Commissaire Marquanteur
und die Mafia von Marseille: Frankreich Krimi
von Alfred Bekker
Maßgebliche Leute aus zwei verfeindeten Mafia-Clans in
Marseille werden erschossen, der Täter hinterlässt ein eindeutiges
Zeichen, aber keine Spuren. Er scheint von Hass getrieben.
Commissaire Marquanteur und sein Kollege Leroc tappen im Dunkeln,
während die Mordserie weitergeht. Aber auch die Kriminellen beider
Organisationen suchen den Mörder.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick,
Jack Raymond, Jonas Herlin, Dave Branford, Chris Heller, Henry
Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
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Alles rund um Belletristik!
1
»Hey, sollen wir noch in die Geisterbahn gehen – oder ist das
für den großen Grand Timéo Spano unter seiner Würde?«
Spano – ein kleiner, drahtiger Mann um die vierzig mit
schwarzem, nach hinten gekämmtem Haar und hervorspringendem Kinn
grinste schief. »Willst du mich auf den Arm nehmen, oder was soll
das jetzt?«
Die großbusige Blondine an Spanos Seite überragte Grand Timéo
um einen halben Kopf.
Fünf breitschultrige Männer in dunklen Anzügen sicherten Grand
Timéo Spano von allen Seiten ab. Unter den Jacketts der Bodyguards
drückten sich ihre Waffen ab.
»Hey, was ist, Timéo?«, fragte die Blonde jetzt und stemmte
die Arme in die provozierend geschwungenen Hüften. »Ich habe das
ernst gemeint mit der Geisterbahn!« Sie streckte den Arm aus und
deutete auf eine aufblinkende Neonschrift. »Very Loud Screams From
Hell«, stand dort. Aus der Außenwand ragten in unregelmäßigen
Abständen Knochenhände, die nach den Passanten zu greifen schienen
und gerade eine Gruppe von Teenagern zum Kreischen brachte. Timéo
Spano verzog genervt das Gesicht und verdrehte die Augen.
»Janine, das ist doch Kinderkram«, beschwerte er sich.
»Ach, Timéo!«
»Ja, stimmt doch!«
Insgeheim wusste Spano bereits, dass er verloren hatte. Er
konnte Janine einfach nichts abschlagen – selbst wenn das
bedeutete, dass sein Image als knochenharter Capitano im Syndikat
der Malatesta-Familie, die zur kalabrischen ’Ndrangheta gehörte,
etwas litt, wenn sich herumsprach, dass er sich in einer
Geisterbahn vergnügte.
Janine lachte ihn herausfordernd an. Ihre Stimme klang dunkel
und verführerisch.
»Hör mal, Timéo, wir sind hier im Parc d'Attractions de
Marseille – da kennt dich keine Sau!«
Timéo Spanos Blick wurde durch ihr tiefes Dekolleté abgelenkt,
und er dachte unwillkürlich: Sie hat eben andere Vorzüge als eine
kultivierte Ausdrucksweise. Damit gehörte sie zwar nicht gerade zu
der Art von Frau, mit der er vor seinem Onkel Stephano Malatesta,
dem gegenwärtigen Chef der Familiengeschäfte, hätte Eindruck machen
können, aber solange sich Timéo Spano nur mit Janine vergnügte und
weder beabsichtigte, sie zu offiziellen Familienfeierlichkeiten
mitzubringen, noch sie zu heiraten, war das selbst für den
Clan-Patriarchen in Ordnung.
»Timéo … Bitte!«
In ihren Augen blitzte es. »Wenn du mich allein in die
Geisterbahn steigen lässt, erzähle ich allen, dass Grand Timéo
Spano Angst vor Gespenstern hat.«
Spano verzog das Gesicht.
»Mach mich nicht wütend, Baby!«, knurrte er. Aber schon die
Art und Weise, in der er das sagte, verriet, dass er es wohl kaum
noch schaffen würde, richtig wütend zu werden. »Du weißt, wie
zornig ich werden kann«, meinte er und gab sich Mühe, die
Mundwinkel weit genug unten zu halten.
»Du weißt, dass ich es mag, wenn du wütend wirst, Timéo«, gab
Janine lachend zurück. Ihre makellosen Zähne blitzten dabei auf.
Das Haar fiel ihr weit über die Schultern. Mit einer
unnachahmlichen Geste strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht.
Schon allein für die Art, wie sie das tat, mochte Timéo Spano
sie.
»Du hast das noch nie erlebt, Schätzchen …«
»Ach nein?«
»Nein!«
Timéo Spanos Gesichtsausdruck veränderte sich in diesem
Augenblick schlagartig.
Seine Züge erstarrten. Die Augen wurde unnatürlich groß und
traten aus ihren Höhlen hervor. Eine Maske des gefrorenen
Entsetzens entstand innerhalb eines Sekundenbruchteils. Er hob die
Hand wie in einer instinktiven Abwehrbewegung.
Mitten auf seiner Stirn bildete sich ein kleiner roter Punkt,
der rasch größer wurde. Janine ließ seinen Arm los und stieß einen
Entsetzensschrei aus.
Timéo Spano schwankte noch einen Moment, eher er der Länge
nach wie gefällter Baum zu Boden fiel und regungslos liegen blieb.
Mit einem dumpfen Laut prallte sein lebloser Körper auf den Asphalt
und blieb in unnatürlich verrenkter Haltung liegen.
Die Leibwächter bemerkten erst mit einer Verzögerung von ein
bis zwei Sekunden, was geschehen war. Sie rissen ihre Waffen
heraus, duckten sich und stierten suchend in der Gegend herum. Zwei
von ihnen beugten sich schützend über ihren am Boden liegenden
Boss.
»Scheiße, Mann!«, rief der Größere von ihnen, der in geduckter
Haltung neben dem reglos daliegenden Mann kauerte.
Er konnte gerade noch Spanos Tod feststellen, bevor es ihn
selbst erwischte.
Ein Treffer in den Oberkörper ließ ihn über seinem Boss in
sich zusammensacken. Die Kugel ging durch seinen Körper hindurch
und riss ein blutiges Loch an der Stelle, an der sie austrat. Der
Kleinere der beiden Leibwächter bekam einen Kopftreffer, der ihn
augenblicklich tötete.
Ein Angriff aus dem Nichts – ohne auch nur den Hauch einer
Abwehrchance.
Janine stand für ein paar Sekunden wie angewurzelt und mit
offenem Mund da. Sie wirkte völlig erstarrt und wagte kaum zu
atmen. Der Schock stand ihr überdeutlich ins Gesicht
geschrieben.
Innerhalb weniger Augenblicke sanken auch die anderen
Leibwächter getroffen nieder. Noch ehe sie so richtig begriffen
hatten, aus welcher Richtung eigentlich auf sie gefeuert wurde,
ging ein Ruck durch ihre Körper – wie bei Marionetten, die an ihren
Fäden aus dem Spiel genommen wurden. Ihre Körper klatschten
anschließend leblos auf den Boden. Aus keiner ihrer Waffen war auch
nur ein einziger Schuss abgegeben worden, um diesen Angriff
abzuwehren.
Eine vollkommen lautlose Attacke.
Kein Schussgeräusch war zu hören. Passanten blieben stehen,
realisierten erst mit einer Verzögerung von mehreren Augenblicken,
was geschehen war, und stoben dann in Panik auseinander. Schreie
gellten mit einer Verzögerung von weiteren Sekunden und pflanzten
sich in der Menge fort wie in einem Dominoeffekt.
Nur Augenblicke später schwoll dieses Schreien zu einem so
ohrenbetäubenden Lärm an, dass selbst die stampfende Musik aus den
Lautsprechern der Fahrgeschäfte darin unterging.
