2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €
Der Junge lag über dem Tisch. Seine Arme hingen schlaff über die Kanten herunter. Es sah nicht so aus, als schliefe er. Ein Schüler wird tot im Chemiesaal aufgefunden – an der Tafel ein Hinweis auf den mutmaßlichen Mörder: Studienrat Zauner, ein Lehrer der Schule! Zauner ist alles andere als beliebt, sowohl das Kollegium als auch die Schüler verabscheuen ihn und machen daraus keinen Hehl; aber traut man ihm auch einen Mord zu? Oberinspektor Lugeder muss in einem Umfeld ermitteln, in dem Neid, Missgunst und Hass herrschen – und nebenbei muss er sich nicht nur mit schlimmem Sodbrennen, sondern auch mit der kessen Kriminalassistentin Kreibich herumschlagen, die unbedingt beweisen will, dass auch sie etwas auf dem Kasten hat. Als erste deutsche Autorin von Kriminalromanen hat Irene Rodrian Krimigeschichte geschrieben. Bei dotbooks erscheinen ihre Klassiker nun exklusiv im eBook. Jetzt als eBook: „Der Tod hat hitzefrei“ von Irene Rodrian. dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 219
Über dieses Buch:
Ein Schüler wird tot im Chemiesaal aufgefunden – an der Tafel ein Hinweis auf den mutmaßlichen Mörder: Studienrat Zauner, ein Lehrer der Schule! Zauner ist alles andere als beliebt, sowohl das Kollegium als auch die Schüler verabscheuen ihn und machen daraus keinen Hehl; aber traut man ihm auch einen Mord zu? Oberinspektor Lugeder muss in einem Umfeld ermitteln, in dem Neid, Missgunst und Hass herrschen – und nebenbei muss er sich nicht nur mit schlimmem Sodbrennen, sondern auch mit der kessen Kriminalassistentin Kreibich herumschlagen, die unbedingt beweisen will, dass auch sie etwas auf dem Kasten hat.
Als erste deutsche Autorin von Kriminalromanen hat Irene Rodrian Krimigeschichte geschrieben. Bei dotbooks erscheinen ihre Klassiker nun exklusiv im eBook.
Über die Autorin:
Irene Rodrian, 1937 in Berlin geboren, erhielt für ihren Roman Tod in St. Pauli 1967 den begehrten Edgar-Wallace-Preis. Seither hat sie sich mit zahlreichen Bestsellern in einer Gesamtauflage von mehreren Millionen und als Drehbuchautorin (Tatort, Ein Fall für Zwei) einen Namen gemacht. Irene Rodrian lebt heute in München.
Bei dotbooks erschienen bereits Irene Rodrians Barcelona-Krimis über das Ermittlerinnen-Team Llimona 5 („Meines Bruders Mörderin“, „Im Bann des Tigers“, „Eisiges Schweigen“ und „Ein letztes Lächeln“) sowie die Reihe Krimi-Klassiker („Tod in St. Pauli“, „Wer barfuß über Scherben geht“, „Finderlohn“, „Die netten Mörder von Schwabing“, „Küsschen für den Totengräber“, „Du lebst auf Zeit am Zuckerhut“ und „… trägt Anstaltskleidung und ist bewaffnet“, weitere Titel sind in Vorbereitung).
Die Autorin im Internet: www.irenerodrian.com und www.llimona5.com
***
Neuausgabe Februar 2014
Copyright © der Originalausgabe 1976 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs
Titelbildabbildung: © sarapulsar38 - Fotolia.com
ISBN 978-3-95520-496-9
***
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren Lesestoff aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort Der Tod hat Hitzefrei an: [email protected]
Gerne informieren wir Sie über unsere aktuellen Neuerscheinungen und attraktive Preisaktionen – melden Sie sich einfach für unseren Newsletter an: http://www.dotbooks.de/newsletter.html
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.twitter.com/dotbooks_verlag
www.gplus.to/dotbooks
Irene Rodrian
Der Tod hat Hitzefrei
Kriminalroman
dotbooks.
