Greg Loone erwartete heute keine Kundschaft mehr. Er war
zufrieden. Ein Haufen reicher Touristen aus Europa war am Vormittag
über seinen Juwelierladen hergefallen. Irgendein Reiseführer hatte
Loones Laden als Geheimtipp angepriesen.
Pfeifend traf Loone die üblichen Vorbereitungen, den
Juwelierladen zu schließen. Er ging zu dem Sicherungskasten hinter
dem Verkaufstresen und schloss ihn auf. Er dachte dabei, wie
glücklich er sich schätzen konnte, diesen kleinen Laden in
Manhattans Diamond District bekommen zu haben. Soviel er wusste,
war er der einzige schwarze Juwelier in dieser Gegend.
Loone drückte den Knopf, der die Rollläden draußen vor den
Schaufenstern herunterfahren lassen würde. Die Stahllamellen
schoben sich ratternd aus dem Kasten über den Fenstern.
Da wurde die Ladentür plötzlich aufgestoßen, und drei in
Schwarz gekleidete Gestalten tauchten unter dem herabfahrenden
Rollladen hindurch. Ihre Köpfe waren in Ledermasken gehüllt. In
ihren behandschuhten Fäusten hielten sie silbrig blitzende
Pistolen.
Loone erstarrte - er wusste, dass ihm die schrecklichsten
Momente seines Lebens bevorstanden…
Die Ledermasken, die die Eindringlinge trugen, hatte Loone
schon einmal in einer Late-Night-Show im Fernsehen gesehen. Die
Kerle, die sie getragen hatten, verwendeten sie für perverse
Sexspiele. Das schwarze Leder schloss die Köpfe vollständig ein.
Nur für die Augen gab es kreisrunde Öffnungen, während sich dort,
wo sich der Mund befand, ein Reißverschluss befand.
Einer der Kerle riss den Arm hoch und feuerte.
Loone warf sich unwillkürlich auf den Boden. Die Kugel schlug
über ihm neben der Wanduhr ein - dort, wo sich die
Überwachungskamera befand.
Verzweifelt robbte der Juwelier über den Boden zur Mitte des
Verkaufstresens, wo auch die Computerkasse stand. Dort befand sich,
unter der Tischplatte versteckt, der rote Alarmknopf. Er war Loones
einzige Rettung, denn er war ganz allein in dem Laden!
Da erschienen vor dem Schwarzen plötzlich ein paar
Springerstiefel. Mit dumpfem Schlag setzten sie auf dem roten
Teppichboden auf, mit dem der ganze Laden ausgelegt war. Der Kerl,
der in den Stiefeln steckte, war über den Verkaufstresen gesprungen
und direkt vor Loone gelandet, als hätte er geahnt, wohin der
Juwelier sich hatte begeben wollen.
Mit einem verzweifelten Schrei stieß Loone den Arm hoch zum
Alarmknopf. Doch bevor seine Finger ihn erreichten, traf ihn der
Springerstiefel mitten ins Gesicht. Der Tritt war so heftig, dass
Loones Oberkörper hochgerissen wurde. Seine Hand verfehlte den
Knopf. Loone stürzte zurück auf den Boden.
Er röchelte, schmeckte Blut und spürte plötzlich einen
ausgebrochenen Zahn auf der Zunge.
Der Maskierte packte den Juwelier an den Schultern und riss
ihn auf die Beine.
Loones Knie waren butterweich. Alles um ihn herum drehte sich.
War das wirklich noch sein Laden? Die Vitrinen waren zerschlagen.
Scherben lagen überall auf dem roten Teppichboden. Die beiden
anderen Vermummten stopften Diamanten in ihre schwarzen Beutel. Die
Rollläden waren inzwischen ganz heruntergefahren. Niemand auf der
Straße würde mitkriegen, was in dem Juwelenladen geschah!
Loone war taub vor Schmerz. Er wäre gestürzt, hätte sein
Gegenüber ihn nicht mit unerbittlichem Griff festgehalten.
»Mach die Kasse auf!«, kam es dumpf unter der Ledermaske
hervor. Die Augen hinter den runden Ausschnitten starrten ihn kalt
und brutal an.
»Es… es sind nur Schecks in der Kasse«, presste Loone zitternd
hervor. »Damit könnt ihr doch nichts anfangen.«
»Schnauze!«, bellte der Vermummte. Hart presste er dem
Schwarzen den Lauf seiner Waffe gegen die Stirn. »Ich weiß, dass du
Geld in der Kasse hast! Also, mach das verdammte Ding jetzt
auf!«
Loone nickte hektisch. Es war idiotisch gewesen, sein Leben
für die Tageseinnahmen zu riskieren. Die Kerle waren zu allem
entschlossen. Außerdem kannten sie sich anscheinend bestens in
seinem Laden aus!
Mit zitternden Fingern tippte Loone den Code in die
Computertastatur, der die Kasse öffnen würde. Mit einem hellen
Glockenton sprang die Lade auf. Der Vermummte griff hinein und
stopfte sich die Dollarscheine in die Hosentasche. Dabei hielt er
die Waffe auf Loones Kopf gerichtet.
»Seid ihr fertig?«, rief der Vermummte dann seinen Komplizen
zu.
»Alles klar, Boss. Fehlen nur noch die Klunker im
Tresor!«
»Mach den Tresor auf!«, forderte der Maskierte, packte Loone
am Kragen und drückte ihn rücklings auf den Tresen.
Schmerzhaft bog sich das Kreuz des Schwarzen durch.
