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Hinter der Fassade dieser prachtvollen Stadt lauert das Verbrechen … Während ihre Freundinnen in Barcelona eine ausgelassene Fiesta feiern, wird die Polizistin Pia Cortes an den Tatort eines Brandanschlages gerufen. Eine Verdächtige ist schnell gefunden – doch Pia ist sich sicher: Diese Frau ist Opfer, nicht Täterin. Gemeinsam mit ihren Freundinnen gründet sie die Detektei Llimona 5 und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln … Als in Barcelona immer mehr Kinder verschwinden, werden die Detektivinnen um Pia aktiv. Aber plötzlich wird auch ihre Freundin Anna vermisst … Die junge Júlia, ein Straßenmädchen, wird Zeugin eines Mordes an einer Wissenschaftlerin – und fortan vom Mörder verfolgt! Kann Pias Team ihr noch rechtzeitig helfen? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Sammelband »Tödliches Barcelona« von Irene Rodrian enthält die ersten drei Bände ihrer Barcelona-Krimis »Schöner sterben in Barcelona«, »Das dunkle Netz von Barcelona« und »Lautlos morden in Barcelona« und wird Fans von Catalina Ferrera und Pierre Martin begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 1063
Über dieses Buch:
Hinter der Fassade dieser prachtvollen Stadt lauert das Verbrechen … Während ihre Freundinnen in Barcelona eine ausgelassene Fiesta feiern, wird die Polizistin Pia Cortes an den Tatort eines Brandanschlages gerufen. Eine Verdächtige ist schnell gefunden – doch Pia ist sich sicher: Diese Frau ist Opfer, nicht Täterin. Gemeinsam mit ihren Freundinnen gründet sie die Detektei Llimona 5 und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln … Als in Barcelona immer mehr Kinder verschwinden, werden die Detektivinnen um Pia aktiv. Aber plötzlich wird auch ihre Freundin Anna vermisst … Die junge Júlia, ein Straßenmädchen, wird Zeugin eines Mordes an einer Wissenschaftlerin – und fortan vom Mörder verfolgt! Kann Pias Team ihr noch rechtzeitig helfen?
Über die Autorin:
Irene Rodrian, 1937 in Berlin geboren, wurde u. a. mit dem Edgar-Wallace-Preis für Kriminalliteratur ausgezeichnet. Seither hat sie sich mit zahlreichen Bestsellern in einer Gesamtauflage von über zwei Millionen und als Drehbuchautorin (»Tatort«, »Ein Fall für Zwei«) einen Namen gemacht. Irene Rodrian lebt heute in München.
Bei dotbooks erschienen bereits Irene Rodrians Barcelona-Krimis über das Ermittlerinnen-Team Llimona 5 »Schöner sterben in Barcelona«, »Das dunkle Netz von Barcelona«, »Lautlos morden in Barcelona« und »Die Schatten von Barcelona« sowie die Reihe »Krimi-Klassiker«, die folgende Bände umfasst: »Tod in St. Pauli«, »Bis morgen, Mörder«, »Wer barfuß über Scherben geht«, »Finderlohn«, »Küsschen für den Totengräber«, »Die netten Mörder von Schwabing«, »Ein bisschen Föhn und du bist tot«, »Du lebst auf Zeit am Zuckerhut«, »Der Tod hat hitzefrei«, »… trägt Anstaltskleidung und ist bewaffnet«, »Das Mädchen mit dem Engelsgesicht«, »Vielliebchen«, »Handgreiflich«, »Schlagschatten«, »Über die Klippen«, »Bei geschlossenen Vorhängen«, »Strandgrab« und »Friss, Vogel, oder stirb«.
Die Webseiten der Autorin: www.irenerodrian.com und www.llimona5.com
Die Autorin im Internet: www.facebook.com/irene.rodrian
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Sammelband-Originalausgabe Juli 2020
Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2020 dotbooks GmbH, München
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Maltsev Simeon und AdobeStock/krivinis
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-96655-539-5
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Irene Rodrian
Tödliches Barcelona
Drei Krimis in einem eBook: »Schöner sterben in Barcelona«, »Das dunkle Netz von Barcelona« und »Lautlos morden in Barcelona«
dotbooks.
Es ist Fiesta in Barcelona: Raketen steigen in die Luft, auf den Straßen wird getanzt. Während ihre Freundinnen ausgelassen feiern, wird die junge Polizistin Pia Cortes an einen Tatort gerufen – auf dem Grundstück eines Millionärs wurde eine Garage niedergebrannt. Zwischen den verkohlten Oldtimern stößt Pia auf zwei Leichen. Sind sie den Flammen zum Opfer gefallen, oder sollte das Feuer einen Mord vertuschen? Kurz darauf wird eine Verdächtige verhaftet: eine Taschendiebin mit schweren Brandverletzungen, die am Tatort gesehen wurde. Nur Pia ist von ihrer Unschuld überzeugt und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Dabei ist sie auf die Hilfe ihrer Freundinnen angewiesen, darunter die britische Gerichtsreporterin Janet und die deutsche Anwältin Dagmar – und ahnt nicht, dass sie so gemeinsam in tödliche Gefahr geraten.
Der Mann, den sie sich als Opfer ausgesucht hatte, war etwa fünfzig. Deutscher, vielleicht auch Schweizer. Er sah gut aus für sein Alter. Volles Haar mit grauen Schläfen, Sonnenbrille, markantes Kinn, Ganzjahresbräune. Segelschuhe und weiße Jeans. Ein lässiges Hemd aus schwarzer Wildseide konnte die durchtrainierten Schultern nicht verbergen. Die limitierte Platinuhr an seinem Handgelenk wäre einem Amateur sicher nicht aufgefallen. Aber Barbara war Profi. Sie war erst vierundzwanzig, sie war die Beste.
Automatisch streckte und krümmte sie die Finger, um ihre Beweglichkeit zu steigern. Barbara war nicht sehr groß, knapp eins sechzig. Schmal und dunkelhaarig. Sie fiel hier nicht auf. Geschmeidig schob sie sich zwischen den Schaulustigen hindurch, um Mr. Platin nicht zu verlieren. Plötzlich tanzten kleine Funken vor ihren Augen. Sie blieb stehen. Das Atmen machte ihr Mühe. Die Luft war gesättigt von Diesel, Feuerwerkschemie, billigen Parfums und frisch frittierten churritos.
Das war keine gute Basis. Barbara konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal richtig gegessen hatte. Aber es war nicht nur der Hunger, sie hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Sie folgte diesem Mann jetzt schon zehn Minuten, aber das erregende Prickeln, mit dem ihr Jagdinstinkt normalerweise auf eine so viel versprechende Beute reagierte, blieb aus. Irgendetwas stimmte nicht.
Sie überhörte die Warnsignale. Sie brauchte das Geld dringend. Mehr als dringend. Sie musste diese einmalige Gelegenheit nutzen.
Es war der 23. Juni, San Juan. Für Barcelona die größte fiesta des Jahres. Schon jetzt, am späten Nachmittag krachten in den Nebenstraßen der Ramblas die ersten Feuerwerkskörper. Die Sonne glühte an einem wolkenlosen Himmel, Techno dröhnte vom Dach des Museums herunter. Im hämmernden Takt stießen verschieden hohe Röhren grellbunte Rauchfontänen in die Luft.
Leichter Wind vom Meer ließ die Lichtflecken unter den gewaltigen Platanen tanzen. Die breite Allee zwischen den hohen alten Bürgerhäusern war voller Menschen. Verkaufsstände mit üppigen Blumenbergen, exotischen Vögeln in viel zu kleinen Käfigen, bunten Fischen in noch kleineren Gläsern, Zeitungen, Stadtplänen, Souvenirs. Auf beiden Seiten stauten sich die Autos, quetschten sich Mopeds und Vespas dazwischen, drängelten und schoben sich immer mehr Menschen dazu. Unten vor dem Museum hupte eine Lok aus alten Plastikflaschen schrille Kakophonien zu dem Farbhappening auf dem Dach. Der Lärmpegel war jenseits aller Messeinheiten.
Ein rundum versilbertes Rokokopärchen erwachte zum Leben, als Mr. Platin der Dame eine Münze ins Körbchen warf. Der junge Mann zog seinen Zylinder und verbeugte sich galant, sie schenkte ihm ein Lächeln und ein Silberkügelchen. Barbara atmete aus ein, aus ein. Ruhe. Konzentration. Sie schob sich vorsichtig näher. Der Platinmann schien von der Stimmung, der Hitze, den bunten Nebelschwaden, der Musik und dem silbernen Pärchen völlig absorbiert. Auf seinem Seidenrücken erschien ein dunkler Schweißfleck und zeichnete dicke Muskelpakete nach.
Sie durfte ihn nicht unterschätzen. Auf keinen Fall. Unter dem Hemdrand konnte sie das pralle Portemonnaie erkennen, das in seiner rechten Gesäßtasche steckte.
Noch ein Stück näher. Zwischen ihr und Mr. Platin waren jetzt nur noch zwei ältere Engländer, die versuchten, in dem Gewühl einen neu erworbenen Stadtplan aufzufalten.
Barbara wollte sich gerade an ihnen vorbei arbeiten, als ihr ein Junge zuvorkam. Kaum älter als zwölf, dunkle Locken und ein verwaschenes T-Shirt. Mit einem heftigen Ruck riss er der Engländerin die Handtasche von der Schulter, warf sie einem anderen Jungen zu, und beide waren in der Menge verschwunden, noch bevor die Frau zu schreien begann.
