Krimi Quintett Sonderband 1014 - Alfred Bekker - E-Book

Krimi Quintett Sonderband 1014 E-Book

Alfred Bekker

0,0

Beschreibung

von Alfred Bekker & Thomas West & Chris Heller Dieses Buch enthält folgende Krimis: Chris Heller/Thomas West: Kommissar Jörgensen in der Zwickmühle Thomas West: Richter und Rächer Alfred Bekker: Mörderspiel Alfred Bekker: Die programmierten Todesboten Alfred Bekker: Der Killer und sein Zeuge Eine ultramoderne High-Tech Waffe gerät in falsche Hände und bringt Tod und Verderben. Ihr genialer Schöpfer wird in New York ermordet und scheint einer Verschwörung großer Syndikate zum Opfer gefallen zu sein. Nur ein einsamer Ermittler ahnt die unfassbare Wahrheit ... Henry Rohmer ist das Pseudonym eines Autors, der unter dem Namen Alfred Bekker vor allem als Autor von Fantasy-Romanen und Jugendbüchern bekannt wurde. Daneben war er Mitautor von Spannungsserien wie Jerry Cotton, Cotton Reloaded, John Sinclair , Kommissar X und Ren Dhark.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 693

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alfred Bekker, Chris Heller, Thomas West

Krimi Quintett Sonderband 1014

UUID: dd2c3c59-ae01-4e87-ad2f-a257562727a7
Dieses eBook wurde mit StreetLib Write (https://writeapp.io) erstellt.

Inhaltsverzeichnis

Krimi Quintett Sonderband 1014

Copyright

Kommissar Jörgensen in der Zwickmühle: Mordermittlung Hamburg Kriminalroman

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

Richter und Rächer

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

Mörderspiel

Hauptpersonen:

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

​Die programmierten Todesboten

Der Killer und sein Zeuge

Krimi Quintett Sonderband 1014

von Alfred Bekker & Thomas West & Chris Heller

Dieses Buch enthält folgende Krimis:

Chris Heller/Thomas West: Kommissar Jörgensen in der Zwickmühle

Thomas West: Richter und Rächer

Alfred Bekker: Mörderspiel

Alfred Bekker: Die programmierten Todesboten

Alfred Bekker: Der Killer und sein Zeuge

Eine ultramoderne High-Tech Waffe gerät in falsche Hände und bringt Tod und Verderben. Ihr genialer Schöpfer wird in New York ermordet und scheint einer Verschwörung großer Syndikate zum Opfer gefallen zu sein. Nur ein einsamer Ermittler ahnt die unfassbare Wahrheit ...
Henry Rohmer ist das Pseudonym eines Autors, der unter dem Namen Alfred Bekker vor allem als Autor von Fantasy-Romanen und Jugendbüchern bekannt wurde. Daneben war er Mitautor von Spannungsserien wie Jerry Cotton, Cotton Reloaded, John Sinclair , Kommissar X und Ren Dhark.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

COVER A.PANADERO

Kommissar Jörgensen wurde erfunden von Alfred Bekker

Chris Heller ist ein Pseudonym von Alfred Bekker

© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

[email protected]

Folge auf Facebook:

https://www.facebook.com/alfred.bekker.758/

Folge auf Twitter:

https://twitter.com/BekkerAlfred

Erfahre Neuigkeiten hier:

https://alfred-bekker-autor.business.site/

Zum Blog des Verlags!

Sei informiert über Neuerscheinungen und Hintergründe!

https://cassiopeia.press

Alles rund um Belletristik!

Kommissar Jörgensen in der Zwickmühle: Mordermittlung Hamburg Kriminalroman

Krimi von von Thomas West & Chris Heller

Als die Freundin des Kriminalkommissars Uwe Jörgensen entführt wird, muss er die Seiten wechseln, um ihr Leben zu retten. Ein Schwerverbrecher soll befreit werden, um weitere Straftaten begehen zu können. Jörgensen muss bis an seine Grenzen gehen. Wird er seinen Diensteid brechen?

1

Ich presste mich an die Oberfläche des Containers. Irgendwo war ein Nebelhorn zu hören. Im Hamburger Hafen war das kein ungewöhnliches Geräusch. Und dazu ein Chor kreischender Möwen. Die Möwen folgten Schiffen. Aber viele lebten inzwischen in der Hansestadt. Der Grund dafür war einleuchtend.

Es gab dort kaum Fressfeinde für sie in der Stadt.

Und darum siedelten sie sich an. Schätzungen zufolge gibt es mehr als dreitausend Möwen in Hamburg. Wenn man sich das mal genauer vorstellt, dann hat man also eine Möwenkleinstadt innerhalb der Hansestadt Hamburg. Zumindest, was die Kopfzahl betrifft.

Ein Schuss peitschte dicht an mir vorbei. Das eigentliche Schussgeräusch war nicht zu hören. Vermutlich wurde die Waffe mit einem Schalldämpfer abgeschossen.

Aber man hörte, wie das Projektil gegen das Metall schrammte, aus dem die Außenhülle des Containers bestand. Ich sah die Beule, die das Projektil in das Metall hineinschlagen hatte.

Dass die Kugel nicht einfach durchgegangen war, konnte mehrere Ursachen haben. Die Entfernung war zu groß, das Kaliber zu klein, das Material des Containers vielleicht zu hart.

Ich tippte auf eine andere Ursache.

Den Auftreffwinkel.

Der Schuss war von schräg seitlich eingetroffen, die Auftreffenergie dadurch deutlich verringert. Eintrittswinkel gleich Austrittswinkel, so lernt man es ja. Der Schuss war also im selben Winkel, wie er eingetroffen war, als tückischer Querschläger weitergeschickt worden. Ein beschleunigtes, durch die Begegnung mit dem Container vermutlich deformiertes Stück Metall, dass aber immer noch schnell genug war, um einen Menschen zu töten oder zumindest schwer zu verletzen.

In meinem Hirn arbeitete es.

In den vielen Jahren, in denen ich schon mit solchen Dingen zu tun habe, erarbeitet man sich ein gewisses Erfahrungswissen.

In welchem Winkel war der Schuss aufgekommen?

Von wo abgefeuert worden?

Mir fiel das kleine Loch im Asphaltboden auf.

Da war die Kugel schließlich gelandet.

Dann blickte ich instinktiv nach oben.

Oben, auf einem der anderen Container, sah ich eine Gestalt.

Das war der Killer. Er hob die Waffe.

Blutrot zuckte das Mündungsfeuer aus dem Schalldämpfer heraus.

Wie eine rote Drachenzunge.

Ich warf mich zur Seite.

Der Schuss ging dicht an mir vorbei.

Ich riss die Dienstwaffe hoch und feuerte zurück. Zweimal drückte ich die Waffe ab.

Der Killer wurde getroffen. Ich schickte noch einen dritten und vierten Schuss hinterher, um sicher zu gehen.

Dann fiel er um wie ein gefällter Baum und kippte über den Rand des Containers.

Langsam erhob ich mich.

Zuerst wollte ich sichergehen, dass da nicht noch einer auf mich wartete.

Schließlich wusste ich nicht mit Sicherheit, ob der Killer allein gewesen war.

Sowas weiß man nie.

Ich stand schließlich wieder auf meinen Beinen.

Irgendwie war mir ziemlich mulmig zumute.

Aber das ist wohl normal.

Ich glaube, bei gewissen Dingen wird sich wohl nie Routine einstellen. Und ich glaube, das Sterben gehört definitiv dazu.

Ich lauschte. Der Lärm im Hafen überdeckte sowieso alles andere.

Dann ging ich zu der Leiche des Killers.

Ich hatte gut getroffen.

Der würde nie wieder jemanden umbringen können.

Das Gesicht kam mir nicht bekannt vor.

