Commissaire Marquanteur
gerät genau ins Fadenkreuz: Frankreich Krimi
von Alfred Bekker
Scheinbar wahllos werden in Marseille Menschen erschossen –
mit einem besonderen Gewehr, das selbst auf große Entfernung
zielsicher eingesetzt werden kann. An allen Tatorten wird der immer
gleiche Mann gesehen. Der Mörder kann er kaum sein, aber hat er die
Morde in Auftrag gegeben? Commissaire Marquanteur und seine
Kollegen müssen einer Verschwörungstheorie folgen, um den Mörder zu
finden.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick,
Jack Raymond, Jonas Herlin, Dave Branford, Chris Heller, Henry
Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
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lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
1
Ich schlug den Mantelkragen hoch.
Ein Spaziergang am Strand, dafür hatte ich viel zu selten
Zeit. Aber ab und zu musste das einfach sein. Einfach, um den Kopf
klar zu kriegen. Ein Frachter quälte sich zum Hafen. Marseille war
das, was man ein Tor zur Welt nennen konnte. Einer der größten
Häfen Frankreichs.
Ein frischer Wind kam auf, und ein paar Möwen kreisten in der
Höhe.
Ich hoffte nur, dass sie mir nicht auf den Kopf scheißen
würden. Dafür waren die Biester berüchtigt. Und sie waren ziemlich
zielsicher.
Mein Name ist Pierre Marquanteur. Ich bin Commissaire und Teil
einer in Marseille angesiedelten Sonderabteilung, die den etwas
umständlichen Namen Force spéciale de la police criminelle, kurz
FoPoCri, trägt und sich vor allem mit organisierter Kriminalität,
Terrorismus und Serientätern befasst.
Die schweren Fälle eben.
Fälle, die zusätzliche Ressourcen und Fähigkeiten verlangen.
Zusammen mit meinem Kollegen François Leroc tue ich mein
Bestes, um Verbrechen aufzuklären und kriminelle Netzwerke zu
zerschlagen. »Man kann nicht immer gewinnen«, pflegt Monsieur
Jean-Claude Marteau, Commissaire général de police oft zu sagen. Er
ist der Chef unserer Sonderabteilung. Und leider hat er mit diesem
Statement Recht.
Marseille ist eine Stadt mit vielen Gesichtern. Einerseits die
wunderschöne Stadt mit dem Hafen, den Kirchen und dem Mittelmeer
direkt vor Haustür. Ein freundlicher Ort für Touristen,
andererseits aber auch eine Stadt mit einem eisenharten, dunklen
Kern. Die Polizei kämpft seit Jahren gegen das organisierte
Verbrechen und den Drogenhandel im Hafenbereich von Marseille.
Gleichzeitig ist Marseille aber auch Heimat zahlreicher Unternehmen
und Start-ups, die in den vergangenen Jahren in die Stadt gezogen
sind.
Insofern ist es folgerichtig, dass unsere Abteilung hier
angesiedelt ist.
Allerdings ist die Force spéciale de la police criminelle,
kurz FoPoCri, durchaus landesweit aktiv.
Polizei ist zwar eigentlich Sache der Departements.
Und die Gangsterclans halten sich ja nicht an
Verwaltungsgrenzen.
Wir wären also schön blöd, wenn wir es täten.
*
Der Mann mit dem dunklen Haarkranz und der Narbe am Kinn hatte
ein sehr verkniffenes Gesicht. Wilde Entschlossenheit blitzte in
seinen Augen. Er sah durch das Zielfernrohr des Spezialgewehrs.
Jetzt, dachte er. Jetzt ist der Moment. Im Fadenkreuz sah er das
Gesicht des Premierministers von Frankreich. Der Schütze hielt die
Waffe so, dass das Fadenkreuz genau über der Stirn war. Gut so,
dachte er. Da gehört es hin, dieses Kreuz. Auf die Stirn unseres
gegenwärtigen Regierungschefs.
Er drückte ab.
Die Kugel traf genau zwischen die Augen. Der Kopf zerplatzte.
Blutrot tropfte es hinab.
Zufrieden senkte der Schütze die Waffe und kratzte sich dann
auf eine recht auffällige Weise an der Narbe an seinem Kinn.
