer Zeit die Forschungsperspektive erheblich erweitert. Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit einem bisher wenig beachteten Aspekt dieser so genannten "Heimatfront", nämlich dem Bau von Kriegsgefangenenlager in der österreichisch-ungarischen Monarchie und zwar auf oberösterreichischem Boden. Dabei stehen zwei zentrale Fragen im Vordergrund: Welche Auswirkungen hatte die Errichtung eines Lagers auf die umliegende Zivilbevölkerung? Wie veränderte sich dadurch das alltägliche Leben der Menschen? Aus fünf eindrücklichen Blickwinkeln: Lageraufbau, Seuchen, Hunger, Kulturaustausch und Kriegsende will der Autor versuchen, diese Fragen zu beantworten und zugleich einen spannenden Aspekt zur Geschichte des Ersten Weltkriegs näher zu beleuchten.

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Ernst Gusenbauer

„Krieg, Seuchen und kein Stück Brot“

 

 

© 2021 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-7065-6114-3

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Satz und Umschlag: Studienverlag/Maria Strobl • www.gestro.at

Umschlagbild: Kriegsgefangenenlager Marchtrenk. Archiv der Stadt Wels, Sammlung Kriegsgefangenenlager Marchtrenk

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at

Inhalt

Prolog

Allgemeine Betrachtungen zu Krieg und Kriegsgefangenschaft

Entwicklungslinien der Weltkriegsforschung

Kriegsbeginn, Lagerbau und Lebenswelten

Gründe für die Standortwahl anhand exemplarischer Beispiele

Die Aktivierung der Lager: Anspruch und Wirklichkeit

Die Kriegsgefangenenlager als Wirtschaftsfaktor

Innenansichten der Lager

Zivilbevölkerung und Lager

Von tanzenden Russen, renitenten Serben und mutigen Soldaten …

Das Seuchenjahr 1915 am Beispiel des Kriegsgefangenenlagers Mauthausen

Das „Seuchenlager Mauthausen“ im Blickpunkt der Öffentlichkeit

Seuchengefahr für die Zivilbevölkerung

Erkrankung und Tod des Linzer Bischofs als mediales Ereignis

Die Ärztekommission aus Wien in Mauthausen

Das „Seuchenlager“ Mauthausen erregt internationales Aufsehen

Vom schwierigen Umgang mit offiziellen Zahlen

Kriegswirtschaft: Hunger, Not und Spekulation

Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen und verbotene Kulturkontakte

Auflösung und Nachwirkungen

Sachdemobilisierungskommission und Treuhandgesellschaften

Epilog

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Personenregister

Prolog

So trivial es auch klingen mag, eine der vornehmlichsten Aufgaben des Historikers besteht darin, Themenbereiche der Vergangenheit zum Gegenstand der geschichtswissenschaftlichen Forschung zu machen. In diesem Zusammenhang muss aber sein Ehrgeiz mehr sein, als die bloße Erinnerung an historische Räume und Begebenheiten wachzuhalten, zählt diese doch „zu den flüchtigsten und unzuverlässigsten“1 menschlichen Fähigkeiten überhaupt. Gefragt sind vielmehr spezifische Fragestellungen, die zu kritischer Reflexion anregen und gleichzeitig Bezugspunkte zur Gegenwart herstellen können.

Das Jahr 2014 war zweifellos ein magisches Datum, wurde doch in einem bislang unbekannten medialen Ausmaß an die 100-jährige Wiederkehr des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges erinnert. Dies geschah gewiss nicht nur in Österreich und Europa, sondern nahezu auf der ganzen Welt. Doch auch danach beschäftigte uns dieses Ereignis, denn im Jahr 2018 rückte der Erste Weltkrieg neuerlich in den Blickpunkt der Betrachtung, zumal nunmehr seines Endes und seiner Folgen gedacht wurde.

Lenkt man indes den Blick von der übergeordneten großen Staatenebene auf einen regional und lokal vertrauten Raum, so wird man sehen, dass bei genauerer Betrachtung auch hier mühelos eindrückliche Spuren aus dieser bewegenden Zeit zu finden sind.

So verbindet man mit dem Namen Mauthausen zunächst das berüchtigte nationalsozialistische Konzentrationslager aus dem Zweiten Weltkrieg. Weniger bekannt ist hingegen die Tatsache, dass dieser alte Donaumarkt während des Ersten Weltkrieges Standort eines großen Kriegsgefangenenlagers war. Vor allem der internationale Lagerfriedhof hält die Erinnerung an ein weit ausgedehntes Barackenlager wach. Das Zentrum der Anlage bildet ein imposantes und weithin sichtbares Denkmal aus weißem Carrara-Marmor. Es wurde 1920 von der italienischen Regierung in Auftrag gegeben, zwei Jahre später von Paolo Boldrini fertiggestellt und in einer feierlichen Zeremonie der österreichischen Regierung übergeben.

Der Verfasser erkundete bereits in Jugendjahren diesen Ort der Erinnerung und Versöhnung. Dadurch wurde das Interesse an der Thematik Kriegsgefangenschaft und Erster Weltkrieg nachhaltig geweckt.