Die Lehrer
OBERSTUDIENDIREKTOR HARLANDER macht sich Sorgen
STUDIENRAT ZAUNER macht einiges durch
STUDIENRAT BENSCH macht auf »Hoppla, jetzt komm ich!«
STUDIENRÄTIN VOIT macht einen Fehler.
Die Schüler
EHGARTNER, JUTTA ESCHLBECK, ULRICH KINDERMANN, OLIVER KLOTZ, SONJA KOLLMEIER, GERHARD MYTZKA, MARGIT RANDAK, ERICH SCHACHTNER, ANTON machen Terror, und dann stirbt einer von ihnen.
Die Eltern
HERR UND FRAU EHGARTNER HERR UND FRAU ESCHLBECK HERR UND FRAU RANDAK
Dies ist ein Roman. Es gibt vermutlich das eine oder andere Georgen-Gymnasium – keines von ihnen ist hier gemeint. Auch die einzelnen Schüler, Lehrer, Eltern, Polizisten etc. existieren (oder existierten) nicht in der Realität, und die geschilderten Ereignisse haben sich meines Wissens nie – und schon gar nicht so – zugetragen. Falls sich trotzdem zufällig Ähnlichkeiten mit Situationen, Ereignissen oder Personen ergeben sollten, liegt dies in der Natur (– wieso eigentlich? –) der Dinge, nicht in meiner Absicht.
iRo
Im Herbst 1952 öffnete das Georgen-Gymnasium zum erstenmal seine Tore. Seitdem sind 23 Jahre vergangen: Jahre des Aufbaus und der Veränderungen.
Die schweren und entbehrungsreichen Nachkriegsjahre erscheinen uns heute fast beschaulich, die darauf folgende Phase des Bildungshungers und wissenschaftlichen Forscherdrangs erfüllt und erregend. 1965 konnten wir unseren Anbau fertigstellen und den mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig voll eingliedern, um dem immer größer werdenden Schülerzustrom gerecht zu werden. Es folgte der zeitweilig recht unruhige Abschnitt der Kritik und der Reformen, der überging in die vielleicht härteste Prüfung unseres Ausbildungswesens und unserer Schule.
Harter Leistungsdruck, Numerus clausus, Malus und Bonus, zusammen mit finanziellem Druck, überfüllten Klassenzimmern und ständigem Personalmangel lassen immer weniger Raum für eine planvolle und umfassende Erziehung der jungen Menschen, die uns anvertraut sind. Die Bildung und Kräftigung von Geist und Charakter, die Förderung der gesunden körperlichen Entwicklung, die Zeit für Muße und Musen, mit einem Wort die Hinführung zum Wahren, Guten und Schönen und das Formen zu selbständigen und brauchbaren Gliedern unserer Gesellschaft–das ist gleichwohl unverändert unser Anliegen und unser Ziel.
Wir haben uns immer bemüht, mit der Zeit zu gehen, und heute glaube ich mit Recht und Stolz sagen zu können, daß es uns gelungen ist. Das Georgen-Gymnasium hat sich zu einer modernen, offenen und demokratischen Bildungsstätte entwickelt, die ihren Platz im 20. Jahrhundert wohl behaupten kann.
Wollen wir alle zusammenwirken, den eingeschlagenen Weg weiterzuverfolgen.
DR. RUPERT HARLANDER Schulleiter
Der Chemiesaal lag im südlichen Teil der Schule, und obwohl es noch früh am Morgen war, hatte die Temperatur schon fast 20 Grad erreicht. Ungehindert drang das Sonnenlicht in breiten Bahnen durch die ebenerdigen Fenster und ließ Milliarden winzigster Kreidepartikelchen in der Luft tanzen. Die Arbeitstische, die den Raum bis zur rückwärtigen Wand hin ausfüllten, waren aus stoßfest lackiertem Metall und fest im Boden verschraubt. Trotzdem zeigten sie deutlich wie Jahresringe die Spuren der Zerstörung, die Hunderte von Schülern an ihnen hinterlassen hatten, und die kreuzförmigen Gashähne darauf wirkten verloren wie die Trümmer eines Soldatenfriedhofs aus dem Ersten Weltkrieg.