»Er hat es nicht anders verdient, dieser Bastard«, murmelte
er.
»Ein guter Schuss«, sagte der andere Mann – hochgewachsen,
dunkelhaarig und gut trainiert. Unter dem linken Auge war ein
dunkler Punkt, den man auf den ersten Blick für ein Muttermal
halten konnte. Wenn man genauer hinsah, erkannte man, dass es eine
Tätowierung war. Eine Träne.
Der Kahlköpfige grinste.
»Gute Waffe«, meinte er. »Und darauf kommt es an, sage ich
Ihnen. Auf die Waffe. Und es gibt keine zweite wie diese hier. Das
können Sie mir glauben.«
»Wenn Sie das sagen, Monsieur Cachot.«
Der Kahlköpfige grinste breit.
»Ich habe sie konstruiert. Ich kenne jede Schraube an dem
Ding, und ich sage Ihnen, es ist nie wieder eine Handfeuerwaffe mit
einer vergleichbaren Zuverlässigkeit hergestellt worden.« Er hob
die Augenbrauen. »Sie können damit jemandem auf anderthalb
Kilometer das Auge ausschießen, wenn Ihre Hand ruhig genug
ist.«
»So anspruchsvoll bin ich gar nicht.«
»Das sollten Sie aber sein … Wer weiß, gegen wen man sich noch
alles verteidigen muss! Die Regierung ist wie eine Krake. Eines
Tages kriegt die jeden. Sie werden es auch noch sehen. Und am Ende
sind Sie auf sich allein gestellt, wenn diese Arschlöcher Sie mit
allen Tricks fertig zu machen versuchen.«
Zusammen gingen sie die fast fünfhundert Schritte, die
zwischen ihrem Standort und dem Ziel lagen. Sie erreichten einen
Baum mit stark überhängenden Ästen. Ein Seilstück hing von einem
dieser Äste herab.
Die Melone, die Cachot damit befestigt hatte, war durch den
Schuss auseinandergeplatzt. Irgendwo lag ein Computerausdruck, der
ein Foto vom Gesicht des Präsidenten der Republik zeigte. Ein
anderes zeigte den Premierminister und Minister aus der
Regierung.
»Sie haben einen eigenartigen Humor, Monsieur Cachot.«
»Wieso Humor?«
»Na ja, ich meine, dass Sie die Melonen, auf die Sie schießen,
mit Fotos bekannter Leute bekleben. Präsident, Premierminister,
Minister und so – Sie wissen schon, was ich meine … Tut mir leid,
das finde ich schräg.«
»Ich finde es schräg, wie diese Bande von Parasiten unser Land
ausbeutet und sich von all denen einlullen lässt, die das
natürliche Recht auf Waffenbesitz unterdrücken! Aber ich sage
immer, wenn ich meine Waffe nicht in der Öffentlichkeit tragen
darf, ist das bereits der erste Schritt in die Diktatur.«
Cachot bückte sich, hob den Fetzen auf, der von dem Foto des
Premiers übrig geblieben war. Sein Gesicht bekam für einen kurzen
Moment einen zufriedenen Ausdruck, als er sah, dass der Schuss mit
dem Spezialgewehr genau zwischen die Augen gegangen war.
So, wie es sein sollte, ging es Cachot durch den Kopf.
»Ich nehme die Waffe«, sagte der andere Mann. »Haben Sie auch
Munition dafür?«
»Ja, habe ich. Die Waffe ist übrigens so konstruiert, dass Sie
auch problemlos Standardmunition verwenden können. Und so, wie es
aussieht, werden Sie das auch bald müssen, denn ich kann Ihnen bei
den Spezialprojektilen nicht garantieren, dass Sie die noch lange
nachbestellen können. Mein Vorrat geht nämlich zur Neige – und ein
paar bewahre ich für meine eigenen Zwecke auf. Ich will schließlich
vorbereitet sein, wenn es soweit ist und alles
zusammenbricht.«
Der Mann mit der Träne unter dem Auge runzelte die Stirn.