Ich durchsuchte ihn. Er hatte einen Ausweis bei sich. Italienisch. Er kam aus Kalabrien. Das bedeutet, es lag ein Zusammenhang mit der kalabrischen ‘Ndrangheta nahe, der mächtigsten Mafia-Organisation Europas.

Aber das würde sich vermutlich nie genau nachweisen lassen.

Ein Mann bog in diesem Augenblick hinter der Ecke des Containers hervor und blieb wie angewurzelt stehen.

Gekleidet war er wie ein Hafenarbeiter.

Aber das musste nichts heißen.

Nicht immer sehen Leute so aus, wie sie aussehen sollten. Und nicht immer ist jemand das, was er zu sein scheint.

Ich wirbelte herum und riss instinktiv die Waffe hoch.

Der Mann stand wie angewurzelt-

“Nicht schießen”, sagte er.

“Jörgensen, Kripo”, sagte ich.

“Nicht schießen!”

“Wer sind Sie?”

“Hennes Boltemeier. Ich arbeite hier.”

Ich senkte die Waffe.

“Gut.”

“Haben Sie… einen Ausweis?”

“Habe ich”, sagte ich. Ich holte ihn mit der Linken hervor und hielt ihn hoch.

“Ist der da” - er deutet auf den Killer - “tot?”

“Ist er”, sagte ich.

Eigentlich bin ich es gewöhnt, die Fragen zu stellen.

Aber manchmal ergibt sich das eben etwas anders.

“Kann ich… gehen?”, fragte er.

“Nein. Ich muss Sie noch befragen und Ihre Personalien aufnehmen”, sagte ich.

“Aber - warum? Habe nix gemacht!”

“Sie könnten ein Zeuge sein und etwas gesehen haben.”

“Ich habe nichts gesehen. Nur jetzt - den Toten.”

“Etwas Geduld.”

“Geduld?”

“Ich rufe jetzt meine Kollegen. In Kürze wird Verstärkung hiersein und dann wird Sie jemand befragen.”

“Aber…”

“Entschuldigung, aber das muss sein.”

“Gut.”

“Sie verstehen das?”

“Rufen Sie Ihre Kollegen.”

“Okay.”

Ich hielt mit meiner Rechten immer noch die Pistole. Gesenkt zar, aber ich hatte sie noch nicht weggesteckt.

Mit der Linken wollte ich mein Handy aus der Jackentasche herausfingern.

Und dann fiel mir etwas auf.

Mir fiel etwas auf, was alles mit einem Schlag veränderte.

Mein Blick hatte den Mann, der sich als der Hafenarbeiter Hennes Boltemeier vorgestellt hatte, einer routinemäßigen Musterung unterzogen. Und es gab da etwas, was im Raster hängengeblieben war.

Der Mann trug zwar die Schutzkleidung der Hafenarbeiter.

Er hatte sogar einen helm auf dem Kopf, wie die Arbeitsschutzvorschriften es verlangten.

Aber sein Schuhwerk passte einfach nicht dazu.

Modische italienische Slipper.

Sowas trug kein Hafenarbeiter bei der Arbeit.

Sicherheitsschuhe waren hier angesagt, aber keine Slipper.

Er sah mich an - ich sah ihn an - und innerhalb eines Sekundenbruchteils wussten wir beide Bescheid, was Sache war. Er riss eine Waffe hervor. Aber ich feuerte schnell genug. Er kam noch zum Schuss, aber dieser Schuss war ungezielt und ging ins Nirgendwo. Ich traf ihn genau in die Stirn.

Sein Blick gefror.

Dann fiel er zu Boden.

Wie ein Stein.

Das Geräusch, dass beim Aufschlag seines Körpers auf dem harten Untergrund zu hören war, klang dumpf. Wie ein Faustschlag in die Magengrube, so klang das. Dumpf und grausam.

*

Wenig später kamen die Kollegen.

“Alles in Ordnung?”, fragte der Kollege Ludger Matthies, der den Einsatz leitete.

“Weiß ich nicht”, sagte ich.

“Wie meinst du das?”

“Normalerweise erschieße ich nicht mal eben so zum Frühstück zwei Menschen.”

“War Notwehr, oder?”

“Was denkst du denn?”

“Dir ist klar, dass das untersucht werden wird.”

“Natürlich.”

“Sowas kann unangenehm werden.

“Ist nicht das erste Mal für mich, Ludger.”

“Ich weiß, Uwe.”

“Eben!”

“Du hattest heute deinen freien Tag, nicht wahr?”

“Ja.”

“Und was hattest du hier am Hafen zu suchen?”

“Da angle ich manchmal.”

“Echt?”

“Wusstest du das nicht?”

Kriminalhauptkommissar Ludger Matthies schüttelte den Kopf. “Nein, das wusste ich nicht. “

“Dann weißt du es jetzt, Ludger. Aber darauf kommt es nicht.”

“Darauf kommt es denn an - deiner Meinung nach?”

“Darauf, dass die beiden Killer es offenbar auch wussten.”

“Verstehe.”

“Die haben mich hier erwartet.”

“Hast du eine Ahnung, was das für Typen sind?”

Ich zuckte die Achseln.

“‘Ndrangheta-Leute, nehme ich an.”

“Du bist denen ja auch oft genug auf die Nerven gegangen, Uwe.”

“Offenbar einmal zuviel. Da war jemand sauer und hat jemanden losgeschickt. Diese zwei Kerle hier. Und die sollten mich dann kaltmachen.”

“Dann kannst du von Glück sagen, dass sie es nicht geschafft haben!”

“Sie werden es wieder versuchen, Ludger. Ganz sicher. Das ist so sicher, wie das Amen in der Kirche.”

“Woher weißt du denn, was man in der Kirche so macht?”, meinte Ludger.

Ich sah den Kollegen Stirnrunzeln an.

“Wieso?”

“Na, weil ein echter Hamburger doch nicht zur Kirche geht!”

“Woher hast du denn die Weisheit?”

“Von meiner Oma, Uwe. Von meiner Oma.”

Ich nickte. “Ich mach mich dann jetzt mal vom Acker, Ludger. Ihr habt hier ja sicher noch eine Weile zu tun. Erkennungsdienstlich meine ich. Und aufgeräumt werden muss ja auch…”

*

Ich erstattete meinem Chef natürlich noch am selben Tag Bericht.

Das versteht sich von selbst.

Vom freien Tag blieb dadurch nicht viel übrig.

Am nächsten Tag holte ich meinen Kollegen Roy Müller wie üblich an der bekannten Ecke ab. Roy und ich bilden zusammen ein Team.

Mein Name ist übrigens Uwe Jörgensen. Ich bin Kriminalhauptkommissar und Teil einer in Hamburg angesiedelten Sonderabteilung, die den etwas umständlichen Namen ‘Kriminalpolizeiliche Ermittlungsgruppe des Bundes’ trägt und sich vor allem mit organisierter Kriminalität, Terrorismus und Serientätern befasst.

Die schweren Fälle eben.

Fälle, die zusätzliche Ressourcen und Fähigkeiten verlangen.

Zusammen mit meinen Kollegen Roy Müller, Ludger Matthies und vielen anderen tue ich mein Bestes, um Verbrechen aufzuklären und kriminelle Netzwerke zu zerschlagen. “Man kann nicht immer gewinnen”, pflegt Kriminaldirektor Bock oft zu sagen. Er ist der Chef unserer Sonderabteilung. Und leider hat er mit diesem Statement Recht.

Als Roy und ich an diesem Morgen im Büro unseres Chefs ankamen, empfing der uns mit seinem gewohnt ernsten Gesicht.

Man muss dazu wissen, dass das Gesicht von Herrn Bock schon unter normalen Umständen eher dem gleicht, was man eine Leichenbittermiene nennt.