Im Flur draußen wurde es laut. Horden mit trampelnden Schritten kamen näher, Rufe, Gelächter. Drinnen schien die Zeit stillzustehen. Die Luft war abgestanden und muffig, als wären die Fenster seit Monaten nicht mehr geöffnet worden; es roch nach Schweiß, Staub und Bohnerwachs und leicht faulig nach irgendeinem Versuch mit Schwefelwasserstoff, der am Vortag hier stattgefunden hatte. Oder nach Tod.
Der Junge lag über dem ersten Tisch. Seine Arme hingen schlaff über die Kanten herunter, und der Winkel zwischen seinen Schultern und dem Kopf wirkte seltsam verzerrt und unnatürlich. Er war etwa 16 Jahre alt, ziemlich groß und schlank, mit einem fast schönen, wenn auch noch weichen und unfertigen Gesicht und gewelltem dunkelblondem Haar. Über dem Hemdkragen zog sich wie ein Strick ein Streifen um den Hals; hier war das Gewebe zusammengequetscht und die Haut dunkel verfärbt. Der Junge sah nicht so aus, als schliefe er. Seine Augen waren weit geöffnet und schienen direkt auf die Tafel zu starren, die jemand mit einem Lappen sauberzuwischen versucht hatte.
Sonntag, 25. Mai 22.10 Uhr
Hinter dem gelben Schirm der Schreibtischlampe wirkte das offene Fenster nur wie ein mattschwarzes Viereck. Ein leichter Windhauch bewegte die Vorhänge an den Seiten und schob die obersten Blätter von dem Haufen der schon korrigierten Arbeiten. Zauner schubste den Stapel sorgfältig wieder in seine aufrechte Lage zurück und drückte mit der Hand die gefaltete Seite fester zusammen. Er ließ los, und als wollte ihm der Stapel eins auswischen, hob er sich links, und die obersten Arbeiten rutschten wieder nach rechts. Zauner wandte sich müde dem Blatt zu, das vor ihm lag, und versuchte, sich zu konzentrieren. The monsters of pre-history are obvious exemples. Automatisch strich er in dem letzten Wort das zweite e an. Seine Augen schmerzten. Er nahm die Brille ab und massierte seine Stirn. Es half nicht viel. Der Nescafé in der Tasse war kalt geworden. Angewidert schob er sie beiseite. Noch drei Arbeiten, und dann die Noten. Er machte weiter.
Draußen auf der Straße fuhr ein Auto vorbei. Es roch nach Staub, Benzin und schwach, aber eindeutig nach Bäumen, nach Wald. Die kümmerlichen Buchen auf dem Hinterhof und die grauverstaubte Hecke, die das Grundstück zum nächsten hin abgrenzte. Vor fünzig Jahren waren das hochherrschaftliche Protzbauten gewesen; heute nur noch die Reste vergammelter Mietshäuser zwischen modernen Apartmentblöcken. Are the railways fighting a losing batle? Er machte einen Strich, wo das zweite t in battle fehlte, und gähnte. Es war heiß, viel zu heiß für Mai; er hatte plötzlich das Gefühl, Schweißflecken auf den Blättern zu hinterlassen, und hörte schon das unterdrückte Kichern in der Klasse. Draußen war es schön. Eine laue Mainacht. Die Biergärten waren voll, und die Clique vom Kollegium saß sicher wie immer am Wochenende beim Aumeister. Die krakeligen Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Brigitte …
In seinen Gedanken nannte er sie Brigitte, aber wenn er sie auf dem Gang traf, konnte er sich nur mit äußerster Willensanstrengung zu einem Nicken zwingen. Brigitte Stübinger, Studienrätin z. A., Biologie und Erdkunde. Blond, zierlich und schrecklich jung. Sie war freundlich zu ihm, aber das war sie zu allen. Sie war nicht so wie die anderen Referendare und Junglehrer, sie war … Ja, ja, ja – besonders freundlich war sie natürlich zu Bensch, wie all die Weiber …