Barbara hasste diese Typen. Dämliche Dumpfbacken, die alten Damen die Tasche wegrissen. Jetzt wurde schon mit Postern in den Hotels vor diesen sogenannten Taschendieben gewarnt. Wirklicher Taschendiebstahl war eine Kunst. Nicht die Tasche galt es zu stehlen, nur den Inhalt. Es war, als würde man dasselbe Wort für Fahrrad und Flugzeug benutzen, als würde man ein Verkehrsschild mit einem Picasso vergleichen.
Barbara dachte an Pablo el Rey, den König der Taschendiebe. Ihren Ziehvater, Mentor und besten Freund. Er war ein Gentleman gewesen und er hatte ihr mit dem Handwerk auch die königlichen Regeln des Gewerbes beigebracht.
Wie immer, wenn Barbara an Pablo dachte, und sie dachte täglich an ihn, drohten Schmerz und Trauer sie zu überwältigen. Sie vermisste ihn so sehr. Aber das war sentimentale Schwäche. Und genau die konnte sie sich gerade jetzt nicht leisten. Direkt vor ihr stand die Beute des Jahres. Mr. Platin. Wie alle anderen reagierte auch er mit leichter Zeitverzögerung auf das Geschrei der Engländerin. Wandte sich zu ihr um. Ihr Mann brüllte nun auch und fuchtelte mit beiden Händen aufgeregt in die Richtung, in der die beiden kleinen Diebe verschwunden waren.
Barbara war jetzt dicht hinter Mr. Platin. Sie atmete wieder tief aus ein, aus ein und wurde ruhig. Sie bewegte sich wie in Trance vorwärts, griff sanft nach der Uhr an seinem Arm, schob den Verschluss auf und ließ sie in ihre Hand gleiten, schlug kurz an seine linke Schulter und zog gleichzeitig mit einer schlangenweichen Bewegung die Geldbörse aus seiner rechten Hosentasche.
Sie bewegte sich langsam und geschmeidig. Verschmolz mit der Menge. Sie hörte noch die Sirene eines Polizeiautos, dann schlüpfte sie zwischen zwei Taxis hindurch und in die nächste Nebenstraße. Barbara schob sich in einen Hausgang, um die Beute zu prüfen.
Eine bis zum Bersten gefüllte Klappbörse mit diversen Seitenfächern. Helles Ziegenleder. Robert Reimann. Deutscher, sechsundfünfzig Jahre alt. Dann doch. Jede Menge Kreditkarten, nur Gold und Platin, Fotos von diversen Bikiniblondinen und eins von vier niedlichen Kindern im Alter von fünf bis zwölf. Ein dicker Packen Bargeld in verschiedenen Währungen. Und die Platinuhr. Fünfundzwanzigtausend Dollar grob geschätzt. Der Jackpot.
Barbara wollte sich gerade umwenden, als sie brutal gepackt und im Polizeigriff in die Knie gezwungen wurde. Sie stöhnte auf. Eine braun gebrannte Hand durchsuchte sie. Sie kannte die Hand. Knapp über dem Knöchel war ein heller Streifen, wo die Uhr gesessen hatte. Barbara ließ die Muskeln schlaff werden, bis sich der Polizeigriff lockerte. Dann trat sie zu. Knappe Drehung unter der Schulter hindurch, und die Ferse in seine Weichteile.
Ein kurzes Stöhnen über ihrem Kopf, der Polizeigriff verstärkte sich im Reflex, und ein unerträglich scharfer Schmerz schoss hoch bis in ihren Schädel. Sie schrie. Wehrte sich, trat und biss um sich.
»Ist ja gut«, er drehte sie wie ein Steak auf der Grillpfanne herum. Mr. Platin, direkt über ihr. Ihr Gesicht doppelt in seinen blauen Brillengläsern. Sie verstummte. Es hätte sowieso kein Mensch reagiert. Er hielt sie fest, zog die Platinuhr aus ihrer einen Westentasche, die Geldbörse aus der anderen. »Und nun?«
Barbara dachte an das Messer, das sie in ihrer Hose verborgen bei sich trug. Sie schwieg, bewegte sich nicht.
Mr. Platin musterte sie interessiert. »Sie sind sehr schön.«
Barbara schwieg weiter.
Mr. Platin lächelte. »Okay, Sie tun zwar alles, um das zu verbergen, aber ich hab's doch bemerkt. Sie sind wunderschön.« In seiner Brille das Haus von gegenüber, winzig gewölbt mit hunderten von Balkonen und Sonnenmarkisen. Weiße Zähne. »Allein diese Augen! Sind Sie überhaupt ein echtes Mädchen oder sind Sie ein Kobold?«
Barbara bewegte sich nicht.
»Ich würde Sie gern einladen. Zu einem Kaffee oder einem Glas Champagner. Oder was auch immer.«
Barbara schnaubte höhnisch durch die Nase. Es gelang ihr nicht so ganz in der schmerzhaft gekrümmten Haltung.
»Die Frage ist nur, wieweit kann ich Ihnen trauen«, seine platinlose Hand tastete an ihr herunter, fand das Messer und in der kleinen Innentasche ihrer Hose den Führerschein. »Aha!«, kaum verhohlener Triumph, »Barbara Dyckhoff«, er lockerte den Griff unwesentlich. »Meinen Namen kennen Sie ja bereits. Robert Reimann.«
Barbara änderte ihre Strategie. »Bitte. Sie tun mir weh.«
»Oh, sorry«, er lockerte den Griff weiter und zog sie ein Stückchen höher zu sich herauf. Goldene Blaureflexe auf seiner Brille. »Ich will Ihnen um Gottes willen nicht wehtun. Ich möchte doch nur ein Glas Champagner mit Ihnen trinken. Ich möchte Sie zu einem festlichen San-Juan-Essen einladen, ich möchte mit Ihnen vom Dach Barcelonas aus das Feuerwerk betrachten. Ich möchte nichts weiter, als diese Nacht mit Ihnen verbringen. Nichts sonst.«
Er roch nach frischer Seife, offenem Meer und dem Wind der Berge. »Und?« Barbara hätte sich ohrfeigen können für den Säuselton in ihrer Stimme. Sie räusperte sich. »Und wieso knallen Sie mir nicht einfach Ihre Keule über den Schädel und schleppen mich in Ihre Höhle?«
»Das würde ich sehr gern. Ehrlich. Viel lieber als Sie mit all den Fingerabdrücken auf meiner Brieftasche und Ihrem Führerschein der Polizei zu übergeben.«
Er drehte sie so dicht zu sich heran, dass sie wie ein Liebespaar aussehen mussten. Eine Gruppe junger Leute rannte lachend direkt an ihnen vorbei. Keiner schaute her, die Show spielte auf den Ramblas. Hoch über den Häusern explodierten die ersten großen tartas. Rote, blaue, goldene oder regenbogenbunte Feuerwerksrosen.
»Sie wollen mich erpressen?!« Sie hätte ihn in die Nase beißen können, so nah war sein Gesicht.
Er lächelte. »Ja, genau.«
Grotesk. Der Kerl war mehr als doppelt so alt, so groß und so schwer wie sie. Plötzlich klickte es. Er war ihr vorhin schon irgendwie bekannt vorgekommen. Und sie hatte das verdrängt wie all die anderen Warnsignale auch. Jetzt erinnerte sie sich an den Artikel und sein Foto in El Pais. Rob Reimann. Millionär und Playboy.
»Was könnte ich Ihnen schon bieten?«
Er lachte. »Du gefällst mir.«
»Es gibt viel schönere Mädchen als mich. Und blond bin ich auch nicht.«
»Wer sagt denn, dass nur Blondinen schön sind?« Er grinste. »Ach so, du hast in meiner Brieftasche gekramt.« Sein Grinsen wurde breiter. Er sah jung aus in dem Moment. Und sehr ehrlich. »Komm, lass uns zu meinem Haus fahren.« Barbara spürte ein Ziehen im Magen. Er sah sie an. Sehr nah. »Keine Polizei. Okay?«
Barbara nickte und wusste gleichzeitig, dass das falsch war. Absolut falsch, extrem falsch. Der größte Fehler ihres Lebens.
Trotzdem nickte sie.
Reimann küsste sie ganz leicht auf die Stirn, bevor er sie losließ. Dann legte er ihr den Arm um die Schulter, als wären sie wirklich ein Liebespaar, und schob sie durch Nebenstraßen, Gassen und Hinterhöfe bis zum Hospital de la Santa Creu.
Er schwieg, bewegte sich sicher, kannte sich aus.
Barbara spielte sein Spiel notgedrungen mit. Aber je weiter sie sich von dem fröhlichen Lärm der Ramblas entfernten, desto mehr schlug ihre Angst in Panik um.
Auf dem Hotelparkplatz hinter dem alten Kloster Sant Agustí blieb er vor einem nachtschwarzen Porsche 911 GT2 mit Barcelona-Nummer stehen. Naturweiße Ledersitze. Er ließ sie kurz los, um nach dem Autoschlüssel zu suchen.
Sie wog ihre Fluchtchancen ab. Sie liebte Barcelona, aber diese Stadt war schließlich nicht die ganze Welt. Barbara sprach fünf Sprachen, sie konnte auch in Berlin, London, Mailand oder Paris klarkommen. Oder in New York.
»Du kommst nicht mal bis zum Flughafen.« Er hielt ihr die Tür auf. Der Duft von Seidenlack und Saffian.
Sie stieg ein.
Nina Simone im Autoradio. It's cold out here. Reimann schien vollkommen aufs Fahren konzentriert. Auch, wenn sie im Stau standen. Er sah nicht zu ihr her, er fasste sie nicht an. Er machte keine Anspielungen. Er schwieg. Er fuhr, als wäre er allein im Auto. Das war schlimmer, als wenn er sie angegrapscht hätte. Darauf hätte sie immerhin reagieren können.