»Bitte!«, flehte Loone ächzend. »Mein ganzes Leben steckt in
diesem Laden. Ihr… ihr dürft mir nicht alles nehmen!«
»Der Tresor!«, schnauzte sein Gegenüber und lehnte sich über
den Schwarzen, sodass die Ledermaske Loones verschwitztes Gesicht
fast berührte.
»Er… er ist offen«, flüsterte der Juwelier mit versagender
Stimme. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er hatte das
schreckliche Gefühl, einen Fehler begangen zu haben.
Der Vermummte richtete sich abrupt auf. »An die Arbeit, Jungs!
Der Tresor gehört euch!«, rief er seinen Komplizen zu, ohne sich zu
ihnen umzudrehen. Stattdessen richtete er seine Pistole nun mit
ausgestrecktem Arm auf das Herz des Schwarzen, der noch immer mit
dem Rücken auf dem Tresen lag, die Hände in einer lächerlich
wirkenden Geste erhoben.
»Nein!«, krächzte Loone voller Panik und starrte auf die
Waffe. »Bitte nicht! Töten Sie mich nicht!«
Der Maskierte lachte hysterisch.
Das war das Letzte, was Loone hörte, bevor der Schuss in
seinen Ohren explodierte und das Leben des Juweliers mit
unwiderruflicher Endgültigkeit auslöschte.
***
».’. möchte ich diese kleine Party zum Anlass nehmen, meinen
beiden Rettern herzlich zu danken!«
Die Frau, die dies sagte, stand auf einem kleinen Podest
inmitten blühender Rosenhecken. Hinter ihr befand sich eine pompöse
Villa aus dunklem, massiven Holz und mit grauem Schieferdach. Die
Frau war um die vierzig. Sie trug ein weißes Kleid mit Schleppe und
geraffter Taille. Ihr blondes Haar hatte sie im Nacken zu einem
Knoten gebunden. Sie erinnerte mich ein wenig an eine römische
Statue. Ihr Name passe allerdings nicht zu diesem Bild. Sie hieß
Loretta Trade. Sie war Millionärin, wie fast alle, die sich am
Strand von Coney Island eine Villa leisten konnten. Lorettas Mann,
der vor fünf Jahren an Krebs gestorben war, hatte ihr mehrere
Zucker- und Schokoladenfabriken hinterlassen.
»Nur dem beherzten Vorgehen der beiden G-men habe ich es zu
verdanken, dass ich an diesem herrlichen Abend im Garten meiner
Villa stehen kann«, ertönte ihre Stimme aus den versteckten
Lautsprechern hinter den Rosenhecken. »Ohne diese beiden Männer
würde ich mich wahrscheinlich noch immer in der Gewalt meiner
Entführer befinden…«
Lorettas Stimme klang nun ein wenig brüchig. Mit einer
theatralischen Geste zog sie ein Taschentuch aus dem tiefen
Dekollete ihres Kleides und tupfte sich die Tränen fort. Dann warf
sie beide Arme nach vorn, als wollte sie jemanden umarmen. Ihr
Gesicht zeigte eine leidenschaftliche Miene, und ihr Blick war
direkt auf Milo und mich gerichtet, die wir mitten in dem Pulk
nobel gekleideter Gäste standen, die sich vor dem Podest versammelt
hatten.
»Agent Jesse Trevellian und Agent Milo Tucker!«, schmetterte
Lorettas Stimme über die Köpfe der Versammelten hinweg. »Tausend
Dank, dass Sie mein Leben gerettet haben!«
Die Leute drehten sich zu Milo und mir um. Wir blickten in die
lächelnden Gesichter der Frauen - und in die der Männer, die
zurückhaltenden Respekt ausdrückten. Dann fing plötzlich jemand an
zu klatschen. Die anderen stimmten mit ein, sodass der Garten der
Villa schließlich von brandendem Applaus erfüllt war.'
Milo schaute sich um, nickte und grinste zufrieden. Dann
schlug er mir mit der flachen Hand auf die Schulter.
»Hat dir je jemand auf diese Weise seinen Dank
ausgesprochen?«, meinte er. »Mann, Junge! Mir geht das runter wie
Öl.«
»Ein einfaches Dankeschön hätte es auch getan«, erwiderte ich.
»Ich verstehe Loretta Trade nicht. Es sind erst drei Tage
vergangen, seit wir sie in dem abgebrannten Haus in der Bronx
fanden, wo die Entführer sie gefangen hielten. Und sie hat nichts
Besseres zu tun, als eine Party zu feiern.«
Milo zuckte gelassen mit den Schultern. »So sind sie eben, die
Reichen«, erklärte er lapidar und nahm einem der livrierten Diener,
die zwischen den Gästen umhereilten, zwei volle Champagnergläser
von dem Tablett, reichte mir eins und prostete mir augenzwinkernd
zu.
»Chers, Partner«, rief er, während der Applaus endlich
verebbte. »Lass uns darauf anstoßen, dass New York in Zukunft noch
mehr so dankbare und großzügige Bürger aufzuweisen hat wie Loretta
Trade.«
Ich erhob mein Glas, prostete Milo zu und führte es dann an
meine Lippen. Während der prickelnde Champagner meine Kehle
hinunterrann, warf ich einen Blick zum Podest. Einige Frauen waren
zu Loretta emporgeklettert. Sie umarmten die Millionärin und waren
ebenso in Tränen aufgelöst wie sie. Die Szene erinnerte mich an den
Schlussakt eines billigen Theaterstücks. Ich konnte mir nicht
helfen. Ein freundschaftlicher Händedruck und ein paar ehrliche
Worte des Dankes wären mir erheblich lieber gewesen als das
Melodrama, das Loretta Trade um ihre Rettung veranstaltete.