Er rieb die Handflächen an den Hosenbeinen trocken und griff wieder nach dem roten Kugelschreiber. Das nächste Blatt. Wer war denn das? Eschlbeck. Mein Gott, daß der auch immer die Präpositionen verwechseln mußte. Dreizehn Fehler. Das war eine Sechs. Zauner begann noch einmal nachzuzählen; es blieb bei dreizehn. Und dabei war das reine Flüchtigkeit. Der Kerl konnte doch Englisch. Er benutzte die Sprache, er konnte damit umgehen. Aber er war nie bei der Sache … Zauner nahm noch einmal die Tasse mit dem kalten Kaffee hoch und stellte sie wieder hin, ohne getrunken zu haben. Wenn er ihm eine Sechs gab, dann war es aus mit der Versetzung. In Französisch und Mathe wackelte er sowieso schon, und dann noch in Englisch … Er blätterte in den anderen Arbeiten. Keine war besonders gut ausgefallen. Vielleicht war der Stoff doch zu schwer gewesen. Und wenn er den Fehlersprung auf drei erhöhte? Dann könnte er bis fünfzehn Fehler eine Fünf geben, und Eschlbeck wäre aus dem Schneider … Zauner begann nachzurechnen. Sein Hemd kratzte am Hals. Er hätte es gern ausgezogen, aber schon wenn er die obersten Knöpfe öffnete, hatte er das Gefühl, daß alle ihn anstarrten und über ihn lachten. Seine Haut war fahlweiß unter den lichten schwarzen Haaren, sein Bauch wölbte sich in Falten. Er zog ihn ein. Vielleicht sollte er sich doch eine andere Wohnung nehmen. Eine, in die niemand hineinschauen konnte, auch wenn im Sommer das Fenster offenstand. Er starrte auf das schwarze Viereck. War das jetzt Einbildung, oder hatte wirklich der Kies unter dem Fenster geknirscht? Er hielt die Luft an. Schritte? Stimmen? Kichern? Wieder fuhr draußen ein Auto vorbei. Als er Luft holte, klang es wie Keuchen. Ein Zweig schlug gegen die Mauer. Aber da war kein Zweig. Nur die Mülltonnen. Wenn jemand auf eine der Tonnen stieg, konnte er bequem ins Zimmer … Zauner streckte die Hand aus und löschte die Lampe. Im ersten Moment sah er überhaupt nichts, dann begannen sich vor dem Fenster Konturen zu bilden. Ein Teil vom Nachbarhaus, der Schein der nächsten Straßenlaterne und die Umrisse der vorderen Buche. Zu hören war nichts mehr. Zauner nahm vorsichtig seinen Stuhl mit beiden Händen, hob ihn hoch, schob und setzte ihn ein Stück weiter hinten lautlos ab. Wieder Knirschen? Als er aufstand, mußte er sich am Tisch festhalten, spürte Papier unter seiner Hand knittern. Er atmete mit offenem Mund und bewegte sich langsam am Rand der Tischkante entlang bis zu dem linken Vorhang. Einen Augenblick lang hatte er das grauenhafte Gefühl, die deutlich sichtbare Zielscheibe für einen Scharfschützen zu bilden, dann packten seine Hände die beiden Fensterflügel und drückten sie zusammen. Er zog die Vorhänge zu und trat einen Schritt zurück. Sein Atem ging stoßweise, und seine Knie zitterten. Er tastete nach der Lampe und machte wieder Licht. Langsam wich er vom Fenster zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand stand. Er hatte das Gefühl zu ersticken. Aber auch bei geschlossenem Fenster war die Zelle seines Wohnzimmers nicht mehr sicher. Die Vorhänge waren nicht durchsichtig, aber man konnte von draußen sehen, daß innen Licht brannte. Daß er da war. Daß er sich fürchtete. Und wenn er am Fenster vorbeiging, konnte man seinen Schatten sehen.
Zauner kletterte über die Sofalehne und über den Sessel, hielt sich immer an der Wand, schob sich an der massigen Anrichte vorbei und auf den Flur hinaus. Er schloß die Zimmertür und knipste das Licht im Flur und in der Küche an. Und wenn sie um das Haus herumgingen? Er floh ins Badezimmer, das kein Fenster hatte, und hockte sich auf den Wannenrand. Es war eine altmodische Wanne mit Löwenfüßen und Roststreifen. Seine Eltern waren in die Wohnung gezogen, als er noch ein kleiner Junge war, und nach ihrem Tod hatte er alles so gelassen, wie es war. Nicht aus Pietät – er wußte kaum noch, wie sie ausgesehen hatten; einfach aus Bequemlichkeit. Er hatte nur seinen Arbeitstisch ins Wohnzimmer gestellt und schlief in seinem früheren Kinderzimmer, an dessen Wänden immer noch die Poster und Kalenderblätter seiner letzten Schuljahre hingen. In den Jahren bei der Bundeswehr und in seiner Referendarzeit in Landsberg hatte er die Wohnung vermietet, und von den Mietern stammten auch noch einige Dinge, unnütz, kaputt, vergessen.