Barbara tat, als hätte sie sich in ihr Schicksal ergeben, beobachtete, registrierte, suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Er hatte ein Auto mit Barcelona-Nummer, er hatte ein Haus hier. Man konnte davon ausgehen, dass er wenigstens etwas Spanisch sprach. Aber er hatte sie sofort auf Deutsch angesprochen. Und sie sah nun wirklich nicht deutsch aus. Sie verstand nicht, was er von ihr wollte. Nur Sex? Kaum vorstellbar. Da hatte Mr. Platin doch ganz andere Möglichkeiten. Liebe auf den ersten Blick? Haha. Diese und ähnliche Illusionen hatte Barbara schon in frühester Kindheit verloren.
Reimann fuhr auch nicht wie erwartet nach Norden in die Berge hinauf, er fuhr in den Süden, Richtung Hafen. Girona. Vermutlich hatte er da eine dieser Millionärsvillen. Barbara wollte nur noch eins, raus aus diesem verdammten Porsche. Reimann bog beim Columbusdenkmal auf die Ronda Litoral ab und fuhr nach Barceloneta rein.
Das passte plötzlich. Die Segelschuhe und dieser Matrosengeruch. Und die Erinnerung an den Zeitungsartikel. Reimann war Segler. Sicher hatte er eine Yacht im Hafen liegen. Barbara wurde schlecht, wenn sie nur an die Möglichkeit dachte, dass er sie mit auf sein Boot und aufs Meer hinausnehmen könnte. Rechts vor ihr lag der Yachthafen. Die Sonne stand tief, halb verdeckt vom Club Nautico auf der anderen Seite. Auch hier Musik bis zum Anschlag und das Krachen von Feuerwerksraketen. Bunte Lichter spiegelten sich im Wasser. Menschentrauben.
Reimann bog vorher ab. Barbara fühlte sich schlagartig vom Leben und jeder Hilfe abgeschnitten. Eine winzige Straße, fast noch auf der Fahrbahn ein langer Tisch mit Wein und Tapas. Alte Männer winkten ihnen zu, eine Frau brachte einen Teller mit gegrillten Sardinen ans Auto und lachte. Reimann nahm sich eine Hand voll. »Danke, Dolores, mein Tag ist gerettet«, er fuhr weiter. Er hatte Spanisch gesprochen. Akzentfrei, soweit Barbara das beurteilen konnte. War Reimann wirklich der, den El Pais interviewt hatte?
Reimann fuhr langsam weiter, es wurde dunkler, er bog in den Carrer d'Andrea Doria ein. Die Straße der endgültigen Havarie. Aber Reimann bog wieder ab, und wieder. Eine kleine Gasse, dann waren sie wieder nah am Meer und ganz nah am Park. Blühende Yuccas und Palmen. Und Dunkelheit. Die Lichter und der Lärm des Feuerwerks schienen plötzlich sehr weit weg. Reimann parkte den Porsche unter einem offenen Carport vor einer etwa zwei Meter hohen Mauer aus Natursteinen. Barbara wollte die Beifahrertür öffnen, aber er ließ ihr keine Chance. Er kam ihr zuvor und packte sie am Arm, sobald sie ausgestiegen war. Der Zündschlüssel steckte noch. Er hatte ihn vergessen. Barbara schlug plötzlich um sich und versuchte, sich mit einem Ruck aus seinem Griff zu befreien, aber er hielt sie brutal fest und zog sie mit. Zu einem Tor in der Mauer. Das Schloss öffnete sich auf Tastendruck. Drei, sieben, drei. Innen nur eine Klinke. Dahinter lag ein kleiner Palmengarten, Kieswege, ein flaches Steingebäude mit Bogenfenstern. Früher war es vielleicht mal eine Fischhalle gewesen. Jetzt war das Gebäude entkernt und neu durchdesignt. Reimann gab ihr kaum Zeit zum Schauen, er zerrte sie mit hinein. Zwei rohe alte Ziegelmauern übers Eck, ein Flaschenzug ins Nichts, die Reste schwarzer Zahnräder vor schneeweißem Putz, sonst nur Glas, Stahl und Licht. Dunkles Holz und weißes Leder. Eine Reihe großformatiger Schwarzweiß-Fotos in schmalen Silberrahmen. Szenen aus Barcelona. Die Ramblas, Altstadtgassen, eine Nachtbar, ein Café ... Licht und Schatten dramaturgisch gekonnt eingesetzt. Auf jedem der Fotos war ein schönes dunkelhaariges Mädchen zu sehen. Im Profil, im Hintergrund, am Bildrand. Barbara glaubte für einen winzigen Moment, sich selbst in dem Mädchen zu erkennen. Zwei riesige Bilder von Kemíl Martín, einem der Stars der Kunstszene Barcelonas. Explosionen in Rot, Blau und Schwarz. Eine minimalistische Luxusküche, eine Bartheke mit den berühmten Hockern von Javier Mariscal, dahinter einer seiner Comicteppiche aus den achtziger Jahren, ein gläserner Tisch, schwarze Stühle mit weißem Ledergeflecht, zwei handgeschnitzte antike Kontorschränke und eine Spindeltreppe nach oben zu dem halb offenen Schlafzimmer unter dem Dach. Das Ganze war eine Art Loft, Teil einer Fabrikhalle aus dem 19. Jahrhundert.
Barbara war so beeindruckt, dass sie für einen Augenblick ihre Angst vergaß. Reimann klapperte hinter der Küchenbar mit Gläsern. Ein Korken knallte. »Champagner?« Er wartete die Antwort nicht ab, kam mit zwei vollen Gläsern wieder hervor. »Das gehörte früher zu der Lokfabrik. Sie wissen ja sicher, Barceloneta wurde damals für Fischer und die Arbeiter der Lokfabrik gebaut.«
»Jedenfalls nicht für Millionäre und Playboys. Ich dachte, man hat alle alten Industrieanlagen abgerissen und den Park dafür angelegt.«
»Hat man auch.« Er drückte ihr eins der Gläser in die Hand. »Kommen Sie, ich zeig's Ihnen.« Er ging voraus, die Spindeltreppe hinauf. Barbara versuchte, nicht zu dem gigantischen Bett hinzuschauen. Meerblaue Seidenbezüge. Über dem Kopfende ein kleiner Dalí. Gegenüber dem Fußende ein schmales Glasfenster mit einem Blick auf Palmen und das Meer dahinter. Die Treppe führte zu einer einfachen Stahltür. Reimann ließ ihr den Vortritt. Barbara versuchte cool zu bleiben, aber sie schaffte es nicht.
Ein Flachdach von gut dreihundert Quadratmetern. Bougainvillea, Yuccas und Siempre Verde in Töpfen rundum am Rand. Terrassenmöbel aus Teak und Sonnenschirme. Direkt darunter der Park und gleich dahinter der Strand und das Meer. »Salud«, Reimann stieß mit seinem Glas gegen ihres.
Sie trank einen Schluck und lächelte verkrampft. »Und was ist das für ein Gefühl, hier so als Millionär zwischen alten Fischern und Arbeitern zu leben?«
»Ein gutes. Die Leute mögen mich.«
Er grinste diesmal nicht, wirkte wieder ehrlich und überzeugend. Barbara musste intensiv gegen ihre widersprüchlichen Gefühle anarbeiten. »Und wie haben Sie das geschafft? So einen Superloft auszubauen inmitten eines absolut geschützten und gesetzlich genau definierten barrio?«
»Peseten«, er hob die Schultern, als wäre ihm schon das Wort peinlich. »Oder Dollars, wie Sie wollen. Ich hatte ein paar übrig und habe einen guten Teil davon hier in das Viertel gepumpt. Altenklub, Kindergarten, Kulturzentrum. Das kommt den Leuten zugute, mehr als noch sieben Palmen und eine Mahagonibank im Park.«
Die Sonne ging unter, das Meer leuchtete erst gelb, dann tieforange und zuletzt blutrot auf. Barbara trank den letzten Schluck aus ihrem Glas. Reimann öffnete die Eisbox, die er mit heraufgebracht hatte. Er lächelte, kniete sich neben sie und packte aus. Noch eine Champagnerflasche, Eiswürfel, Nüsse, Oliven, Baguette, Ziegenkäse und hauchdünner Serranoschinken. Barbara versuchte das Vibrieren in ihrer Magengegend zu ignorieren. Sie hatte seit Tagen nicht mehr richtig gegessen, aber diese Art Vibrieren hatte mit Käse und Oliven nichts zu tun.
Reimann füllte ihr Glas nach und stieß mit ihr an. »Danke, dass du gekommen bist.«
Er hatte jetzt keine Sonnenbrille mehr auf, seine Augen waren grün. Barbara trank hastig. Es lag an dem verdammten Licht, dass man seine Falten nicht mehr sehen konnte und seine grauen Haare. Am Park und unten am Strand wurden immer mehr tartas in die Luft gejagt.
Barbara musste plötzlich lachen. Nahm eine Olive, viel half es nicht. »Die armen Patienten da drüben im Hospital del Mar, die bekommen heute sicher eine Dreifachration Schlafpillen.«
Reimann lachte mit ihr. »Die sind das gewöhnt, die Strandkioskos dröhnen doch immer rund um die Uhr. Das war auch nicht immer eine Klinik, früher war's ein Kurheim. Damals, als sich noch kein Mensch auszog, um sich an den Strand zu legen oder ins Meer zu stürzen.«
»Sie sind gut informiert.«
»Ich lebe hier.«
»Und in Zürich, München und London«, Barbara blieb cool, sie wusste Bescheid.