»Was schauen Sie so griesgrämig drein, Agent Trevellian?«,
vernahm ich hinter mir plötzlich eine sonore Stimme.
Ich drehte mich um und sah direkt in das Gesicht eines hageren
Mannes, dessen bleicher Teint durch das schwarze halblange Haar,
das wie angeklatscht an seinem Kopf klebte, noch unterstrichen
wurde. Ich kannte den Mann. Er hieß Mark Lafella und war Lorettas
Psychologe. Seit die Millionärin wieder frei war, hatte er sie rund
um die Uhr betreut.
»Ich bin nicht griesgrämig«, erwiderte ich. »Ich habe auch
nichts gegen eine Party. Es ist nur der Anlass, der mir nicht
passt.«
Lafella zog eine Augenbraue hoch und musterte mich, als wollte
er eine Psychoanalyse bei mir durchführen. »Loretta hat ihre ganz
eigene Art, mit ihrem Schicksal fertig zu werden«, sagte er dann.
»Ich bin glücklich, dass sie sich dazu durchgerungen hat, diese
Party zu geben. Es ist nicht zuletzt auch meiner mühevollen
psychologischen Arbeit zu verdanken, dass Loretta wieder zu ihrer
ursprünglichen Lebensfreude zurückfand.«
»Bescheiden sind Sie ja nicht gerade«, bemerkte ich säuerlich.
»Aber das könnten Sie sich bei Ihrem Honorar wahrscheinlich auch
nicht erlauben.«
»Sind Sie etwa neidisch, weil ich mehr verdiene als ein
G-man?«
»Nein. Aber ich wünschte, Sie hätten etwas mehr
Verantwortungsgefühl Ihrer Klientin gegenüber gezeigt. Wir haben
Sie zwar aus der Gewalt der Kidnapper retten können. Aber wir
wissen noch immer nicht, wer hinter der Entführung steckt. Der
Anführer der Bande läuft noch immer frei herum. Meines Erachtens
ist Loretta noch nicht außer Gefahr.«
Lafella machte eine wegwerfende Handbewegung. »Für die
Sicherheit meiner Klientin bin ich nicht verantwortlich. Das ist
Ihr Job, Trevellian.«
Plötzlich blickte Lafella auf, und seine schmalen Lippen
verzogen sich zu einem breiten Grinsen.
»Loretta!«, rief er mit erhobener Stimme und winkte. Ich
drehte mich um und sah, dass die Millionärin auf Milo und mich
zukam. Die Leute machten ihr Platz und bildeten eine Gasse, durch
die Loretta mit ihrem Gefolge majestätisch daherschritt.
Schließlich blieb sie vor uns stehen und sah uns mit schief
gelegtem Kopf an, während ein seliges, fast ein wenig idiotisch
wirkendes Lächeln ihre Lippen umspielte.
»Agent Trevellian und Agent Tucker«, sagte sie in einem Ton
euphorischer Begeisterung. »Sie müssen meinen Gästen unbedingt noch
einmal schildern, wie Sie mich gerettet haben!«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte Milo ausweichend,
der sich auf der Party nun plötzlich doch nicht mehr so
wohlzufühlen schien. Besonders, da Loretta ihm plötzlich das
Mikrofon vor das Gesicht hielt, sodass seine Stimme laut durch den
Garten schallte.
»Bitte tun Sie mir den Gefallen!«, bettelte Loretta.
Milo warf mir einen Hilfe suchenden Blick zu. Aber ich zuckte
nur kalt mit den Schultern und grinste zynisch. Milo würde sich
wohl kein zweites Mal wünschen, dass die Leute, die wir retteten,
von einer ähnlich euphorischen Dankbarkeit beseelt waren wie
Loretta Trade!
»Nun«, tönte Milos Stimme aus den versteckten Lautsprechern.
»Eigentlich beruhte alles nur auf ganz gewöhnliche Polizeiarbeit.
Den Ausschlag gab dann ein anonymer Hinweis aus der Bevölkerung,
der uns auf das abgebrannte Haus in der Bronx aufmerksam machte, wo
die Kidnapper Miss Trade auch tatsächlich gefangen hielten.«
»Beschränken Sie sich lieber auf die spannenden Momente meiner
Befreiung«, warf Loretta ein. »Schließlich will ich meine Gäste
nicht langweilen. Erzählen Sie zum Beispiel, wie Sie und Ihr
Kollege Trevellian plötzlich mit gezogenen Dienstwaffen in dem
schmuddeligen Keller auf tauchten und die beiden Wachen
niederstreckten.«
»Das war schon ein dolles Ding«, sagte Milo, der allmählich
warm zu werden schien. »Jesse und ich hatten die Ruine vorher
einige Stunden observiert. Ab und zu kam jemand aus einem
Kellerfenster gekrochen, sah sich auffällig um und verschwand in
einer Seitenstraße, nur um etwas später mit einer Plastiktüte
voller Lebensmittel wieder in dem Rattenloch zu verschwinden. Die
Entführer schienen sich ihrer Sache ziemlich sicher zu sein, denn
sie hatten draußen nicht einmal eine Wache aufgestellt. Es war für
Jesse und mich daher nicht schwer, einen Überraschungsangriff zu
starten. Wir schlichen uns an und stiegen die Kellertreppe hinab,
was eine ziemlich eklige Angelegenheit war, da die Stufen mit Unrat
und Müll bedeckt waren.«
Einige der Frauen, die sich um uns geschart hatten, riefen
pikiert »Igitt!«, und lachten affektiert.