Er begann sich auszuziehen und drehte die Dusche auf. Er mußte sich dazu in die Wanne hocken und vorsichtig sein, um nicht den ganzen Raum unter Wasser zu setzen. Allmählich wurde das Wasser immer kälter, er fror und drehte den Hahn wieder zu. Als er sich aufrichtete, um nach dem Handtuch zu fassen, konnte er sich im Spiegel über dem Waschbecken sehen. Nicht sehr deutlich, weil seine Brille auf der Glasplatte lag, aber es genügte vollkommen. Die eingefallene Brust, die runden Schultern, auf denen kleine schwarze Haarbüschel sprossen, und der Bauch, der weder vom guten Essen noch vom Bier kam, sondern nur vom ewigen Sitzen. Beim Bund, verdammt, da hatten sie ihn hingekriegt. Ehrlich, als er da rauskam, sah er anders aus. Er trocknete sich ab und zog sich an, wobei er es vermied, noch einmal in den Spiegel zu schauen. So groß war der Unterschied auch wieder nicht. Schon mit 18 hatten seine Haare angefangen, sich zu lichten, und bei allen körperlichen Übungen war er der Schlechteste gewesen und bis zum Schluß geblieben. Aber Abitur mit 1,2.
Er ging hinaus und machte die Tür zum Schlafzimmer auf. Durchzug blähte die weißen Stores. Die Fenster waren offen! Er rannte hin und verriegelte sie. Einen Augenblick lang starrte er auf die Ehebetten seiner Eltern. Er würde sich ein Apartment in einem Hochhaus mieten. Als er die Tür wieder zudrückte, spürte er einen seltsamen Kloß im Hals. Er war doch erst 32 – warum sollte er nicht doch noch heiraten? Andererseits – warum sollte er? Und die Miete war hier billig, und es gab sowieso nicht so leicht schöne Wohnungen … Er schluckte den Kloß herunter und sah auf die Uhr. Kurz nach elf. Er ging ins Wohnzimmer zurück, knipste das Licht wieder an und setzte sich wieder an den Schreibtisch.
Kollmeier, der bekam auch noch eine Fünf, wenn er die Fehlerquote änderte … Wieder hörte er ein Geräusch, und sofort war die Angst wieder da. Es ist nichts, versuchte er sich einzureden. Irgendwelche Penner, die in den Mülltonnen wühlten, wer sonst sollte es sein. Aber er konnte sich nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren. Immer wieder ertappte er sich dabei, auf das leiseste Geräusch von draußen zu lauschen. Der Kugelschreiber rutschte in seiner feuchten Hand.
Als es dann passierte, war er völlig unvorbereitet.
Er hörte einen ohrenbetäubenden Krach, ein grelles Splittern, die Vorhänge bauschten sich nach innen … Er ließ sich vom Stuhl fallen, rollte sich unter dem Tisch zusammen und verbarg das Gesicht in den Armen. Etwas polterte über ihm, dann war es ruhig. Er bewegte sich nicht. Er konnte sich nicht bewegen; seine Muskeln waren verkrampft, sein Magen zuckte, und sein Herz hämmerte unregelmäßig und heftig. Etwas Kaltes berührte ihn im Nacken, er fuhr zusammen und begann zu wimmern. Die Berührung wiederholte sich. Ein sanftes, gleichmäßiges Klopfen, das wie ein kühler Wurm in seinen Hemdkragen weiterkroch. Er rollte sich zur Seite und öffnete die Augen. Kleine braune Tropfen kamen von der Schreibtischkante herunter und trafen jetzt auf sein Hosenbein. Er streckte die Hand aus. Kaffee.