Im Laufe des Studiums führte dieses anhaltende Interesse dazu, sich in Form einer Seminararbeit unter dem Titel „Klein-Serbien an der Heimatfront“ dem Themenkomplex Kriegsgefangenenlager und Zivilbevölkerung anzunähern.

Erste, freilich nur überblicksmäßig getroffene Einsichten in den Lageraufbau, den Lageralltag, aber auch in den Einfluss auf das Leben der Zivilbevölkerung konnten dabei gewonnen werden. Damals reifte der Entschluss heran, eine vertiefende und perspektivisch ausgereifte Studie im Rahmen einer Dissertation zu verfassen.

Als räumlicher bzw. geographischer Schwerpunkt wurde Oberösterreich gewählt. Dies hat zwei handfeste Gründe: Einerseits befand sich hier eine Reihe großer Kriegsgefangenenlager. Diese Tatsache findet in der einschlägigen Forschungsliteratur ihren Niederschlag, wo häufig Querverweise und detaillierte Bezüge zu dieser Region festzustellen sind.2 Andererseits erscheint es durchaus verständlich, dass eine gesamtösterreichische Darstellung unter den gewählten Forschungsaspekten eindeutig den Rahmen der geplanten Arbeit gesprengt hätte.

Die Gewichtung der geographischen Standorte variiert je nach Themenschwerpunkt. Dies erforderte der jeweils verfügbare, mehr oder weniger ausführliche Quellenbestand. Daraus ergab sich zwangsläufig die Notwendigkeit, die Einbeziehung bestimmter Lagerstandorte in erster Linie von einer ausreichenden Quellenlage abhängig zu machen.

In der vorliegenden Studie geht es keineswegs um eine „Erzählung“ des Lagerlebens und seiner Eigentümlichkeiten. Diesen narrativen Weg haben vorrangig jene Publikationen beschritten, die seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in Österreich dazu erschienen sind.3

Vielmehr stehen jene Aspekte im Zentrum, die den Alltag in den Lagern und der sie umgebenden Zivilbevölkerung entscheidend zu prägen und verändern vermochten. Der Perspektivenwechsel zwischen der Innensicht, hier aus dem Blickwinkel der Kriegsgefangenenlager und ihrer Akteure, sowie der Außensicht, den Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, gilt hierbei als entscheidende Komponente. Somit kann mit einiger Berechtigung durchaus von einem neuen Forschungsansatz gesprochen werden und dafür wurden fünf zentrale Begriffe, sogenannte Elementarereignisse, herangezogen: Kriegsausbruch und Lagerbau – Kulturaustausch oder besser Kulturkontakt – Seuchen – Hunger – Demobilisierung.

Überdies wurde ein übergreifender Forschungsaspekt miteinbezogen. Den Schwerpunkt bildet dabei die veröffentlichte Meinung. Aufgrund der vorhandenen Quellen umfasst sie praktisch das gesamte Spektrum der Zeitungen, die damals in Oberösterreich veröffentlicht wurden.4

Allerdings wurden in der vorliegenden Fassung vor allem die Einleitungsthemen erheblich gestrafft. Verzichtet wurde auf die im Original ausführlich dargestellten Themenbereiche der österreichischen Verwaltungsstruktur, des Systems der Kriegswirtschaft, der Haager Landkriegsordnung sowie des österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenenwesens. Jedoch werden diese an sich wichtigen Themenbereiche später so eingebaut, dass sie als begleitende Information zum allgemeinen Verständnis der jeweiligen Kapitel beitragen können.

Den Schwerpunkt bildet die facettenreiche Darstellung des Verhältnisses von Zivilbevölkerung und Kriegsgefangenenlager. Dabei wird dem Seuchenjahr 1915 naturgemäß breiter Raum gewidmet. Hier werden wie in den anderen Themenbereichen aus der Fülle der Fallbeispiele des Originals nur eindrückliche herangezogen. Die Studie reklamiert keineswegs in einem Anflug von Vermessenheit große epochale Erkenntnisse beizubringen. Was sie jedoch beabsichtigt, ist, eine möglichst genaue Studie über die Auswirkungen der Errichtung von Kriegsgefangenenlagern auf oberösterreichischem Boden zu liefern. Doch wird auch der Blick auf die Nachwirkungen geschärft, welche zweifellos bis in die Anfangsjahre der Ersten Republik reichten.

Zuletzt sind noch einige methodische Anmerkungen zu Quellenkorpus und Verfahrensweisen angebracht.

Die im nachfolgenden Literaturverzeichnis angeführten Quellen stammen einerseits aus amtlichen Beständen (K. u. K. Kriegsministerium, K. K. Innenministerium, K. K. Statthalterei) bis zur kleinsten Verwaltungseinheit, der kommunalen Ebene.

Andererseits stammt der zweite Teil aus den Beständen der damals in Oberösterreich erscheinenden Tages- und Wochenzeitungen. Dabei wurde besonders Wert darauf gelegt, die verfügbare Publikation möglichst lückenlos heranzuziehen.