2
»Da ist es!«, sagte François und streckte die Hand aus.
Wir hatten uns sehr beeilt.
Es war später Nachmittag, als François und ich den
Vergnügungspark “Parc d’Attractions de Marseille” erreichten. Er
befindet sich in der Nähe des Parc de Ville. Der Parc d'Attractions
wurde mal als Disneyland für Arme von den lokalen Medien
verspottet. Doch da hatte man sich geirrt. Auch von außerhalb kamen
viele hierher, um sich in den verschiedenen Karussells wie
Riesenräder und Achterbahnen zu vergnügen und von Bude zu Bude
schlendern, die für jeden Geschmack, ob Süßes oder Herzhaftes,
etwas zu bieten hatten.
Mein Kollege François Leroc und ich mussten den Sportwagen,
den uns die Fahrbereitschaft der FoPoCri zur Verfügung stellte, in
einer Seitenstraße abstellen und die letzten fünf Minuten zum
Tatort zu Fuß gehen. Es herrschte ein unbeschreibliches Chaos.
Sämtliche Zuwege des Parkgeländes waren hoffnungslos
verstopft.
»Die letzten Meter sind mal wieder die Schlimmsten«, meinte
ich.
»Da heißt es sich durchzukämpfen, Pierre!«, gab mein Kollege
François Leroc zurück.
Kollegen der Marseiller Polizei versuchten, das Durcheinander
aus in Panik geratenen Passanten, die das Gelände so schnell wie
möglich verlassen wollten, und den Einsatzfahrzeugen der Polizei
und der Notfallambulanz so gut es ging zu koordinieren.
Worum es auf dem Vergnügungspark im Groben ging, darüber hatte
man uns bereits informiert.
Timéo Spano, ein Unterboss des Malatesta-Syndikats, einer
Untergruppe der ‘Ndrangheta, war mit fast einem halben Dutzend
Leibwächtern ermordet worden, und wir hatten Grund zu der Annahme,
dass dies Teil einer größeren Auseinandersetzung zwischen
verschiedenen Gruppen des organisierten Verbrechens war.
Geldwäsche, Drogen und Waffen – das waren Gebiete, auf denen sich
die Malatesta-Familie unseren Erkenntnissen nach geschäftlich
betätigte. Und das mit großem Erfolg, denn Malatesta hatte sich in
der Hierarchie der Marseiller Unterwelt schnell nach oben geboxt.
Aber die Konkurrenz schlief nicht.
Insgesamt drei weitere Unterbosse des Malatesta-Syndikats
waren innerhalb der letzten Monate umgebracht worden. Da konnte
wirklich niemand mehr an einen Zufall glauben, zumal in allen drei
Fällen dieselbe Waffe benutzt worden war.
Es sah ganz so aus, als wäre Timéo Spano die Nummer vier auf
der Liste dieses unbekannten Killers, der in der Marseiller
Unterwelt aufräumte.
Fragte sich nur, für wen er das tat. Das Ganze war vermutlich
als Teil einer sehr viel umfassenderen Auseinandersetzung
unterschiedlicher Syndikate aufzufassen, die sich kompromisslos und
bis aufs Blut bekämpften, um die Konkurrenz aus dem Feld zu
schlagen.
Die Kollegen hatten den eigentlichen Tatort weiträumig
abgesperrt. François und ich wurden gestoppt. Ich zog meinen
Ausweis und hielt sie dem Kollegen entgegen.
»Pierre Marquanteur, FoPoCri«, stellte ich mich vor. »Dies ist
mein Kollege François Leroc. Commissaire Ralph Dornier von dem hier
zuständigen Revier hat uns angefordert.«
»Schön, dass Sie da sind. Sie werden schon sehnsüchtig
erwartet«, sagte der Polizist.
»Wir haben es leider nicht früher geschafft.«
»Kann ich mir denken. Um diese Zeit ist auf den Straßen der
Teufel los, wenn man aus Richtung Marseille-Innenstadt unterwegs
ist.«
»Das kann man wohl laut sagen!«
Der Beamte deutete mit dem Arm und sagte: »Gehen Sie an dem
Imbiss-Stand links bis zur Geisterbahn. Da ist es passiert.«
Ich nickte. »Danke.«
Wenig später hatten wir den eigentlichen Tatort erreicht.
Außer den uniformierten Kollegen war dort noch etwa ein Dutzend
Beamte anwesend. Dazu kamen noch die Ermittler der Mordkommission,
dem zentralen Erkennungsdienst aller Marseiller Polizeieinheiten,
dessen Hilfe auch das FoPoCri häufig in Anspruch nahm.
Zwei dunkle Vans des Gerichtsmediziners hatten es irgendwie
geschafft, bis hierher zu gelangen. Wahrscheinlich würde noch ein
dritter Wagen gerufen werden müssen, um alle Leichen
abtransportieren zu können.
Uns bot sich ein Bild des Grauens.
Die Toten waren zwar bereits in Leichensäcke eingepackt und
zum Transport in die Gerichtsmedizin fertig gemacht worden, aber
überall auf dem Asphalt ließen Spuren getrockneten Blutes erkennen,
dass hier etwas Furchtbares geschehen war. Kreidemarkierungen
zeigten uns, wo sie gelegen hatten.
Commissaire Dornier war ein rothaariger, etwas korpulenter
Mann. Ich kannte ihn flüchtig. Wir waren uns hin und wieder
begegnet, als er noch stellvertretender Leiter des zweiten
Mordkommissariats der Wache Neustadt gewesen war. Inzwischen war er
befördert worden und hatte das Mordkommissariat einer anderen Wache
als Chef übernommen, nachdem der vorherige Amtsinhaber Commissaire
Gervais bei einer Schießerei ums Leben gekommen war. Das war jetzt
ungefähr ein Dreivierteljahr her.
»Hallo Pierre!«, sagte er und begrüßte auch François. »Nachdem
wir die Identität eines der Opfers anhand seiner Papiere
festgestellt hatten, war uns gleich klar, dass das ein Fall für
euch ist.«
»So?«
»Schließlich gehört Spano doch zum Malatesta-Syndikat, und da
liegt ein Zusammenhang dieses Mordfalls mit dem organisierten
Verbrechen mehr als nahe.«
Ich nickte.
»Jemand scheint systematisch Stephano Malatestas Unterbosse
einen nach dem anderen ausschalten zu wollen«, stellte ich
fest.
Er nickte.
»Gangsterkrieg. Davon reden alle zur Zeit.«
»Ja – und wahrscheinlich sogar erst der Anfang«, mischte sich
François ein.
»Die Umstände der Tat sprechen für einen Profi-Killer«, meinte
Dornier. »Er muss von irgendeinem erhöhten Ort aus in rascher
Schussfolge punktgenau getroffen haben. Keiner der Leibwächter
konnte sich noch in Sicherheit bringen. Bis wir das Kaliber
herausgefunden haben, müsst ihr euch noch ein bisschen
gedulden.«
»Ich wette, das Ergebnis deckt sich mit den Fakten, die wir
aus den anderen Fällen dieser Serie kennen«, glaubte
François.
Dornier kratzte sich an den kurz geschorenen roten Haaren
seines Hinterkopfs.
»Ich nehme an, ihr habt da so etwas wie die Ouvertüre zu einem
ausgewachsenen Blutbad am Laufen.«
»Das einzige, was mich dabei wundert, ist, dass Malatestas
Reaktion bislang sehr ruhig ausgefallen ist«, gab mein Freund und
Kollege François Leroc zurück. »Jedenfalls ist uns von einer
vergleichbaren Todesrate unter den Mitgliedern der
Konkurrenz-Syndikate nichts bekannt.«
Dornier grinste schief.