Eigentlich denkt man, dass es noch viel ernster gar nicht werden kann. Aber da täuscht man sich in diesem speziellen Fall. Bei Herrn Bock ist das möglich.

“Guten Morgen”, sagte der Kriminaldirektor.

“Moin”, sagten Roy und ich fast wie aus einem Mund.

“Die beiden Männer,, die Sie gestern erschossen haben, sind inzwischen identifiziert”, erklärte Herr Bock.

Ich hob die Augenbrauen.

“Und?”

“Mafia-Killer. Wie es zu erwarten war. Es spricht alles dafür, dass die tatsächlich auf Sie gewartet und Ihnen aufgelauert haben.”

“Leider wird man die Hintermänner wohl nicht feststellen können.”

“Da haben Sie leider Recht.”

“Und ich muss damit rechnen, dass so etwas wieder passiert.”

“Auch damit haben Sie leider Recht.”

“Was soll ich also tun?”

“Sie könnten den Job aufgeben. Dann wären Sie vielleicht in Sicherheit.”

“Sie wissen, dass das für mich keine Option ist.”

“Und ich nehme an, dass die andere Seite das auch weiß. Also wird man sich nicht damit begnügen, Sie nur zu erschrecken, sondern man wird alles daran setzen, Sie tatsächlich auszuschalten.”

“Das haben schon viele versucht. Und keiner hat es geschafft.”

“Vielleicht sollten Sie in Zukunft Ihre Gewohnheiten ändern.”

Ich runzelte die Stirn.

“Meine Gewohnheiten?”

“Zum Beispiel das Angeln am Hafen. Das sollten Sie besser bleiben lassen.”

“Und was noch?”

“Alles, was irgendwie gefährlich ist”, fuhr Herr Bock fort. “Sie sollten sich nirgends exponieren.” ”Ach, hören Sie auf, das ist doch unmöglich!”

“Vermutlich.”

“Ich schlage vor, Sie wünschen mir viel Glück, Herr Bock. Und ansonsten mache ich einfach so weiter wie bisher.”

“Außerdem bin ich ja noch da”, meinte Roy. “Ich werde schon auf dich aufpassen, Kleiner!”

“Kleiner?” Ich sah ihn erstaunt an. “Was sind das für neue Moden, Roy? Du nennst mich Kleiner?”

Roy Müller nickte.

“Ja.”

“Ich bin größer als du! Mindestens einen Zentimeter!”

“Wenn deine Haare geföhnt sind, Uwe. Dann vielleicht.” Roy grinste. “Ich musste früher immer auf meinen kleinen Bruder aufpassen. Und so ähnlich ist das im Augenblick mit dir.”

Ich atmete tief durch.

“Der Vergleich gefällt mir nicht, Uwe.”

“Kann ich mir denken.”

“Kann ich mir denken, Uwe.”

“Der gefällt mir ganz und gar nicht, Roy!”

“Du kommst drüber weg, Uwe. Ganz bestimmt.”

“Wenn du das sagst.”

“Noch was.”

“Was?”

“Du solltest die Freundin einweihen, mit der du zurzeit zusammen bist.”

“Roy, Privatleben heißt Privatleben, weil es privat ist,. Oder?”

“Nicht zwischen Teamkollegen wie uns beiden, Uwe. Da gibt es keine Privatsphäre.”

“Ach!”

“Da gibt es nicht mal ein Wort dafür, Uwe!”

*

Schneeflocken schwebten durch die Lichtkegel der Straßenlaternen. Weiße Decken auf den parkenden Wagen. Wie frierende Tiere kauerten sie in endloser Kolonne an den Straßenrändern. Winternacht in Hamburg. In Finkenwerder, um genauer zu sein.

Es war stiller als sonst. Als hätte sich das Nachtleben vor dem ersten Schnee verkrochen. Von Zeit zu Zeit drehte Johanna den Zündschlüssel herum, bis die Armaturen aufleuchteten, und ließ dann die Scheibenwischer zwei, dreimal über die Frontscheibe schrammen.

Scheinwerfer näherten sich. Zum hundertsten Mal an diesem Abend. Johanna duckte sich tiefer in den Sitz ihres schwarzen Mercedes und presste das Nachtglas an die Augen. Der Wagen, der da heranrollte, verlangsamte. Johanna griff nach dem Mikro des Funkgeräts.

»Ein roter Sportwagen«, sagte sie. »Halt dich bereit ...«

Ein heller werdender Lichtfleck schob sich durch den Vorhang aus tanzenden Schneeflocken.

»Er stoppt vor dem Haus.« In der Rechten das Nachtglas, in der Linken das Mikro, drückte sich Johanna an die Beifahrertür.

Der Sportwagen rangierte in eine Parklücke ein. Seine Scheinwerfer erloschen.

»Das ist er«, flüsterte Johanna. »Eindeutig, das ist er ...«

Sie spürte ihre Hände feucht werden. Statt zu tun, was zu tun war, starrte sie durch das Glas, obwohl nicht mehr viel zu sehen war: Die Frontseite des roten Sportwagens hinter dem Vorhang aus Schneeflocken, die Silhouetten zweier Menschen hinter der Windschutzscheibe im trüben Licht der Straßenbeleuchtung.

Die Beifahrertür öffnete sich.

»Es geht los!«, zischte Johanna …

2

»Armer Kommissar ...« Linda wand sich aus meiner Umarmung. »Bist ja halb verhungert.« Eine ziemlich stürmische Umarmung war es gewesen, ich gestehe es. »Das war die Vorspeise.« Sie drückte mich von sich weg und öffnete die Beifahrertür. »Den Hauptgang gibt’s oben.«

Im Licht der Straßenbeleuchtung sah ich das Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht. Ein verheißungsvolles Lächeln.

»Wie sollte ich auch satt sein.« Ich zog den Zündschlüssel ab. »Sieben magere Tage liegen hinter mir.«

Wir kamen aus Wandsbek. Aus dem »Alten Ritter«, genauer gesagt, der ältesten Kneipe Hamburg. Dort hatten wir Versöhnung gefeiert. Zum fünfzigsten oder hundertsten Mal schätzungsweise. Irgendwann hatte ich aufgehört zu zählen.

Seit einigen Monaten war ich jetzt schon mit Linda Mandelkow zusammen. Ich hatte sie kennengelernt, als ich gegen eine rechtsradikale Gruppierung ermittelte, die sich »Elias Rangers« genannt hatte, und während dieses Falls hatte ich Linda auch das Leben gerettet.

Seither waren wir ein Paar.

Aber was für eins.

Ständig kam es zwischen uns zum Streit, und Linda trennte sich mehr oder weniger regelmäßig von mir. Schuld war mein Job. Sie selbst als Chefredakteurin des Lifestyle Magazins »Female« hatte ja schon wenig Freizeit, aber immer oder zumindest sehr häufig, wenn wir mal einen Abend gemeinsam verbringen wollten, kam mir irgendein heißer Fall dazwischen, und ich musste aufbrechen, um mich irgendwelchen Ganoven oder Terroristen zu stellen.

Natürlich war Linda dann sauer. Und sie war eine sehr aufbrausende junge Frau, die ihre Gefühle häufig nicht unter Kontrolle hatte. Das war sowohl positiv als auch negativ zu sehen.

Sehr häufig leider negativ, denn für meinen Job brachte sie wenig Verständnis auf.

Es hatte also mal wieder zwischen uns geknallt, und wieder hatte Linda erklärt, es wäre aus mit uns. Und wieder war ich es gewesen, der über seinen Schatten gesprungen war, und wir hatten uns ein weiteres Mal versöhnt.