»Die kleinen Modifikationen, die wir besprochen haben – bis
wann können Sie die durchführen?«
»Ist alles in ein paar Tagen fertig.«
»Dann komme ich am Dienstag zu Ihnen raus auf den Hof.«
»Nein, nicht Dienstag. Dienstag bin ich in Marseille. Kommen
Sie Sonntagabend oder erst Donnerstag! Und bringen Sie den Betrag
in bar mit. Ich misstraue der Regierung und dem Bankensystem. Die
überwachen doch, wo jeder Cent bleibt, und am Ende drehen sie einem
einen juristischen Strick daraus, wenn sie es brauchen und einen
aus dem Weg räumen wollen. Da kann ich Ihnen Stories erzählen … Da
fallen Sie vom Glauben ab, sag ich Ihnen.«
2
Es war ein Dienstag.
Ein Dienstag, der schon schlecht begann, denn als ich meinen
Kollegen François Leroc morgens an der bekannten Ecke abholte, um
mit ihm zum Polizeipräsidium zu fahren, fuhr uns der unvorsichtige
Fahrer eines alten Ford hinten drauf. Der Schaden an meinem
Sportwagen hielt sich zum Glück in Grenzen. Etwas eingedrücktes
Blech, das war alles. Es hätte schlimmer kommen können.
Da der Unfall erst abgewickelt werden musste und wir
anschließend in der Fahrbereitschaft sicherstellen mussten, dass
die Reparatur durchgeführt wurde, erreichten wir das Büro unseres
Chefs mit leichter Verspätung.
Monsieur Jean-Claude Marteau, Commissaire général de police,
Chef unserer Abteilung, stand am Fenster und hatte dabei die Hände
in den tiefen Taschen einer Flanellhose vergraben. Die Hemdsärmel
waren hochgekrempelt, die Krawatte gelockert.
»Ich weiß, dass wir etwas spät dran sind, Chef«, begann
ich.
Aber Monsieur Marteau ging darauf gar nicht weiter ein.
»Es hat eine Leiche im Parc de Maison Blanche gegeben«,
eröffnete er. »Rainier Lavalle, zweiundfünfzig Jahre alt, Anwalt.
Lavalle hat bis vor Kurzem bei der Staatsanwaltschaft gearbeitet
und war dort Spezialist für Fälle, die mit Geldwäsche und
organisiertem Verbrechen zu tun hatten. Es wäre also nicht
unwahrscheinlich, wenn es da einen Zusammenhang gibt.« Monsieur
Marteau sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. »Der Anruf von den
Kollegen kam vor zehn Minuten. Die Untersuchung am Tatort dürfte
gerade angelaufen sein.«
»Dann werden wir uns am besten sofort auf den Weg machen«,
sagte ich.
»Lassen Sie keine Zweifel daran, dass wir die Ermittlungen
übernehmen, Pierre«, ermahnte mich Monsieur Marteau. »Die
Informationen sind zwar noch recht spärlich, aber eigentlich
besteht für mich kein Zweifel, dass die Sache in unseren
Zuständigkeitsbereich fällt.«
»In Ordnung, Chef.«
Es klopfte. Melanie, die Sekretärin unseres Chefs brachte ein
Tablett mit dampfenden Kaffeebechern herein.
»Sie gehen schon wieder?«, fragte sie, als François und ich
uns in Richtung Tür bewegten.
Monsieur Marteau deutete auf die drei dampfenden Becher, die
Melanie inzwischen auf den Tisch des Besprechungszimmers gestellt
hatte.
»Pierre und François haben dafür leider keine Zeit mehr, aber
lassen Sie sie ruhig hier. Ich trinke alle drei.«
»Wie Sie meinen, Monsieur Marteau«, sagte Melanie.
Da mein Wagen repariert werden musste, nahmen François und ich
ein Fahrzeug aus den Beständen unserer Fahrbereitschaft. Es
handelte sich um einen unauffälligen Ford.
Leider verfügte der nicht über einen Bordrechner mit
TFT-Bildschirm, wie er in den Sportwagen eingebaut war.
»Der Name Lavalle kommt mir bekannt vor«, sagte François und
ging dabei mit seinem Smartphone ins Netz, um zumindest die
wichtigsten, öffentlich zugänglichen Informationen suchen zu
können.