»Malatesta mag darauf aus sein, sein Image als sauberer
Geschäftsmann zu pflegen und nicht mit diesem blutigen Sumpf in
Verbindung gebracht zu werden – aber irgendwann kommt der Punkt, an
dem er zurückschlagen muss, wenn er die Autorität in den eigenen
Reihen behalten will.«
»Von wo aus wurde geschossen?«, fragte ich. Einen Moment lang
wunderte ich mich darüber, wie gut Dornier über Malatesta Bescheid
wusste. Das meiste von dem, was bisher über Malatestas Organisation
bekannt war, konnte über das Datenverbundsystem SIS von allen
Polizeieinheiten abgerufen werden – also auch vom Chef eines
Kriminalkommissariats in Pointe-Rouge. Schließlich nützte eine noch
so gute Bekämpfung des organisierten Verbrechens nichts, wenn
diejenigen, die als Erste am Tatort waren, den Zusammenhang nicht
erkannten, den ein Tötungsdelikt zu bestimmten Bereichen der
organisierten Kriminalität hatte. Wiederholt hatten wir von der
FoPoCri wertvolle Zeit verloren, weil die Brisanz einer Tat vor Ort
nicht schnell genug erkannt worden war.
Dornier konnte man in dieser Hinsicht nun wirklich nicht das
Geringste vorwerfen. Er war mehr als wachsam gewesen und hatte sich
erstaunlich gut über die Hintergründe informiert.
Dornier streckte den Arm aus und deutete zu einem
zwölfstöckigen Gebäude hinüber, das unmittelbar an das Gelände des
Parks angrenzte und vor Kurzem fertiggestellt worden war, aber noch
nicht von den Firmen, die sich dort eingemietet hatten, genutzt
wurde.
»Wir nehmen an, dass aus diesem Gebäude da vorne geschossen
wurde. Jedenfalls muss es diese Richtung sein.«
Ich warf einen Blick hinüber und kniff die Augen
zusammen.
»Muss aber ein guter Schütze gewesen sein – aus der
Entfernung!«, stellte ich fest.
»Das sind schätzungsweise vierhundert Meter – falls von einer
der höheren Etagen aus gefeuert worden ist, sogar noch mehr«, gab
François zu bedenken.
»Falls der Kerl ein Scharfschützengewehr verwendet hat, ist
das eine ganz normale Distanz«, meinte Dornier. »Und der Killer
muss ein Scharfschütze gewesen sein. Die Schüsse folgten sehr
schnell aufeinander, das er nur sehr wenig Zeit hatte, um zu
zielen. Der Täter brauchte jeweils nur einen Schuss, um Spano und
seine Männer zu töten.«
»Das passt ins Muster«, stellte ich fest und wechselte dabei
einen Blick mit François.
Bei den vorangegangenen Morden an Mitgliedern des
Malatesta-Syndikats war immer dieselbe Waffe verwendet worden. Ein
Spezialgewehr vom Typ MK-32, das nur in relativ kleiner Stückzahl
hergestellt worden war. Die Spezial-Kommandos einiger Großstädte
setzten diese Waffe ein. Außerdem hatte man kurzzeitig erwogen, die
MK-23 für Scharfschützen in Spezialeinheiten von Armee und Marine
anzuschaffen. Böse Zungen behaupteten, dass dies an den besseren
Beziehungen der Konkurrenz zum Verteidigungsministerium gescheitert
war.
Jedenfalls ging ich jede Wette ein, dass auch dieser Mord mit
derselben MK-23 verübt wurde, mit der auch die vorherigen Morde an
Unterführern des Malatesta-Syndikats begangen worden waren.
Eine Bestätigung konnten wir dafür natürlich erst nach
Abschluss der ballistischen Untersuchungen erwarten.
»Timéo Spano befand sich übrigens in Begleitung einer jungen
Frau, wie mehrere Zeugen übereinstimmend ausgesagt haben«,
berichtete Dornier. »Blond und großbusig. Eine Art
fleischgewordener Männertraum. Wir haben ein Phantombild
angefertigt.« Dornier seufzte hörbar, bevor er fort fuhr. »Sie ist
verschwunden.«
»Mal sehen, wie schnell wir sie finden, wenn wir sie in die
Fahndung geben«, meinte ich.
Dorniers Handy klingelte in diesem Augenblick. Er sagte
mehrfach »Ja« und beendete das Gespräch schließlich wieder.
Anschließend wandte er sich François und mir zu.
»Das war Inspecteur Grassner. Er glaubt, den Standort des
Schützen gefunden zu haben.«
»Dann sehen wir uns das doch mal an«, schlug ich vor.
Dornier wies einen seiner Beamten an, ihn kurzzeitig zu
vertreten. Dann folgten wir ihm quer durch den Vergnügungspark und
erreichten schließlich das angrenzende Gelände, auf dem sich das
Gebäude befand. Das Gelände war noch mit einem mannshohen
Bretterverschlag abgegrenzt, der mit Plakaten überklebt war.
Darunter auch ein Hinweis, dass hier ein Bürohaus errichtet wurde,
dessen Mieten im Vergleich zu anderen Preisen in Marseille geradezu
astronomisch waren.
Die Kollegen der Polizei hatten den vernagelten Zugang zum
Gelände aufgebrochen. Hier wurde schon seit einiger Zeit nicht mehr
gearbeitet.
»Wusstet ihr, dass Timéo Spano sowohl an diesem
Vergnügungspark als auch an diesem Büroturm hier finanziell
beteiligt war?«, fragte Dornier fast beiläufig.
»Ralph, man könnte meinen, du wärst diesem Spano seit Jahren
auf der Spur«, meinte ich mit einer Mischung aus Anerkennung und
Verwunderung. »Du fährst nicht zufälligerweise Doppelschichten und
arbeitest nebenbei noch für die Drogenfahndung oder unsere
Dienststelle?«
Dornier grinste schief.
»Dies ist mein Bezirk, Pierre, vergiss das nicht!«
»Verstehe.«
»Und in meinem Revier weiß ich einfach gerne Bescheid. Das ist
nun mal so!«
»Ich wusste nicht, dass Spano so viel Kleingeld übrig hatte,
um sich Projekte dieser Größenordnung leisten zu können«, gestand
ich zu.
»Er wird als Strohmann für Malatesta tätig gewesen sein«,
glaubte Dornier. »Zumindest dieser eine Vergnügungspark kann
unmöglich derartige Gewinne abwerfen – das sieht doch ein Blinder,
Pierre. Da muss noch was anderes her.«
Etwas in der Art hatte ich mir schon gedacht.
»Also ein Geldwäsche-Projekt!«, schloss ich.
»Worauf du Gift nehmen kannst!« Er seufzte hörbar und fuhr
dann fort: »Ich habe es nicht gern gesehen, dass dieser Spano sich
hier breit gemacht hat und ich hatte gleich das Gefühl, dass es
Ärger geben würde …«
»Na, zumindest Spano selbst ist dazu jetzt nicht mehr in der
Lage«, warf François ein.
»Warten wir es ab«, knurrte Dornier. »Vielleicht ist ein toter
Spano sogar noch schlimmer als ein lebender.«
»Mal den Teufel nicht an die Wand!«, meinte François.
Ich konnte mir denken, worauf Dornier hinauswollte.
Schließlich war anzunehmen, dass Spanos Ermordung nur Teil einer
viel größeren Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen
Gangstergruppen war, die wohl ihre jeweiligen Einflusssphären und
Märkte neu unter sich aufteilten und dabei offenbar ihre
Meinungsverschiedenheiten hatten.
Dornier führte uns in den siebten Stock des Gebäudes. Ein paar
in weiße Schutzoveralls gekleidete Kollegen der Mordkommission
begegneten uns. Der Geruch von frischer Farbe hing in der Luft.