Reimann grinste, wurde wieder ernst. »Paris, Miami, Barbados, die Medien wissen nicht alles.« Stimmen, Musik.
Hinter dem Park explodierte eine riesige silbernpurpurne Blüte über dem Meer. Barbara hatte Mühe, sich gegen seine Präsenz zu wappnen. »Was wollen Sie wirklich von mir?«
Zuerst dachte sie, er habe sie nicht verstanden. Aber dann wandte er sich ihr zu. Langsam, fast wie unter Zwang. Seine Stimme war sehr leise, so als würde er nur mit sich selber sprechen. »Ich möchte Ihnen einen Job anbieten. Für zwei Millionen Euro.«
Barbara glaubte sich verhört zu haben. Zwei Millionen Euro, das wären ja nach alter Rechnung vier Millionen D-Mark oder drei Millionen Dollar, eine Summe, die man gar nicht in Peseten umrechnen konnte, weil dabei viel zu viele Nullen herauskamen. Barbara schenkte sich Champagner nach. »Soll das ein Witz sein?«
»Nein«, Reimann sah sie nicht an, schaute wie sie auch hinaus aufs Meer und die in immer kürzeren Abständen explodierenden tartas. »Ich will ehrlich sein. Ich kenne Sie. Ich beobachte Sie schon lange. Ich habe Sie ausgesucht.«
»Ah ja«, Barbaras Stimme war flach. Jetzt kam die Wahrheit heraus. »Ich höre«, sie wich aus, als Reimann nach ihr griff. Er zog seine Hand sofort zurück.
»Sie sind in München geboren. Vater unbekannt, Ihre Mutter hat Sie als Baby zur Adoption freigegeben. Aber es gab keine Interessenten. Sie waren zu klein, zu krank. Darauf folgten Jahre in Waisenhäusern und Jugendheimen. Immer wieder versuchten Sie auszubrechen, mit dreizehn gelang es Ihnen. Sie kamen bis nach Barcelona. Ihre Alternativen damals waren Prostitution oder Diebstahl. Sie entschlossen sich für die zweite Variante und wurden erwischt. Vom schon damals alten Pablo el Rey, der Sie in seine berüchtigte Akademie der Taschendiebe aufnahm und zur Meisterin ausbildete. Sie waren seine letzte Schülerin.« Reimann schenkte Champagner nach.
Über dem Meer erblühte eine Rosette in Blau, Gold und Grün. Barbara hatte Mühe zu atmen. Er wusste alles über sie. Er hatte sie ausgeforscht. Nichts hier war Zufall. Sie dachte an die vermeintliche Sicherheit ihrer kleinen Dachwohnung in der Calle de la Llibreteria und an Fritz the cat, den gelb getigerten Chef aller Dächer im barrio gótico, ihren einzigen Freund. Bevor er sich nach langem Zögern entschloss, bei ihr zu bleiben, war er ein zerzauster Streuner gewesen, vermutlich würde er auch ohne sie überleben können. Wenn sie nicht mehr heimkam. Wenn ihr etwas passierte. Zwei Millionen Euro. Ihre Stimme krächzte. »Warum?«
»Ich habe jemanden gesucht, der geschickt, ist, klug, umsichtig und ...«
»Und dringend Geld braucht?«
»Ja. Und der ohne ...«
»Ohne Familie ist?«
»Ja, der frei ist. Der Job enthält ein gewisses, allerdings kalkuliertes Risiko. Deshalb habe ich Sie ausgesucht. Sie sind mutig, aber nicht tollkühn, Sie nehmen es mit den Gesetzen und der Moral nicht übergenau. Sie haben keine Bindungen hier, richtig? Sie könnten also im äußersten Notfall Barcelona verlassen. Sie sind integer, haben einen ziemlich strikten Ehrenkodex. Und Sie können schweigen.« Er wandte sich ihr zu, leise und eindringlich. »Ich habe Sie ausgesucht, weil ich Sie brauche.« Seine grünen Augen schimmerten feucht. Theater? Tränen? Salzluft? Er sah hilflos aus und irgendwie verwirrt. »Bitte.«
I've got you under my skin ... Plötzlich schallte Frank Sinatra vom Park hoch. Eine Gruppe junger Leute ließ sich zum Picknick unter den Palmen nieder. Frank Sinatra, ausgerechnet. Weil ich Sie brauche. Ein ohrenbetäubendes Krachen und eine Dreifachtarta in Violett, Silber, Grün und Rot. Fehlte nur noch die Sahne, dann wär's eine Hochzeitstorte geworden.
Barbara zwang sich, cool zu antworten. »Anzunehmen, dass Sie keine zwei Millionen verschenken. Also ist das der Preis für eine kriminelle Handlung. Ein guter Preis. Wofür? Einbruch in ein hoch gesichertes Objekt? Juwelendiebstahl? Kunstraub?«
»Mord.«
Come fly with me, sang Sinatra. Die jungen Leute lachten, küssten sich und ließen Champagnerkorken knallen. Reimann beugt sich zu ihr herüber. Barbara wich nicht zurück.
»Wen?«
»Mich.«
Schweigen. Sie sah sich in seinen Augen. Seine Hände umfassten ihr Gesicht. Lächeln. Er küsste sie.
»Meine schöne Mörderin.«
Vom Pati Llimona zum Polizeipräsidium in der Laietana waren es zu Fuß keine zwanzig Minuten. Pia liebte es, durch die engen und krummen Gassen zu gehen, Freunde zu sehen, Leute zu grüßen und kurz vor Dienstbeginn noch einen americano doble im Mesón del Café zu trinken. Es gab sowieso im ganzen barrio kaum Parkplätze, und sie benutzte ihren alten Toyota so gut wie nie. Er hatte einen Standplatz in der Tiefgarage an der Plaça Regomir gleich um die Ecke und rostete da friedlich vor sich.
»Du musst doch nicht etwa ausgerechnet heute arbeiten«, Gabriel stellte ein Tellerchen mit fein gewürztem Blätterteiggebäck neben ihren Kaffee. Gabriel schrieb in seiner Freizeit Kriminalromane und verlegte sie selbst. Er interessierte sich brennend für ihre Arbeit und ihr Leben. »Von deiner Wohnung aus hättest du einen einmaligen Blick auf das Feuerwerk heute Nacht.«
»Ja, und ich hätte eine Party geben und dich einladen können.«
»Ich hätte für den Champagner gesorgt«, Gabriel grinste verlegen und wandte sich einem anderen Kunden zu. Sein kahler Kopf und seine massige Gestalt ließen ihn älter wirken als er war. Sein Urgroßvater hatte die Kaffeemaschine erfunden. Nicht ahnend, dass es sie schon längst gab. Er war ein guter Freund, Pia hätte mit ihm reden können. Sie sagte nichts. Zahlte nur und ging.
Bumpin' on Sunset jazzte es von der Kreuzung hoch. Eine Gruppe tschechischer Rucksacktouristen aus dem Jugendhotel. Zwei Amerikaner kamen dazu, Saxophon und Gitarre, Pedro holte seine Trompete. Die Leute blieben stehen und kamen auf die Balkone heraus. Bierdosen kreisten. Einer Frau im vierten Stock rutschte die Schüssel mit dem Tomatensofrito aus der Hand. Pia konnte gerade noch wegspringen. Ein paar Spritzer erwischten sie trotzdem. Sie trug wie immer Jeans, Turnschuhe, Weste und T-Shirt. Es waren nicht die ersten Flecken.
Pia hatte sich freiwillig zum Einsatz gemeldet. Erfahrungsgemäß gab es in dieser Nacht immer sehr viel Arbeit, jede Menge Körperverletzungen, Eigentumsdelikte, Überfälle und auch Morde. Da wurde jeder Kollege dringend gebraucht. Aber das war es nicht. Sie hatte die Karte voller Überstunden und eigentlich frei. Sie rannte fast, um der festlichen Stimmung zu entkommen. Als sie am beeindruckend großen Polizeipräsidium ankam, dem weißen Palast der Comisaría, der Jefatura Superior, war sie etwas außer Atem. Drei voll besetzte Mannschaftswagen schossen aus der Einfahrt und rasten hinüber zur Plaça de Sant Jaume. Demos und Umzüge. Rund um das Rathaus waren alle Straßen gesperrt. Pia grüßte Felipe und Manolo, die heute Wache halten mussten und in ihren geschniegelten Uniformen wie Zinnsoldaten aussahen.
Manolo war ein gutmütiges Landei aus Andalusien, der mit seinem gesicherten Arbeitsplatz total glücklich war. Pia hatte ihm geholfen, seine Schreib- und Leseschwäche zu verbessern, und er brachte ihr dafür die köstlichen tapas und Eintöpfe seiner Mutter mit. Er grinste breit, als er sie sah.
Felipe war ein straffer Ehrgeizling, der es noch sehr viel weiterbringen würde. Er war hier geboren, er kannte sich aus, er passte auf und beobachtete. Und er sah sehr viel mehr als gut war. Er würde sie jederzeit anschwärzen, wenn es für seine Karriere nützlich war. Und bei ihrer bekannt unkonventionellen Arbeitsweise, um es mal diskret auszudrücken, konnte es nicht lange dauern, bis er etwas Anschwärzenswertes mitbekam. Er salutierte übertrieben.