»Als wir dann endlich unten ankamen, überwältigten wir einen
Kerl, der in dem Kellergang Wache halten sollte«, fuhr Milo fort.
»Er schien es mit seinem Job jedoch nicht so ernst zu nehmen, denn
er döste im Halbschlaf vor sich hin. Auf seinem Bauch lag seine
Knarre und ein Comicheft.«
Verhaltenes Lachen war zu vernehmen.
»Nachdem wir den Kerl ausgeschaltet hatten, rannten wir zu
einem Keller, dessen Eingang mit einem dreckigen Tuch verhängt war.
Durch die groben Maschen sickerte trübes Licht. Wir blieben einen
Moment mit angehaltenem Atem stehen und lauschten auf die Geräusche
hinter dem Vorhang. Aus dem, was wir nun hörten, schlossen wir,
dass sich zwei Menschen in dem Keller aufhalten mussten. Jesse und
ich gaben uns Zeichen. In solchen Situationen verständigen wir uns
immer mit genau festgelegten Gesten, sodass wir kommunizieren
können, ohne dabei viel Lärm zu machen. Dann stürmten wir in den
Keller, wie wir es unzählige Mal zuvor in anderen Einsätzen getan
haben. Es war eine mustergültige Aktion, die jeden Ausbilder in
Quantico, der FBI-Schule, zufriedengestellt hätte.«
Milo deutete mit ausgestrecktem Arm auf mich und sagte: »Den
Rest wird Ihnen mein Kollege schildern, der bei diesem Einsatz die
meiste Arbeit hatte.«
Milo grinste hämisch, als Loretta sich nun zu mir umdrehte und
mir das Mikro erwartungsvoll entgegenstreckte.
Ich räusperte mich entnervt. Aber mir blieb keine andere Wahl.
Ich musste in dieser Show mitspielen, wollte ich nicht vor allen
als übellauniger Spielverderber dastehen.
»Es waren tatsächlich zwei Kerle in dem Kellerraum - genau,
wie wir es erwartet hatten«, sagte ich. »Auf einem schäbigen
Feldbett lag Loretta. Sie hatten sie gefesselt und geknebelt. Die
beiden Gangster, die bei ihr waren, hatten sich maskiert, damit
Loretta sie nicht erkannte und später eventuell Aussagen über das
Aussehen dieser Männer machen könnte…«
Ich hielt inne und schaute Loretta prüfend an. An dieser
Stelle wurde die Sache ein wenig heikel. Die beiden Männer hatten
nämlich schwarze Masken aus Leder getragen. Diese Dinger werden in
Sado-Maso-Kreisen bei entsprechenden Sexspielchen verwendet.
Loretta beteuerte bei einer späteren Vernehmung zwar, dass die
Männer sie nicht sexuell belästigt hätten, was eine ärztliche
Untersuchung auch bestätigte. Trotzdem waren wir vom FBI darüber
übereingekommen, die Ledermasken weder der Presse noch anderen
Personen gegenüber zu erwähnen.
Lorettas Miene versteinerte, als sie meinen prüfenden Blick
bemerkte. Sie konnte mir nichts vormachen. Die psychischen Folgen
der Entführung hatte sie noch längst nicht überwunden. Vier Tage
hatte sie sich in der Gewalt der Entführer befunden, bevor wir das
Versteck endlich fanden und Loretta befreien konnten. Es musste
sehr erniedrigend für die Millionärin gewesen sein, ihre tägliche
Notdurft in dem miefigen Keller verrichten zu müssen, den Dosenfraß
zu essen, den die Gangster ihr auftischten, und stundenlang reglos
und gefesselt dazuliegen, mit einem ungewissen Schicksal vor
Augen.
»Die beiden Männer waren von unserem plötzlichen Auftauchen
völlig überrascht«, fuhr ich nun fort. »Wir hatten ein leichtes
Spiel. Bevor die Kerle ihre Waffen ziehen konnten, hatte ich den
ersten auch schon mit einem Fausthieb niedergestreckt.«
Ich schüttelte meine Hand und sagte: »Es muss ein ziemlich
harter Schlag gewesen sein, denn meine Hand schmerzt noch heute.
Den Gangster hob der Fausthieb von den Füßen. Er prallte gegen.die
raue Kellerwand und rutschte dann bewusstlos daran hinab. Der
zweite Ganove hatte unterdessen seinen Revolver gezogen und legte
auf Milo an. Mein Kollege konnte nicht auf ihn schießen, da es in
dem Keller zu war und er Gefahr lief, statt des Gangsters mich oder
Loretta zu treffen. Es kam mm also auf mich an. Wenn ich nicht
rasch genug reagierte, war es um meinen Kollegen geschehen.
Blitzschnell trat ich nach der Hand des Mannes. Im gleichen
Augenblick, da der Kerl seinen Abzugsfinger krümmte, traf ich
seinen Revolver mit der Schuhspitze. Der Schuss verriss, die Kugel
jagte nur wenige Handbreit über dem Kopf meines Kollegen hinweg und
klatschte in die Decke.«
Ich legte eine kurze Pause ein. Die Blicke der Gäste klebten
wie gebannt auf meinen Lippen.
»Bevor der Kerl sich besann, verpasste ich ihm einen
Kinnhaken. Aber der Schlag wurde durch die Maske gedämpft, darum
musste ich noch einen nachsetzen, ehe auch der zweite Kidnapper
endlich bewusstlos zusammenbrach.«
Ich reichte Loretta das Mikrofon zurück. »Den Rest der
Befreiungsaktion erzählen Sie Ihren Gästen am besten selbst«, sagte
ich. »Aus Ihrer Sicht betrachtet, ist das bestimmt sehr viel
eindringlicher.«
In Lorettas Mundwinkel zuckte es. Doch dann hatte die Frau
sich wieder unter Kontrolle. Mit spitzen Fingern nahm sie das
Mikrofon und räusperte sich.
