Krimi-Klassiker - Band 11: Das Mädchen mit dem Engelsgesicht - Irene Rodrian - E-Book
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Krimi-Klassiker - Band 11: Das Mädchen mit dem Engelsgesicht E-Book

Irene Rodrian

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Beschreibung

Unschuldige Liebe oder schreckliches Tabu – Irene Rodrians „Das Mädchen mit dem Engelsgesicht“ erscheint in der Reihe „Krimi-Klassiker“ jetzt als eBook bei dotbooks. Eigentlich ist für Harald alles perfekt: Er ist glücklich verheiratet, hat wundervolle Kinder und liebt seinen Beruf als Lehrer. Sowohl bei seinen Kollegen als auch bei seinen Schülern ist er beliebt. Aber dann wird alles anders: Eine neue Schülerin wird in seine Klasse versetzt. Sie ist reifer als die anderen, und Harald fühlt sich sofort zu ihr hingezogen. Doch schon bald entwickelt sich aus einer harmlosen Schwärmerei eine Liebe mit tödlichen Konsequenzen ... Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Das Mädchen mit dem Engelsgesicht“ von Irene Rodrian. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 254

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Über dieses Buch:

Eigentlich ist für Harald alles perfekt: Er ist glücklich verheiratet, hat wundervolle Kinder und liebt seinen Beruf als Lehrer. Sowohl bei seinen Kollegen als auch bei seinen Schülern ist er beliebt. Aber dann wird alles anders: Eine neue Schülerin wird in seine Klasse versetzt. Sie ist reifer als die anderen, und Harald fühlt sich sofort zu ihr hingezogen. Doch schon bald entwickelt sich aus einer harmlosen Schwärmerei eine Liebe mit tödlichen Konsequenzen ...

Über die Autorin:

Irene Rodrian, 1937 in Berlin geboren, erhielt für ihren Roman Tod in St. Pauli 1967 den begehrten Edgar-Wallace-Preis. Seither hat sie sich mit zahlreichen Bestsellern in einer Gesamtauflage von mehreren Millionen und als Drehbuchautorin (Tatort, Ein Fall für Zwei) einen Namen gemacht. Irene Rodrian lebt heute in München.

Bei dotbooks erschienen bereits Irene Rodrians Barcelona-Krimis über das Ermittlerinnen-Team Llimona 5 (Meines Bruders Mörderin, Im Bann des Tigers, Eisiges Schweigen und Ein letztes Lächeln) sowie die Reihe Krimi-Klassiker.

Die Autorin im Internet: www.irenerodrian.com und www.llimona5.com

***

Neuausgabe Juli 2014

Copyright © der Originalausgabe 1993 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs

Titelbildabbildung: © Stasique - Fotolia.com

ISBN 978-3-95520-643-7

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Irene Rodrian

Das Mädchen mit dem Engelsgesicht

Kriminalroman

dotbooks.

Die Hauptpersonen

Drei FrauenSylvia

Dagmar

Gerda

und

ein MannHarald

1

Es roch nach Frühling.

Nach sonnenfeuchter Erde und frischem Grün. Aus dem verfaulten Herbstlaub spitzten die ersten Krokusse und Osterglocken hervor, gelb, violett und weiß. In den Rabatten neben dem Kiesweg büschelten sich die Schneeglöckchen; Gras, Löwenzahn und Gänseblümchen sprossen grün, und an den glänzendglatten grün-roten Zweigen von Goldregen und Haselstrauch beulten sich die ersten Knospen.

Sylvia liebte diese Zeit. Anfang April – Ostern lag früh in diesem Jahr. Die Birken und Buchen waren noch winterlich kahl, und in der buschigen Edeltanne hingen noch zwei Strohsterne von Weihnachten. Aber an der kleinen Kastanie, am Kirschbäumchen und an der Spalierbirne waren schon deutlich die ersten Triebe zu erkennen. Es war jedoch nicht so sehr das Wachsen und Sprießen, es war die Wärme, die Sonne und der Geruch von Leben und kommendem Sommer. Der Himmel war föhnblau und die Luft so mild wie nicht mal im Mai. Mittags würde es warm genug sein, um draußen zu essen.

Sylvia fegte die Sonnenterrasse hinter dem Haus. Das infernalische Brüllen irritierte sie kaum. Sie deckte den runden Rattantisch mit einem gelben Leinentischtuch, dem braunen Keramikgeschirr und einem üppigbunten Frühlingsstrauß, der allerdings aus dem Blumenladen stammte. In das schrille Gebrüll mischte sich jetzt ein Jaulen wie von einer verendenden Hyäne, und dann war es endgültig vorbei mit dem Frieden. Sie quollen aus dem Haus heraus, fielen, kugelten sich, überschlugen sich, wälzten sich über zarten Rasen und in jungfräulichen Beeten. Peter mit ins Gesicht gerutschtem Federschmuck und triefender Nase, Max mit bis in die Knie hängender Indianerhose und zu großen Gummistiefeln, die an den Knöcheln Falten warfen, drei Kinder aus der Nachbarschaft, die sich aufführten wie dreißig, und bellend, jaulend und sich vor Wonne in der feucht-warmen Erde wälzend mittendrin Bobo, der alte Airedale.