Sie ging in den zugigen Durchgang, wich zwei weiteren Einsatzwagen aus, bog nach rechts ab und stieg die Stufen hinauf zur brigada criminal. Der ganze Flügel wurde seit Wochen renoviert, man konnte am Abend nie wissen, wo man am nächsten Morgen seinen Schreibtisch suchen sollte. Im Moment teilten sich verschiedene Dezernate den zweiten und dritten Stock. Überall Kisten und Kartons, Farbeimer, Plastikplanen und der Geruch von frischem Mörtel. Es war erstaunlich ruhig. Kein Bohrer, keine Schleifmaschine. Pia stolperte über eine offene Werkzeugkiste, die ziemlich verloren im breiten Gang herumstand. Die in den letzten Jahrzehnten allmählich abgeplatzten Putz- und Farbschichten ließen wieder die Umrisse von Stuckornamenten erahnen, die einst üppig an der Decke und rund um die massiven Mahagonitüren wuchern durften.
Die Tür zum provisorischen Großraumbüro der brigada criminal und der Mordkommission klemmte wie immer. Nur sieben der zwölf Plätze waren besetzt. Kein Geschrei, keine Diebe, Huren oder Zuhälter. Es war noch zu früh. Die putas saßen beim Essen und ihre chulos pennten noch.
Toni war natürlich schon da. Er war fünfundzwanzig, elf Jahre jünger als sie. Verheiratet mit Verónica, einer reichen Biererbin. Vater von einem dreijährigen Sohn und einer elf Monate alten Tochter. Er wäre heute problemlos freigestellt worden. Aber er war hier. Wie erwartet. Antonio Botía, der neue inspector mit dem Unidiplom.
Pia ging zu ihrem Tisch und fühlte seinen Blick. Er war auch nur ihretwegen hier. Sie warf den Computer an und tat, als würde sie nichts bemerken. Toni schien in ein intensives Gespräch mit Silvi vertieft. Die schöne blonde Praktikantin. Neunzehn Jahre alt, schlank wie ein Zahnstocher und aufgemotzt wie für eine Opernpremiere. Sie schauten zu ihr her, kicherten.
Pia fühlte sich alt, dick und hässlich. Sie hatte die untersetzte muskulöse Figur ihres Vaters und das kupferrote Haar ihrer Mutter. Nur fiel es bei ihr leider nicht in weichen Kaskaden über die Schultern, sondern saß wie ein gestauchter Mopp auf ihrem Kopf. Sie hämmerte in die Computertasten. Der Bericht über den gestrigen Einsatz.
Blutige Auseinandersetzung zwischen zwei Drogendealern. Der eine Ali, ein illegaler Marokkaner, der andere Jordi, der nichtsnutzige Sohn des ehrenwerten Don Esteban, Geschäftsmann, Inhaber einer Kette von luxuriösen Dessousläden und Wohltäter der Kirche. Jordi war in das Gebiet des Marokkaners eingedrungen und hatte dilettantisch verschnittenen Koks weit unter Preis angeboten. Und im Gegensatz zu Ali nahm Jordi das Zeug auch selber. Sie hatten sich praktisch gegenseitig abgeschlachtet. Mit Messern. Sehr exklusiven Messern. Einem Schmetterling mit Perlmuttintarsien und einem Falldolch mit Sägezähnen und Hirschhorngriff. Ein entfernter Vetter von Ali hatte einen Messerladen im Raval, und pikanterweise stammten beide Messer von dort. Ali war tot, Jordi lag auf der Intensivstation. Es sah nicht gut aus für ihn.
»Entschuldigung«, eine leise Stimme ließ Pia aufsehen. Die Frau vor ihrem Tisch war jung, Mitte, Ende zwanzig vielleicht. Strähniges Haar, verlaufener Lidstrich, zerbissene Lippen. Sie trug einen grauen Jogginganzug, der ihre Figur verbarg. Pia hatte nicht gemerkt, dass sie hereingekommen war.
»Ja?«
»Man hat mich hierher zu Ihnen geschickt. Ich komme aus Valencia.«
»Ah ja?« Toni. Natürlich. Die Kompetenzen der einzelnen Dezernate überschnitten sich sowieso schon vielfach, man versuchte, interessante Fälle für sich an Land zu ziehen und unangenehme weiterzuschieben. Vor Pias Tisch stand ein Besucherstuhl, unter einem Berg Akten begraben. Pia machte ihn nicht frei. Sie hatte keinen Bock auf langatmige Ergüsse. »Sie heißen?«
»Isabel Ribera-Montserrat.« Die Besucherin reichte ihr einen Personalausweis und lächelte großäugig, die kleine Graumaus aus der Provinz. »Ich suche meinen Mann. Martín. Er ist verschwunden. Hier!« Sie kramte ein verknicktes Foto hervor. Der Mann darauf war kaum zu erkennen, aber er sah alt aus und unscheinbar. Schütteres Haar, ein ursprünglich mal für einen Anzug gekauftes Streifenhemd offen über einem dicken Bauch und schlecht sitzende Bermudas an dürren, bleichen Beinen. Im Hintergrund unscharf ein paar staubige Mandelbäume und die Terrassenbrüstung eines Reihenhauses.
Pia gab ihr Foto und Ausweis zurück. »Tut mir wirklich leid, Señora Ribera, aber wir sind hier in Barcelona. Wenn Ihr Mann in Valencia verschwunden ist, müssen Sie ihn auch in Valencia als vermisst melden. Ich kann Ihnen hier leider nicht helfen.«
»Ich liebe ihn!«
»Das ist schön. Ich bin sicher, Ihr Mann wird sich wieder einfinden.« Pia beugte sich über ihren Computer, um der Frau klarzumachen, dass sie keine Zeit mehr hatte.
»Er ist aber so oft in Barcelona. Könnten Sie da nicht mal hier nachsehen?«
»Señora, Barcelona ist eine Millionenstadt. Gehen Sie zurück nach Valencia. Bitte. Versuchen Sie es weiter dort. Die Polizei in Valencia hat auch Computer. Wir sind alle vernetzt und verbunden.« Pia spürte das Kichern von Toni und Silvi mehr, als dass sie es hörte. Jaja. Sehr komisch, ihr so eine taube Nuss unterzujubeln.
Ihr Telefon piepste, aus seinem Glasbüro winkte ihr Don Ignacio, Señor Sanchez-García zu. Der comandante, der Chef. El jefe. Ein latin lover wie im Kino. Mitte fünfzig, dunkles Haar mit grauen Schläfen und ein markantes Gesicht mit braunen Augen, vollen Lippen und einer Adlernase. Kaffeebraune Chinos und ein weißes Lacostehemd über haariger Männerbrust. Am Hals trug er ein kleines goldenes Kreuz wie ein Sizilianer.
Pia nahm den Hörer ab.
»Was ist jetzt mit dem Bericht?« Blaff.
»Ich sitz gerade dran, wie Sie unschwer erkennen können. Jefe.«
»In fünf Minuten hab ich alles auf meinem Tisch.«
»Tut mir ja wirklich unendlich leid, aber ich hab noch nicht mal den Autopsiebericht bekommen.«
»Dann machen Sie eben Dampf, chica. Mir sitzt Don Esteban im Genick. In fünf Minuten!« Er knallte den Hörer auf. Das ›Don‹ hatte nicht mal andeutungsweise ironisch geklungen. Und chica, Mädel. Toni oder einen der anderen männlichen Kollegen würde er nie chico nennen. Aber besser noch chica als Madrileña.
Pia hörte sofort auf, überhaupt noch an dem Bericht zu arbeiten. Kippelte ihren Drehstuhl zurück und spürte Sanchez' Blicke durch Glas und Großraum hindurch. Across a crowded room. Sie verkniff sich jedes Grinsen. Ja, das war's, was ihre Mutter immer sagte. Pilar Juana Estel-Casares: Eine junge Frau hat nichts zu suchen in einem Männerberuf. Die einzigen Berufe, die sich für eine unverheiratete Frau von Stand schicken, sind kultureller oder karitativer Art. Du musst Bescheidenheit lernen, du musst lernen, dich unterzuordnen – an der Stelle kam immer der obligate Seufzer –, aber genauso gut könnte ich zu einer Mauer sprechen. Du bist so stur wie dein Vater.
Pia hieß eigentlich auch Pilar. Aber den Namen hatte sie mit zwölf Jahren endgültig abgelegt. Sie hatte nie verstanden, warum ihre Eltern geheiratet hatten. Irgendwann vor Urzeiten musste da so etwas wie Liebe gewesen sein. Pilar Juana, die millionenschwere Schönheit aus dem franconahen Clan in Madrid und Anselmo, der kleine ehrgeizige Polizist. Die Señora und der Powerman. In den Jahren nach Francos Tod war vieles möglich. Nicht alles. Pilar wurde aus der Familie ausgestoßen, enterbt und vergessen. Sie gingen nach Barcelona, und Anselmo machte schnell Karriere, aber natürlich konnte er seiner Frau weder den gewohnten Status noch irgendeinen Luxus bieten.
Für Pia war er der absolute Held, er stand für Demokratie und Gerechtigkeit. Sie widersetzte sich allen Versuchen der Mutter, sie zu einer Señora zu erziehen. Sie hasste dieses Leben und diese Gesellschaft, nach deren seit Jahrhunderten fest gefügten Regeln eine Frau nicht dieselben Rechte und Möglichkeiten hatte wie ein Mann.
Als sie zwölf war, wurde ihr Vater bei einem Einsatz erschossen. Die Kollegen feierten ihn als Held, aber sie nannten ihn immer noch den Madrileño. Den Mann aus Madrid. Pia war zutiefst verletzt, wütend und empört. Die Mutter zog wieder zurück nach Madrid. Pia schmiss die Schule und wurde von diversen katholischen Internaten relegiert. Sie wollte wieder nach Barcelona und zur Polizei. Wegen schlechter Noten und den geschickten Interventionen ihrer Mutter musste sie ganz unten anfangen. Und obwohl sie in Barcelona aufgewachsen war, blieb sie für die anderen die Madrileña.