Zauner richtete sich mühsam auf und zog sich hoch. Der Tisch war mit Glasscherben bedeckt. Die Kaffeetasse war umgekippt, und der Inhalt war über die Papiere gelaufen. Es sah aus wie eine Landkarte. Das Zeug begann bereits einzutrocknen. Der Stein war bis in die linke Ecke gerollt. Er hatte Form und Größe eines Pfundbrotes und war mit einem Stück Packpapier umwickelt, das sich an einer Stelle gelöst hatte. Zauner hob eine Hand und wickelte es ganz ab. Auf der Innenseite stand mit breitem Filzschreiber und in Druckbuchstaben:
Der nächste trifft Dich in die Fresse, Du Schwein!
Montag, 26. Mai 07.20 Uhr
Er hockte verkrümmt in der Bank und stierte auf das weiße Blatt. Rings um sich herum konnte er die Stifte über das Papier kratzen hören. Ohne aufzusehen, wußte er, daß sie Seite um Seite füllten, eine Aufgabe nach der anderen lösten. Auf seinem Blatt blieben die Karos leer. Eschlbeck! donnerte eine Stimme. Er zuckte zusammen, die Feder seines Füllhalters bohrte sich in das Papier, Risse verbreiterten sich wie Sprünge in einer Glasplatte, bluteten blaue Tinte. Aber es war gar nicht Stärfl, der Mathelehrer … Bensch, im Turntrikot. Eschlbeck, du Flasche! Jemand lachte. Er begann zu schreiben. Französisch. Fließend, ohne zu stocken, ohne zu zögern, fehlerfrei. Aber jetzt war doch Mathe … Seine Hand verkrampfte sich wieder, ein blauer Tintensee floß über den Text. Die Tinte dampfte. Jemand packte ihn im Genick und stieß seinen Kopf in die dampfende Flüssigkeit. Ich bin kein Hund! Er wollte sich aufbäumen, hörte die Stimme über sich. Sein Vater. Er wollte weglaufen, konnte sich nicht bewegen, hob mit ungeheurer Mühe den Kopf und bemerkte, daß er nackt war. Und vor ihm saß mit untergeschlagenen Beinen Margit und lachte mit zurückgelehntem Kopf. Der Uli! Er mußte es schaffen, die Hände zu senken, sich zu bedecken! Der Füller war zwischen seinen Fingern festgewachsen. Es war kein Füller, es war ein Messer. Mit schwarzem Griff und goldener Klinge. Er würde sich verletzen. Verstümmeln. Töten. Die Hand mit dem Messer war jetzt zwischen seinen Beinen. Margit lachte. Er schrie auf.
»Uli!«
Schmerz brach über ihm zusammen, deckte ihn zu und machte ihn blind.
»Uli! Wach doch auf! Es ist schon nach sieben!«
Eine Tür schlug zu, Schritte. Geschirr klapperte.
Es dauerte sehr lange. Seine Augen waren so verklebt, so zugeschwollen, daß er sie nicht aufbekam. Die verschwitzte Decke hatte sich eng um seinen Körper gewickelt; er lag da wie gefesselt, die Beine ineinandergeschlungen, eine Hand zwischen die Schenkel gepreßt. Schmerz. Schwerfällig begann er sich zu bewegen.
Hämmern an der Tür. »Uli! Es ist gleich halb acht!«
Er fuhr ruckhaft hoch, bunte Funken flirrten vor seinen Augen, ihm wurde schwindlig, und er sank wieder zurück. Halb acht. Mathe. Er hatte sich noch nicht vorbereitet. Der Wecker. Zu spät. Alles aus. Er rollte sich aus dem Bett und taumelte ins Badezimmer hinüber, um sich zu waschen.
In der Küche hatte seine Mutter schon Brote vorbereitet. Er trank nur den Kaffee und rannte hinaus. Ihre Stimme folgte ihm jammernd, vorwurfsvoll, kreischend bis hinaus ins Treppenhaus.