Nun sind die zuvor erwähnten Quellentypen in gewissem Sinne als durchaus hybrid zu bezeichnen.5 Folglich würde jeder Typus nur für sich genommen einer kritischen Bewertung und schlüssigen Interpretation keineswegs genügen. Erst die Verschränkung beider Seiten des verfügbaren Quellenkorpus ermöglicht eine aussagekräftige interpretative Erschließung.

Während der amtliche Schriftverkehr der Bevölkerung praktisch verborgen blieb, konnten in Zeitungsberichten, trotz der allgegenwärtigen Zensur, durchaus Stimmungen in der einen oder anderen Richtung erzeugt werden. Es ist dabei überraschend, wie offen zu manchen Missständen Stellung genommen wurde, die freilich in den internen Berichten der verschiedenen Behörden noch weit dramatischer klangen.

Das vorliegende Buch ist eine kompakte und an ein breites, interessiertes Publikum gerichtete Version. Es basiert auf der gleichnamigen Dissertation, die im Jahre 2012 an der FernUniversität in Hagen, Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften – Historisches Institut, eingereicht und von Prof. Wolfgang Kruse bzw. Prof. Peter Brandt mit der Beurteilung „CUM LAUDE“ angenommen wurde.

Ernst Gusenbauer – Ried, Herbst 2020

 

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1 Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit (München 2006) 24.

2 Vgl. Moritz, Verena: Zwischen Nutzen und Bedrohung (Bonn 2005); Procacci, Giovanna: Fahnenflüchtige jenseits der Alpen. In: Oltmer, Jochen (Hg.): Kriegsgefangenschaft im 1. Weltkrieg (Paderborn/München/Wien/Zürich 2006); Überegger, Oswald (Hg.): Zwischen Nation und Region (Innsbruck 2004); siehe auch Procacci, Giovanna: Soldati e prigionieri italiani nella Grande guerra (Torino 2000); Kramer, Alan: Dynamic of Destruction. Culture and Mass Killing in the First World War (Oxford 2008).

3 Vgl. Hansak, Peter: Das Kriegsgefangenenwesen in der Steiermark während des 1. Weltkrieges (Diss. Univ. Graz 1991); Haller, Oswald: Das Internierungslager Katzenau bei Linz im 1. Weltkrieg (Dipl.-Arb. Univ. Wien 1999); Koch, Robert: Das Kriegsgefangenenlager Sigmundsherberg 1915–1918. Im Hinterhof des Krieges (Diss. Univ. Wien 1980); Rappersberger, Petra: Das Kriegsgefangenenlager in Freistadt 1914–1918 (Dipl.-Arb. Univ. Wien 1988).

4 Dies gilt vor allem für den Zeitschriftenbestand des OÖLA und der Ö.O. Landesbibliothek (Mikrofiches, Filmrollen, Druckexemplare, bereits digitalisierte Bestände).

5 Vgl. Moritz, Verena: Zwischen Nutzen und Bedrohung (Bonn 2005) 48.

Allgemeine Betrachtungen zu Krieg und Kriegsgefangenschaft

Die von dem berühmten deutschen Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz angesprochene Dreifaltigkeit des Krieges besagt, dass der Krieg ein Akt der Gewalt ist, dass der Krieg stets in einen Zweikampf zwischen zwei oder mehreren Gegnern mündet mit dem klaren Ziel, Gegner wehrlos zu machen, und dass der Krieg seiner Natur nach immer auch ein politisches Werkzeug darstellt.6

Doch noch in anderer Weise nähert sich Clausewitz dem Kriegsphänomen, indem er eine Unterscheidung zwischen wirklichem und absolutem Krieg vollzieht.

Der absolute Krieg wird um seiner selbst willen geführt und legt es dabei auf die Zermürbung der Soldaten an. Hier dominieren unbedingter Gehorsam, unerschütterlicher Mut und Selbstaufopferung sowie unbedingtes Ehrgefühl.

Allein daneben existiert der wirkliche Krieg, mit Mäßigung zwischen Zweck und Mittel, der zugleich die Kehrseite der hehren Kriegstugenden offenbart, wie Geschäftemacherei, Furcht, Flucht, Feigheit und Desertion.7

Auch im Ersten Weltkrieg mochten sich absoluter und wirklicher Krieg miteinander wie ehedem verschränken.

Völlig unbestritten im Forschungsdiskurs ist jedoch die Erkenntnis, dass es sich hier um eine ganz neue Dimension in der Weltkriegsgeschichte handelte. Dieser Krieg galt bereits unter den unmittelbar Mitlebenden als etwas Neuartiges, Ungeheuerliches und Ausgreifendes.8

Der Erste Weltkrieg war nach Herfried Münkler nicht nur eine Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, hier den US-Diplomaten George F. Kennan zitierend, sondern konnte auch als Laboratorium gesehen werden, in dem fast alles entwickelt wurde, was in den Konflikten der späteren Zeit eine gewichtige Rolle spielen sollte.9