Sylvia warf sich dazwischen, lachend, quietschend, juchzend. Tobte mit den Kindern durch den Garten, holte die alte Schubkarre aus dem Schuppen, brachte mit Peters Hilfe die Schaukel an und zog die Holzwippe aus ihrem Winterversteck. Zerrte das stockfleckige Kinderzelt hervor und suchte die Stangen und Heringe von den Regalen. Als sie zum Haus zurückging, atmete sie schwer, und ihr Gesicht glühte.

Harald stand in der Küchentür, schmal und jung in seinen verbeulten Cordhosen und dem ausgebleichten Sweatshirt. Lächelte, umarmte sie, drückte sie einen Moment fest an sich. Half ihr dann bei der Vorbereitung der Raubtierfütterung. Kartoffelsalat mit Würstchen und eine Tonne sahnesüßen, heißen Kakao. Harald half anschließend den Kindern, aus dem Gewirr von Zeltstangen und Plastikbahnen ein Haus zu bauen und die Luftmatratzen aufzublasen, während Sylvia nach dem Lammbraten sah, den Rosenkohl dünstete und die Weinflasche aufmachte.

Beim Mittagessen waren sie allein. Es war inzwischen so warm, daß sie halbnackt in der Sonne sitzen konnten. Harald in Shorts und T-Shirt, Sylvia im kurzen Strandkleid.

»Schmeckt herrlich!« Harald lächelte und stieß mit ihr an; die Sonne spiegelte sich purpurn in ihren Gläsern. »Ich liebe dich«. Kling, Kristall gegen Kristall. Vögel zwitscherten, der erste Maulwurf wühlte sich durch die Wiese, und hinter dem Schuppen lachten und jubelten die Kinder.

»Ich bin sehr glücklich«, sagte sie leise. Harald sah sie nur an; die hellbraunen Locken reichten fast bis zu den dunklen Augen. Nahm die Flasche und wollte ihr nachschenken. Sylvia deckte ihr Glas ab. Sagte es ihm.

Harald sprang auf, stieß sein Glas um, kniete vor ihr nieder und umarmte ihren noch kleinen Bauch. »Wann? Sag es mir!«

»In sieben Monaten und einer Woche.«

Er half ihr, das Geschirr hineinzutragen und abzuwaschen. Küßte sie zwischendurch auf den Hals oder aufs Ohr und suchte nach Namen. Anne oder Ina, Petra oder Birgit, Yvonne vielleicht oder Susanne. Sie waren ganz sicher, daß es ein Mädchen werden würde.

2

Der kleine Vogel war tot:

Dagmar konnte sich nicht erklären, wie das passiert war, er sah völlig unverletzt aus. Lag nur da im Gras und hatte den Kopf nach hinten gedreht. Ein Rotkehlchen. Die flaumigen Federn über der Brust geplustert. Starr. Das andere Rotkehlchen flog immer wieder heran, piepste und hüpfte herum. Sah sich furchtsam um. Dagmar hockte reglos auf ihren Fersen und wagte kaum zu atmen. Ein Liebespaar. Und der eine von ihnen war tot. Das Männchen wahrscheinlich. Der andere Vogel schien kleiner, zierlicher. Sprang wieder aufgeregt um den toten herum, zwitscherte aufgeregt auf ihn ein und zupfte ihn schließlich am Hals. Komm doch endlich, komm! Zog und zerrte. Flog auf den nächsten Baum, piepste unglücklich, kam wieder zurück. Zupfte und pickte. Bitte, komm, ich helf dir ja.

Dagmar weinte. Bewegte sich nicht, sah die Vögel nur noch undeutlich. Hörte das herzzerreißende Klagen. Pieps, pieps, komm doch endlich mit! Ihre Beine schliefen ein, es wurde kalt und dunkel. Mindestens zwei Stunden mußten vergangen sein, als das andere Rotkehlchen endlich resignierte und klagend davonflog. Dagmar stand auf und vertrat sich automatisch die Füße. Der andere Vogel kam nicht zurück. Dagmar wartete, bis sie das tote Rotkehlchen kaum noch erkennen konnte. Im Westen färbte sich der Föhnhimmel blutrot. Dagmar setzte sich zu dem kleinen toten Bräutigam und berührte ihn sanft mit einem Finger. Er war klamm und kalt und steif.

Im Haus war es dunkel. Dagmar knipste in allen Räumen das Licht an. Die Wohnhalle, die von Küche und Eßplatz nur durch helle Fichtenregale abgetrennt war, das Bad, der Flur, das Treppenhaus. Ihr Zimmer mit holzverschalten Wänden und bunten Teppichen und einem Fenster zum Garten hinaus. Sie fand keine passende Schachtel und stieg die steile Holztreppe zum Atelier der Mutter hinauf.