Feiner Staub bedeckte den Boden.
Einer der Kollegen der Spurensicherung kam auf uns zu. Er
hatte lockiges, dunkles Haar. Dornier schien ihn zu kennen und
redete ihn mit Eddy an.
»Wir haben einen sehr deutlichen Fußabdruck der Größe
dreiundvierzig«, berichtete Eddy. »Das Profil der sehr auffälligen
Sohle war sehr gut im Staub erhalten. Allerdings können wir nicht
ganz ausschließen, dass es sich nicht um Spuren des Killers sondern
eines Bauarbeiters handelt.«
»Tragen die nicht eigentlich Sicherheitsschuhe?«, wandte ich
ein.
Eddy nickte.
»Die Betonung liegt auf dem Wort eigentlich. Aber viel zu
viele halten sich nicht daran – vor allem Aushilfskräfte.«
»Hier wird seit ein paar Wochen nicht mehr gearbeitet«, wandte
Dornier ein.
»Weil bereits alle Türen und Fenster eingebaut sind, können
sich solche Staubspuren durchaus über mehrere Wochen hinweg
erhalten«, erwiderte Eddy. »Aber es gibt noch eine wichtigere Spur,
die Sie sich am besten selbst ansehen.«
Eddy führte uns über einen Korridor in einen großen, kahlen
Raum.
Eine etwa einen Meter breite Bahn aus Folie führte zur
Fensterfront, von der aus man den Vergnügungspark überblicken
konnte.
»Bleiben Sie bitte auf der Folie«, wies uns Eddy an. »Wir
haben zwar den gesamten Boden fotografiert und gründlich abgesucht,
aber es ist ja nicht ausgeschlossen, dass wir im Nachhinein doch
noch etwas finden, was von Interesse ist.«
Ich war der erste, der den Folienpfad beschritt. Etwa einen
halben Meter von der Fensterfront entfernt war ein Kreuz auf dem
Boden zu sehen. Es bestand aus sieben Patronenhülsen.
»Ich glaube, da will uns jemand etwas klar machen, Pierre«,
raunte mir François von der Seite her zu.
Es fragte sich nur, ob wir schon in der Lage waren, diese
Botschaft richtig zu deuten.
»Entweder der Kerl ist gläubig oder sehr zynisch«, murmelte
Ralph Dornier.
3
Zwei Stunden später waren wir zu Timéo Spanos letzter Adresse
unterwegs. Dazu mussten wir auf die andere Seite von Marseille. Ich
steuerte den Sportwagen gerade über die Brücke, die neben weiteren
Brücken und dem Tunnel eine der wichtigsten Verbindungen zwischen
den beiden Teilen Marseilles ist. Unter uns glitzerte das Band der
Autobahn im milchigen Licht des Spätnachmittags.
Timéo Spano hatte ein Penthouse im Boulevard Calcierge
bewohnt.
Das Haus, in dem die Wohnung lag, verfügte über eine eigene
Tiefgarage, so dass uns die ansonsten meistens ziemlich aufreibende
Parkplatzsuche erspart blieb.
Mit dem Aufzug fuhren wir hinauf, nachdem wir uns zunächst mit
dem privaten Security Service in Verbindung gesetzt hatten, der im
Haus für Sicherheit zu sorgen hatte.
In dem Korridor, der zu Spanos Wohnung führte, erwarteten uns
zwei schwarz gekleidete Security-Leute.
Wir zeigten unsere Ausweise.
Die beiden Männer trugen Namensschilder, wonach sie Zander und
Dexter hießen. An der Seite trugen sie Revolver vom Typ Tailleur
& Wesson Kaliber 38 Special, die auch uns von der FoPoCri lange
Zeit als Standardwaffe gedient hatte, ehe sie durch die
feuerstärkere automatische Pistole P 226 der Firma SIG Sauer
ersetzt worden war.
»Wir haben leider keine Möglichkeit, das elektronische Schloss
zu decodieren«, erklärte Dexter, der größere der beiden
Security-Leute.
»Ich dachte, das ist aus Feuerschutzgründen Vorschrift!«,
meinte François.
Dexter zuckte die Schultern.
»Dies ist eine ziemlich exquisite Adresse, und da rangieren
Mieterwünsche vor irgendwelchen Vorschriften. Tut mir leid, wir
werden die Tür aufbrechen müssen, was angesichts der ziemlich
aufwendigen Sicherheitstechnik, die hier installiert wurde, nicht
so ganz einfach werden dürfte.«
»Immerhin wissen wir, was installiert wurde«, ergänzte sein
Partner Zander.
Glücklicherweise hatten wir die Magnetkarte des Opfers bei
uns. Die Kollegen der Spurensicherung hatten sie aus Timéo Spanos
Jackettinnentasche geborgen und gründlich nach Fingerabdrücken
untersucht.
Ich nahm die Karte heraus und steckte sie in den dafür
vorgesehenen Schlitz.
Die Tür öffnete sich.
Wir traten ein, schritten durch einen Korridor in das
weiträumige Wohnzimmer, dessen Fensterfronten einem einen
fantastischen Panoramablick über den Parc de la Ville mit seinem
ausgedehnten Teich lieferten.
Ein Geräusch ließ uns zusammenzucken und zur Waffe greifen.
Innerhalb eines Augenaufschlags hatte ich die SIG in der
Faust.
Die Tür zum Nebenraum – wahrscheinlich dem Schlafzimmer –
stand halb offen.
Kein Laut war jetzt zu hören.
Ich bedeutete den beiden Männern von der Security, die ebenso
wie wir ihre Waffe gezogen hatten, ein Stück zurückzubleiben.
François und ich pirschten uns an die halb offene Tür heran.
Wir wechselten einen kurzen Blick. In solchen Situationen verstehen
wir uns ohne Worte. Dann weiß jeder, was der andere denkt. Eine
besondere Art von Telepathie, wie sie wohl nur bei langjährigen
Partnern im Dienst vorkommt.
François nickte mir zu.
Ich trat die Tür zur Seite und stürmte mit der Pistole in der
Hand in Raum. Innerhalb von Sekundenbruchteilen sondierte ich die
Lage. Ein großes Wasserbett, ein ultramoderner Kleiderschrank in
Metalloptik, ein Airbrush-Gemälde, das eine nackte Frau zeigte, die
auf einem Drachen ritt und das in leicht abgewandelter Form auf den
Tanks von ungezählten Harley-Bikern zu finden war. Auf dem
Wasserbett befand sich eine Reisetasche.
Eine weitere Tür führte zum Bad.
Ich schnellte vor, hatte die Badezimmertür im nächsten Moment
erreicht und traf dort eine junge Frau mit langen blonden Haaren
an. Ich senkte die Waffe und zog stattdessen meinen
Dienstausweis.
»Pierre Marquanteur, FoPoCri!«, stellte ich mich vor. »Wer
sind Sie?«
Sie schluckte und brauchte wohl erst ein paar Sekunden, um
sich von dem Schrecken zu erholen. Der Beschreibung nach war sie
jene Frau, die sich in Spanos Begleitung befunden hatte, als auf
den Chef in der Organisation von Stephano Malatesta geschossen
worden war. Sie trug Jeans, T-Shirt und darüber einen Blouson, der
eindeutig für den Outdoor-Bereich gedacht war. Zusammen mit der
Reisetasche auf dem Bett legte das den Schluss nahe, dass sie ihre
Sachen gepackt hatte und nun gehen wollte. Latexhandschuhe, wie sie
in Erste-Hilfe-Sets üblich waren, bedeckten ihre feingliedrigen
Hände.
Ich bemerkte einen Eimer mit schaumigem Wasser, auf dessen
Oberkante hing ein Lappen.