»Eine Woche Fasten«, grummelte ich und grinste sie an. Beiläufig zog ich mein Handy aus der Halterung am Armaturenbrett. »Keine Umarmung, kein Kuss, kein Wort und auch sonst nichts. Meine Hormone haben sich ganz schön angestaut ...«

»Selber schuld.« Ihr ausgestreckter Zeigefinger deutete auf mein Handy. »Das Ding bleibt im Auto, Kommissar!«

»Sorry, Linda.« Ich versenkte das Gerät in meinem Jackett. »Völlig ausgeschlossen.«

»Du begleitest nicht irgendeine Frau in ihre Wohnung!« Jetzt schwebte ihr Zeigefinger drohend vor meinem Gesicht. Schneeflocken trieben durch die offene Beifahrertür in meinen Sportwagen. »Die Frau, die du liebst, hat dich in ihr Bett eingeladen – und sie kann dich ganz schnell wieder ausladen. Also weg mit dem Ding!« Sie öffnete das Handschuhfach. »Ich will′s nicht in meiner Wohnung sehen. Nicht mal ausgeschaltet!«

»Kommt nicht infrage.« Ich stieg aus. »Der Mann, mit dem du dich heute Abend versöhnt hast, ist Polizist!« Auf der Beifahrerseite sprang Linda aus dem Sportwagen. »Kriminalkommissar! Staatsdiener!«, fuhr ich fort. »Ich kann nicht so tun, als wäre ich nicht erreichbar.«

Über das nasse Wagendach hinweg blitzte sie mich an.

»Der Mann, mit dem ich mich heute Abend versöhnt habe, gehört in dieser Nacht weder der Kriminalpolizei, noch Hamburg, noch ganz Deutschland, sondern mir!« Mit dem Zeigefinger stach sie sich gegen die Brust. »Mir ganz allein! Sonst pfeif′ ich auf ihn!«

Ich verdrehte die Augen und trommelte mit den Fingern auf das Wagendach.

Ganz ruhig, Uwe, dachte ich, bleib ganz ruhig – ein Kompromiss ... Denk daran, was ihr heute Abend vereinbart habt ... Versuch, einen Kompromiss zu schließen!

»Pass auf, Linda – Fakt ist: Ich muss erreichbar sein!«

Sie knallte die Wagentür zu und stemmte die Fäuste in die Hüften. Schneeflocken senkten sich auf ihre blonde Löwenmähne.

»Fakt ist auch: Ich will mit dir zusammen sein, und du willst mit mir zusammen sein.«

Wie zum Schwur hob ich die Rechte.

»Sollte ich heute Nacht zu irgendeinem Einsatz ausrücken müssen – ich halte das für unwahrscheinlich, aber nur mal angenommen – dann verspreche ich dir, dass ich mir übernächstes Wochenende frei nehme. Richtig Urlaub. Nur für dich.«

Ich fand mich gut. Ein besseres Versprechen wäre auch einem Kommunalpolitiker im Wahlkampf nicht eingefallen.

Doch Linda zeigte sich wenig beeindruckt.

»Übernächstes Wochenende habe ich keine Zeit. Jetzt habe ich Zeit.«

Ich stieß die Fahrertür zu und drückte auf den Impulsgeber für die Zentralverriegelung.

»Dann nächstes Wochenende, oder wie wäre es ...«

In der Außentasche meines Jacketts vibrierte mein Handy. Linda verschränkte die Arme vor der Brust. Das Licht der Straßenbeleuchtung reflektierte sich in ihren bernsteinfarbenen Augen. Eine Mischung aus Bitterkeit und Spott legte sich auf ihr schönes Gesicht.

Das Geräusch des Handys verlangte nach mir – aufdringlich und erbarmungslos.

Ich drehte mich um, lehnte mit dem Rücken gegen meinen Wagen, und zog das verflixte Ding aus der Tasche. »Jörgensen!«

»Entschuldigen Sie die späte Störung, Herr Jörgensen.« Eine Frauenstimme schnarrte mir ins Ohr. Sie klang angespannt. »Ich heiße Karin Berger wahrscheinlich kennen Sie mich nicht ...«

Der Name sagte mir wirklich nichts. »Worum geht’s denn, Frau Berger?«

»Um den Brokuwitz-Prozess. Ich hab eine Aussage zu machen.«

Brokuwitz – der Name sagte mir etwas. Genug jedenfalls, um eine Batterie roter Lampen in meinen Hirnwindungen aufflammen zu lassen. Wir hatten den Waffenhändler polnischer Abstammung hinter Schloss und Riegel gebracht. Ein halbes Jahr war das her, vielleicht auch länger.

»Sie wissen doch, der Prozess gegen ihn wird morgen eröffnet ...«

»Ich weiß.« Während des morgendlichen Briefings beim Chef hatten wir über den Prozess gesprochen. Ein Team von uns sollte den Schwerverbrecher auf dem Weg von der JVA Fuhlsbüttel zum Gericht ins eskortieren. Der Einsatz war für den Nachmittag des nächsten Tages geplant.

»Wenn Sie eine Aussage machen wollten, bin ich die falsche Adresse. Ich kann Ihnen die Nummer des Staatsanwaltes geben.«

»Ich habe Angst, Herr Jörgensen.« Die Stimme wurde hastiger. »Da steht ein Wagen am Straßenrand, unten vor meinem Haus. Schon seit dem frühen Abend. Ich glaube, ich werde beschattet ... O Gott diese Teufel werden mich doch nicht umbringen?«

»Ganz ruhig, Frau Berger. Niemand wird Sie umbringen.«

Es war eine Phrase. Aus dem Umfeld der Staatsanwaltschaft wussten wir, dass die Anklage gegen Brokuwitz nicht gerade auf stählernem Fundament stand. Monatelang hatte man händeringend nach Zeugen gesucht. Der Deutsche polnischer Abstammung hatte mindestens acht Morde in Auftrag gegeben. Von den drei Zeugen, die sich schließlich bereit fanden, gegen ihn auszusagen, lebte nur noch einer. Und das trotz Polizeischutz.

Ich betätigte wieder die Zentralverriegelung. Schnee hatte sich auf meinem Jackett gesammelt, Wasser tropfte mir aus dem Haar.

»Nennen Sie mir Ihre Adresse, damit ich Ihnen die Nummer des zuständigen Polizeireviers geben kann.«

Fast gleichzeitig ließen Linda und ich uns in die Sitze fallen. Mit schmollend geschürzten Lippen beäugte Linda die noch lichte Schneedecke auf der Frontscheibe.

Sie nannte ihre Adresse. Gehetzt klang die Frauenstimme jetzt. »Bitte, Herr Jörgensen – können Sie nicht persönlich bei mir vorbeikommen? Ich will meine Aussage loswerden. Ich war dabei, als dieser Teufel zwei Morde in Auftrag gab. Bitte, Ihnen vertraue ich. Ich hab in der Zeitung gelesen, wie hartnäckig Sie ihn gejagt haben ...«

»Sie können die Aussage auch bei einem Beamten des Polizeikommissariats machen. Der Richter wird ihm ...«

»Ich beschwöre Sie, Herr Jörgensen! Ich bin wie gelähmt vor Angst. Wenn ich nicht Ihre Stimme aus der Sprechanlage höre, werde ich niemandem öffnen ...«

Ich gab auf.

»Okay. Ich bin in fünfzehn Minuten bei Ihnen.«

Neben mir hörte ich Linda die Luft scharf durch die Nase einatmen.

»Sorry, Linda. Es wird nicht lange dauern.«

Sie stieg aus.

»Ich werde der Frau ein paar Minuten zuhören«, sagte ich beschwörend, »ihre Aussage notieren und ...«

Linda beugte sich zurück in den Wagen.

»Auf dem Weg dorthin rufe ich das zuständige Polizeirevier an«, sagte ich. »Ich überlass den Polizisten die Frau und komm zu dir ...«

Linda blickte auf ihre Armbanduhr.