»Es waren wohl die nervenaufreibendsten Momente, die ich in
meinem langen Leben erdulden musste«, sagte sie mit schwankender
Stimme. »Von dem Moment an, da die beiden G-men in dem Kellerloch
auf tauchten, war ich von dem schrecklichen Gedanken erfüllt, die
beiden könnten es nicht schaffen. Ich war an das Feldbett
gefesselt. In meinem Mund steckte ein alter Lumpen. Aber auch ohne
meine Fesseln wäre ich unfähig gewesen, mich zu bewegen oder einen
Laut von mir zu geben. Mit ängstlich auf gerissenen Augen
beobachtete ich die Szene, die sich vor mir abspielte. Die brutalen
Schläge, der Schuss - all dies lief vor mir mit quälender
Langsamkeit ab. Und dann war plötzlich alles vorbei. Die beiden
Ganoven lagen bewegungslos auf dem dreckverschmierten Kellerboden.
Und während Agent Tucker sein Funkgerät zückte und eine Meldung zu
seinen Kollegen durchgab, die draußen in Bereitschaft standen, kam
G-man Trevellian auf mich zu. ›Es ist vorbei‹, sagte er nur und
fing an, mich vorsichtig von den Fesseln und dem Knebel zu
befreien.«
Tränen kullerten Loretta über die Wangen. Sie
schluchzte.
»Diese drei banalen Worte sind wohl das Schönste, was ein Mann
je zu mir gesagt hat: ›Es ist vorbei !‹«
Sie wischte sich mit dem Zeigefinger kokett die Tränen aus dem
Gesicht und lächelte dann spitzbübisch. »Unter anderen Umständen
wären diese Worte natürlich weniger schmeichelhaft gewesen. Aber
als ich dort in dem miefigen Keller auf dem Feldbett lag und
spürte, wie das Blut langsam in meine gemarterten Hände und Füße
zurückkehrte, da erschienen mir seine Worte wie eine Offenbarung.
Es ist vorbei! Und so war es tatsächlich. Eine der schlimmsten
Erfahrungen meines Lebens liegt nun hinter mir. Und jetzt stehe ich
hier inmitten meiner Freunde, genieße den Abend, den Geruch des
nahen Meeres. Und das alles habe ich nur ganz allein meinen Rettern
zu verdanken!«
Mit ausladender Geste deutete sie auf Milo und mich. Wieder
brandete Applaus auf. Milo brachte es sogar fertig, sich zu
verbeugen.
»Und nun entschuldigt mich bitte einen Moment, meine Freunde«,
sagte Loretta und schaltete das Mikrofon aus. Sie legte es einem
Diener kurzerhand auf das Tablett und hakte sich dann bei Milo und
mir ein. Ihren Gästen zunickend, die noch immer klatschten, führte
sie uns von dem Platz mit dem Podest fort.
Als wir außer Hörweite waren, atmete Loretta einmal tief
durch. Ihr Gesicht schien plötzlich einzufallen. Das Lächeln
verschwand von ihren Lippen.
»Vielen Dank, dass Sie bei meinem kleinen Theaterstück
mitgespielt haben«, sagte sie matt. »Ich hoffe, ich habe Ihnen
nicht zu viel zugemutet.«
»Sie haben Ihre Rolle perfekt gespielt«, sagte Milo
einfühlsam. »Für einen Moment hatte ich wirklich geglaubt, dass Sie
über die Entführung hinweggekommen wären. Aber das schafft
wahrscheinlich nicht einmal der beste Seelenklempner.«
Loretta zuckte müde mit den Schultern und dirigierte uns zu
einem Kiesweg, der zwischen zwei Rosenhecken begann und in einem
seichten Bogen um die Villa führte.
»Ohne Lafellas Hilfe hätte ich es nicht geschafft, diese
verdammte Party durchzustehen«, gestand sie. »Aber sie war nun
einmal notwendig. Eine Frau in meiner Position darf es sich nicht
erlauben, Schwäche zu zeigen. Was glauben Sie, wie viele Angebote
ich in den letzten Tagen erhalten habe, von Kerlen, die glaubten,
ich würde mich aufgrund der Entführung aus dem Geschäftsleben
zurückziehen. Sie wollten die Aktienanteile, die mir ein
Mitspracherecht in den Vorständen zahlreicher Firmen ermöglichen.
Einer von ihnen war sogar so dreist, mir vorzuschlagen, für mich
die Leitung der Zucker- und Schokoladenfabriken zu
übernehmen.«
Loretta straffte sich. »All diesen Leichenfledderern habe ich
mit meiner Party den Wind aus den Segeln genommen. Die
Geschäftswelt weiß nun, dass sie weiterhin mit mir zu rechnen
hat!«
Loretta sank wieder in sich zusammen und stützte sich schwer
auf meinen Arm.
»Zum Glück wissen nur ganz wenige, wie es in Wahrheit in mir
aussieht. Nachts kann ich nicht schlafen. Immer sehe ich die
schrecklichen Ledermasken vor mir. Und die Augen, die kalt und böse
hinter den runden Löchern hervorstarren.«
Loretta schüttelte sich. Dann sah sie zu mir hoch.