Samt, Seide, Tüll und Brokat, schillernde Farbenpracht unter taghellen Halogenstrahlern. Die Schneiderpuppen noch nackt, die Mutter über ihren Zeichentisch gebeugt. Die üppigen Formen unter einem barock anmutenden Faltenhänger verborgen, die wirren Haare zu einem sich schon wieder lösenden Knoten gebunden. Konzentriert über den Figuren auf ihrem Plan, irgendein Kostümschinken fürs Fernsehen.

»Hast du eine Schachtel?«

»Hm?« Ein paar mit Kohle auf mattweißer Pappe lässig hingeworfene Striche. Dagmar wäre gern zu ihr hingelaufen und hätte sich in die Falten des Kleides gewühlt, geheult, sich trösten lassen. Wußte, daß es unmöglich war und machte sich auf die Suche nach einer Schachtel. Fand einen kleinen Karton mit Garnrollen.

»Kann ich den haben?« Sie hielt der Mutter den Karton unter die Nase, hoffte, daß sie fragen würde, wozu sie ihn brauchte. Ein flüchtiger Blick.

»Ja. Da hinten ist eine alte Teedose, tu die Garnrollen da rein.« Strichel, strichel, ein Königsgewand. Dagmar zögerte, die Mutter wandte sich vom Zeichentisch ab, kramte in Stoffproben, machte sich Notizen. Hatte sie schon vergessen.

Die Schachtel war schön. Etwa acht mal sechs Zentimeter, ziemlich hoch, mit gewölbtem Deckel. Abgerundete Ecken und die Phantasieblumen und –blüten wie ein Relief geprägt, golden und silbern und rot. Früher waren Pralinen in der Schachtel gewesen. Dagmar legte die Schachtel innen mit hellblauer Seide aus, nahm noch ein Stück Stoff mit und eine Taschenlampe. Im Garten des Nachbarn miauten die Katzen ihr Frühlingscharivari. Sie lief schneller. Der Vogel lag noch da.

Sie bettete den kleinen steifen Körper in die Schachtel und deckte ihn mit hellblauer Seide zu. Flüsterte ein selbst erdachtes Gebet. »Herr, der du auch die Kleinsten und Geringsten unter uns erschaffen hast, nimm ihn zu dir und laß es ihm wohl ergehen.« Dann trug sie die Schachtel in ihr Zimmer, stellte sie auf das Regal und zündete eine Kerze an. Nahm sich vor, die Nacht hindurch zu wachen und überlegte, wo sie im Garten ein Grab anlegen konnte. Es mußte tief sein wegen der Katzen, und es sollte einen richtigen schönen Grabstein bekommen. Sie wußte, wo man noch weichen Sandstein finden konnte, Werkzeug gab es im Haus. Sie entwarf ein paar Inschriften, zerriß sie aber immer wieder. Hörte den Vater heimkommen und ging zum Abendessen hinüber.

Es gab Ochsenschwanzsuppe aus der Dose und Miràcoli-Spaghetti aus dem Päckchen. Neu war die Vorspeise. Altes Frühstücksbrot geröstet mit Butter und dick Kaviar. Der Vater arbeitete gerade für eine Filmgesellschaft, die einen Preis in Cannes bekommen hatte. Der Kaviar war vom Buffet beim Empfang mit Bürgermeister und Ministerpräsident übriggeblieben. Dagmar mochte den fischigen Geschmack nicht, aber die Eltern schaufelten das Zeug löffelweise in sich hinein und soffen drei Flaschen Weißwein, noch ehe die Spaghetti auf den Tisch kamen. Sie machte die Suppe und die Soße warm, obwohl sie selbst keinen Bissen hinunterbrachte, und hörte sich an, wie sie über Leute sprachen, die sie beide kannten, über Filme, die gerade gedreht wurden, und über Gerüchte, die zur Zeit gerade in der Branche kursierten.

Dagmar fühlte sich ausgeschlossen.

Ihre Eltern kannten sich viel länger, als sie selbst auf der Welt war, sie hatten ihre Arbeit und ihre Liebe, sie brauchten sie nicht. Sie stand auf, trug das schmutzige Geschirr in die Küche und ging in ihr Zimmer, ohne daß jemand nach ihr rief.

Die Kerze am Kopfende der Schachtel war zu einem Stummel heruntergebrannt, und Dagmar drückte eine neue Kerze in das weiche Wachs. Legte die Cat-Stevans-Platte auf und lehnte sich in die Kissen auf ihrem Bett zurück. Sah wieder das kleine Rotkehlchen vor sich, das vergeblich an ihrem toten Männchen herumzupfte. Weinte. Stand auf und schrieb die Grabinschrift hin, die ihr eingefallen war. Und die Liebe währet länger als das Leben.

3

Im Kamin flackerte ein gemütliches Feuer.