Der Erste Weltkrieg wurde überdies mit einem nie da gewesenen Einsatz von personellen und materiellen Ressourcen ausgefochten. Der berühmte Soziologe Max Weber prägte dabei die Bezeichnung vom Maschinenkrieg.10

Das führte einerseits bereits in kürzester Zeit zu einem enormen Blutzoll unter den Soldaten und zu einer massenhaften Zahl von Kriegsgefangenen, die die Logistik der kriegführenden Staaten zu überfordern drohte. Der forcierte Einsatz neuartiger Technologien ermöglichte es, einen Krieg auf Distanz zu führen. Ernst Piper vermeint darin ein Kennzeichen des modernen Kriegs zu finden, nämlich einen rapiden Entpersönlichungsprozess, der beispielsweise sowohl das Sterben im Feld wie auch die Gefangenschaft im fremden Hinterland in ein sachlich-rationales Licht zu rücken vermag.11

Dass trotz des hohen Blutzolls die Soldaten aller kriegführenden Staaten in ihrer überwältigenden Mehrheit dennoch weiterkämpften, mag damit zu tun haben, dass sie gar keine andere Möglichkeit besaßen, außer der Option, die Waffen zu strecken. Sich zu ergeben und dadurch in Kriegsgefangenschaft zu geraten, war ein durchaus gefährliches Unterfangen.

Soldaten wurden auf beiden Seiten oftmals getötet, nicht nur, wenn sie zu kapitulieren versuchten, sondern auch, nachdem sie die Waffen niedergelegt hatten. Der britische Historiker Niall Ferguson spricht in diesem Zusammenhang von den versteckten Gräueltaten des Ersten Weltkriegs.12

Eine viel häufigere Variante war jedoch nicht die selbst gewählte Kapitulation, sondern jene, die durch Kriegshandlungen des Gegners unausweichlich wurde.

Für die Nehmerseite wurden Kriegsgefangene mit der zunehmenden Dauer des Krieges und der damit verbundenen Lebensmittelknappheit zu einer immer größeren Belastung, und dies galt besonders für die Mittelmächte, die schwer unter der alliierten Blockade litten.

Kriegsgefangene waren als Ersatz für die fehlenden Arbeitskräfte im Hinterland willkommen. Die Haager Landkriegsordnung hatte dies ja bekanntlich durchaus unterstützt, denn neben der Verpflichtung, die Kriegsgefangenen mit Menschlichkeit zu behandeln, galt ein allfälliger Arbeitseinsatz als erlaubt, freilich mit der Einschränkung, dass sie im Hinterland keine Aufgaben erhalten durften, die zu militärischen Operationen genutzt werden konnten.13 Diese Grundprämisse wurde jedoch von den meisten kriegführenden Staaten wohlweislich umgangen bzw. negiert.

In der von der „Bundesvereinigung der ehemaligen österreichischen Kriegsgefangenen“ 1931 herausgegebenen Publikation „In Feindeshand“ umriss Hans Weiland ein Defizit der österreichischen Weltkriegshistoriographie, das von Anfang an bestand:

„Alle setzen sich mit dem Krieg auseinander, mit Front und Etappe, Graben und Lazarett, mit politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, auf denen unser Leben ruht. […] Nur eine Begleiterscheinung des Weltkrieges blieb schon im Krieg und auch nach dem Kriege zurückgedrängt, fast übersehen, die Kriegsgefangenschaft, das Schicksal der ausgeschalteten Krieger, der lebend Toten.“14

Wenn aber dieses höchst aufschlussreiche Segment eben nicht ausgespart bleibt, sondern nach alltags- und mentalitätsgeschichtlichen Gesichtspunkten beleuchtet wird, eröffnen sich interessante Einblicke, die zwangsläufig zu neuen Fragestellungen führen müssen. Was erwartete den Kriegsgefangenen nach seiner Einbringung? Wie bewältigten die Betroffenen selbst diese neue Erfahrung?

Psychisch belastend war ihre Situation allemal: Wurden sie zuvor noch als patriotische Helden gefeiert, so wurden sie nach der Gefangennahme nicht selten ihren Gegnern als gedemütigte Kriegs- und Siegesbeute vorgeführt. Der Kriegsgefangene schied aus der kämpfenden Truppe aus und war jetzt zumindest in militärischer Hinsicht unbedeutend geworden. Diese Veränderung der Lebenssituation wog gewiss schwer, denn mit dem Eintritt in das Kriegsgefangenenlager schloss sich scheinbar das Tor zur Außenwelt. Die Gefahr, vergessen zu werden, war nun durchaus zu einer sehr realen Bedrohung geworden. Wie die Briefe italienischer Kriegsgefangener aus oberösterreichischen Lagern, vornehmlich Mauthausen, bezeugen, war es vor allem die Sehnsucht nach den nächsten Angehörigen, verbunden mit der Furcht, sie nie mehr wiederzusehen. Dieses unbändige Gefühl verleitete nicht wenige Kriegsgefangene dazu, erfolglose Fluchtversuche zu unternehmen. Jene aber, denen dazu der Mut fehlte, verfielen in tiefe Resignation.