»Doch was mich am meisten fertig macht, ist das Wissen, dass
der Boss der Entführer noch immer frei herumläuft«, sagte sie mit
zitternder Stimme.
»Machen Sie sich darum keine Sorgen«, erwiderte ich
zuversichtlich. »Wir werden den Kerl bald geschnappt haben.«
»Sie können mir nichts vormachen, Trevellian«, erwiderte
Loretta kühl. »Sie und Tucker tappen noch immer im Dunkeln.«
Wir erreichten einen Irrgarten aus mannshohen Hecken. Er
schloss direkt an einen kurz geschorenen Rasen an, der sich bis zu
den Terrassen der Villa erstreckte.
Als wir den Irrgarten betraten, sagte ich: »Wir wissen bisher
tatsächlich nur sehr wenig über den Kerl, der hinter der Entführung
steckt. Die drei Kerle, die wir bei der Befreiungsaktion verhaften
konnten, behaupten, ihr Boss hätte immer eine Ledermaske getragen,
wenn er sich mit ihnen traf. Er ließ sich von allen einfach nur
Boss nennen. Aber das wissen Sie ja selbst.«
»Wir haben unsere Verhörspezialisten auf die drei Ganoven
angesetzt«, schaltete sich Milo ein. »Sie werden die drei in die
Mangel nehmen. Einer der Ganoven stammt aus der Bronx. Sein Name
ist Bobby Mandrake. Bei den beiden anderen handelt es sich offenbar
um illegale Einwanderer aus einem mittelamerikanischen
Staat.«
Der Weg gabelte sich. Loretta zog uns in den rechten Gang, der
wenige Schritte später wieder einen scharfen Knick nach rechts
beschrieb.'
»Halten Sie es immer noch für möglich, dass der ›Boss‹ aus
meinem Bekanntenkreis kommt?«, fragte uns die Millionärin
unbehaglich.
»Das können wir leider nicht ausschließen«, antwortete ich
bedauernd.
Loretta seufzte und lehnte für einen flüchtigen Moment ihren
Kopf an meine Schulter. »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, für
alles, was Sie für mich getan haben.« Sie löste sich von uns und
zuckte bedauernd mit den Schultern. »Ich muss jetzt zurück zu
meinen Gästen«, erklärte sie gefasst und lächelte säuerlich. »Sie
zerreißen sich sonst noch ihre Mäuler, wenn ich zu lange
fortbleibe.«
»Gehen Sie nur«, sagte ich verständnisvoll. »Milo und ich
haben noch etwas zu besprechen.«
Loretta wandte sich ab und eilte den Gang zurück, den wir
gekommen waren. Kurz darauf war sie hinter einer Heckenbiegung
verschwunden.
»Die Frau ist echt stark«, sagte Milo. »Ich denke, sie wird
nicht lange brauchen, um mit den psychischen Folgen der Entführung
fertig zu werden - wenn wir nur den Boss endlich schnappen.«
»Es ist wirklich ein Jammer, dass der Boss sich nicht in dem
Gebäude aufhielt, als wir es stürmten«, gab ich zurück. »Wir
konnten Loretta befreien, bevor es zu einer Geldübergabe kam. Dem
Boss ging auf diese Weise eine halbe Million Dollar Lösegeld durch
die Lappen. Wie wird der Unbekannte sich nun verhalten?«
Milo zuckte mit den Schultern. »Loretta hat viele Freunde und
Bekannte«, sagte er. »Jeder Gast auf dieser Party könnte der
geheimnisvolle Boss sein. Die meisten von ihnen wissen, dass
Loretta Trade jeden Morgen von einem Chauffeur zu ihrem New Yorker
Büro gefahren wird. Theoretisch hätte jeder von ihnen ein paar
Ganoven anheuem können, um Loretta zu entführen. Wir wissen noch
nicht einmal, ob der ›Boss‹ dabei war, als die Kidnapper Lorettas
Limousine stoppten, den Fahrer niederschossen und die Millionärin
in einen Lieferwagen zerrten.«
»Wir haben alle Personen, die über Lorettas Tagesablauf
Bescheid wussten, befragt«, gab ich zu bedenken. »Doch ohne
Ergebnis. Jeder von ihnen hatte für den fraglichen Zeitpunkt ein
Alibi.«
Milo nickte düster. »Es ist zum Kotzen«, sagte er und kickte
wütend einen Kiesel in die Heckenwand. »Wir kommen in diesem
verflixten Fall einfach nicht weiter. Ist dir übrigens aufgefallen,
dass Lexington nicht auf der Party war? Loretta scheint es nicht zu
stören, dass ihr Sohn dieser Veranstaltung ferngeblieben ist. Aber
bei ihr kann man nicht wissen. Sie ist eine Meisterin der
Verstellung, wie ihre kleine Ansprache bewiesen hat.«
Wir schlenderten weiter und erreichten nun einen bogenförmigen
Durchgang, hinter dem ein runder Platz lag. Milo und ich blieben
unwillkürlich stehen, als wir ein Pärchen bemerkten, das auf der
Bank in der Mitte des Platzes saß.
Den Mann erkannte ich sofort wieder. Es war Lexington,
Lorettas Sohn.
Tagelang hatten wir zusammen mit ihm beim Telefon Wache
gehalten und auf einen Anruf der Entführer gewartet. Lexington war
mit den Nerven ziemlich am Ende gewesen. Er hatte sich wahnsinnige
Sorgen um seine Mutter gemacht und erlitt mehrere
Nervenzusammenbrüche. Doch Lafella hatte den jungen Mann jedes Mal
wieder aufgerichtet.