Sie saßen alle um den großen runden Tisch – Peter und Nina, Michael und Doris, Jörg und Lucy. Ihre besten Freunde. Sylvias Gesicht strahlte im warmen Licht der Kerzen. Alle waren satt und still und zufrieden. Das Essen war wie immer großartig gelungen. Russischer Borschtsch, Schinken in Brotteig und verschiedene Salate. Sylvia probierte gern neue Rezepte aus, sie hatte eine gute Hand dafür. Jetzt standen noch frische Baguettes auf dem Tisch, französischer Käse und dunkelblaue Trauben, die um die Jahreszeit ein Vermögen kosteten. Sie tranken leichten italienischen Landwein, Sylvia trank Saft. Sie hatten es ihnen heute gesagt, und sie alle freuten sich mit ihnen.

Peter und Nina hatten zwei Kinder, die schon aufs Gymnasium gingen, Michael und Doris ein süßes kleines Baby von knapp einem Jahr, auf das die Großmutter aufpaßte. Jörg und Lucy hatten keine Kinder. Sie waren sich selbst genug; vielleicht konnten sie auch keine Kinder bekommen, sie sprachen nie darüber. Peter und Max schliefen oben in ihrer Räuberhöhle mit Stockbetten und Baukastenmöbeln. Bobo schnarchte vor dem Kamin und zuckte im Schlaf mit den Pfoten. Harald legte eine Miles-Davis-Platte auf, ›Kind of Blue‹. Jörg, Nina und Sylvia brachten das Geschirr hinaus und stapelten es in die Geschirrspülmaschine. Harald hörte sie lachen, er steckte seine Pfeife an.

»Schön bei euch«, sagte Peter und lümmelte sich in seinem Stuhl zurück. Michael rollte eine schmale Kuba-Zigarre zwischen den Fingern.

»Du bist ein Glückspilz, Harald.«

Harald lächelte, stand noch einmal auf, um ein Holzscheit nachzulegen, drehte die Platte um. Sie schwatzten ein bißchen über gemeinsame Freunde, lästerten über das Fernsehprogramm und erzählten sich komische Sachen, die die Kinder wieder angestellt hatten. Peter war Artdirector für eine Kaufhauskette; er war für die Werbung verantwortlich und konnte ihnen alles mögliche mit Rabatt besorgen. Im Moment gab es günstige Auslegware: hochwertiger Noppenflor in verrückten Farben; Michael und Doris hatten gerade eine Altbauwohnung bezogen und waren sehr interessiert. Michael war Computerfachmann und hatte ein paar eigene Programme entwickelt, Doris war auch Lehrerin, hatte im Moment aber Mutterschaftsurlaub. Harald hatte ihr geholfen, ein ganzes Schuljahr freizubekommen, danach würde sie vermutlich halbtags arbeiten. Sie unterhielten sich darüber, ob sie ein Sprachlabor für die Schule einrichten sollten. An anderen Schulen gab es das schon, und die Lernerfolge bei den Kindern waren überraschend. Sylvia, Jörg und Nina kamen zurück, brachten frisch gebrühten Kaffee und Ninas berühmte Erdbeertörtchen mit. »Ich platz gleich, aber das geht noch rein«, kicherte Lucy. Harald holte eine Flasche mit spanischem Cognac und einen Satz kleiner, bauchiger Gläser, beides Erinnerungen an den letzten Urlaub auf Ibiza. Jörg schenkte allen ein, nahm sein Glas, probierte und schmatzte genüßlich. Er trank gern und manchmal ein bißchen zuviel. Man sah es ihm an. Sie waren alle zwischen Ende Zwanzig und Ende Dreißig, aber Jörg sah zehn Jahre älter aus. Er war Journalist, kam viel rum, nein sagen konnte er nur selten. Lucy hatte als seine Sekretärin angefangen, heute war sie Fotografin, die meisten Reportagen machten sie zusammen.

Harald spürte Sylvias Fuß unter seinem Hosenbein hochkrabbeln. Griff hinunter und kraulte die Zehen in der Strumpfhose. Sylvia grinste. Bei dem Licht sah sie aus wie fünfzehn. Rund und glücklich und faltenlos. Niemand, der sie so gesehen hätte, wäre auf die Idee gekommen, daß sie ein Kind erwartete, daß sie schon zwei Söhne hatte, große, wilde Burschen, von denen der eine bereits nach einem halben Jahr Schule sein erstes Gedicht geschrieben hatte.

Maine Mama hab ich lib, Nudeln gisd man durch das Sib.

Das lag am Ostermorgen auf dem Küchentisch, Max hatte bunte Farbkleckse dazugemalt.

Doris wurde unruhig und wollte heim. Michael wäre gern noch geblieben, verstand aber, daß man die Großmutter nicht zu sehr strapazieren durfte. Außerdem war sie schon fast siebzig und, wenn wirklich was sein sollte, vielleicht überfordert.