»Es ist kurz vor Mitternacht.« Ihre raue Altstimme vibrierte vor Zorn und Enttäuschung. »Bis halb zwei gebe ich dir Zeit. Danach brauchst du nicht mehr bei mir klingeln. Und zwar nie wieder!«

Sie schlug die Wagentür zu und lief zum Eingang ihres Wohnhauses.

3

Kein Lichtschein erhellte den Raum. Der Mann drückte sich gegen die Wand neben dem Fenster. Drei Stockwerke unter ihm die Reihen der parkenden Wagen. Schneeflocken glitzerten im Licht der Straßenbeleuchtung. Sein kantiges Gesicht wirkte angespannt. Die Kaumuskulatur arbeitete. Das Herz in seinem breiten Brustkorb schlug schneller als sonst. Seine Hand um den Griff des schwarzen Geräts in der Tasche seines Trenchcoats schwitzte. Wie festgewachsen stand er da. In einem Wohnung, das nicht sein Wohnung war. Sein konzentrierter Blick klebte an dem Sportwagen dort unter ihm. Anders als die meisten anderen Fahrzeuge bedeckte ihn noch keine geschlossene Decke.

»Nun mach schon«, murmelte der Mann. »Fahr endlich los ...«

Er sah den Sportwagen nur zur Hälfte. Die dem Bürgersteig zugewandte Seite des Wagens wurde vom Fenstersims verdeckt. Doch der Mann sah, was er sehen musste. Und er wusste, wer in dem Wagen saß. Und was der Fahrer des Sportwagens gerade tat, das wusste er auch.

Die Scheinwerfer des Sportwagens flammten auf. Er scherte aus der Parklücke.

»Endlich ...!«

Der Mann tastete sich durch den dunklen Raum. Bis seine Schuhspitze gegen etwas Festes, Hohles stießen. Er bückte sich, berührte die raue Oberfläche eines kofferartigen Behälters, glitt mit den Händen über dessen abgerundete Schmalseite und erwischte eines der Schnappschlösser.

Klack, klack! – nacheinander sprangen die Schlösser auf. Der Mann klappte den Deckel des ungewöhnlichen Behälters auf und lehnte ihn gegen eine Couch. Gegen eine Couch, die nicht seine Couch war.

Seine Hände tasteten den samtenen Stoff ab, mit dem der Behälter ausgeschlagen war. Bis sie das Bündel berührten. Zusammengerollte Lederhandschuhe. Der Mann wickelte sie auseinander. Etwas fiel klappernd in den Kasten.

Hastig streifte er sich die Handschuhe über.

In der Innentasche seines Trenchcoats vibrierte ein Handy. Er zog es heraus.

»Ja?«, flüsterte er.

»Er hat angebissen.«

»Gut. Ich verlass mich auf dich.«

Er steckte das Handy zurück in die Manteltasche. Seine Hände strichen über den Boden des Kastens, bis er das Ding tastete, das aus dem Handschuhbündel gefallen war. Lang und dünn war es: eine Spritze.

Er steckte sie in die rechte Manteltasche, holte eine kleine Stablampe aus der Innentasche und schaltete sie für eine Sekunde ein. Umrisse von Möbeln, Bodenvasen, Zeitschriftenstapeln, Türrahmen und einem Schuhregal erschienen im Lichtstrahl. Für einen Augenblick nur, dann wieder Dunkelheit.

Behutsam setzte der Mann einen Fuß vor den anderen. Das Bild, das ihm das Licht seiner Lampe verschafft hatte, genügte zur Orientierung. Vorbei am niedrigen Holztisch, hindurch zwischen Zeitungsstapel und Vase, dann der Türrahmen, dann das Schuhregal, und daneben die Wohnungstür.

Dort blieb der Mann stehen und lauschte. Etwas summte draußen vor der Tür - der Lift. Das Summen verstummte, ein anderes Geräusch stattdessen: Die Aufzugtüren schoben sich auseinander. Schritte näherten sich …

4

Das Spinnennetz war neu. Gestern jedenfalls spannte es sich noch nicht zwischen der Unterseite des schmalen, fast leeren Wandregals und der Wand des kleinen Raumes. Nicht nur das Netz, auch die Spinne konnte Herbert Eckert deutlich erkennen, obwohl er neben der Metalltür des Raumes stand. Der Tür in den Zellentrakt. Also mindestens fünf Schritte entfernt von dem halb leeren Wandregal.

Herbert Eckert – seine Verwandten und seine Freunde nannten ihn Herbie – hatte persönlich nichts gegen Spinnen. Aber er hatte etwas dagegen, wenn irgendwelche Leute ihre Arbeit nicht gründlich erledigten. Und ein Spinnennetz im Besucherraum war ja wohl der schlagendste Beweis dafür, dass die Leute von der Hausreinigung schlampig arbeiteten.

Herbie nahm sich vor, morgen ein ernstes Wort mit Georg Maschner zu sprechen. Georg war für den Reinigungstrupp im Untersuchungstrakt von der JVA zuständig. Und Herbie, als einer von drei stellvertretenden Leitern der Wachmannschaft, hatte das Recht, ihn auf Fehler hinzuweisen. Weiß Gott, das hatte er.

Herbie versuchte, die Spinne und ihr Netz zu ignorieren. Über die Köpfe der beiden Männer am Besuchertisch hinweg betrachtete er das Muster des abbröckelnden Kalks neben der gegenüberliegenden Tür. Die Tür, durch die Besucher diesen Raum zu betreten pflegten.

Bald jedoch schweifte sein Blick zurück zur Spinne. Wie still sie da in ihrem Netz hing.

Haben doch was Gefährliches, die Viecher, dachte Herbie. Lauern, bis irgend so ’ne arme Mücke oder ’ne Fliege kleben bleibt …

Der Gedanke lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen der beiden Männer am Besuchertisch. Auf den Kleinen mit dem schütteren Haarkranz. Er trug eine graue Strickjacke über dem blauem Hemd.

Herbie beachtete die beiden Männer kaum. Jedenfalls tat er so, als würde er sie nicht beachten. Ein guter Wachmann sollte wie Luft sein, wenn ein Gefangener sich im Besucherraum mit seinen Angehörigen traf. Oder mit seinem Anwalt, wie in diesem Fall.

Und Herbie beherrschte diese Kunst perfekt – die Kunst, nicht anwesend zu sein, obwohl er doch mit auf dem Rücken verschränkten Armen und gleichgültiger Miene neben der Tür zum Zellentrakt stand.

Natürlich bekam er jedes Wort mit, was an dem kahlen Tisch dort in der Mitte des Raums, vier Schritte von ihm entfernt, geredet wurde. Und er hatte gelernt, aus den Augenwinkeln wahrzunehmen, die Dinge zu beobachten, die sich am Rande seines Gesichtsfelds abspielten. So wie es die Indianer machten. Oder gemacht hatten. Auch diese Fähigkeit fand Herbie ziemlich gut an sich selbst.

Der Kleine mit dem schütteren Haarkranz zum Beispiel, also Brokuwitz – der saß da, als hätte er eine Gesichtslähmung, als wäre er aus Gips. Er spielte nicht mit den Fingern, er wippte nicht mit den Füßen, er kaute nicht an der Unterlippe, er zuckte nicht mit Brauen und Mundwinkeln. Wie eine Gipsfigur, ganz im Ernst!

Nur manchmal, wenn der andere – sein Anwalt – sich über den Tisch beugte und seiner Stimme eine besonders eindringliche Färbung zu verleihen versuchte, deutete Brokuwitz ein Nicken an. Und seine Lider schoben sich langsam über seine schmalen Augen. Und zwar ganz besonders langsam. So langsam, wie Herbie das schon bei Schildkröten oder Krokodilen gesehen hatte.