»Hat sich selbstständig gemacht, als der neue Staatsanwalt ihm
erklärt hat, dass seine Karriere nicht weiter nach oben gehen
wird.«
»Woher weißt du das denn, Pierre?«
»Habe ich von Derek Bajere gehört. Und der hat es von Lavalle
selbst.«
Derek Bajere war einer unserer Verhörspezialisten im
Innendienst. Und die hatten naturgemäß viel mit Anwälten und
Staatsanwälten zu tun, denn bei einer großen Zahl von Vernehmungen
bestand entweder eine oder beide Seiten auf einer Anwesenheit. Und
natürlich fiel da auch schon einmal das eine oder andere private
Wort.
»Ein Anwalt, der die Seiten wechselt«, meinte François. »Erst
jagt er Geldwäscher, und zuletzt verteidigte er wahrscheinlich
genau solche Typen, die er zuvor gejagt hat. Muss auch eigenartig
sein.«
»Anwalt und Staatsanwalt dienen beide dem Recht«, sagte
ich.
»Kann ja sein. Muss aber trotzdem eigenartig sein, plötzlich
auf der anderen Seite zu stehen. Wäre interessant zu erfahren,
wieso er sich mit seinen beiden Vorgesetzten überworfen hat.«
»Jedenfalls finanziell gesehen dürfte der Ausstieg kein
Nachteil für Lavalle gewesen sein«, vermutete ich. »Ich nehme an,
dass er mit seinem Spezialwissen bei allen Gangstern Marseilles,
die ein paar schmutzige Koffer mit Euros weiß zu waschen hatten und
dabei erwischt wurden, gerne und zu lukrativen Honoraren engagiert
wurde.«
»Willst du ihm daraus einen Vorwurf machen?«, fragte François.
»Das war nun mal sein Spezialgebiet. Als Anwalt konnte er ja wohl
schlecht als Verteidiger von Verkehrssündern anfangen.«
Wir erreichten schließlich den Parc de Maison Blanche in
Sainte-Marguerite. Vom Park aus hat man eine gute Aussicht auf das
Rathaus.
An diesem Dienstag war es zwar kalt, aber es schien die Sonne.
Wir stellten den Ford aus unserer Fahrbereitschaft auf einem der
Parkplätze ab und stiegen aus.
Einige Einsatzfahrzeuge der Polizei waren hier ebenfalls
bereits zu finden. Ein Beamter notierte die Nummernschilder der
anderen parkenden Fahrzeuge. Eine vorsorgliche Maßnahme. Jeder, der
hier seinen Wagen abgestellt hatte, war möglicherweise auch ein
wichtiger Zeuge.
Wir zeigten unsere Dienstausweise. Der Polizist sah auf.
»Commissaire Grassner erwartet Sie schon«, erklärte er.
»Guillaume Grassner vom sechzehnten Revier?«, fragte ich. Ich
kannte Grassner nämlich von einem gemeinsamen Sicherheitstraining
im Umgang mit Handfeuerwaffen, zu dem nach und nach sämtliche
Polizeieinheiten Marseilles geschickt worden waren, nachdem ein
psychisch kranker Mehrfachmörder auf dem Weg zum Gericht trotz
Handschellen und Fußfesseln einem Beamten die Waffe abgenommen und
damit ein Blutbad angerichtet hatte. Guillaume und ich hatten uns
gut verstanden. Ich hatte nichts dagegen, mit ihm
zusammenzuarbeiten.
Der Polizist beschrieb uns knapp den Weg zum Tatort, und wir
machten uns auf den Weg. Aber die Beschreibung des Kollegen hätten
wir strenggenommen gar nicht gebraucht.
Auch auf den Rasenflächen des Parks standen mehrere
Einsatzfahrzeuge – sowohl von der Polizei, als auch von der
Notfallambulanz sowie vom Erkennungsdienst.
Der Bereich um den Tatort war mit Flatterband abgegrenzt.
Schaulustige standen außerhalb davon und sahen zu, wie ein halbes
Dutzend Beamten der Polizei die Grasfläche nach irgendetwas
absuchten.
Der Tote war bereits in einen Zinksarg gelegt worden.
Ich bemerkte Dr. Bernard Neuville, einen Gerichtsmediziner des
Erkennungsdienstes. Er winkte uns kurz zu. Jetzt bemerkte uns auch
Commissaire Grassner, der uns bis dahin den Rücken zugewandt
hatte.
Wir stiegen über das Flatterband und gingen zu ihnen hin.