Offenbar hatte die junge Frau noch einmal alles gründlich
saubermachen wollen, bevor sie dieses Penthouse auf
Nimmerwiedersehen verließ.
»Mein Name ist Janine Batteau«, sagte sie. »Und was tun Sie
hier?«, fragte sie. Ihre Haltung entspannte sich etwas. Sie stemmte
eine ihrer Hände in die Hüften.
»Timéo Spano, der Eigentümer dieser Wohnung, ist vor wenigen
Stunden erschossen worden«, erklärte ich. »Aber ich glaube, das
wissen Sie schon.«
»Timéo?«, fragte sie. »Er ist tot?« Ihre Stimme klang belegt.
Sie schluckte. Aber ich hatte allenfalls das Gefühl, es mit einer
drittklassigen Schauspielerin zu tun zu haben. Gesamturteil: Nicht
gefühlsecht. Sie machte denselben Fehler wie viele Anfänger. Sie
trug einfach viel zu dick auf, als das man ihr hätte glauben
können.
Ich sah ihr ins Gesicht. Sie wich meinem Blick aus.
»Sie waren am Tatort, als es geschah. Dafür gibt es mehrere
Zeugen«, erklärte ich sachlich und kühl. »Also können Sie mir
vermutlich mehr über den Tatverlauf sagen als ich Ihnen.«
Sie erwiderte jetzt meine Blick für einen kurzen Moment und
schluckte. Tränen glitzerten in ihren Augen. Sie begann zu
schluchzen. Ich forderte sie auf, das Bad zu verlassen, was sie
auch tat. Dann sank sie auf das Bett und saß dort wie zur Salzsäule
erstarrt. Ihr Blick schien ins Leere zu gehen. Sie wirkte
apathisch. Ein leichtes Zittern durchlief ihren Körper.
François bedachte mich mit einem tadelnden Blick.
Fass sie nicht so hart an!, schien dieser Blick zu sagen.
Für mich war die Situation im ersten Moment ziemlich eindeutig
gewesen. Die junge Frau hatte das Chaos nach Timéo Spanos Ermordung
genutzt, um sich möglichst schnell davonzumachen und sämtliche
Spuren zu tilgen, die hätten beweisen können, dass sie jemals mit
Spano in Beziehung gestanden, geschweige denn, seine Wohnung
betreten hatte.
Sie hatte etwas zu verbergen. Etwas, das sie davon abhielt,
sich bei der Polizei zu melden und von sich aus auszusagen, was sie
gesehen hatte.
Möglicherweise war sie eine Prostituierte oder vielleicht
sogar vorbestraft.
Ich holte tief Luft. François bedeutete mir mit einem
Handzeichen zu schweigen. Er wollte diese Vernehmung ganz
offensichtlich in die Hand nehmen.
Ich zuckte mit den Schultern. Vielleicht erwies sich mein
Kollege ja als sensiblerer Vernehmungsspezialist.
»Hören Sie, wir sind von der FoPoCri und wollen einen Mord
aufklären – wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Ein Ruck ging durch ihren sehr weiblichen und nahezu
formvollendeten Körper. Sie hob trotzig den Kopf.
»Natürlich weiß ich, was sie damit sagen wollen«, gab sie
spitz zurück. »Gnädigerweise würden Sie von einer Anzeige absehen,
wenn ich zu ihrer Zufriedenheit mit Ihnen kooperiere. Das ist es
doch, worauf dieses miese Spiel hinausläuft, oder?«
»Nein, ich wollte Ihnen damit eigentlich nur deutlich machen,
dass wir an Informationen über Timéo Spano interessiert sind – und
an sonst gar nichts«, erklärte François leicht gereizt.
»Ich bin – ich war – Timéos Lebensgefährtin«, erklärte Janine.
»Keine Bordsteinschwalbe. Und wenn Sie mir das nicht glauben, dann
sehen Sie sich das hier an!« Sie griff in ihre Jackentasche und
holte eine Magnetkarte für das Türschloss hervor. Ich nahm sie an
mich. »Timéo hätte mir wohl kaum eine Karte für sein Penthouse
gegeben, wenn er mich nur für ein paar Euro auf der Straße
aufgelesen hätte.«
»Sie waren dabei, als Spano starb«, sagte ich, diesmal etwas
ruhiger. Es war eine Feststellung – keine Frage. »Oder müssen wir
Sie erst mitnehmen und eine Gegenüberstellung mit dem Betreiber
einer Geisterbahn organisieren?«
Sie atmete tief durch. Ihre vollen Brüste hoben und senkten
sich dabei.
»Sie haben recht, Monsieur …«, flüsterte sie
schließlich.
»… Marquanteur.«
»Ich bin mit Timéo durch die Gegend gekreuzt, und dann kam er
irgendwie auf die Idee, zum Parc d'Attractions zu fahren.«
»Sie fuhren einfach nur durch die Gegend?«, fragte ich
verwundert.
»Ja.«
»Ohne Ziel?«
»Mit Timéos gelben Ferrari macht das einfach Spaß.«
»Dieser Ferrari wurde am Tatort nicht gefunden.«
»Ich bin damit hierher zurückgefahren, nachdem …«, sie
zögerte, ehe sie weitersprach, »… es passiert ist. Ich war völlig
fertig und stand unter Schock. In gewisser Weise trifft das immer
noch zu. Ich kann das einfach noch nicht wirklich glauben.
Plötzlich gehen Timéo und seine Leibwächter einer nach dem anderen
zu Boden. Es ging so verdammt schnell! Selbst seine Männer konnten
überhaupt nichts tun, obwohl er immer nur Spitzen-Bodyguards
engagiert hat.« Sie atmete schwer und musste ein erneutes
Aufschluchzen unterdrücken. Ihre Lippen zitterten dabei. Sie
presste sie aufeinander und fasste sich nach einigen Augenblicken
wieder.
Entweder hatte sie das Zeug zum Hollywood-Star, oder ich tat
ihr mit meiner Einschätzung ein ziemlich großes Unrecht an, und sie
war von Timéo Spanos Tod tatsächlich so mitgenommen, wie es den
Anschein hatte. Inzwischen war ich mir da nicht mehr sicher.
»Sie hatten keine Angst, selbst getroffen zu werden?«, hakte
ich nach.
»Natürlich hatte ich das! Ich war einen Moment wie erstarrt.
Dann ging ich hinter der Geisterbahn in Deckung.«
»Warum sind Sie nicht dort geblieben, bis die Polizei
eintraf?«
»Weil …« Sie brach ab, biss sich auf Lippe.
»Weil Sie schnell genug hierherkommen wollten, um in Timéo
Spanos Appartement jegliche Spuren Ihrer Existenz zu vernichten«,
vermutete ich. »Darum tragen Sie die Latexhandschuhe. Oder können
Sie mir einen anderen, halbwegs plausiblen Grund dafür nennen, dass
Sie – kurz nachdem Ihr Lebensgefährte ermordet worden ist! – Ihre
Sachen packen und anfingen, das Bad zu reinigen?«
»Ich weiß nicht, wann Sie das letzte Mal so unter Schock
standen, dass Sie glaubten, Ihr Kopf explodiert. Wahrscheinlich
sind Sie durch Ihren Job so abgebrüht, dass es Ihnen nichts mehr
ausmacht, wenn sieben Menschen vor Ihren Augen sterben.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass ich mich in all meinen
Dienstjahren nie an derartige Dinge gewöhnen konnte«, erklärte ich
ihr mit großem Ernst. »Ganz gleichgültig, wer auch das Opfer sein
mag, ob Männer, Frauen, Kinder, ob Unschuldige oder Schuldige, ob
Gangster oder Polizisten – ein Mord bleibt immer ein Mord, und der
jeweilige Täter muss dafür zur Rechenschaft gezogen werden.«
Sie lachte heiser.