Die anderen standen auch auf. Harald war ganz froh. Morgen ging die Schule wieder los, und er wollte noch ein bißchen allein mit Sylvia sitzen bleiben. Sie gingen noch mit hinaus vor die Tür. Es war kühl geworden, und Peter hatte Schwierigkeiten, seinen Wagen zu starten. Dann fuhren sie los. Hupten, winkten, riefen noch etwas aus den offenen Fenstern, das wie ›Danke‹ oder ›Bis bald‹ klang.

Harald war froh, daß er selber nicht mehr fahren mußte. Er umarmte Sylvia, sie gingen zusammen in das warme, gemütlich helle Wohnzimmer zurück. Bobo knurrte im Traum eine Katze an, Harald schob die Glut zusammen und zog das Schutzgitter vor. Sylvia räumte etwas auf, dann brachte sie noch eine Flasche Piccolo herein und setzte sich neben Harald auf das Sofa. Kuschelte sich an ihn. Nippte von seinem Glas und schaute mit ihm zusammen in die immer kleiner werdenden Flammen.

Im Bett hielten sie sich fest umarmt, und obwohl Sylvia meinte, daß sie sich noch monatelang lieben könnten, fürchtete Harald, seiner Tochter, die jetzt schon Ansätze von Fingerchen und Zehen haben mußte, weh zu tun.

Er knipste das Licht auf dem Nachttisch aus, knipste es wieder an. Lief barfuß hinüber zum Zimmer der Buben, öffnete sanft die Tür und lauschte ihrem Atem. Max lag vollkommen entspannt auf dem Rücken, Harald deckte ihn zu. Peter schnarchte wie ein Sägewerk, er war erkältet. Harald stopfte die Decke unter seinem Rücken fest. Schloß leise die Tür.

Sylvia wartete auf ihn, lächelte. Voller Vorfreude schlüpfte er zurück ins Bett.

4

Draußen regnete es.

Dicke Tropfen schlugen gegen die Fenster und hinterließen staubige Schlieren. Es war kalt. Gerda stand auf und wickelte sich fröstelnd in den flauschigen Frotteebademantel. Sie wohnte in einem modernen Apartmenthaus, zwei Zimmer, eins nach Süden auf den Balkon, eins nach Norden auf den Hinterhof hinaus. Wohnzimmer, Schlafzimmer, eine große Diele mit Glastür in der Mitte. Es gab zwei getrennte Heizungssysteme, das im Nordtrakt wurde am frühen Abend eingeschaltet und lief bis Mitternacht, das für den Wohnbereich schon von mittags an. Dadurch sparte man viel Geld. Das Badezimmer gehörte zum Nordteil. Gerda hatte über dem Waschbecken eine Heizsonne angebracht. Sie wartete, bis die Wärme zu spüren war, und zog erst dann den Bademantel aus. Wenigstens gab es immer heißes Wasser.

Sie überlegte lange, was sie anziehen sollte. Hosen waren out, außerdem standen sie ihr nicht besonders. Das graue Kostüm hatte sie vor den Ferien viel zu oft getragen. Für die neue, in den Osterferien erstandene Seidenbluse war es eindeutig zu kalt. Gerda entschied sich für den schmalen schwarzen Rock, den sie sich zum Begräbnis ihres Vaters gekauft hatte, den zitronengelben Mohairpullover und den breiten Wildledergürtel mit Goldschnalle. Zartgelbe Strumpfhosen und die schwarzen Slipper mit kleinem Absatz. Sie sah ihr Bild im Spiegel an, als wäre es ein Foto im Magazin, drehte sich vor und zurück, fand sich schön. Ihr Hintern war etwas zu flach für den Rock, aber sie hatte schmale Hüften wie eine Sechzehnjährige, den Büstenhalter hatte sie mit etwas Watte ausgestopft, sie schlang noch ein Seidentuch darüber, schokoladenbraun, beige, gold und zartblau mit schwarzen Linien. Rückte den Gürtel zurecht. Er rutschte nach oben zurück. Sie sah sich im Doppelspiegel von hinten an. Ging ins Schlafzimmer und zog den Rock wieder aus, nahm statt dessen den weichen Faltenrock aus braunem Tweed. Gleich in der ersten Stunde hatte sie eine sechste Klasse.

Gerda hatte so viel Zeit verloren, daß sie sich nur noch einen Nescafé aufbrühen konnte. Sie aß ein Stück Milchschokolade im Stehen, das war gut für die Nerven. Alle Klassen waren grauenhaft. Die ganze Schule war ein Alptraum. Gerda träumte von der Schule, bis sie schweißgebadet aufwachte. Sah die kichernden Fressen in ihrem Rücken, während sie an der Tafel stand, hilflos dem pubertären Spott ausgeliefert. Kaugummikugeln flogen an ihrem Kopf vorbei, wassergetränkte Schwämme warteten auf ihrem Stuhl, Kreidekrümel überzogen ihr Pult täglich wie frischgefallener Schnee. Die Tische standen im Kreis statt hintereinander, Kinder knutschten vor ihren Augen oder brüllten sich die neuesten Nachrichten quer durch das Klassenzimmer zu, ohne auch nur zu versuchen, von ihr Notiz zu nehmen. Lachten, wenn sie zu schreien anfing, gähnten, wenn sie vor Ermattung ruhig wurde.