Toni kam auch aus dem Norden. Aber bei ihm spielte das keine Rolle. Er hatte die Universität besucht, er war etwas Besonderes, er war die neue Generation.
Pia hatte sich für eine Frau extrem schnell hochgearbeitet. Sie hatte in allen Disziplinen die höchste Punktzahl. Sie konnte besser schießen als die männlichen Kollegen und ihre Erfolgsbilanz lag weit über Durchschnitt. Sie war eine von den knapp drei Prozent weiblichen Ermittlungsbeamten mit dem Titel inspector. Trotzdem immer noch die Madrileña. Oder die chica.
Capitán Josep Bonet kam herein, zu spät wie immer. Er grinste. Er war ein hervorragender Kriminalist und ein guter Freund. »Hola, Süße, was machst du denn für ein Gesicht?«
»El jefe will den Bericht über die Drogenschießerei von gestern sofort und noch zwei Tage früher, und außerdem geht mir dieser Toni doctorado auf den Keks, dieser Minus-IQ, der auf meinen Job scharf ist. Sonst nichts von Bedeutung.«
Josep Bonet lachte und umarmte sie. Er war der dienstälteste Ermittler im Team. Hager und immer leicht gebeugt. Er musste zwischen vierzig und sechzig sein. Längst hätte er nach oben in die Verwaltung und in die höheren Gehaltsklassen gehört, aber er hielt sich schon seit Jahren in der aktiven Ermittlung, und keiner von den Jungen wagte es, Witze über ihn zu machen. »Das ist doch nichts Neues. Er ist ein Schwachkopf.« Bonet winkte zu Toni hinüber, und er und Silvi trennten sich hastig. Bonet lachte. »Siehst du, auch noch feige. Hör zu, ich wollte dich nur fragen, ob du mit zur Atelierparty kommst. Du weißt schon, Kemíl Martín. Seine fiestas sind Legende. Vermutlich ist es sein und unser aller letztes San Juan auf seinem Dach. Der ganze Komplex mit seinem Atelier wird demnächst abgerissen.«
Pia vergaß Toni, Sanchez-García und den Bericht. »Du kennst Kemíl Martín?! Woher?«
»Kleine Drogenstory, reden wir nicht weiter darüber. Haschisch und ein bisschen Koks, nichts von Belang. Und seine Freundin Elena haben sie im Corte Inglés beim Klauen erwischt. Zwölf Tapagabeln, ich bitte dich!«
Pia lachte. Sie mochte den capitán, Josep Bonet, obwohl ihr seine laxe Dienstauffassung ziemlich gegen den Strich ging. »Ich kann nicht. Ich schieb heute Nacht Dienst. Wenn irgendwas passiert, will ich nicht, dass dieser Babyarsch seine Nase vorschiebt.«
»Ach, Schätzchen«, Bonet umarmte sie kurz, »das bringt doch nichts. Das ist, als wolltest du einen geilen Ehemann durch eine Liste mit Hausregeln am Seitensprung hindern.«
»Aber was soll ich denn machen? Ich weiß doch, was er will und wie er arbeitet«, Pia schnaufte durch. »Und ich weiß auch, wie das alles hier läuft.« Bonet sah sie an. War da Mitleid in seinem Blick?
»Vertrau auf deine Fähigkeiten. Sieh das einfach professionell. Du bist besser als er. Sehr viel besser.«
Pia schrieb ihren Bericht fertig und brachte ihn zu Sanchez rein. Der schaute kaum hin.
»Was soll denn das jetzt sein?! Zwei Seiten! Das hab ich ja alles schon in der Zeitung ausführlicher gelesen.«
»Ich hab den Autopsiebericht noch immer nicht.«
Sanchez starrte sie an. »Würde das viel ändern?«
Pia starrte zurück. Öliges Machoarschloch. Hausgerüchte flüsterten von politischen Ambitionen. Sie konnte seine kleinen überheblichen Hirnsynapsen klicken hören. Er war sich so verdammt sicher. »Was genau erwarten Sie jetzt von mir? Dass ich Fakten fälsche, oder«, – räusper –, »verbiege? Dass ich den Fall so hinstelle, als wäre Jordi vollkommen unschuldig und unbewaffnet in das Messer von diesem blutrünstigen Ali gerannt?«
Sanchez-García lehnte sich in seinem Superluxusdrehsessel zurück, federte ein paarmal und sah sie an. Lächelte. Lieb und charmant. Leise: »Könnten wir das denn machen?«
Pia schüttelte den Kopf. »No, Señor, die Zeiten sind vorbei.« Sanchez verzog den Mund, es sah immer noch aus wie ein Lächeln.
»Tja. Dann müssen wir da durch. Hatten Sie nicht eigentlich frei heute, chica?«
Pia quälte sich ein Lächeln ab und ging zurück zu ihrem Platz. Das war viel zu schnell gegangen. Sie sah zu Toni hinüber. Jetzt hackte er wie besessen auf seinen Computer. Was zum Teufel hatte er da zu tippen? Pia wusste von keinem akuten Fall.
Es war noch immer extrem ruhig. Ein kleiner Junge hatte seinen Hund verloren, zwei deutsche Touristen ihr Kind. Keine unbekannten Toten, keine Huren, keine Zuhälter, keine Messerstechereien oder Schießereien und keine überfallenen Rentnerinnen.
Pia war Pragmatikerin. Information, Prüfung, Präzisierung. Sie gab nicht viel auf Ahnungen, Instinkte und Bauchgefühl. Selbst wenn die Scheiße knüppeldick runterkam, war dann immer noch genug Zeit, sich um die Müllabfuhr zu kümmern.
Heute war das anders. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas war nicht so wie es sollte, passte nicht. Pia war normalerweise nicht sehr gefühlvoll. Aber jetzt hatte sie eine ganz deutliche Vorahnung von nahem Unheil.
Sie stand auf und ging zum Kaffeeautomaten, um sich einen Becher von dem bitter-schwarzen Gebräu zu ziehen. Im Gegensatz zu allen Kriminalromanen und Polizeiserien war der Kaffee hier sehr gut. Roberto kam mit dem Posttrolley vorbei. Roberto war einundzwanzig und hatte das Downsyndrom. Er war immer gut gelaunt, und er war unglaublich stolz auf seinen Job hier. Roberto mochte sie gern und er liebte Kaffee.
»Hallo, Roberto. Wie wär's mit einem schönen süßen Milchkaffee?«
Er sah nicht mal zu ihr hin, zuckte nur kurz zusammen und hastete weiter mit seiner Post. Er wirkte verschreckt, wie auf der Flucht. Pia würde immer abstreiten, dass Roberto so etwas wie das zweite Gesicht besaß. Dass es so was überhaupt gab. Richtig war aber auch, dass Roberto schon ein paar Mal Ereignisse vorausgesehen hatte, seltsame Einzelheiten, unbekannte Zusammenhänge. Natürlich verwirrten ihn die Umbauten hier und die fast täglichen Veränderungen. Aber das war ja nicht so neu, das zog sich schon seit Monaten so hin. Roberto bog um eine Ecke, ohne noch einmal zu ihr zurückzuschauen.
Plötzlich war sie ganz sicher, dass heute Nacht etwas Schreckliches passieren würde. Aber genauso wusste sie auch, dass sie mit niemandem darüber reden konnte.
Ich habe Krebs. Lunge. Aber inzwischen sind fast alle Organe betroffen. Vielleicht noch ein halbes Jahr, eher weniger. Und das Ende wird sich sehr bald sehr hässlich gestalten. Verlust aller Würde und Kontrolle. Schmerzen ohne Ende. So einfach ist das.« Reimann entkorkte noch eine Champagnerflasche.
Am Himmel trafen sich Orchideen und Rosen, Bäume und Girlanden. Vielfarbige Reflexe auf dem Meer. Barbara leerte ihr Glas und ließ es nachfüllen. Sie hatte nicht mehr gegessen als ein paar Oliven und Cracker. Sie war betrunken. Das war's. Klare Frage, klare Antwort. Ich muss weg hier.
Sie stand auf. »Tut mir leid. Aber Sie müssen sich jemand anderen suchen.«
Er war mit einem Schritt bei ihr. Hektisch. »Bitte, warte noch einen Moment. Du hast doch meine Brieftasche durchgewühlt. Du hast die Fotos der Kinder gesehen! Sie sind alles, was ich habe. Florian, Annika, Christoph und Felix. Ich liebe sie. Ich muss dafür sorgen, dass es ihnen gut geht. Ich habe ein paar Lebensversicherungen. Sie sind hoch. Aber nicht hoch genug, wenn ich einfach nur so an Krebs verrecke.« Er nahm einen Schluck. »Bei Unfall jedoch, und Mord ist auch eine Art Unfall, für das Opfer jedenfalls ... dann bekommen Sie ein Vermögen.«
»Mein Gott, mir kommen die Tränen. Sie sind doch so reich, dass Sie vermutlich nicht mal wissen, wie viel Sie genau haben. Warum geben Sie Ihren Kindern das Geld nicht einfach?!«
»Das ist ja das Problem. Ich weiß genau, wie viel ich habe. Nämlich nichts. So gut wie nichts.« Er sah nicht krank aus, höchstens alt.