»Es hört sich eigenartig an, wenn Sie das sagen, Monsieur
Marquanteur. Dann klingt das fast schon überzeugend. Aber die
Wirklichkeit sieht doch ganz anders aus. Ich glaube nicht, dass die
FoPoCri wirklich betrübt über den Tod von Timéo ist. Sie haben ihn
mit allen möglichen Verdächtigungen überzogen, ihm aber bis heute
nichts nachweisen können, was vor Gericht Bestand gehabt hätte. Wer
weiß, es würde mich nicht einmal wundern, wenn es einer Ihrer Leute
gewesen wäre, der ihn auf dem Gewissen hat.«
»Das ist doch Unsinn.«
»Sie müssen so reden, Monsieur Marquanteur. Aber noch kann ich
sagen, was ich denke.«
»Wir können uns gerne noch einmal darüber unterhalten, wenn
wir den Mörder von Timéo Spano hinter Schloss und Riegel gebracht
haben.«
Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen.
François wandte sich inzwischen an Dexter und Zander und sagte
ihnen, dass sie gehen und uns sämtliche noch vorhandene
Aufzeichnungen der Videoüberwachung heraussuchen sollten, die in
diesem Haus auf sämtlichen Korridoren sowie in den Aufzügen und im
Eingangsbereich angebracht waren.
»Wir werden sehen, was wir für Sie tun können«, versprach
Dexter. »Allerdings werden die Aufnahmen in regelmäßigen Abständen
gelöscht.«
»Das macht nichts«, erwiderte François. »Wenn wir erfahren
würden, wer Timéo Spano in den letzten Tagen besucht hat, wäre das
auch schon eine große Hilfe.«
»Wie Sie meinen.«
Die beiden Wachmänner verließen den Raum. Ich nahm mir
inzwischen die Sporttasche vor, die Janine gepackt hatte.
»Haben Sie was dagegen, wenn ich mir die mal ansehe?«
»Ich wette, es hätte ohnehin keinen Sinn, wenn ich mich
dagegen sträuben würde, Monsieur Marquanteur.«
»Da haben Sie recht.«
»Warum fragen Sie dann?«
Ich durchsuchte den Inhalt der Tasche schnell. Es waren
ausschließlich persönliche Sachen. Kleidung vor allem. Ein paar
Zeitschriften, Socken, Wäsche, ein paar T-Shirts und ein
zusammengepferchtes Kleid aus einem Stoff, der das nicht ertrug.
Sie hatte zweifellos in sehr großer Eile gepackt. Das war mehr als
offenkundig. Und für diese Eile musste es Gründe geben.
Die junge Frau hob jetzt das Kinn und sah mir geradewegs in
die Augen.
»Sie wollen also wissen, warum ich mich aus dem Staub machen
wollte«, sagte sie.
»Wenigstens versuchen Sie jetzt nicht mehr, mir etwas anderes
einzureden.«
»Hören Sie, Monsieur Marquanteur. Ich habe Timéo geliebt –
aber er hatte Geschäftspartner, die ein äußerst unangenehme
Auftreten hatten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich wollte
keinem von denen begegnen.«
Ich hob die Augenbrauen.
»Wollten Sie nicht vielmehr uns aus dem Weg gehen?«
Diesmal begegnete sie meinem Blick.
»Und wenn schon! Bringt es mir Timéo zurück, wenn ich Ihre
Fragen beantworte?« Ihr Tonfall bekam jetzt eine ungewohnte
Schärfe. »Aber wenn irgendjemand von Timéos Partnern herausbekommt,
dass ich mit der FoPoCri geredet habe, dann fragen die sich gleich,
ob ich Ihnen nicht irgendetwas verraten habe, was …« Sie
verschluckte den Rest.
»Was wissen Sie über Spanos Geschäfte?«, fragte jetzt
François.
Janine wandte den Kopf in seine Richtung.
»Das ist es ja. Ich könnte Ihnen noch nicht einmal etwas
darüber sagen, weil ich nie etwas davon mitbekommen habe«,
behauptete sie. »Das bedeutet allerdings nicht, dass ein paar
andere Leute davon überzeugt sein könnten, dass ich sehr wohl etwas
darüber weiß und an die Polizei verraten könnte.«
François hob die Augenbrauen. Er gab sich keine Mühe, seine
Zweifel zu verbergen.
»Und das sollen wir Ihnen wirklich glauben?«, fragte mein
Kollege.
»Warum denn nicht? Timéo hat mir nichts gesagt, und ich habe
auch nicht gefragt. Es reichte mir völlig, zu wissen, dass Timéo
jemand war, der die Taschen immer voller Geld hatte.« Tränen rannen
ihr über das Gesicht und ließen ihr Make-up schon wenig später wie
ein Aquarell aussehen.
»Haben Sie eine Ahnung, wer ein Motiv gehabt haben könnte,
Monsieur Spano umzubringen?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
»Da kann ich Ihnen wirklich nicht weiterhelfen«, behauptete
sie.
Wahrscheinlich wollte sie uns auch gar nicht weiterhelfen. Es
fragte sich nur, ob das daran lag, dass sie selbst etwas mit dem
Mord zu tun hatte, oder ob sie wirklich Angst vor Spanos Familie
hatte.
Ich schloss ihre Tasche und gab sie ihr.
»Sie können gehen, aber wir brauchen Ihre Aussage noch
schriftlich. Melden Sie sich in den nächsten Tagen im
Polizeipräsidium Marseille. Kennen Sie das Gebäude am La
Canebière?«
»Um ehrlich zu sein, ich war noch nie dort, aber ich werde es
schon finden.«
»Wo können wir Sie erreichen?«
»Bei meiner Schwester. Ich gebe Ihnen die Adresse!«
»In Ordnung!«
François holte einen Notizblock hervor und reichte ihn
ihr.
Sie war zunächst etwas unschlüssig, streifte dann aber die
Latexhandschuhe ab und warf sie in einen Papierkorb.
»Ich bin gegen die Putzmittel allergisch«, meinte sie, so als
glaubte sie, unbedingt noch erklären zu müssen, weshalb sie diese
Handschuhe benutzt hatte. Anschließend nahm sie den Block und
schrieb darauf mit zierlicher Handschrift die Adresse und
Telefonnummer ihrer Schwester auf.
Ich überprüfte die Telefonnummer. Eine gewisse Tanja Batteau
bestätigte mir, eine Schwester namens Janine zu haben. Ich gab das
Handy an Janine weiter. Diese kündigte an, gleich bei ihr
einzutreffen und für ein paar Tage zu bleiben. Was ihre Schwester
sagte, konnte ich natürlich nicht verstehen. Aber Janine sagte
zweimal: »Später … Nein, später …«
Ich konnte mir schon denken, was da los war. Solange ich
zuhörte, wollte sie auf die bohrenden Fragen ihrer Schwester
offenbar nicht antworten, und ich hatte mehr als nur ein
unbestimmtes Gefühl, dass es sich mit Timéo Spanos schöner Freundin
so verhielt wie mit der berühmten Spitze eines Eisberges, von dem
neun Zehntel unter der Wasseroberfläche verborgen blieben.
»Tja, das wär’s dann«, meinte Janine anschließend.
»Wir werden uns sicher noch wiedersehen.«
»Soll das ein Versprechen oder eine Drohung sein?«
»Das hängt wohl ausschließlich von Ihnen ab.«
»Wie auch immer …«
Anschließend hatte es Janine ziemlich eilig, zu
verschwinden.
François machte keinen Hehl daraus, dass er unzufrieden mit
mir war.