»Rudi Carrell macht das aber besser!«

»Der wird auch besser bezahlt!« Sie war so stolz auf diese schlagfertige Antwort, daß sie das allgemeine Hohngelächter schlucken konnte. Aber schon spürte sie die verdammten Tränen aufsteigen, konnte sie nicht zurückhalten, drehte sich um. Diese brutalen Idioten hinter ihr ahnten jede Regung. Warteten nur auf die Tropfen der Hilflosigkeit, um dann um so gemeiner zuzuschlagen.

Als sie angefangen hatte, war es noch schlimmer gewesen. Ihre starke Brille hatte sich immer sofort beschlagen. Sie hatte ausgesehen wie die typische Lehrerin. Jetzt trug sie Kontaktlinsen und schminkte ihre Augen. Ihr Haar war nach der neuesten Mode frisiert, und sie hatte sich extra einen Doppelspiegel angeschafft, um sich auch von hinten sehen zu können. Harald hatte ihr das geraten. Harald war überhaupt der einzige Pluspunkt in der ganzen Schule. Er war im Personalrat und hatte sich für sie eingesetzt. Ihm hatte sie es zu verdanken, daß sie jetzt verbeamtet war, und – den Verdacht wurde sie nicht los – ihm hatte sie es zu verdanken, daß die Horrorteufel aus der Mittelstufe sie einigermaßen verschonten. Ihn liebten sie. Fraßen ihm aus der Hand. Vergötterten ihn.

Gerda war nicht neidisch. Sie verstand, daß er eben dieses berühmte Charisma hatte. Daß er es sich eben auch leisten konnte, mal unvorbereitet in den Unterricht zu kommen und eine Doppelstunde über englisches Frühstück, Old Bailey oder Agatha Christie zu improvisieren. Ihm wurde nie vorgeworfen, daß er zu lange zum Korrigieren der Schulaufgaben brauchte, und keiner maulte, wenn er plötzlich eine Ex ansagte.

Kurz vor der Einfahrt zur Schule gab es einen Stau wegen des Busses; Gerda war mit ihrem Panda auf der falschen Fahrbahn. Trauben von Kindern quollen aus dem Bus. Schlangen von Fahrrädern und Mofas überquerten die Straße. Bolzende Jungen, quiekende Mädchen, matt herumhängende Zaunlatten von knapp zwei Metern schauten blasiert aus pickligen Kindergesichtern, wippende Ärsche und hopsende Titten unter viel zu engen Jeans und viel zu leichten Sommer-T-Shirts. Bei ihr daheim hatte es zu Ostern immer bunte Eier und ein paar Süßigkeiten gegeben, heute kamen die mit einem halben Tausender auf dem Leib aus den Ferien zurück. Lacoste-Hemden und Benetton-Pullis, Edwin-Jeans und Nike-Schuhe. Gerda parkte den Fiat auf dem letzten freien Lehrerparkplatz. Sie wäre gern sitzen geblieben. Wünschte sich einen von diesen lärmisolierten Amischlitten. Mußte aber hinaus und war sofort von dem Quietschen und Kreischen umzingelt. Ein paar von den Kleinen liefen auf sie zu, grüßten, lächelten. Die ganz Neuen waren lieb. Sie waren noch unsicher, und es machte Gerda Spaß, ihnen zu helfen, wenn sie kindlich und liebebedürftig von der Grundschule kamen. Aber nach einem halben Jahr hatten sich die meisten angepaßt, und einige von ihnen wurden aus lauter Frust und Profilierungssucht zu Monstern. Sie bahnte sich einen Weg durch die hin und her wogenden Körpermauern und quetschte sich durch die Glastür, die ihr ein Mädchen aus der neunten fast ins Gesicht fallen ließ.

»Heh!«

Das Mädchen drehte sich um, lächelte schüchtern, berührte Gerda leicht am Ellbogen. »Entschuldigen Sie bitte. Tut mir leid, ehrlich. Das wollte ich nicht.« Die Geste war ungewöhnlich. Nicht nur die Entschuldigung, auch die kurze Berührung. Ehrliche Betroffenheit. Gerda war gerührt.

»Schon gut, ist ja alles noch dran.« Sie sah dem Mädchen nach. Dagmar Sowieso. Sie war neu an der Schule, ging in die neunte, obwohl sie noch keine vierzehn war, und wirkte irgendwie völlig anders als die anderen Schüler. Reifer, selbständiger, nicht so mode- und trendfixiert. Einsam. Sie trug einen grauen Rock, alte Stiefel und einen viel zu großen schwarzen Pullover. Unter den pink und grellfarbenen Schals und Sweatshirts fiel sie nicht auf. Nur das Gesicht, wenn sie einen ansah und lächelte. Rotblonde Locken und leuchtendblaue Augen in einem vollkommen ebenmäßigen Gesicht.