Ja, ja, solche Sachen fielen Herbie auf, während er die Muster des abgeblätterten Putzes zu studieren schien.

Oder der windige Bursche in seinem teuren Anzug – Nico Brokuwitz’ Anwalt: Wie er sich hin und her bog, während er sprach, wie seine Arme in die Luft über seinen Kopf fuhren, als würde er die Worte dort fangen müssen, die er sagen wollte.

Außerdem hatte er mal wieder einen Schmiss im Gesicht, einen ziemlich blutigen sogar. Heute unter dem linken Nasenflügel. Herbie fragte sich, warum so ein Mann sich unbedingt nass rasieren musste. Natürlich – manche Frauen standen darauf. Aber wer es nicht konnte, sollte sich seiner Meinung nach einen anständigen Trockenrasierer zulegen.

Das waren so die Sachen, die Herbie durch den Kopf gingen, und die er beobachtete, wenn er Dienst im Besucherraum hatte -abgesehen von Dreck, Schäden im Verputz und Spinnennetzen.

Die beiden Männer sprachen natürlich über den Prozess morgen. Über was sonst? Eigentlich sprach nur der Anwalt. Er schärfte Brokuwitz ein, nur das Allernötigste zu sagen und alles ihm zu überlassen. Und er versicherte Brokuwitz, dass er nichts zu befürchten hatte.

Herbie hoffte sehr, dass Brokuwitz’ Anwalt – er hieß übrigens Grieger, Roger Grieger – sich in dieser Hinsicht täuschte. Der Wachmann selbst nämlich hielt den kleinen Mann mit dem Pokerface für einen gefährlichen Verbrecher. So harmlos er auch wirkte – Herbie traute ihm nicht für einen Cent über dem Weg. Und die Spinne, dort so reglos in ihrem Netz, wirkte sie nicht auch verdammt harmlos?

Vor kurzem hatten sie hier in der JVA den Massenmörder Jonas Bentner ,einquartiert‘. Ein absolut skrupelloser Killer war das gewesen, und trotzdem hatte er in den Medien so überzeugend den geläuterten, bußwilligen Sünder gespielt, dass die Leute gegen das Urteils – lebenslänglich - demonstriert hatten.

Hatte Bentner jedoch nichts geholfen, und vielleicht würde man auch Brokuwitz drankriegen, denn ein Unschuldslamm war der auch nicht.

Irgendwann erhob sich der Anwalt. »Bis morgen, Nico.«

Auch Brokuwitz erhob sich. Beide reichten sich die Hände.

»Wir stehen das durch, Nico, glaub mir – wir stehen das durch.«

Brokuwitz’ Lider rutschten über die Augäpfel, und er nickte, sonst keine Reaktion.

Herbie öffnete die Tür zum Zellentrakt, Brokuwitz ging an ihm vorbei. Keines Blickes würdigte er den Wachmann.

Herbie fand das, gelinde gesagt, arrogant. Immerhin war das Treffen mit dem Anwalt nur durch eine Sondergenehmigung zustande gekommen. Unterredungen mit dem Anwalt kurz vor Mitternacht – wo gab′s denn so was?

Es ging durch ein Gittertor. Dahinter warteten Billy und Albert, ebenfalls Vollzugsbeamte in der JVA - Untergebene von Herbie.

»Gefangener Brokuwitz nach Zelle zwo-eins-sieben.« Herbie sagte nicht »zweihundertsiebzehn«, er sagte »zwo-eins-sieben«. Die Formulierung war ihm wichtig. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie Missverständnisse von vornherein ausschloss.

Die beiden Wächter flankierten den schmächtigen Brokuwitz und fassten seine Arme. Sie führten ihn zu der vergitterten Schleuse dreißig Schritte weiter. Und durch sie hindurch in den Zellentrakt des Untersuchungsgefängnisses der JVA. Und durch den Untersuchungstrakt über eine Stahltreppe hinauf in das zweite Obergeschoss zu Zelle 217.

Herbie folgte ihnen. Nicht, dass das zu seinen Pflichten gehört hätte. Aber wie gesagt: Er war einer der drei Stellvertreter des für diesen Trakt zuständigen Chefwachmanns. Und schon in seiner Zeit als Polizist im Fünften Revier war er für seine Gewissenhaftigkeit bekannt gewesen. Beziehungsweise berüchtigt.

Jedenfalls verschaffte es ihm eine gewisse Befriedigung, als die Zellentür hinter Brokuwitz ins Schloss fiel und Albert den Schlüssel herumdrehte. Albert Bergmann – ebenfalls ein ausrangierter Polizist wie Herbie, nur war Albert Polizeimeister, während Herbie als Polizeihauptmeister vom Hamburger Polizeikommissariat zur JVA gewechselt hatte.

Herbie spähte durch die Klappe in die Zelle hinein. Brokuwitz stand am Waschbecken und drückte Zahnpasta auf seine Zahnbürste.

»Mach das morgen, Brokuwitz«, rief Herbert. »Wir drehen dir jetzt das Licht aus.«

Brokuwitz begann sich die Zähne zu bürsten. Dabei schlenderte er langsam zur Zellentür. So nah, dass sein Gesicht schließlich Herbies Blickfeld ausfüllte. Er stocherte in seinem Mund herum und schien Herbie dabei gelangweilt anzuschauen. Herbie hatte den Eindruck, der Mann würde ihn fixieren.

Seine Augen waren von einem wässrigen Grau. Herbie hatte einen Großonkel in Norderstedt drüben. Der trug ein Glasauge auf der linken Seite. Ebenfalls grau. Wesentlich lebendiger als dieses Glasauge sahen auch Brokuwitz’ Augen nicht aus.

»Wie du meinst – dann musst du dir das Gebiss eben im Dunkeln schrubben.«

Unentwegt glotzten ihn die Glasaugen an. Herbie nahm sich vor, zu Hause im Lexikon nachzulesen, was Spinnen für Augen hatten. Er wusste es nicht.

»Und viel Glück morgen«, blaffte er gegen die Zellentür. »Hoffentlich brechen sie dir das Genick.«

Er knallte die Klappe zu.

Billy und Albert sahen ihn an. Irgendwie ernst guckten die beiden.

Es war natürlich gegen die Vorschrift, zu einem Gefangenen zu sagen: »Hoffentlich brechen sie dir das Genick.« Und Herbie hatte das Gefühl, seine beiden Untergebenen würden ihn für diesen Satz insgeheim tadeln.

»Er hat die halbe Unterwelt unseres Landes mit Waffen versorgt: Killer, Mafia, Bankräuber, was weiß ich. Und er hat mindestens zehn Menschen auf dem Gewissen. Wahrscheinlich noch mehr. So einem sollte man ...« Er unterbrach sich.

»... die Giftspritze verpassen«, beendete Albert den Satz. Er machte ein grimmiges Gesicht dabei.

Herbie nickte heftig. »Korrekt!«

5

Lustlos fummelte Linda ihren Wohnungsschlüssel aus der Lederhandtasche. Sie war – untertrieben ausgedrückt – frustriert. Der Abend hatte gut angefangen, sehr gut sogar. Die Stunden im »Alten Ritter« hatten mehr versprochen.

Ihre Zigarettenschachtel fiel aus der Handtasche, als sie den Schlüsselbund herauszog. Sie bückte sich seufzend nach der Schachtel Winston.

Was hast du erwartet?, fragte sie sich. Dass nun alles ganz anders wird? Dass er seinen Job vergisst, wenn er bei dir ist? Sie steckte die Schachtel in die Tasche und richtete sich auf. Wie naiv du manchmal bist …

Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um.