»Warum hast du sie so hart angefasst, Pierre?«, fragte mein
Kollege, nachdem Janine Batteau das Penthouse verlassen
hatte.
»Das fragst du im Ernst?«
»Ja!«
»Weil sie uns von vorne bis hinten angelogen hat, François.
Das sieht doch ein Blinder! Leider haben wir nichts in der Hand, um
sie festzuhalten. Einen Putztick zu bekommen, nachdem der
Lebensgefährte erschossen wurde, ist leider kein
Straftatbestand.«
François atmete tief durch.
»Pierre, vielleicht stand sie nicht ganz so sehr unter Schock,
wie sie versuchte uns vorzumachen …«
»Sie sollte es als Nebendarstellerin bei einer Soap
versuchen«, unterbrach ich meinen Kollegen.
»… und sehr wahrscheinlich hat sie alles so schön geputzt, um
unseren Befragungen zu entgehen. Aber wenn sie tatsächlich eine
Edel-Hure ist, so wie ich vermute, dann hat sie auch allen Grund
dazu.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, da muss mehr dahinterstecken.«
»Und was schwebt dir da bitte schön so vor?«, fragte
François.
»Überleg doch mal! Jemand muss gewusst haben, dass Timéo Spano
im Vergnügungspark auftauchen würde. Schließlich hat der Killer im
siebten Stock des Bürogebäudes nur darauf gewartet, dass Spano
auftauchte.«
»Du denkst, dass diese Janine ihn dorthin gelockt hat.«
»Natürlich, François!«
»Sie selbst hat es genau umgekehrt dargestellt«, gab François
zu bedenken.
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Das würde ich an ihrer Stelle auch so machen«, erwiderte ich.
»Tatsache ist jedenfalls, dass der Besuch des Vergnügungsparks kein
spontaner Plan gewesen sein kann. Zumindest der Killer hat
jedenfalls vorher davon gewusst, dass sich für ihn eine Gelegenheit
ergeben würde, Timéo Spano umzubringen. Das dürfte anhand des
Tatablaufs wohl feststehen.«
»Angesichts der Größe des Geländes kann man sich sogar fragen,
ob der Killer nicht sogar genau wusste, dass Grand Timéo eine ganz
gestimmte Geisterbahn aufsuchen würde«, ergänzte François. »Aber
wir können Janine Batteau bis auf weiteres einfach nicht beweisen,
dass sie es war, die Spano dorthin gelockt hat, damit irgendein
Profikiller ihn und seine Leute über den Haufen schießen kann.
Zumal es auch noch andere Gründe für ihn gegeben haben könnte, im
Vergnügungspark vorbeizuschauen.«
»Du meinst, er wollte sehen, was seine Geldwaschanlage so
macht?«
»Wäre doch auch möglich, oder?«
»Ich weiß nicht.«
»Alte Ermittlerweisheit: Keine Ermittlungsrichtung vorschnell
ausschließen.«
»Ich kenne da eine noch ältere!«
»Ach, ja?«
»Alles ausschließen, was unwahrscheinlich ist, und das was
übrig ist, muss die Wahrheit sein. Und ich glaube, die Möglichkeit,
die du gerade genannt hast, klingt einfach nicht besonders
einleuchtend.«
4
Wir durchsuchten die Wohnung und forderten außerdem noch
Unterstützung von der Spurensicherung an.
Da die Kollegen der Mordkommission im Moment mehr als
überlastet waren und sich die Untersuchungen rund um den
Vergnügungspark mit Sicherheit noch den Rest des Tages hinziehen
würden, kamen in diesem Fall unsere eigenen Erkennungsdienstler zum
Einsatz. Es handelte sich zum einen um Commissaire Pascal
Montpierre.
Er wurde begleitet vom Kollegen Petit, einem
Computerspezialisten, dessen Aufgabe es war, den Rechner genauer
unter die Lupe zu nehmen, den wir in Spanos Penthouse gefunden
hatten.
Insgesamt fand sich so gut wie nichts in der Wohnung, was uns
irgendwie weitergebracht hätte. Die Wohnung wirkte so steril, als
wäre sie in letzter Zeit unbewohnt gewesen. Janine hatte offenbar
ganze Arbeit geleistet.
Kollege Petit fand heraus, dass Timéo Spano offenbar seinen
Rechner hauptsächlich zur Teilnahme an Online-Rollenspielen benutzt
hatte. Auffällig war, dass offenbar eine Email gelöscht worden war,
wie Petit herausfand.
»Und zwar zu einer Zeit, als Timéo Spano schon tot und Janine
Batteau höchstwahrscheinlich allein in dieser Wohnung war«,
berichtete unser Computerspezialist. »Festplatten sind wie
Elefanten, sie vergessen so gut wie nichts.«
»Einen Grund, um sie noch mal zu befragen, hätten wir also
schon«, meinte François.
Eine halbe Stunde später stießen wir auf einen Safe, der in
die Wand eingelassen war und die Geschäftsbücher einer Im- und
Exportfirma in der Nähe des alten Marinehafens enthielt, an der
Spano beteiligt war. Ich blätterte die Abrechnungen kurz durch.
Darum würde sich Commissaire Norbért Navalle, unser Fachmann für
Betriebswirtschaft, kümmern müssen. Aber schon bei der
oberflächlichen Durchsicht fielen mir die Abrechnungen über eine
ganze Schiffsladung von Kinderkarussells, Achterbahnen und anderen
Fahrgeschäften aus. Es musste sich um eine gewaltige Ladung
handeln, von der jetzt der größte Teil wohl auf dem Vergnügungspark
in Aktion zu bewundern war.
Zwei Dinge waren merkwürdig.
Einerseits erschien mir der Preis sehr gering – aber da ich
von diesem Markt nicht den Hauch einer Ahnung hatte, musste ich da
erst einmal selbst schlau machen.
Die zweite Merkwürdigkeit war die Herkunft der Ware.
»François, hast du schon mal gehört, dass Spielgeräte für
einen Vergnügungspark aus Usbekistan importiert werden?«
»Ich wusste gar nicht, dass man da so etwas überhaupt
herstellt«, gab François zurück.
»Genau das meine ich. Und ausrangierte Geräte, die man noch
mal flott machen kann, gibt es doch auch bei uns in Frankreich viel
leichter zu besorgen, als ausgerechnet in der Steppe
Zentralasiens!«
»Nur keine Vorurteile«, erwiderte François. »Kasachstan zum
Beispiel soll sich erst vor ein paar Jahren eine ultramoderne neue
Glitzer-Hauptstadt mitten in der Wildnis geleistet haben, wie ich
im Journal de Marseille gelesen habe. Ein Ort, der sicher auch
einen Vergnügungspark bekommen hat.«
Irgendwie passten in diesem Fall ein paar Dinge einfach nicht
so zusammen, wie es hätte sein sollen. Der Grund dafür war
eigentlich immer derselbe: Wir wussten noch nicht alles.
Wesentliche Informationen fehlten, und dann ist es unausweichlich,
dass man zu falschen Schlüssen kommt.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Krabben, die im Mittelmeer gefangen und auf dem Fischmarkt
von Marseille verkauft werden, schickt man vorher nach Marokko, um
die Schalen entfernen zu lassen«, meinte ich. »Warum sollten also
die Geräte eines Vergnügungsparks auf Pointe-Rouge nicht aus
Zentralasien kommen?«
5
Stephano Malatestas Gesicht verzog sich zur Grimasse, als er
die Gestalten hinter dem Mauervorsprung auftauchen sah. Sie
versuchten davonzurennen. Aber Stephano Malatesta dachte nicht
daran, ihnen auch nur den Hauch einer Chance zu lassen.