Ein Bericht des kriegsgefangenen Lehrers Adolf Braun aus Odessa, konfiniert im Lager Marchtrenk, macht noch ein weiteres Verhalten sichtbar. Die Kriegsgefangenen, die häufig mit den schrecklichsten Erlebnissen von der Front ins Hinterland transferiert wurden, zogen sich auf sich selbst zurück und mieden zunächst jeden Außenkontakt. Erst allmählich wuchs die Bereitschaft, sich zu öffnen und am Lagerleben teilzuhaben. Konstant blieb freilich die Sehnsucht nach der Heimat.

Dann gab es Fälle, bei denen die langandauernde Kriegsgefangenschaft nicht nur zu Trübsinn und Depression führte, sondern auch direkt in den Freitod mündete.15 In diesem Zusammenhang tauchte bereits kurz nach Kriegsende der Begriff der „Stacheldrahtkrankheit“ auf.16

Für die Wachmannschaften führte die Belastung eines jahrelangen Dienstes vor Ort anscheinend zu ähnlichen Begleiterscheinungen.

Im September 1918 erregte ein Wachsoldat aus dem Lager Kleinmünchen erhebliches Aufsehen, als er am damaligen Linzer Kaiser-Franz-Josefs-Platz, dem heutigen Hauptplatz, Passanten mit angeschlagenem Gewehr bedrohte. Bei seiner Vernehmung gab er an, dass er den aufreibenden Dienst im Lager nicht mehr ertragen könne, worauf er einer ärztlichen Kommission vorgeführt wurde.17

Für die Gemeinden und ihre Bevölkerung, die als Lagerstandorte ausgewählt wurden, wirkte die Nachricht zunächst wie ein Schock. In Freistadt beispielsweise war anfänglich schon von einer panikartigen Stimmung unter der Bevölkerung die Rede, man befürchtete den Ausbruch der Gefangenen, Plünderungen, Mord sowie lebensbedrohliche Seuchen und eine Lebensmittelnot.18

Überdies wurde die massenhafte Requirierung von Einrichtungsgegenständen für die anfänglich schlecht ausgestatteten und hastig errichteten Lagerkommanden samt Verwaltungsstäben von der Bevölkerung als große Belastung empfunden.

Als die Stadtgemeinde Braunau im Sommer 1915 durch das K. u. K. Kriegsministerium vom geplanten Lagerbau erfuhr, lehnte man dies zunächst aus wirtschaftlichen Gründen einhellig ab. Man befürchtete eine Verknappung der Nahrungsmittelressourcen. Als wahrer Grund der Ablehnung kristallisierte sich jedoch rasch die Furcht vor einem Ausbruch von Seuchen heraus, und dies war in der Landeshauptstadt Linz nicht anders.

Das Gegenstück dazu bildete jedoch ein neugieriges und staunendes Publikum, das an Sonntagen in Richtung der Lager ausschwärmte, um, wie es in einem damaligen Zeitungsbericht hieß, „[…] irgendwelche Geheimnisse dieser verbotenen Stadt […]“19 zu erspähen. Dies erregte das Misstrauen der Behörden, die sofort die polizeiliche Absperrung des Geländes verfügten.

Bald aber war vor allem für die umliegende Geschäftswelt klar, dass sich mit der Etablierung der Lager durchaus lukrative Perspektiven eröffneten, und man war profitablen Geschäften gegenüber nicht mehr länger abgeneigt. Viele Handwerksbetriebe betätigten sich als Zulieferer beim Lagerbau oder stellten direkt Arbeitskräfte zur Verfügung und diese wiederum kamen nicht selten aus weiter entfernten Gegenden.20 Viele Gemischtwarenhändler eröffneten innerhalb des Lagerbereiches Kantinenbetriebe bzw. Marketendereien. In Freistadt verbuchten Gaststätten, private und städtische Quartiergeber vor allem in der Anfangs-, aber auch noch in der Ausbauphase des Lagers zeitweise erhebliche Einnahmen aus der Beherbergung der Bewachungsmannschaften des Kriegsgefangenenlagers. In Braunau erwies sich ein Buchhändler, im Wissen um die Tatsache, dass im gesamten Bezirk eine große Anzahl russischer Kriegsgefangener in der Landwirtschaft eingesetzt war, als sehr geschäftstüchtig. Dank reger Nachfrage erbrachte ein russischer Sprachführer reichlich Gewinn. Die Publikation wurde als ein einfacher „Dolmetscher für den deutschen Landwirt im Verkehr mit seinen russischen Arbeitern“ kostengünstig angeboten und fand tatsächlich regen Absatz.21 Auch veranschaulicht das Beispiel von Marchtrenk, dass die Apotheken rund um den Lagerstandort aus der Seuchenangst Gewinn zu schlagen erhofften.

Bei der nach Kriegsleistungsgesetz vorgenommenen Einverleibung von Grundstücken für die Lagerbauten bemühte sich die Militärverwaltung nach Kräften, den Pachtpreis gehörig zu drücken und daher viele der Liegenschaften als minderwertig zu klassifizieren. Der betroffenen Zivilbevölkerung blieb aufgrund der asymmetrischen Machtverhältnisse auch gar nichts anderes übrig, als dies mehr oder weniger zähneknirschend zur Kenntnis zu nehmen.