Er ist Kriminalkommissar, wann kapierst du das endlich? Die Tür sprang auf. Du weißt doch, was das bedeutet ... Erinnere dich an Papa. Müde schob sie sich aus dem Treppenhaus in ihre Wohnung. Sie sind mit ihrem Job verheiratet – alle sind sie das! Und eines Tages stehen die Kollegen vor der Tür: »Wir haben eine schlimme Nachricht für Sie, Sie müssen jetzt ganz stark sein ...«

Lindas Hand tastete nach dem Lichtschalter. Gleichzeitig drückte sie die Tür hinter sich zu. Willst du das? Ganz ehrlich willst du das noch einmal erleben, Linda-Mädchen?

Das Licht flammte auf. Wie immer hängte sie als Erstes ihre Handtasche an die Garderobe.

Du willst Uwe, okay ... Sie knöpfte sich den Mantel auf. Du liebst ihn, okay ... Aber du kannst ihn nie ganz haben, niemals. Immer wirst du solche Abende erleben …

Sie wollte sich den Mantel von der Schulter streifen - und stutzte. Ihr Blick fiel auf ein ungeheuer großes und fremdes Ding vor ihrer Couch – auf einen Kontrabass-Koffer. Der Deckel war aufgeklappt. Wie ein Sarg sah das Ding aus, wie ein mit grünem Samt ausgeschlagener Sarg.

Eisfinger schienen sich um Lindas Herz zu schließen und zuzudrücken.

Fünf, sechs Gedanken auf einmal schossen durch ihren Kopf: Das Telefon, Uwes Nummer, raus aus der Wohnung, schreien, sich umdrehen. Doch sie stand wie gelähmt und betrachtete das sargähnliche Ding vor ihrer Couch.

Etwas berührte sie im Nacken.

Der Befehl »Sofort umdrehen!«, formte sich in ihrem Gehirn. Doch brennender Schmerz zuckte durch ihren Körper und fegte ihren Kopf völlig leer.

Sie stürzte neben das Schuhregal. Ein Gewitter tobte in ihrem Kopf, in ihren Gliedern.

Ein schwarzer Stiefel neben ihrem Gesicht. Sie krümmte sich. Der Saum eines Trenchcoats berührte sie. Sie wollte schreien. Ein Mann warf sich neben sie auf die Knie und packte ihr langes Haar. Nur ein heiseres Röcheln drang aus ihrer Kehle. Ein schwarzes Ding tauchte in ihrem Blickfeld auf, ein Stromschocker. Der Mann bohrte ihr das Ding in die Halsbeuge.

Wieder zuckten brennende Blitze durch ihren Körper.

Sie krümmte sich zusammen, Panik überflutete ihr Bewusstsein, sie zitterte, ihre Arme und Beine zuckten unkontrolliert über den Teppichboden.

Der Mann kniete auf ihren Rücken. Er riss Mantel und Blusenärmel des rechten Armes herauf, er schnürte ihren Oberarm mit einer Krawatte ab, er schnippte den Plastikkonus von einer Spritze, er stach ihr eine Kanüle in die Armvene.

Linda stöhnte. Erbarmungslos presste der Mann ihren Kopf gegen den Boden. In Sekundenschnelle drückte er den Spritzenkolben nach unten. Eine gelbe, ölige Flüssigkeit verschwand in Lindas Vene.

Der Zipfel eines schwarzen Tuches bohrte sich aus dem Zentrum ihres Hirns in ihre Panik, entfaltete sich und breitete sich finster und schwer über ihr Bewusstsein …

6

Die Scheibenwischer schrammten über die Frontscheibe meines Sportwagens. Der Schnee fiel dichter als noch vor einer Stunde, als wir den »Alten Ritter« verlassen hatten. Trotzdem drückte ich mächtig aufs Gas, als ich auf der A7 fuhr und später die B431 nahm. Es war fünf Minuten nach Mitternacht. Ich wollte unter allen Umständen um ein Uhr, spätestens halb zwei, bei Linda klingeln.

Meine Stimmung war nicht die Beste. Es wäre sogar übertrieben zu sagen, sie sei mittelprächtig gewesen. Die Sache mit Linda setzte mir mächtig zu.

Vor einer Stunde noch hatte ich mich der Hoffnung hingegeben, wir könnten es doch noch schaffen. Wir hatten uns der Hoffnung hingegeben, und zack! Schon wieder hatte uns die Realität eingeholt.

Gegen Viertel nach zwölf passierte ich die Abfahrt auf die B4, und kurz darauf bog ich nach rechts in die Augustenstraße ein.

Es war nicht unbedingt so, dass Linda weniger von ihrem Job beschlagnahmt wurde als ich, nur konnte sie sich ihre Zeit individueller einteilen. Linda Mandelkow war ja die Chefredakteurin eines Hochglanzmagazins für Frauen. »Female« hieß das edle Blatt – Lifestyle, Mode, Frauenthemen und Sex.

Jedes Mal, wenn der Redaktionsschluss ins Haus stand, war Linda zwei, drei Tage lang nicht für mich zu sprechen. Ansonsten konnte sie die Arbeit auch mal einen Nachmittag liegen lassen und musste dafür eben nachts ran. Wenn dagegen im Polizeipräsidium die Alarmglocken schrillten, mussten wir augenblicklich ausrücken. Der Kampf gegen das Verbrechen duldet keinen Aufschub.

Es ließ sich praktisch nicht vermeiden, dass öfter mal ein Rendezvous, ein freies Wochenende oder gar ein Kurzurlaub platzte. Nichts, was eine anspruchsvolle Frau wie Linda Mandelkow auf die Dauer tolerierte.

Hinzu kam, dass wir beide nicht gerade dazu neigten, uns einem Partner so ohne weiteres anzupassen. Anders ausgedrückt: Jeder von uns hatte sich einen Geliebten ausgesucht, der mindestens so eigensinnig war, wie er selbst.

Das fing bei politischen Standpunkten an und hörte bei der Diskussion um die banalsten Dinge auf: In welches Kino gehen wir? Welches Theaterstück besuchen wir? Stellt man die Zahnbürste mit dem Stiel oder dem Bürstenteil nach unten in den Becher? Und so weiter, und so weiter …

Nun gut – solche Dinge waren hinzukriegen. Man muss nun mal Kompromisse schließen. Aber mein Job? Der erlaubte keine Kompromisse. Der musste getan werden, und zwar gut getan werden.

Und dann - okay, ich geb′s zu: Ich gehöre zu den schwierigen Männern, die ihren Job mehr lieben als alles andere …

Die Vierziger-Hausnummern schoben sich rechts an mir vorbei. Ich ging vom Gas. Dann die angegebene Adresse: Augustenstraße 52. Auf beiden Straßenseiten lückenlose Parkkolonnen. Ich hielt in der zweiten Parkreihe, schaltete die Warnblinkanlage ein, und stieg aus.

Zwanzig nach zwölf verriet mir meine Armbanduhr. Ich war zuversichtlich, vor halb zwei wieder bei Linda zu sein. Viel zuversichtlicher jedenfalls als im Hinblick auf unsere gemeinsame Zukunft. Aber diese trüben Gedanken schob ich beiseite.

Ein Bewegungsmelder ließ das Licht über der Vortreppe eines alten Hauses aufflammen. Ich stieg die Stufen hinauf. Mein Finger glitt über die Namensschilder neben den Klingelknöpfen.

»K. Berger«. Die Frau wohnte im dritten Obergeschoss. Ich klingelte und wartete.

Keine Stimme aus dem Lautsprecher der Gegensprechanlage. Noch einmal drückte ich den Knopf. Wieder nichts.

Als der Lautsprecher nach ein paar weiteren Versuchen immer noch stumm blieb, ging ich auf die Straße und sah hinauf zu den Fenstern des dritten Stockwerks. Drei auf der linken Seite des Hauses waren hell erleuchtet. Irgendjemand dort oben war also noch wach.