Gerda grüßte zwei Kollegen und flüchtete sich ins Lehrerzimmer. Seit einem Jahr gab es zwei Lehrerzimmer, das große alte für die Nichtraucher und eine winzige Kammer für die Raucher. Aus unerfindlichen Gründen drängelten sich fast alle Kollegen immer im kleinen Zimmer, in dem es nicht genug Stühle gab und die Luft zum Schneiden war. Gerda packte ihre Sachen in den Wandschrank und ging ins kleine Zimmer hinüber. Sie hatte Haralds Wagen nicht auf dem Parkplatz gesehen, aber manchmal brachte ihn seine Frau in die Schule und holte ihn wieder ab. Auch hier war er nicht. Sie erwiderte Grüße und tauschte ein paar Bemerkungen über die Ferien, das Wetter und die Schule aus, schaute sich um, entdeckte ihn endlich ganz hinten am Fenster mit den beiden Physik/Mathe-Kollegen, Karl Lankisch und Armin Einold. Die meisten im Kollegium duzten sich, bei Einold wäre niemand auf diese Idee gekommen. Er war grau und hager, mußte über Sechzig sein und besaß Autorität, bei den Kollegen wie bei den Schülern. Es wurde gemunkelt, daß er sowohl an der TU als auch in der Wirtschaft hätte Karriere machen können, daß er aber aus politischen Gründen an dieser Schule gelandet oder gestrandet war, niemand wußte etwas Genaues, Einold ließ auch keinen an sich heran. Er war nicht unfreundlich, er lebte nur der Wissenschaft und dem Wunsch, möglichst viel davon an seine Schüler zu vermitteln. Die Begabten und Interessierten profitierten davon, die anderen respektierten ihn. Wenn er unterrichtete, konnte man die berühmte Stecknadel fallen hören. Unter all den jungen, dynamischen, diskussionsgestreßten Kollegen war er ein Fossil. Für ihn war die Schule kein Job, sondern eine Aufgabe.

Gerda wartete, bis Harald sie sah und ihr zuwinkte. Sie ging zu ihm hinüber, und er küßte sie auf beide Wangen. Bezog sie in das Gespräch mit ein und erzählte ihr, daß er durch einen Freund vielleicht etwas billiger an eine Computeranlage für die Schule kommen könnte. Sie nickte, lächelte, spürte, daß sie rot wurde. Schwieg. Ließ die anderen reden. War glücklich, dabeizusein.

Als Einold ging, war sie einen Moment mit Harald allein. »Wir haben eine Neue in der neunten«, begann sie, »diese Dagmar.« Harald lächelte abwesend, winkte einer Kollegin an der Tür zu.

»Ja?«

»Wir müssen uns ein bißchen um sie kümmern.« Er wandte sich ihr wieder zu, strahlte, strich ihr leicht mit dem Fingerrücken über das Gesicht.

»Klar doch.«

Das erste Klingelzeichen. Alle drängelten sich zur Tür. Gerda fühlte sich jetzt stark genug, einen Löwen zu köpfen.

5

Auf seinem Tisch stand ein Kunstwerk. Ein bunter Blumenstrauß aus Plastik, Drähten, Schrauben, Tubendeckeln und sonstigem Müll. Das Ganze steckte in einer leeren ›Teacher‹-Flasche und war von einem kleinen silbernen Transparent gekrönt: Lieber Whisky-Sour als Sour Reagan. Harald lachte und verteilte als Dank eine große Tüte mit englischen Toffees. Brüllender Jubel, Papiergeknister und dann zufriedenes Schmatzen. »Was für eine erfreuliche Ruhe!« Er packte seine Sachen aus.

»Genau!«

»Können Sie öfter machen!«

»Kaugummi hält aber länger.«

»Eure Zahnarztrechnungen bitte direkt ans Kultusministerium.« Gelächter, Zustimmung. Harald liebte diese neunte, deren Vertrauenslehrer er auch war. Als er sie vor anderthalb Jahren als 8b bekommen hatte, war sie der verrufenste Haufen an der ganzen Schule gewesen. Gefürchtet und gehaßt von den Lehrern, bewundert von den jüngeren Schülern, verachtet von den älteren. Es war eine unhomogene Gruppe mit viel mehr Buben als Mädchen und einem hohen Prozentsatz an überalterten Sitzenbleibern und Schulwechslern. Wirr, chaotisch und aggressiv. Die meisten hatten die ehrgeizigen Abiturträume, die die Eltern für sie hatten, längst aufgegeben und quälten sich nur noch mit einem Mindestmaß an Aufwand bis zur mittleren Reife. Nicht einmal Harald hätte diese Klasse freiwillig übernommen. Aber nach den letzten Sommerferien war er zu spät in die Schule gekommen, und Deisinger, der Vize (Erdkunde und Geschichte), hatte ihm den fertigen Stundenplan mit einem höhnischen Lächeln vorgelegt. Wenn der Kollege etwas dagegen habe, die 8b gleich in zwei Fächern, in Deutsch und Englisch, zu übernehmen, dann könnte vielleicht eine Lösung gefunden werden, zum Beispiel die Kollegin Gerda Malau ... Harald war wütend geworden. Deisinger war ein Aufsteiger und Intrigant. Ausgerechnet Gerda. Dem armen Schwein hatte er die Klasse schon im Vorjahr aufgezwungen, und sie wäre auch prompt daran gescheitert, wenn Harald nicht eingegriffen hätte. Seitdem munkelte Deisinger ihnen mit schmierigem Grinsen eine Affäre nach und rächte sich auf seine Weise. Harald brauchte drei Monate, um die Klasse zu verändern. Zuerst gewann er die schwächere Mehrheit für sich. Er las mit ihnen im Unterricht Krimis, machte seine Übungen nach Quizmanier und schleppte die Klasse auf eigene Kosten ins Kino. Western im Original mit Untertiteln. Von dem Hauptproblem, den drei Anführern – Dobner, Rohn und Niebel – nahm er so lange keine Notiz, bis er sie für reif hielt. Er übersah sie einfach, selbst als er sie dabei erwischte, wie sie ihm die Luft aus den Reifen seines Golf ließen. Rief nur den ADAC an. Verschaffte sich danach weitere Informationen über die drei.