Abb. 1 und 2: Seit 1912 waren alle gesetzlichen Maßnahmen für den Kriegsfall vorbereitet.

Die im Rahmen der Grundstücksablösen im Jahre 1914 und 1915 großzügig versprochene vollständige Wiederherstellung des alten Zustandes wurde bei Kriegsende jedoch nicht eingehalten. Der Krieg war verloren und das Kaiserreich zerfallen. Es blieb mangels Personals den Eigentümern vorbehalten, die Flächen zu rekultivieren, was in erstaunlich kurzer Zeit gelang.

Für den Bürgermeister von Freistadt, Theodor Scharitzer, war dieser Krieg nicht nur wegen der Massen von Kriegsgefangenen ein ganz neues Phänomen. Die neue Situation erforderte nämlich von der Bevölkerung in militärischer, aber auch finanzieller Hinsicht die höchste Kraftentfaltung, welche „… in früheren Kriegen nie in so hohem Maße verlangt wurde […] Niemand hätte geahnt, daß es möglich ist, Millionen von Kämpfern gegenüber zu stellen und Millionen von Werten aufzubringen“. Es sei aber, so sein Wunsch, nunmehr kommenden Generationen von Fachleuten vorbehalten, dieses einmalige Völkerringen zu bewerten.

 

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6 Vgl. Clausewitz, Carl von: Vom Kriege (Hamburg4 2012) 49.

7 Vgl. Keegan, John: Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie (Reinbek bei Hamburg 2006) 21.

8 Vgl. Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora (München 2014) 10–14.

9 Vgl. Münkler, Herfried: Der Große Krieg (Berlin 2013) 9–11.

10 Vgl. Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora (München 2014) 146.

11 Vgl. Piper, Ernst: Nacht über Europa (Berlin 2013) 474–475.

12 Vgl. Ferguson, Niall: Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert (München 2006) 334.

13 Vgl. Laun, Rudolf: Die Haager Landkriegsordnung. Das Übereinkommen über die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (Hannover 1947) 151.

14 Weiland, Hans – Kern, Leopold: In Feindeshand. Die Gefangenschaft im Weltkriege in Einzeldarstellungen (Wien 1931) 9.

15 Vgl. Tagblatt 15.6.1917, 5.

16 Vgl. Vischer, A. L: Die Stacheldrahtkrankeit. Beitrag zur Psychologie der Kriegsgefangenen (Zürich 1918): http://www.tsingtau.info/index.html?lager/stacheldraht.htm [abgerufen am 5.4.2014].

17 Vgl. Linzer Volksblatt 20.9.1918, 5.

18 Vgl. Fellner, Fritz – Himmetsberger, Peter: In Freistadt ansässig. Eine Stadtgeschichte (Weitra/Linz 1991) 51–55.

19 Vgl. Tagespost 21.7.1915, 3.

20 Vgl. Fellner, Fritz: Die Stadt in der Stadt. Das Kriegsgefangenenlager in Freistadt 1914–1918. In: Oberösterreichische Heimatblätter 1 (1989) 3–9. Die Bauarbeiter für das Lager Freistadt kamen aus Böhmen und auch das Bauholz holte man aus dem Böhmerwald.

21 Vgl. Neue Warte am Inn 30.6.1917, 10. Der Kaufpreis für „Rosts russischen Sprachführer“ war durchaus moderat und betrug 1 Krone und 17 Heller.

Entwicklungslinien der Weltkriegsforschung

Die Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg setzte bereits unmittelbar nach Kriegsausbruch ein. In Österreich-Ungarn begann die Beschäftigung damit nach der Kriegserklärung an Serbien. Das Wiener Kriegsarchiv hegte dabei die Absicht, eine militärisch gelenkte, populäre Darstellung der Geschichte des Krieges zu publizieren. So wurde folgerichtig eine literarische Gruppe installiert. Hier waren neben Offizieren vor allem bekannte Literaten als aktive Propagandisten tätig.

In den 1917 publizierten „Richtlinien für die Geschichtsschreibung“ galt als vorrangige Zielvorgabe die Aufarbeitung der Heldengeschichte unmittelbar nach Ende des Krieges. Das ganze Projekt scheiterte schließlich an den Differenzen innerhalb der Armeeführung.22

In Deutschland wiederum rückten in der Zwischenkriegszeit zwei thematische Schwerpunkte in den Vordergrund, nämlich die Aufarbeitung der Vorgeschichte zum Ersten Weltkrieg und schließlich die alles dominierende Kriegsschuldfrage. In erster Linie ging es dabei um die Widerlegung der durch den Versailler Vertrag festgelegten deutschen Kriegsschuld. Vor allem deutschnationale rechtsgerichtete Kreise postulierten in diesem Zusammenhang eine tendenziöse Sichtweise, so entstand der Topos von der Unbesiegtheit der Armee im Felde, die durch einen „Dolchstoß“ in der Heimat um die Früchte des Sieges gebracht worden war.