Als er die Kreuzung erreichte, schwitzte er schon wieder. Die Straßenbahn verschwand gerade hinter der nächsten Ecke. Er wandte sich um, lief bis zur nächsten Haltestelle. Ihm wurde schlecht, und er blieb stehen. Dreiviertel acht. Die nächste Bahn kam in sieben Minuten. Er konnte es nicht mehr schaffen. Er spürte Tränen in sich aufsteigen und sah das Mofa wie durch einen Vorhang.
Hellblau unter einer grauen Schmutzschicht lehnte es an einem grünen Papierkorb. Verloren, vergessen. Und nicht einmal abgeschlossen. Leute rannten an ihm vorbei; jeder hatte es eilig, niemand beachtete ihn, als er das Mofa nahm und sich draufsetzte. Niemand rief, als er in die Pedale trat und losfuhr.
Der Motor hustete, stotterte und sprang an. Uli drehte den Griff voll zurück, quetschte sich zwischen einem VW und einem Ford Transit durch, bog bei der Ampel nach rechts ab und war in der nächsten Straße. 15 – 20 – 25 zeigte der Tacho an. Die Schulmappe, die er vor sich auf dem Schoß hielt, behinderte ihn, aber er hatte keine Zeit, um noch einmal anzuhalten und sie auf den Gepäckträger zu klemmen. Er überholte zwei Radfahrer. Vor ihm hielt ein Bus. Er mußte auf die linke Seite hinüberkommen, hatte keine Hand zum Abwinken frei, hörte hinter sich Hupen und war drüben. Rot. Er nahm etwas Gas weg und wäre fast gestürzt. Stützte sich mit dem Fuß ab und fuhr ein Stück über den Gehweg. Eine Frau schimpfte hinter ihm her. Er fuhr wieder auf die Straße. Noch zwei Blocks …
Er hörte das Kreischen der Bremsen und den schrillen Aufschrei eines Kindes. Den Stoß selbst spürte er nicht und auch nicht den Aufprall. Aber er erinnerte sich daran, als er auf der Straße lag, die Schulmappe immer noch mit der linken Hand umklammert. Kein Schmerz, nur der Geschmack nach Metall im Mund und ein sandiges Knirschen zwischen den Zähnen. Stimmen. Am lautesten die eines Mannes. Uli sprang auf, drehte sich um und rannte los. Er lief geduckt, so als hätte er nicht die Zeit, sich voll aufzurichten. Er sah Gesichter an sich vorbeifliegen, starr und unbeweglich wie auf einem gestoppten Filmstreifen. Dann hatte er die Ecke erreicht, überquerte die Straße mitten in einer Gruppe von Fußgängern und wandte sich wieder nach links.
Je näher er der Schule kam, desto dichter wurde der Pulk der Letzte-Minute-Schüler. Eine amorphe Masse, unruhig wuselnd, sich aber doch nur träge vorwärtsbewegend, nahm ihn willig in sich auf und verbarg ihn. Erst jetzt spürte er das heiße Klopfen im linken Ellbogen, den stechenden Schmerz, der bei jeder Bewegung bis in die Schulter hinaufschoß. Vorsichtig nahm er die Mappe in die rechte Hand. Das Hemd war zerrissen und blutig, aber in den blauroten Karos fiel es kaum auf, und er hatte Angst, den Stoff von der Haut wegzuziehen.
Die anderen standen am üblichen Platz neben der Treppe: Rando, Kolle, Toni. Und Margit natürlich. Uli stellte sich zwischen Jutta und Kindermann. Genausogut hätte er sich neben eine Wand stellen können. Sie redeten nicht miteinander, keiner sagte hallo oder auch nur irgend etwas anderes zu ihm. Ihre Gesichter waren leer und ausdruckslos, nur Toni hatte das Mathebuch aufgeschlagen in der Hand und murmelte vor sich hin. Uli schob sich zu ihm hin.
»Mann, hat das einer von euch kapiert? Quadratische Gleichungen! Wenn er die drannimmt, dann bin ich geliefert!«
»Leck mich doch am Arsch!« sagte Kindermann.
Die anderen reagierten überhaupt nicht. Als die Glocke schrillte, setzten sie sich in Bewegung, synchron wie Puppen, die von Drähten gezogen werden.