Barbara war wütend auf sich, weil sie ihn nicht sofort erkannt hatte. Weil sie sich für einen Moment sogar von ihm angezogen gefühlt hatte. Weil sie so unglaublich dumm gewesen war. »Für einen, der nichts hat, wohnen Sie recht aufwendig. Von dem Porsche draußen mal ganz zu schweigen. Und meinen zwei Millionen.«
»Nein, Barbara, das täuscht alles. Glauben Sie mir, nichts von alldem gehört mir noch. Ich bin hoch verschuldet. Ihr Geld habe ich hier im Safe. Ein Viertel. Der Rest nach meinem Tod.«
»Jetzt muss ich wirklich gleich weinen«, Barbara begann sich auszuschalten. Hörte nicht mehr richtig hin. Sie hatte einmal nicht richtig aufgepasst, das würde ihr kein zweites Mal passieren. Flucht. Ihr Adrenalin kochte. Sie musste raus hier, nur raus. Das war krank. Dagegen konnte sie nichts tun. Absolut krank. Sie schob sich an ihm vorbei zur Stahltür. »Tut mir leid.« Sie wollte die Tür aufziehen, aber sie bewegte sich nicht. Panik.
Reimann war sofort bei ihr, den Schlüssel in der Hand. »Verzeih. Das wollte ich nicht. Ich wollte dich nicht erschrecken. Natürlich kannst du gehen. Jederzeit.« Er ließ ihr den Vortritt, und schwach vor Erleichterung stieg sie die Treppe hinunter. Sie wäre gern gerannt, aber das wagte sie nicht. »Darf ich dich noch um einen kleinen Gefallen bitten?« Reimann war hinter ihr, aber nicht zu nah.
Sie entspannte sich etwas, blieb aber auf der Hut. »Und zwar?«
Reimann hob die Schultern und wirkte wieder sehr jungenhaft. »Ich habe ein kleines Automuseum. Mein größtes Hobby und mein ganzer Stolz. Das würde ich dir gerne zeigen, bevor alles unter den Hammer kommt. Und hören, wie du es bewunderst. Okay?«
»Ein Museum? Wo?« Barbara blieb vorsichtig, aber von hier aus konnte sie jederzeit weg. Sie lächelte sogar.
»Gleich neben dem Haus. Pablo el Rey. Er liebte diese alten Autos. Ich habe seinen Silver Shadow ersteigert.« Reimann strahlte, schob sich an ihr vorbei, sorgsam darauf bedacht ihr nicht zu nahe zu kommen, und ging voraus. Durch den Loft, über den Hof zu einem langen Flachbau aus Holz, der ihr vorher nicht aufgefallen war.
Reimann wartete auf sie und machte es spannend wie im Theater. Er richtete eine Fernsteuerung auf das breite Tor, das sich surrend hob. Gleichzeitig leuchteten innen ganze Reihen von Halogenstrahlern auf und ließen seidig schimmernde Kotflügel erglühen. Silbern, tintenblau, dottergelb, nachtschwarz und glutrot. Wie Perlen auf einer Kette standen da mehr als ein Dutzend Oldtimer, die aussahen, als hätten sie soeben erst die Fabrik verlassen. Es roch nach Öl, Benzin, frischem Lack und neuem Leder.
Barbara vergaß ihre Angst. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Luxus pur. Ein paar erkannte sie auf Anhieb. Den edlen Bugatti T44 mit Weymann-Aufbau in tintenblau, einen Mercedes Benz K24, die Königliche Hoheit, von dem damals weniger als dreihundert Exemplare gebaut worden waren, in burgunderrot, einen echten alten Silver Ghost von 1922, den Rolls Royce der Maharadschas in schneeweiß, einen blutroten Lamborghini Diablo und ganz hinten in der Ecke einen grünen Zwölfzylinder Ferrari GTO. Der war nur neununddreißigmal gebaut worden und nur dreimal in grün! Einen Augenblick lang glaubte sie hinter den spiegelblanken Scheiben sogar den Fahrer am Steuer zu erkennen und erwartete fast das Aufheulen des Motors.
»Die sind ja wunderschön!« Sie wandte sich zu Reimann um. Er hielt immer noch Abstand.
»Und alle wären sofort fahrbereit.« Reimann strahlte ergriffen wie ein kleiner Junge unter dem Weihnachtsbaum. »Das ist mein Lebenswerk.« Seine Augen wurden feucht, es sah aus, als würde er gleich weinen.
»Aber Pablos Silver Shadow ist nicht dabei.«
Reimann schüttelte nur den Kopf.
Oh Gott, Barbaras Adrenalin brodelte hoch, sie wandte sich zum Tor um.
Zu spät.
Reimann stand zwischen ihr und dem Tor, das sich gerade mit leisem Summen zu schließen begann. Er hielt die Fernsteuerung in der einen Hand, ein Feuerzeug in der anderen. Ein absurd großes Sturmfeuerzeug. Ließ es schnappen. Klack. Fluffff. Eine daumengroße Stichflamme schoss hoch. Er lächelte wehmütig. »Eins kannst du mir glauben. Es tut auch mir weh. Sehr weh.«
Barbara sprang ihn an, aber er hatte das Feuerzeug schon geworfen. Es blieb nahe bei dem Rolls Royce liegen, und zunächst passierte nichts.
Barbara krallte ihre Finger in Reimanns Gesicht und trat ihm mit dem Knie zwischen die Beine. Er schrie auf, ließ die Fernsteuerung fallen und packte ihre Haare, riss ihr den Kopf zurück und schlug ihr die Faust in den Bauch. Unter dem Feuerzeug schoss die erste kleine Flamme hoch. Blau mit grünweißen Spitzen. Eine Benzinpfütze.
Das Tor senkte sich weiter. Noch etwas mehr als ein Meter.
Barbara bekam keine Luft mehr. Reimann schleuderte sie zu Boden und rannte zum Tor. Sie sprang hoch, hechtete hinter ihm her. Neunzig Zentimeter. Er bückte sich, um unter dem Tor hindurchzuschlüpfen.
Die erste Explosion. Nicht so bedrohlich. Ein kleines Krachen, ein nada gegen das Feuerwerk draußen. Dann die erste Stichflamme in dickem Maisgelb. Knattern, Fauchen, Rauch und weitere Explosionen. Es wurde heiß. Siebzig Zentimeter.
Sie war bei ihm, packte seinen Fuß und zog ihn zurück. Er rollte sich herum, hatte plötzlich eine Pistole in der Hand. Sie trat nach seiner Hand, aber er hielt die Pistole fest. Eine neue Explosion füllte mit einem Schlag den ganzen Raum mit Feuer. Metallteile flogen durch die Luft. Eine ganze Kette neuer Explosionen. Die Luft glühte. Er drückte ab, wieder und wieder, Schüsse, die keiner hörte. Barbara warf sich über ihn, rammte ihm das Knie zwischen die Beine und rollte sich über ihn hinweg und unter dem Tor durch hinaus. Fünfundvierzig Zentimeter.
Sie hörte seine Schreie, sie sah seine Hand, die noch unter dem Tor hervorkam. Fünfzehn Zentimeter.
Sie merkte erst viel später, dass sie verletzt war. Als die Schmerzen kamen. Als sie weglaufen wollte und nur noch kriechen konnte. Als sie die ersten Feuerwehrsirenen hörte.
Das Dach der Garage krachte ein, die ersten Flammen erreichten das Haupthaus. Taghell. Sie kroch an den Büschen vorbei zu dem Tor in der Mauer. Sie musste sich an die Klinke hängen, fiel draußen wieder zu Boden. Robbte zu dem Porsche.
Der Türgriff schien unerreichbar hoch. Ihr linker Arm gab unter ihr nach wie Gummi, der Schmerz kam mit Zeitverzögerung und so heftig, dass er wie ein Schock alle anderen Empfindungen ausblendete. Der rechte Arm trug sie, sie wuchtete sich über den Ellbogen ins Auto und zog die Beine mit Hilfe der rechten Hand nach. Sie musste ein paar Mal blinzeln, um den Blutschleier von den Augen zu bekommen. Der Zündschlüssel steckte noch, als sie zu drehen versuchte, sah sie ihre eigenen Finger. Dick und rot wie gekochte gambas. Sie zitterte. Sie hörte das erste Polizeiauto. Die Stimmen der Nachbarn. Rufe, Schreie.
Der Motor sprang an.
Janet schob sich durch die Menge vor dem üppigen Tapabuffet an die Bar, füllte ihr Bierglas mit Weißwein auf und kramte einen Eiswürfel aus einem der Plastiksäcke, mit denen die Bier- und Champagnerflaschen in der alten Badewanne gekühlt wurden. Es erwies sich als schwierig, nicht gleichzeitig den Wein wieder zu verschütten.
»Moment, ich helf dir.« Ein junger Mann mit Haaren so kurz, dass man die Kopfhaut darunter blinken sah, bückte sich dicht neben ihr über die Wanne und riss an der Plastikverpackung der schon halb geschmolzenen Eiswürfel.
Sie trug ein leichtes Seidenkleid mit Spaghettiträgern und keinen BH. Sie trug seit ihrem ersten mörderischen Push-up vor vierzig Jahren keinen BH mehr. Ihr linker Busen wollte sich in dieser Position nicht halten lassen, und sie hatte die Wahl, ihm oder ihrem Wein seine Freiheit zu lassen. Sie entschied sich für den Busen.