Mitte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts bemühten sich zwei amerikanische Historiker, nämlich Sidney Fay und Elmar Barnes, um einen Ausgleich der Positionen.23

Fritz Fischer, ein Hamburger Historiker, entfachte mit seiner Veröffentlichung „Griff nach der Weltmacht“ (1961) den ersten Historikerstreit der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Seine Kernthese machte den expansionistischen Drang der deutschen Reichsführung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und seine Folgen verantwortlich. Daneben gab es aber nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern eine intensive Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg. Seit den 1970er Jahren wurde die Zeit zwischen 1914 und 1918 vor allem aus dem Blickwinkel großer sozialer und wirtschaftlicher Zusammenhänge betrachtet.

Wichtige Beiträge auf diesem Gebiet stammen von zwei Historikern aus den USA und Deutschland. Gerald D. Feldman publizierte „Army, Industry and Labor in Germany 1914–1918“ (1966) und der Bielefelder Historiker Jürgen Kocka verfasste eine Studie über die deutsche „Klassengesellschaft im Krieg“, die erstmals 1973 veröffentlicht wurde.

Die Hinwendung zu Mentalitäten und Alltagserfahrungen seit Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts erfasste weite Teile der Geschichtswissenschaft und ging mit der Suche nach neuen Quellen einher. Dazu rückten Tagebücher, private Korrespondenzen, Frontzeitungen und Ansichtskarten in den Fokus der Betrachtungen.

Dieser sogenannte Paradigmenwechsel hatte mehrere Gründe. Vor allem in den angelsächsischen Ländern beschäftigte man sich schon sehr lange mit der Alltagsgeschichte des Krieges, hier im Besonderen jener der einfachen Soldaten. Außerdem gewann die französische Historikerschule der „Annales“ einen immer größeren Einfluss. Sie wandte sich der Analyse sozioökonomischer Strukturen und Prozesse zu und hat dabei bislang kaum berücksichtigte Bevölkerungsgruppen intensiver untersucht. Das führte zum Studium von Kultur- und Gefühlswelten. Die klassische Militärhistoriographie, auch Offiziersgeschichtsschreibung genannt, mit ihrem vorrangigen Metier der Waffentechnik, Schlachten und Feldzüge, Taktik und Strategie wurde obsolet, denn eine jüngere zivile Forschergeneration drängte immer vehementer in Richtung Alltags- und Mentalitätsgeschichte.24

Der Erfahrungs- und Kulturgeschichte unter dem Gesichtspunkt der Massenstimmung und Kriegspropaganda in Deutschland widmet sich auch eine 1997 von Wolfgang Kruse herausgegebene Publikation.25

In Großbritannien wurden die Jahre 1998 und 2004 zu Gedenktagen mit kritischen Reflexionen genützt. Aber auch in Frankreich und Deutschland gab es zahlreiche Veranstaltungen und Ausstellungen zu diesem Thema. Bücher, Zeitschriften, Radio- und Fernsehsendungen erlagen der Faszination runder Zahlen und widmeten dem Großereignis und Wendepunkt breiten Raum.26

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts gewinnt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg, italienisch „La Grande Guerra“, französisch „La Grande Guerre“ oder englisch als „The Great War“27 bezeichnet, neuerlich an Attraktivität und hat dabei eine spürbare Neuorientierung erfahren. Geht es einerseits um die Problematisierung bislang erfolgter Datierungsversuche, so ist man andererseits skeptisch gegenüber den „großen Erzählungen“ und fühlt sich einer Multiperspektivität und einem Methodenpluralismus verpflichtet. Gleichzeitig erscheinen die Voraussetzungen für vergleichende Studien so gut wie nie.28

Die Weltkriegsforschung in Italien, einem der mit Österreich-Ungarn Krieg führenden Länder, blieb dem Topos vom gerechten Krieg bis zur Mitte der 1960er Jahre verbunden.29

Ab dann finden sich Indizien für einen Paradigmenwechsel hin zur Untersuchung der Geschichte von unten. Es waren vor allem die Forschungsarbeiten von Giovanna Procacci, die neue Horizonte eröffneten. Ihre im Jahre 1994 erstmals veröffentlichte Studie widmete sich kritisch dem Verhältnis der italienischen Regierung zu ihren Kriegsgefangenen im Feindesland.30 Die Kriegsgefangenenlager waren nach Procacci das Produkt der modernen Industriegesellschaft.31

Mauthausen in Oberösterreich fungierte aus ihrer Sicht als Pandämonium der österreichisch-ungarischen Lager. Durch die miserablen Bedingungen sei die Sterblichkeitsrate ungewöhnlich hoch gewesen. Zur Untermauerung dieser Hypothese stützt sich Procacci auf Augenzeugenberichte aus oberösterreichischen Lagern, die die Briefzensur offensichtlich passieren ließ:

„[…] In Mauthausen sahen unsere Offiziere häufig die gefangenen Soldaten, die aus ihrer Gruppe jeden Morgen in eine Abteilung kamen, um Abfälle zu sammeln, wir sahen sie, wie sie sich in die Abwasserkanäle und in die Abfallbehälter warfen, um Heringsköpfe und -gräten sowie Kartoffelreste und jede Art roher, verdorbener und fauler Waren zusammenzukratzen […]“.32

Diese Missstände hätten schließlich zu einer moralischen Depression geführt. Dazu kam noch die desillusionierende Wirkung des Wissens um die ablehnende Haltung im eigenen Land.