Stärfl hatte schon aufgeschlossen und wartete auf sie. Er war nicht der Typ, der viel Zeit mit Begrüßungsformeln verliert. Die letzten saßen noch nicht auf ihren Plätzen, als er schon damit begann, die Blätter und die vervielfältigten Aufgaben zu verteilen. Uli saß nach vorn gebeugt über seinem Tisch und hielt den linken Ellbogen in der rechten Hand. Wenn er ihn ganz ruhig auf die Oberschenkel stützte, tat er kaum noch weh; sogar an das gleichmäßige Klopfen konnte er sich gewöhnen. Jutta, die vor ihm saß, drehte sich um und gab ihm die restlichen Blätter zum Weitergeben. Er nahm die rechte Hand herauf und kramte sein Federmäppchen aus der Tasche. Außer unruhigem Füßescharren und leise gewisperten Bemerkungen war nichts zu hören. Ohne den linken Arm zu bewegen, legte er sich die Seite mit den Aufgaben zurecht. Die ohnehin undeutlichen blauen Buchstaben und Zahlen schwammen ineinander, sein Kopf schrumpfte zu einer kleinen Bleikugel zusammen und löste sich von seinem Körper. Leere. Ein großes weißes Nichts. Trotzdem spürte er noch den immer stärker werdenden Druck hinter seiner Stirn, die Übelkeit, die langsam vom Magen her aufstieg und sogar das Pochen in seinem Ellbogen überdeckte.
Uli Eschlbeck wußte nur eines vollkommen sicher: Daß sich der Traum von heute nacht und den zig Nächten davor in der nächsten Stunde wieder einmal erfüllen würde.
Montag, 26. Mai 08.35 Uhr
Der Lärm war ohrenbetäubend. Michael und Florian verprügelten sich stumm mit ihren Schulmappen, Heike erzählte ihren Freundinnen halblaut irgendeine aufregende Liebesgeschichte, die alle zum Kichern brachte, und Susi saß nur regungslos da und starrte mit leerem Tagträumerblick vor sich hin, den rechten Daumen im Mund mit der gewölbten linken Hand abdeckend.
Offenbar konnte die Geschichte von der Feld- und der Stadtmaus keinen von ihnen so richtig fesseln. Ulrike Voit sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten. »Hört mal alle her«, rief sie über den Lärm hinweg, »wir spielen jetzt Theater!«
Langsam ebbte der Lärm ab.
Sie atmete auf. »Also, wer will die Feldmaus sein?«
Gebrüll.
Sie hob eine Hand. »Susi!«
Susi nahm zwar die Hände vom Gesicht, schüttelte aber den Kopf. Heike drängte sich vor.
»Meinetwegen. Und wer ist dein Mäusemann?«
Geschrei und Gelächter. Verrückt. Kaum einer in der Klasse war älter als elf, aber Susi war noch ein kleines Kind, und Heike hatte schon einen Busen, um den sie manche mit 13 beneidet hätte.
»Florian!«
Die beiden Streithähne wurden rot und legten die Mappen hin. Als es läutete, waren alle so in das Spiel vertieft, daß die Stunde leicht noch weitere 45 Minuten hätte dauern können.
Sie packte ihre Bücher zusammen, ging auf den Korridor hinaus und stand gleich darauf vor der Tür mit der Aufschrift 207. Die 9 b. Von verspielten Kindern und der Feldmaus zu Pubertätsproblemen und der unlösbaren Aufgabe, den Tell so spannend zu bringen, daß er mit Columbo oder Kojak konkurrieren konnte.
Die Klasse war überraschend still und apathisch. Als sie mit dem Unterricht begann, flackerten hier und dort Aggressionen auf. Sie hatte die Klasse seit drei Jahren und kannte die Anzeichen. »Habt ihr eine Arbeit geschrieben?« Aha … Die Stunde war im Eimer, das war ihr klar. Sie versuchte, eine Diskussion anzukurbeln, aber inzwischen hatte die allgemeine Lähmung sogar auf die sonst Munteren und Redegewandten übergegriffen. Also ließ sie nur die nächsten Szenen mit verteilten Rollen lesen, was immerhin den Vorteil hatte, daß wenigstens alle, die Rollen hatten, aufpassen mußten.