Unsere Dienstausweise trugen wir gut sichtbar, damit die Beamten
Bescheid wussten, dass wir dazugehörten.
»Hallo Pierre! Hallo François!«, begrüßte uns Dr. Neuville.
»Ich habe das Wesentliche gerade schon mit Commissaire Grassner
besprochen. Aber für euch auch noch mal das Wesentliche: Letale
Schussverletzung. Die Kugel drang fast genau dort, wo sich die
Nasenwurzel befindet, in den Schädel ein. Kaliber kann ich euch
erst sagen, wenn ich mit der Obduktion fertig bin.«
»Die Kugel ist nicht ausgetreten?«, fragte ich.
»Nein, sie ist noch im Schädel.«
»Spezialmunition«, meldete sich Guillaume Grassner zu Wort.
»Muss so was Ähnliches sein, was wir auch benutzen. Grüß dich,
Pierre.«
Ich wusste natürlich, was Guillaume meinte. Moderne Waffen
haben oft eine enorme Durchschlagskraft. Ein einziger Schuss kann
unter Umständen nacheinander mehrere Körper durchschlagen. Gerade
bei Polizeieinsätzen zur Geiselbefreiung und ähnlichem würde ein
Schusswaffeneinsatz zwangsläufig Unbeteiligte in Mitleidenschaft
ziehen, wenn man nicht die richtige Munition benutzte.
»Unser Täter scheint ja richtig rücksichtsvoll zu sein«, sagte
François stirnrunzelnd.
Guillaume deutete in Richtung einer Baumgruppe, die sich
ungefähr zweihundert Meter entfernt befand.
»Aus Davides Richtung wurde geschossen«, erklärte Guillaume
Grassner.
»Davide?«, echote ich.
Tatsächlich entdeckte ich unseren Chefballistiker David
Hollande. Er kauerte in einiger Entfernung am Boden und führte
gerade eine Laserpeilung durch, um den Einschusswinkel näher zu
bestimmen, und hatte uns noch nicht bemerkt. Er stand anschließend
auf und ging auf die Baumgruppe zu.
»Euer Kollege meint, dass der Schuss ungefähr von der
Baumgruppe aus abgegeben worden sein muss«, berichtete
Wilhelm.
»Auf zweihundert Meter?«, staunte ich.
»Ein guter Schütze«, kommentierte François.
»Einem Scharfschützen mit einem sehr guten Gewehr und einer
hervorragenden Zieloptik«, stellte Grassner klar. »Die Bäume dort
sind im Übrigen auch die einzige Möglichkeit für den Täter gewesen,
Deckung zu finden. Euer Kollege meinte allerdings, dass er da noch
etwas überprüfen will. Ihr fragt ihn am Besten gleich selbst
danach.«
Das Gebiet um die Baumgruppe war ebenfalls mit Flatterband
abgegrenzt worden. Mehrere Kollegen des Erkennungsdienstes
stöberten dort herum, das Gesicht dabei stets aufmerksam auf den
Boden gerichtet. Es war ja schließlich möglich, dass der Täter dort
irgendetwas hinterlassen hatte.
»Ihr braucht mich dann ja hier nicht mehr«, meinte Dr.
Neuville. Er wandte sich an mich. »Der Tote kommt jetzt zu uns in
die Pathologie. Wenn sich dabei nichts Außergewöhnliches ergibt,
dann habt ihr das vorläufige Ergebnis noch heute Mittag. Ich
schlage vor, dass das Projektil dann gleich in die Labore des
Erkennungsdienstes geht, oder besteht ihr darauf, es bei euch zu
untersuchen?«
»Nein, nein«, wehrte ich ab. »Wir wollen das Ergebnis so
schnell wie möglich.«
»Gut«, nickte Dr. Bernard Neuville. »Wir hören dann
voneinander.«
Bevor der Tote fortgebracht wurde, hatte ich noch kurz
Gelegenheit, einen Blick auf ihn zu werfen. Sein Blick war starr.