Aber, so Procacci weiter:

„[…] Der Hass gegen das eigene Land […] schwächte bei vielen kriegsgefangenen Soldaten den Hass auf den Feind ab, dem weder eine besonders strenge Disziplin noch die Schuld für materielle Mängel zur Last gelegt werden konnte […]“.33

Die italienische Regierung lehnte nämlich staatlich finanzierte Hilfsgüterlieferungen an die Kriegsgefangenen in Österreich-Ungarn und Deutschland rundweg ab. Sie wurden abschätzig als Vaterlandsverräter oder als „Fahnenflüchtige jenseits der Alpen“ tituliert.34

Luca Gorgolini hat jüngst mit der Publikation „Kriegsgefangenschaft auf Asinara“ aufhorchen lassen.35

Ausgehend von den Forschungsarbeiten Giovanna Procaccis untersucht der Autor nunmehr die Bedingungen, denen österreichisch-ungarische Soldaten am Beispiel des sardischen Insellagers Asinara ausgesetzt waren. Er kommt zum Ergebnis, dass Hunger und Seuchen trotz mannigfaltiger Bemühungen aufgrund der gewaltigen und unvorhergesehenen Dynamik dieses Krieges nicht zu vermeiden waren.

Und welche Entwicklungslinien lassen sich für die österreichische Weltkriegsforschung verorten?

In den letzten zehn Jahren gab es, initiiert vom Institut für österreichische Geschichte an der Universität Innsbruck, eine erfolgreiche transnationale und interregionale wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen österreichischen, deutschen und italienischen Historikern zur Thematik des Ersten Weltkriegs. Dies ist ein deutlicher Beleg dafür, dass die vielfach als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnete kriegerische Epoche gerade die heutige jüngere Historikergeneration in ihren Bann zu ziehen vermag.36

In der historischen Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges in Österreich standen lange Zeit militärische Aspekte im Vordergrund. Diese einseitige Ausrichtung auf die militärische Sichtweise erzeugte aber ein Bild vom Krieg als einem „eigenständigen und losgelösten Raum“37, der anscheinend keinerlei Auswirkungen auf das zivile Leben hatte.

In der Ersten Republik besaß das Militär die alleinige historische Verfügungsgewalt, verbunden mit einer restriktiven Archivsperre. Nur einem kleinen Kreis nicht-militärischer Historiker wurde der Zugang zu den Archivbeständen erlaubt. Sie trachteten naturgemäß danach, den Kriegsschuldvorwurf zu entkräften. In dieser Zeit dominierte die sogenannte Offiziersgeschichtsschreibung. Sie galt als die einzig gültige Form der Weltkriegsaufarbeitung.

Klarerweise wurden sozioökonomische Aspekte dabei ausgeklammert.38

Die Vorbedingungen für eine Neugestaltung der Weltkriegsgeschichte waren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs alles andere als optimal. Der Universitätsbetrieb lag darnieder und ein großer Teil der Archivbestände des ehemaligen Kriegsarchivs war ausgelagert worden.

1945 fand wie 1918 eine Demilitarisierung des Kriegsarchives statt. Es wurde nämlich in die zivile Verwaltung eingegliedert.

Zugleich gründete man die Generaldirektion des österreichischen Staatsarchivs. Damit zog allmählich ein neuer Zeitgeist ein.39

Die zuvor schon erwähnte personelle Zivilisierung nach 1945 hatte den Anteil der nichtmilitärischen und professionellen Historiker sukzessive in die Höhe schnellen lassen. Seit 1945 entwickelte sich das Kriegsarchiv ebenso schrittweise vom erstrangig militärisch dominierten Forschungsinstitut zu einem Service- und Dienstleistungscenter für alle historischen Forschungsbereiche. Es muss dabei freilich auch festgehalten werden, dass sich dadurch aber zunächst keine neuen und bemerkenswerten Entwicklungen im Forschungsbereich auftaten.

Dieser unbefriedigende Zustand änderte sich erst im Jahre 1956. Mit diesem Datum erfolgte die Freigabe der Aktenbestände bis 1918. Dies stellte sich rasch als durchaus impulsgebender Faktor dar. 1957 wurde dann die „Militärwissenschaftliche Abteilung“ beim Bundesministerium für Landesverteidigung installiert. In den folgenden Jahren wurde der moderne Begriff der Militärgeschichte von den universitär gebildeten Historikern in zunehmendem Maß verwendet.40

Das Thema „Kriegsgefangene bzw. Kriegsgefangenenlager in Österreich-Ungarn während des Ersten Weltkrieges“ war lange Zeit ein Stiefkind der historischen Forschungsdisziplin.