Die Blondine, mit der Lexington sich innig beschäftigte,
kannte ich jedoch nicht. Ihre Bluse war aufgeknöpft, und Lexington
befingerte voller Wonne ihre Brüste. Die beiden küssten sich
leidenschaftlich und stürmisch.
Milo und ich sahen uns an. Ein breites Grinsen huschte über
Milos Lippen. »Jetzt wissen wir, warum Lexington nicht auf der
Party ist«, murmelte er.
Wir schickten uns an, uns abzuwenden. Da dudelte plötzlich
mein Handy!
***
Das Girl schrie spitz auf und fuhr wie von einer Tarantel
gestochen von der Bank auf. Hastig knöpfte sie die Bluse zu.
Vorwurfsvoll starrte Lexington zu uns herüber.
»Entschuldigen Sie, Lex«, rief ich bedauernd. »Wir sind nur
zufällig vorbeigekommen.«
Ich fischte das Handy aus der Jackentasche.
»Agent Trevellian«, meldete ich mich.
»Jonathan McKee hier«, vernahm ich die sonore Stimme unseres
Vorgesetzten. »Vor wenigen Minuten ist eine Meldung des
Polizeireviers von Midtown South eingegangen. Im Diamond Dis.trict
ereignete sich vor zwei Stunden ein brutaler Überfall auf einen
Juwelierladen. Der Besitzer, ein gewisser Greg Loone, kam dabei ums
Leben. Von dem Überfall existiert nur eine kurze Videosequenz, denn
die Diebe schossen die Überwachungskamera kaputt, als sie den Laden
stürmten. Doch die kurze Sequenz reichte aus, um die Cops zu
überzeugen, lieber das FBI einzuschalten. Die Verbrecher trugen
nämlich Masken aus schwarzem Leder. Es waren solche, wie sie auch
die Entführer von Loretta Trade benutzten!«
Ich war plötzlich wie elektrisiert. »Liegen schon Ergebnisse
von der Spurensicherung vor?«, fragte ich.
»Alles verfügbare Material wird zusammen mit dem Video von
einem Kurier ins Distriktbüro gebracht und müssten jeden Augenblick
hier eintreffen«, sagte Mr. McKee.
»Wir machen uns sofort auf die Socken!«, rief ich und
unterbrach die Verbindung.
»Was gibt es?«, fragte Milo.
»Für uns ist die Party vorbei, Alter«, informierte ich ihn.
»Wir haben vielleicht endlich eine Spur, die uns zu dem Boss
führt.«
Mehr wollte ich nicht verraten, da Lexington und sein blondes
Girl in der Nähe waren. Ich winkte den beiden zu.
»Lasst euch nicht stören!«, rief ich. »Wir sind schon wieder
weg!«
***
Drei Stunden später saßen wir zusammen mit Loretta im
Livingroom der Trade-Villa. Draußen trieben sich noch einige
Partygäste herum. Die meisten waren aber schon gegangen.
Kaum in unserem Büro an der Federal Plaza angekommen, hatten
Milo und ich uns mit Fiebereifer die Sachen durchgesehen, die die
Kollegen von der Spurensicherung geschickt hatten. Bisher hatten
sie leider nicht viel gefunden. Die Gangster hatten kaum Spuren
hinterlassen.
Die Fotos von dem ermordeten Juwelier gaben uns besonders zu
denken. Der Mann war erschossen worden, obwohl er unbewaffnet
gewesen war und keine Gefahr für die Verbrecher dargestellt hatte.
Dies bewies einmal mehr, wie gefährlich die Bande war, die bei der
Entführung von Loretta Trade bereits den Chauffeur kaltblütig
niedergeschossen hatten. Der Mann lag noch im Koma.
Dass es sich bei den Gangstern, die den Juwelier töteten und
ausraubten, um dieselben Leute handelte, die auch Loretta Trade
entführten, erschien uns durchaus möglich. Wir hatten über die Art
der Vermummung, die die Entführer von Loretta benutzten, nichts an
die Öffentlichkeit dringen lassen. Dass es sich um Nachahmungstäter
handelte, war also auszuschließen. Dass die Diebe zufällig die
gleichen Masken benutzten wie die Entführer von Loretta, war eher
unwahrscheinlich.
Das-Video der Überwachungskamera hatten Milo und ich uns
mehrmals angesehen. Schließlich waren wir damit zu den drei Männern
gegangen, die to bei der Befreiungsaktion von Loretta verhaftet
hatten. Aber die Kerle hatten sich den Film nur ungerührt angesehen
und behauptet, nicht erkennen zu können, ob einer der Vermummten
der Boss war.
Schließlich war uns nichts anderes übrig geblieben, als mit
der Videokassette zurück nach Coney Island zu fahren, um sie
Loretta vorzuführen.
Lexington, der sich ebenfalls im Livingroom aufhielt, legte
nun die Kassette in den Videorekorder und reichte mir die
Fernbedienung. Fragend sah ich Loretta an, die in steifer Haltung
in einem Sessel saß und starr auf die Mattscheibe blickte.
»Sind Sie sicher, dass Sie den Anblick der Vermummten wirklich
ertragen?«, erkundigte ich mich.