Das Einschussloch war ziemlich klein – aber das erstaunt nur
diejenigen, die zu viele Action-Filme gesehen haben. Das
Einschussloch ist meistens klein, die großen Wunden entstehen bei
Austritt des Projektils. Und das war in diesem Fall im Körper
geblieben und steckte jetzt vermutlich in der hinteren Schädelwand
oder vielleicht auch in den Halswirbeln. Er trug einen grauen
Dreiteiler, darüber einen ebenfalls grauen Mantel. Die Schusswunde
hatte offenbar nicht stark geblutet. Das weiße Hemd und die sehr
gediegen wirkende Krawatte mit dem Anker darauf hatten kaum Blut
abbekommen. Nur ein paar Spritzer, die so klein waren, dass man
genau hinsehen musste.
Aber es gab einen roten Fleck in Bauchhöhe, der irgendwie gar
nicht dazu passte. Ich fragte Guillaume Grassner danach.
»Monsieur Lavalle aß ein Sandwich, als er erschossen
wurde.«
»Verstehe«, murmelte ich.
»Aber ich verstehe nicht, wieso jemand so früh am Morgen sich
in den Parc begibt und dort ein Sandwich isst!«
»Die gibt es hier in der Nähe«, erklärte Grassner. »Was soll
es da für eine Erklärung geben? Ich nehme an, Monsieur Lavalle
hatte einfach Hunger und zu Hause nichts gefrühstückt.«
»Trotzdem eigenartig«, meinte François. »Zur Tatzeit dürften
vor allem Jogger hier im Park gewesen sein. Und Leute, die ihre
Hunde ausführen.«
»Vergesst die Angler nicht!«, meinte Grassner.
»Meinetwegen. Und Lavalle kommt hier in Schlips und Anzug hin,
um ein Sandwich zu essen?«
»Die Kollegen haben einige Zeugenaussagen aufgenommen.
Vielleicht ist etwas dabei, was man verwerten kann, Pierre.«
»Sag mal – noch was anderes, Wilhelm.«
»Schieß los!«
»Hatte ich das falsch in Erinnerung, oder seit wann bist du
bei der Mordkommission? Ich dachte, du wärst auf eurem Revier bei
der Einheit, die sich mit organisiertem Verbrechen beschäftigt?«
»Bin ich auch immer noch, Pierre. Wenn jemand einen Mann mit
Lavalles Vergangenheit erschießt, dann riecht das doch nach
organisiertem Verbrechen. Und ich denke, deswegen seid ihr auch
hier.«
»Stimmt«, musste ich zugeben, während der Tote weggetragen
wurde.
»So wie es aussieht, werdet ihr ja nun den Fall an euch
ziehen, aber wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätten wir das
getan. Und ich gehe jede Wette ein, dass das kein gewöhnlicher
Mordfall mit persönlichem Hintergrund ist.«
»Lavalle hat sich hier mit jemandem getroffen«, vermutete
François. »Und zwar unter quasi konspirativen Umständen. Dabei
bekommt er eine Kugel in den Kopf.«
»Noch ist das eine Vermutung«, gab Grassner zu bedenken. »Aber
genau so könnte es gewesen sein.«
Etwas später wurden wir zu der Baumgruppe gerufen, von der aus
offenbar geschossen worden war.
»Wir haben die exakte Position, von der aus geschossen wurde«,
erklärte David Hollande. »Um eine Patronenhülse zu hinterlassen,
war der Täter zu clever, aber wir haben einen Fußabdruck, der ihm
vielleicht gehört. Größe zweiundvierzig.« Davide seufzte. »Ja, ich
weiß, das könnte nahezu jeder sein, aber es ist ein Anfang.« Unser
Kollege zeigte uns dann die Stelle, von der seinen Messungen nach
geschossen worden war. Der Täter hatte einfach direkt neben einem
Baum gestanden. Ein paar Sträucher hatten ihn zusätzlich verborgen.
In aller Ruhe hatte er dort offenbar auf sein Opfer gewartet. »Der
Killer hat die perfekte Position gewählt«, stellte Davide
klar.
»Sieht alles nach einem Profi aus«, war François
überzeugt.
»Womit es wohl immer eindeutiger wird, dass der Fall in unsere
Zuständigkeit fällt«, meinte ich und wandte mich an Grassner. »Tut
mir leid, Guillaume.«
»Kein Problem. Es ist nicht so, dass wir sonst nichts zu tun
und etwas dagegen hätten.«
3
Später suchten wir die Kanzlei auf, die Lavalle nach seinem
Ausscheiden aus dem Dienst bei der Staatsanwaltschaft gegründet
hatte. Lavalle & Partner stand an der Tür. Das Wort Partner
stand in der Einzahl da. Wer damit gemeint war, sollten wir wenig
später erfahren.