»Keine Überlebenden!«, brüllte er mit heiserer Stimme. »Kein
Pardon!«
Er fasste die Maschinenpistole vom Typ MP 7 der Firma Heckler
& Koch mit beiden Händen und drückte ab. Die Waffe knatterte
los.
»Ihr Bastarde!«, schrie Malatesta, wobei sein heiserer Ruf
durch das Geknatter der Maschinenpistole akustisch regelrecht
zerhackt wurde.
Das Mündungsfeuer blitzte auf, als die Körper der Flüchtenden
wie Marionetten unter Dutzenden von Treffern zuckten und zu Boden
gingen. Manche dieser Männer schafften es noch, ihre eigenen Waffen
hochzureißen. Hier und da blitzte Mündungsfeuer von schlecht
gezielten Schüssen auf.
Stephano Malatesta nahm darauf keine Rücksicht.
Ob er selbst Treffer erhielt, war ihm gleichgültig, für ihn
zählte in diesem Augenblick nur eins:
Die Vernichtung seiner Gegner.
Jeden einzelnen von ihnen wollte er unter dem Beschuss von
Dauerfeuer seiner MP 7 zucken und sich winden sehen. Einer nach dem
anderen sank in den Staub.
Eine tiefe Befriedigung erfüllte ihn, als der Letzte von ihnen
mit einem halben Dutzend, fast gleichmäßig über den gesamten Torso
verteilten Treffern förmlich an die Hauswand genagelt wurde, die
sich hinter ihm befand. Er rutschte zu Boden und zog eine Blutspur
hinter sich her.
Stephano Malatesta feuerte noch auf seinen Gegner, als er
längst regungslos und wie ein Fötus zusammengekrümmt am Boden
lag.
Dann war es vorbei.
Malatesta atmete tief durch und senkte endlich die Waffe. In
seinen Augen stand noch immer ein seltsames Leuchten, das jeden,
der ihn nicht kannte, zutiefst befremden musste.
Von seinen Leuten ließ er sich gerne Il Duce nennen – so wie
Benito Mussolini, den er als den größten Italiener der vergangenen
drei Jahrhunderte verehrte. Mit dem italienischen Diktator aus der
Zeit des Faschismus hatte Malatesta immerhin den fast haarlosen
Kopf gemein.
Malatesta war ein sehr großer, massiver Mann. Fast zwei Meter
lang und mit einer Figur, die an einen etwas aus der Form geratenen
ehemaligen Boxer erinnerte. Die Splitterweste spannte in der
Bauchgegend.
Malatesta schleuderte die MP 7 von sich und riss sich die
Weste vom Leib. Die Klettverschlüsse verursachten dabei
charakteristische, ratschende Geräusche. Auch die Weste warf er
einfach zu Boden. Ein letztes Mal würdigte er die Leichen eines
kurzen Blickes. Ein erstarrtes Stillleben des Schreckens.
In der Mitte erschien eine Schriftanzeige.
»Simulation beendet. Sie wurden von vier Projektilen
getroffen. Achten Sie mehr auf die Eigensicherung! Wünschen Sie
eine Detailübersicht? Ja – nein. Ins Menü gehen? Ja – nein.«
»Carlo!«, brüllte Malatesta. Jetzt erst zog er sich Stöpsel
aus den Ohren und warf sie einfach weg. Schließlich hatte er genug
gut bezahltes Personal, das für Ordnung sorgte.
»Ja?«, kam eine Stimme aus dem Off.
»Schalten Sie die verdammte Projektion ab!«
»Sofort!«
»Aber ein bisschen plötzlich, wenn ich bitten darf!«
»Ja, Monsieur Malatesta.«
»Anscheinend bin ich nur von Idioten umgeben! Unfähigen
Stümpern! Nichtsnutzigen Weichlingen! Schwulen Ärschen! Und mit
solchen Leuten soll man eine Organisation am Laufen halten! Pah!
Man sollte euch alle rausschmeißen!«
Während die Szene hinter ihm verblasste, drehte sich Malatesta
um und verließ den Simulationsraum. Er fühlte sich jetzt besser.
Carlo Caprese, ein drahtiger Kerl mit Bodybuilderfigur trat
auf ihn zu. Er war der beste Mann aus der Kompanie von hoch
spezialisierten Bodyguards, für die Malatesta ein kleines Vermögen
ausgab. Aber Carlo war jeden Pfennig davon wert. Er war lange Jahre
Scharfschütze und später Ausbilder bei der Armee gewesen, hatte
sich danach mit einem Trainingscamp zur Ausbildung von Bodyguards
selbstständig gemacht, aber dabei in geschäftlichen Dingen keine
glückliche Hand gehabt. Vor fünf Jahren hatte Malatesta ihn
angeheuert. Seitdem hatte er wieder einen ruhigen Schlaf, denn ganz
gleich, welche Waffe Carlo auch gerade in den Händen hielt – seine
Trefferquote war außergewöhnlich hoch. Darüber hinaus hatte er auch
noch eine solide Ausbildung in Karate.
»Wollen Sie noch ein anderes Programm versuchen?«, fragte
Carlo.
Malatesta machte eine wegwerfende Handbewegung und knurrte
etwas Unverständliches vor sich hin.
»Das reicht für heute«, meinte er dann.
»Wie Sie wollen, Monsieur Malatesta.«
»Sehen Sie zu, dass Sie in nächster Zeit mal etwas Abwechslung
in diesen Schießstand bringen«, meinte Malatesta. »Auf die Dauer
macht es keinen Spaß, immer dieselben Typen abzuknallen.«
»Ich verstehe, was Sie meinen, Monsieur Malatesta.«
»Will ich hoffen.«
Ein Summton ertönte. Malatesta ging zu dem Schalter der
hausinternen Sprechanlage.
»Was gibt es?«, fragte er unwirsch, nachdem er den Schalter
betätigt hatte.
»Simon Bartol wartet im blauen Salon«, meldete sich eine
männliche Stimme.
»Er muss sich noch ein bisschen gedulden. Ich werde erst
einmal duschen …«
»Er sagt, es wäre sehr wichtig!«
»Bestellen Sie ihm, er soll sich nicht in die Hose machen,
dieses Sensibelchen!«
Malatesta unterbrach die Verbindung. Er fluchte leise vor sich
hin.
Dieser Feigling!, dachte er.
Simon Bartol war sein Großneffe und außerdem einer seiner
Unterbosse. Malatesta hatte ihm den Rang eines Capitan in seiner
Organisation nur deswegen eingeräumt, weil er Simons Vater
Guillaume einen Gefallen schuldig gewesen war.
»Er soll warten«, bestimmte Malatesta. »Ich gehe erst einmal
unter die Dusche.«
»Ja, Monsieur Malatesta.«
»Dieser Idiot kann mich mal. Und ich hab nichts dagegen, wenn
ihm das auch ausgerichtet wird! Wenn bei uns alle so eine lasche
Einstellung wie Simon hätten, dann würde der Laden längst nicht
mehr laufen!«
6
Simon Bartol hatte ursprünglich den Namen Simone Bartole
getragen. Das »e« am Ende hatte er einfach gestrichen. Nach Ansicht
von Stephano Malatesta verleugnete er damit seine italienische
Herkunft und die Tradition seiner Familie, was in den Augen des
Clan-Patriarchen nur ein weiteres Indiz dafür war, dass Simon
keinen Charakter hatte. Bartol hatte mit Ach und Krach ein
Jurastudium hinter sich gebracht und besaß sogar eine offizielle
Zulassung als Anwalt.
Jemandem, der seine Familie verleugnete, nur um den
Vorurteilen vieler Menschen gegen sogenannte Itaker aus dem Weg zu
gehen, war alles zuzutrauen, so fand Malatesta. Inklusive
Verrat.