Die sonnengebräunte Haut unter dem Stoppelhaar färbte sich dunkel. Langsam richtete Janet sich auf und fluppte den Busen an seinen Platz zurück. Der junge Mann kippte ihr eine ganze Hand voll Eiswürfel ins Glas. Ein Jungengesicht. Dunkelrot unter den blondierten Borsten. Noch viel jünger als sie vermutet hatte. Aber verdammt schöne Augen. Er holte tief Luft. »Ich bin Nicolau.« Er grinste verlegen, sie lächelte zurück. Seine Gesichtsfarbe normalisierte sich wieder zu einem hellen Sonnenbraun, sein Atem beruhigte sich. »Ich bin Architekt. Also fast. Ziemlich bald jedenfalls. Ich mach gerade mein Praktikum ...«
Es wäre besser gewesen, er hätte den Mund gehalten. Janet wandte sich zur Balustrade der Dachterrasse um.
»Heh bitte, dreh dich nicht weg, ich finde dich toll, so frei, einfach so deine tetas ... äh, entschuldige, aber ich würde gern mit dir ... äh, können wir nicht ...«
Violett, grün, golden und strahlendweiß entfaltete sich die exotische Blüte einer Lichtorchidee über den Dächern von Barcelona. Das Krachen war von hier oben aus kaum zu hören.
Die Stadt lag unter ihr wie ein Brillantencollier. Glitzernd und funkelnd bis zum Montjuïc hinauf. Direkt unter ihr nur dunkle Hinterhöfe. Die letzten Reste der alten Industriebauten am Rande des Poble Nou. Des Neuen Dorfes. Auch diese Gebäude würden demnächst abgerissen und durch Neubauten und Grünflächen ersetzt werden. Ein paar Meter dahinter die palmengesäumte Straße, die Parks und der Strand. Sicher eine Verbesserung. Aber solche Ateliers und so ein Fest würde es hier nicht mehr geben.
Als sie das erste Mal nach Barcelona gekommen war, 1964, da waren Bikinis verboten und Hosen für Frauen verpönt. Wein und Zigaretten waren spottbillig, und man konnte am Strand für ein paar Peseten einen Holztisch mit Stühlen mieten. Meer und Strand waren extrem verschmutzt, aber das störte keinen. Man ging nur ins Wasser, wenn der Wind günstig stand, und gegen die Ölbatzen an den Füßen hatte man Petroleum. Heute war das Meer sauber, und es gab jede Menge kleiner properer Strandbuden und Diskos, Sonnenschirme, Liegen und Lattenpfade über den Sand. Barcelona hatte sich in den letzten zwei Jahrzehnten mehr verändert als jede andere Stadt in Europa. Und Janet wusste nicht, ob ihr das wirklich gefiel.
Der junge Mann mit dem kurzen Haar neben ihr redete immer noch auf sie ein. Er war sexy, und er hatte eindeutig Interesse an ihr. Und sie machte sich Gedanken über Barcelonas Stadtplanung. Sie wurde alt. Janet leerte ihr Glas und füllte es wieder auf. Diesmal ohne die Hilfe von Nicolau oder wie immer sein Name war.
Janet sah sich um. Ein riesiges Flachdach mit provisorischen Atelierbauten in der Mitte. Innen standen dicht gestapelt Kemíls Bilder. Großformatig, fast monochrom und doch detailgetreu, wenn auch oft erst auf den zweiten Blick. Zum Teil schon eingepackt für den bevorstehenden Umzug. Seit für die Olympiade die scharfe Axt der Hafenerneuerung hier eingeschlagen hatte, stellte die Stadt Barcelona einige der entkernten Gebäude Musikern, Malern und Bildhauern zur Verfügung. Und einer wie Kemíl Martín, der zum Ruhm der Kulturstadt beitrug, würde sicher wieder ein Atelier bekommen. Aber wo?
Es waren gut zweihundert Leute hier oben, sie standen in Gruppen beisammen, saßen auf Plastikstühlen an ebenso zusammengeliehenen Tischen, schwatzten, tranken und aßen. Man kannte sich. Verschiedene Nationalitäten und Altersgruppen. Einige waren sehr elegant, aber die meisten kamen eher leger. Interessenten, Käufer, Agenten, Kollegen und andere Künstler, Journalisten, Familie und Freunde. Freunde von Freunden und Freunde von Freunden von Freunden. Kemíls Fest gab es jedes Jahr zu San Juan, und jedes Jahr kamen mehr. Es war Kult.
Janet fühlte sich plötzlich fremd hier. Die meisten Gäste waren nicht viel älter als Mitte dreißig, und sie kannte kaum einen. Außer dem arroganten Filmemacher Namenlos aus Frankfurt, der im Lauf der Jahre verdorrten Literaturagentin aus Amsterdam, dem italienischen Kunsthändler mit Sonnenbrille und Übergewicht, dem völlig sprach- und orientierungslosen amerikanischen Ex-Football-Star, der französischen Filmschauspielerin, an die sich kein Mensch mehr erinnerte und den ganzen anderen Fossilen aus Barcelonas großen Tagen, als es noch galt, Franco zu bekämpfen. Wenigstens verbal beim vino tinto und gambas al ajillo.
Die anderen waren fast alle sehr viel jünger. Für ein so genanntes Künstlerfest erstaunlich ruhig, bieder und fast immer paarweise. Es gab sogar zwei Babys in Kinderwagen. Kaum einzelne Männer, dafür aber jede Menge allein stehender oder zumindest allein gekommener Frauen zwischen dreißig und vierzig. Extrem aufgebrezelt und hektisch aktiv.
Die Musik wechselte von Jazz beim Aperitif zu romantischen Oldies beim Essen, zu softem Tanzrock danach und jetzt zu arabischer Musik. Einige der Frauen versuchten sich im Bauchtanz, ein Mann gesellte sich dazu. Janet wandte sich gelangweilt ab.
»Ach, komm, guapa mia«, Kemíl umarmte sie von hinten, drückte sie an sich, küsste sie, und sie wurde allein davon high. Lachte. Sie liebte Kemíl. Er war ein großartiger Künstler, unfähig, sich zu verkaufen, aber charmant bis zum Umfallen. Vor dreißig Jahren hatten sie mal eine kleine leidenschaftliche Affäre gehabt. Damals waren die Jungen sechs, vier und zwei, und für ein paar Jahre war Kemíl für sie eine Art Vaterersatz gewesen. Marc meldete sich schon lange nicht mehr, aber Sean und Eric hingen noch immer an ihm.
»Kemíl, cariño. Deine fiestas sind die schönsten.«
Er lachte. Stand da vor ihr. Groß, breit, grauhaarig, bärtig und rundum liebenswert. »Sean hat mir geschrieben. Er kommt ganz schön rum in der Welt, und sein Job als Meeresbiologe macht ihm offensichtlich Spaß. Was macht er da eigentlich?«
»Im Moment arbeitet er für dieses Pharmaunternehmen. Sie untersuchen bestimmte Algenarten auf einen krebshemmenden Wirkstoff.«
»Vielleicht rettet er uns allen noch mal das Leben!« Kemíl hielt sie immer noch im Arm.
Sie sah ihn nicht an. »Und Eric? War der in letzter Zeit mal wieder hier?«
»Na ja, wir sehen uns gelegentlich.« Kemíl warf einer der Bauchtanzfrauen ein Küsschen zu.
»Ziemlich regelmäßig, schätze ich mal«, sagte sie bitter. »Immer, wenn er Geld braucht.«
»Ach, Geld habe ich doch selber keins«, er lachte. »Jaja, ich weiß, ich sollte ihm nichts geben. Aber ich mag den Jungen einfach. Der hat was drauf, glaub mir.«
»Ich mache mir Vorwürfe. Ich hab das nicht so gut hinbekommen mit den dreien. Na ja, mit zweien. Sean ist ein feiner Junge. Der wird seinen Weg machen. Ja, Sean ist okay. Aber Marc ist ein total biederer Broker in London geworden, von dem ich nur noch zu Weihnachten so eine Kitschkarte bekomme. Und der Kleine macht mir wirklich Sorgen. Er ist mit den falschen Leuten zusammen, und ...«
»Schwulen Leuten, meinst du.« Leise.
»Nein«, gab sie scharf zurück. Red doch nicht so einen Stuss. Du solltest mich besser kennen. Ich weiß Bescheid, seit er zwölf war. Ich will doch nur, dass er glücklich ist. Ich rede von Drogen, verdammt noch mal. Das ist mehr als nur so ein bisschen Koks und Ecstasy. Ich komme nicht mehr an ihn ran!«
»Er sucht noch seinen Platz im Leben.« Kemíl drückte seine Zigarette aus. »Ich war in seinem Alter genauso, wenn nicht schlimmer.«
Janet hätte ihm so gern geglaubt. Aber Eric war nicht so wie Kemíl. Er war ihr Sohn, und sie liebte ihn. Aber sie sah auch seine Schwäche, seine Orientierungslosigkeit, seine Verführbarkeit, seine manchmal unkontrollierte Aggressivität.
Blut lief ihr in die Augen, das Licht der Straßenlampen flirrte rot. Barbara wischte sich mit dem Oberarm über das Gesicht und fuhr in der falschen Richtung auf die Litoral. Sie konnte die Straße kaum erkennen. Autos blendeten sie, hupten. Einer krachte hinter ihr auf den Mittelstreifen. Der Schock ließ nach, die Schmerzen hinderten sie daran, ohnmächtig zu werden. Sie spürte das Lenkrad nicht, es war als würde sie Handschuhe tragen. Handschuhe aus Feuer.
Bei der Marineschule schaffte sie es endlich, abzubiegen. Weiter. Noch ein Stück. Wieder wurde sie angehupt. Dann war sie auf der Laietana mitten in einer Kette von Autos, sie musste nur den roten Lichtern vor ihr folgen. Hupen. Der Lärm hallte in ihrem Kopf wider. Trotzdem hörte sie die Polizeisirene heraus. Sah die blau-roten Lichter auf der Gegenfahrbahn vorbeiflackern.