Eine Sekretärin brachte uns in das Büro von Linda Detreque.
Zumindest war das der Name, der an der Tür stand.
»Pierre Marquanteur, FoPoCri«, stellte ich mich vor und hielt
ihr meinen Dienstausweis entgegen. Ich deutete auf François. »Dies
ist mein Kollege Leroc. Sind Sie Linda Detreque, die Partnerin von
Monsieur Lavalle?«
»Ja, das bin ich«, nickte sie. »Was kann ich für Sie
tun?«
Sie war schätzungsweise Anfang dreißig, hatte brünettes,
adrett frisiertes Haar, und trug ein knapp sitzendes
Business-Kostüm. Um Partnerin einer Kanzlei zu sein, war sie
entschieden zu jung. Aber offenbar hatte sich für sie bei Lavalle
eine einmalige Karrierechance ergeben. Vielleicht war sie auch
einfach nur sehr gut in ihrem Job.
»Wir müssen Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen«,
eröffnete ich. »Monsieur Rainier Lavalle ist heute Morgen ermordet
worden.«
Ihr Gesicht veränderte sich. Sie schien ehrlich betroffen und
überrascht zu sein, ehe sie wieder ihren geschäftsmäßigen,
freundlichen und angesichts dieser Nachricht sehr gefassten
Gesichtsausdruck aufsetzte.
»Lassen Sie uns bitte allein!«, wandte sie sich an die
Sekretärin, der in diesem Moment sämtliche Gesichtszüge entglitten
und die fluchtartig den Raum verließ. Linda Detreque bot uns einen
Platz an. Wir setzten uns.
»Was ist genau passiert?«, fragte Linda Detreque, nachdem sie
sich gefasst hatte.
»Das versuchen wir herauszufinden«, sagte ich.
»Monsieur Lavalle wurde heute früh im Parc de Maison Blanche
erschossen«, erläuterte François. »Wir nehmen an, dass der Täter
ein professioneller Killer war und es Zusammenhänge zum
organisierten Verbrechen gibt und der Mord entweder etwas mit
seiner ehemaligen Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft oder mit
seinen gegenwärtigen Mandanten zu tun hat. Offenbar hat er sich im
Park mit jemandem getroffen, leider wissen wir nicht, mit
wem.«
»Da werde ich Ihnen leider nicht weiterhelfen können«, sagte
Linda Detreque. »Erstens werde ich ganz sicher nicht ohne einen
richterlichen Beschluss über Mandanten, Termine und Ähnliches
aussagen. Sie wissen, dass das Gesetz da auf meiner Seite ist. Und
wenn Sie nicht stichhaltig begründen können, wieso diese Auskünfte
für Ihre Ermittlungen unerlässlich sind, dann wird kein Richter in
Marseille …«
»Hören Sie, ich wollte eigentlich nicht von Ihnen juristisch
belehrt werden, sondern ich brauche Ihre Hilfe, um einen Mord
aufzuklären«, unterbrach ich sie. »Und eigentlich hatte ich
gedacht, dass das auch Ihr Interesse ist.«
»Selbstverständlich, Monsieur Marquanteur.«
»Dann schlage ich vor, dass Sie uns einfach alles mitteilen,
was irgendwie mit Monsieur Lavalles Tod in Zusammenhang stehen
könnte. Es geht uns nicht darum, Sie dazu zu bringen, das Vertrauen
Ihrer Mandanten aufs Spiel zu setzen.«
»Es freut mich, dass Sie diesen Punkt immerhin anerkennen,
Monsieur Marquanteur«, sagte Linda Detreque kühl. »Genau darum geht
es nämlich.«
»Berührt Sie eigentlich der Tod von Monsieur Lavalle?«
Sie hob die Augenbrauen. Meine Frage schien sie ziemlich
überrascht zu haben. Für einen Moment gab sie die glatte,
kontrollierte Fassade mit dem geschäftsmäßigen Lächeln wieder auf.
Sie schluckte.