Mark Lafella, den wir darum gebeten hatten, der
Videovorführung beizuwohnen, lehnte sich von hinten über Lorettas
Sessel. »Sie müssen sich diesen Film nicht ansehen«, sagte er mit
gedämpfter Stimme. »Denken Sie daran, wie labil Sie noch
sind…«
Loretta brachte den Psychologen mit einer fahrigen
Handbewegung zum Schweigen. »Ich würde alles tun, damit der Kerl,
der meine Entführung plante, endlich geschnappt wird«, erwiderte
sie rau. »Lassen Sie das Video endlich laufen, Agent
Trevellian!«
Ich drückte auf die Play-Taste. Auf dem Bildschirm zu sehen
war der Verkaufsraum des Juwelierladens. Da die Kamera unterhalb
der Decke angebracht gewesen war, sah man den Raum von einer
erhöhten Position aus. Greg Loone, ein Schwarzer in
maßgeschneidertem Anzug und mit kurzem Haar, ging zu einem Kasten,
der an der Wand hinter dem Verkaufstresen hing, und öffnete ihn.
Der Juwelier betätigte ein paar Knöpfe. Daraufhin begann sich
draußen eine Stahljalousie vor die Schaufenster zu senken.
Die Jalousie hatte kaum die Hälfte der Fenster bedeckt, als
plötzlich ein paar Gestalten vorbeihuschten. Die Tür wurde
aufgestoßen. Drei vermummte Gestalten tauchten unter der Jalousie
hindurch und erschienen im Verkaufsraum. Der Erste riss seine Waffe
hoch und legte direkt auf die Kamera an. Ein Schuss löste sich, und
das Bild brach zusammen. Stattdessen schwirrten nur noch schwarze
und weiße Streifen über den Bildschirm.
Da ich das Video bereits kannte, sah ich nicht auf den
Fernseher, sondern betrachtete Lorettas Gesicht. Es wurde
kreidebleich, als die Vermummten in dem Juwelierladen auftauchten -
und Loretta zuckte erschrocken zusammen, als einer von ihnen
schoss.
»Ich… ich möchte die Szene noch einmal sehen«, sagte Loretta
mit rauer Stimme.
Ich tat ihr den Gefallen und spulte die Kassette zurück.
Diesmal war Lorettas Miene völlig unbewegt, als der Film auf der
Mattscheibe ablief. Dann nickte sie plötzlich.
»Ja«, sagte sie. »Der Mann, der auf die Überwachungskamera
feuerte, ist der Boss der Kidnapper!«
»Sind Sie sich wirklich sicher?«, hakte Milo nach.
Loretta nickte. »Er hat dieselbe drahtige Statur und dieselbe
Art, sich zu bewegen.« Sie sah zu Milo auf. »Was ist mit dem
Juwelier geschehen?«
Milo atmete tief durch. »Er ist tot«, sagte er. »Die Kerle
haben ihn kaltblütig erschossen.«
Lorettas Kiefer mahlten. »So hätte es mir auch ergehen
können«, kam es dann rau über ihre zitternden Lippen. »Ich habe
meinen Chauffeur heute Nachmittag im Krankenhaus besucht. Er liegt
noch immer im Koma und wird vielleicht nie wieder erwachen. Was
sind das nur für Menschen, die eine unschuldige Frau entführen,
ihren Chauffeur lebensgefährlich verletzen und einen Juwelier
töten?«
Niemand in dem Raum sagte ein Wort. Doch dann war es Lafella,
der die Stille brach.
»Sie haben sich nun genug gequält, Loretta.« Vorwurfsvoll sah
er Milo und mich an. »Ich finde Ihre Vorgehensweise
verantwortungslos!«
»Regen Sie sich wieder ab«, gab Milo schroff zurück. »Wir
versuchen nur, ein Verbrechen aufzuklären. Und erst, wenn die
Gangster hinter Schloss und Riegel sind, hat Loretta wirklich eine
Chance, die schrecklichen Tage, die sie sich in der Gewalt der
Entführer befand, zu verarbeiten!«
Loretta erhob sich. Ihr weißes Kleid raschelte. »Werden Sie
den Kerl denn nun schnappen können?«, fragte sie.
Ich zuckte mit den Schultern. »Erst müssen wir die letzten
Berichte aus den kriminaltechnischen Labors abwarten.«
Loretta gab Lafella ein Zeichen und wandte sich zum Gehen.
»Halten Sie mich auf dem Laufenden, wenn sich etwas Neues ergibt«,
bat sie, bevor sie zusammen mit dem Psychologen den Raum
verließ.
Lexington hatte inzwischen die Kassette aus dem Videogerät
geholt und überreichte sie mir.
»Wer war die Kleine, die vorhin bei Ihnen war?«, fragte ich
übergangslos.
Lexington errötete. Doch dann hatte er sich wieder unter
Kontrolle. »Sie ist bloß eine Freundin«, antwortete er ausweichend.
»Ihr Name ist Lana Lebowski.«
»Sie haben sie nie erwähnt«, sagte Milo. »Auch nicht, als wir
Sie darum baten, eine Liste von Ihren Freunden und Bekannten
anzufertigen. Jeder im Umfeld Ihrer Familie könnte als Täter
infrage kommen, das wissen Sie doch!«
Lexington sah Milo entrüstet an. »Aber doch nicht Lana!«, rief
er und lachte hart und trocken.
»Warum nicht?«
»Weil Lana mich liebt«, behauptete Lexington ein wenig
einfältig. »Außerdem wäre sie zu einem Verbrechen gar nicht fähig.
Sie ist ein wenig naiv und genießt es, auf der Sonnenseite des
Lebens zu stehen.«
»Wir werden Ihre Freundin trotzdem überprüfen müssen«,
erklärte Milo. »Wie lieb Sie sie auch immer finden mögen.«
»Sie verschwenden mit ihr nur Ihre Zeit«, entgegnete Lexington
überzeugt.
***
Am nächsten Morgen lagen die Berichte aus den Labors auf
unserem Schreibtisch.