Ferdinand Dobner war mit seinen fast sechzehn der älteste. Er war grob und schwer gebaut und interessierte sich nur für Fußball und Maschinen. Seinen Eltern gehörte ein großes Haushalts- und Eisenwarengeschäft, das er einmal übernehmen sollte. Er hatte die Taschen immer voller Geld und warf damit um sich.

Toni Rohn war etwas jünger, lang aufgeschossen, mit Krummrücken und nikotinverfärbtem Mittelfinger. Seine Eltern waren geschieden, die Mutter arbeitete als Direktrice in einem Modehaus und wünschte sich eine Medizinerkarriere für ihn. Er war in den naturwissenschaftlichen Fächern nicht unbegabt, scheiterte aber immer wieder an den Sprachen und hatte sich zum No-Future-Zyniker und Gruppenclown hochstilisiert.

Lutz Niebel war damals auch schon fünfzehn, klein für sein Alter, hübsch und elegant. Der Vater war Manager, viel auf Reisen, die Mutter und die drei Geschwister lebten in einer Villa in Solln. Niebel hatte die Schulen gewechselt wie andere Leute die Hemden, darunter einmal eine Sonderschule und ein Gastspiel in einem vornehmen Knabeninstitut. Er war blasiert und gelangweilt und ließ keine Gelegenheit aus, die Lehrer zu provozieren, wenn sich das mit wenig Energie machen ließ.

Annie Höpfner war das Groupie. Teure Klamotten, üppige Rundungen aus Babyspeck und ein Kilo Make-up im Gesicht. Beide Elternteile waren mehrfach geschieden und wiederverheiratet. Es gab da eine Brauerei in der Familie, mehrere Gaststätten und Latifundien in ganz Europa. Annie soff. Und machte auch sonst alles mit.

Harald packte sie einzeln. Paßte sie ab, lauerte ihnen auf. Er bat Dobner, sich mal das kaputte Verteilersystem am Auto anzusehen, verwickelte ihn dann in ein Gespräch über Fußball, nachdem er die halbe Nacht vorher alle im Moment akuten Spiele und Namen auswendig gelernt hatte, und vermittelte ihn dann mit Hilfe von Jörg und Lucy in die Jugendmannschaft des FC Bayern.

Bei Toni Rohn war es einfach. Er nahm ihn einmal mit in Michaels Computercenter, und ein neuer Freak war geboren. Außerdem ging er davon aus, daß einer, der ständig witzige Sprüche abläßt, sprachlich nicht vollkommen tumb sein konnte, und forderte ihn systematisch mit Sprachspielereien heraus, bis er endlich darauf einging.

Lutz Niebel erwies sich als die härteste Nuß. Harald war nach kurzer Zeit davon überzeugt, daß Niebel hochbegabt war. Die Schule langweilte ihn, das System war nicht für fragende Genies gemacht, er war so viel rumgeschubst worden, daß er inzwischen nur noch abblockte und verweigerte. Er schmuste mit allen nur greifbaren Mädchen der Schule herum, aber, wie Harald beobachtete, nur, wenn andere zuschauten. Er interessierte sich für Jungen, litt darunter, Ferdinand Dobner betete er an. Harald redete mit ihm, stellte ihm philosophische Aufgaben, sprach mit ihm wie mit einem Erwachsenen, war rein zufällig da, wenn er wieder einmal kurz vor einem Direktoratsverweis stand und motivierte ihn, Dobner bei den Schulaufgaben zu helfen.

Nach ein paar Wochen hatte er dadurch die nur auf Zerstörung ausgerichtete Gruppe getrennt, ohne sie auseinanderzubringen. Dobner hatte ihn als eine Art Leithund akzeptiert, die anderen schöpften erleichtert Luft, orientierten sich neu, lebten auf.