Zurück bei der Haustür drückte ich beide Klingelknöpfe, die ich dem dritten Obergeschoss zuordnete. Wieder musste ich warten, wieder klingelte ich mehrmals.

Bis sich eine verschlafene Stimme aus der Gegensprechanlage meldete. »Wer ist da?«

»Kriminalpolizei. Sind Sie Frau Berger?«

»Kriminalpolizei? Frau Berger? Sie können mich mal, Mann!«

“So geht das nicht!”

“Doch, das geht so!”

“Aber…”

“Sie können mich mal. Ich wiederhole es gerne noch einmal. Sie können mich kreuzweise und auch sonstwie.”

“Richtig höfliches Auftreten haben Sie.”

“Wollen Sie mich jetzt auch noch verarschen?”

“Nur ein bisschen.”

Die sprichwörtliche Nettigkeit der Hamburger schlug mir in unerwartet heftiger Weise entgegen. Ich redete mit Engelszungen, musste mich dann aber mitten auf die Straße in den Schnee stellen und mit dem Dienstausweis wedeln, bevor der misstrauische Zeitgenosse dort oben endlich den Türöffner betätigte.

Ich stapfte die Treppen eines erst in jüngerer Zeit renovierten Treppenhauses hinauf. Eine ältere Dame empfing mich vor ihrer Wohnungstür im dritten Stock. Sie trug einen Morgenmantel von einem abscheulichen Grün und Lockenwickler.

Von meiner Tante und aus alten Filmen wusste ich, dass reifere Damen auf diese Weise mitunter ihre Dauerwellen vor unruhigem Schlaf zu schützen pflegen.

Noch einmal wollte die Frau meinen Dienstausweis sehen.

»Die Berger wohnt gegenüber.« Ihr Gesicht wurde um eine Spur freundlicher. Aber wirklich nur um eine Nuance. »Nichts für ungut, Herr Kriminalkommissar, aber ich dachte, Sie sind einer von den Kerlen.«

Ich ging zur Wohnungstür gegenüber.

»Was für Kerle meinen Sie?« Auf den Knien spähte ich durch den unteren Türspalt. In der Wohnung brannte Licht. Natürlich – es war das Linke, die Frau gegenüber hatte ich aus dem Bett geworfen.

»Was für Kerle?« Sie stieß ein hämisches Lachen aus. Die Frau, die mich angerufen hatte, schien nicht besonders beliebt zu sein. »Na, die Kerle, von denen sich die Berger ...« Sie unterbrach sich und winkte ab. »Ihre Kunden, Sie wissen schon ...«

Ich ahnte zumindest.

»Wann haben Sie Frau Berger zum letzten Mal gesehen?«

»Heute Nachmittag, glaub ich.«

Ich versuchte es noch einmal mit der Klingel. Nichts rührte sich hinter der Tür. Ich wäre überrascht gewesen, wenn es anders gewesen wäre.

»Es brennt Licht in der Wohnung, aber Frau Berger öffnet nicht.«

»Wahrscheinlich hat sie vergessen, es auszuschalten.«

Ich nickte langsam. Nachdenklich betrachtete ich die Tür.

»Vor einer halben Stunde hat sie mich angerufen«, wandte ich mich wieder an die ältere Frau. »Ist seitdem jemand bei ihr gewesen?«

»Hören Sie mal, Herr ...«

»Jörgensen ...«

»... Herr Jörgensen – ich hab Wichtigeres zu tun, als die Tür dieser ... zu beobachten. Bis um zwölf habe ich einen alten Spielfilm geguckt, dann hab ich meine Schlaftabletten genommen, und dann war ich sofort weg ...«

Ich hörte nicht mehr zu. Kann sein, dass mein Date bei Linda – spätestens zwei Uhr! – den Ausschlag gab. Jedenfalls trat ich neben die Frau im giftgrünen Gewand, um Anlauf zu nehmen. »Nicht erschrecken, bitte.«

Die Tür sprang schon beim ersten Versuch auf. Der Krach hallte durch das ganze Treppenhaus.

Die Frau hing auf einem Stuhl. Mit Händen und Füßen an Lehne und Stuhlbeine gefesselt. Jemand hatte ihr eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt.

»Um Himmels willen ...!« Die Frau von nebenan stand im Türrahmen und presste sich die Handflächen gegen die Wangen. Aus großen Augen starrte sie die Tote am Esstisch an. »Um Himmels willen ... Ich hab’s immer gesagt ...« Sie versuchte, aus ihrer Fassungslosigkeit in Erklärungen zu flüchten. »Bei dem Lebenswandel ... Ich hab′s neulich erst wieder gedacht ...«

Ich zog mein Handy heraus und wählte die Nummer des hier zuständigen Reviers.

»Jörgensen, Kriminalpolizei. Eine Tote in der Augustenstraße 52. Mord, wie es aussieht. Beeilt euch, und alarmiert die Kollegen vom Erkennungsdienst!«

Noch immer stand die Nachbarin an der Tür. Stimmen und Schritte hallten aus dem Treppenhaus. Mein Gewaltakt gegen die Tür hatte die Leute aus dem Schlaf gerissen.

»Nehmen Sie noch ein Schlafmittel!« Ich schob die Frau hinaus ins Treppenhaus. »Morgen wird die Polizei bei Ihnen klingeln, um ein paar Fragen an Sie zu stellen.« Ich drückte die Tür zu.

Um keine Spuren zu verwischen, verzichtete ich darauf, mir die Wohnung genauer anzusehen. Es war kurz nach halb eins. Bald hörte ich Sirenen draußen. Sie näherte sich rasch. Und kurz darauf laute Schritte im Treppenhaus.

Die Polizei sperrte die Wohnung ab. Dann kamen die Jungs von der Mordabteilung. Ich kannte die Kollegen flüchtig. Natürlich wollten sie wissen, was ich bei der Toten zu suchen hatte, ob ich sie kannte und so weiter …

Ich erzählte von dem Anruf, und sie waren zufrieden. Vorerst jedenfalls.

Ein halbes Dutzend Männer und Frauen vom Erkennungsdienst betraten nach und nach die Wohnung. Unter ihnen Alexander Theissen, Pathologe des Zentrallabors.

»Hi, Uwe!« Er schüttelte mir die Hand zur Begrüßung. »Warum treff′ ich dich immer in der Nähe von Leichen?«

»Muss irgendwie mit deinem Job zusammenhängen«, knurrte ich.

»Oder mit deinem.« Ich schielte auf meine Armbanduhr – fünf nach eins.

Alex – so nannten die meisten von uns Alexander Theissen – stellte seine Arzttasche neben der Leiche ab. Er war fast zwei Meter groß und wog sicher weit über dreihundert Pfund. Ein Scherzbold in der Pathologie hatte ihm den Namen Doc Doubleman verpasst.

Blitzlicht zuckte durch den Raum. Ein Polizeifotograf schoss Bilder von der Leiche. Dann zog Alex der Toten die Tüte vom Kopf. Sie hatte langes blondes Haar und konnte nicht viel älter als dreißig sein. Ihr Gesicht war bläulich verfärbt.

»Kaum zu glauben.« Ich schüttelte den Kopf. »Vor einer Stunde noch hab ich mit ihr telefoniert ...« Ich wandte mich ab.

Die ständige Konfrontation mit dem Tod gehört zu den dunkelsten Seiten meines Jobs. Ich spreche nicht von dem Risiko, selbst dran glauben zu müssen, ich spreche von dem Tod der anderen, von unwiederbringlich ausgelöschtem Leben, dessen oft traurige Überbleibsel ich so oft zu sehen bekam.

Ich rief das Polizeipräsidium an. Der Chef selbst war am Apparat. Ich war nicht einmal überrascht seine Stimme zu hören. Jonathan D. Bock nachts in der Zentrale – das war fast so selbstverständlich wie die Acht-Uhr-Nachrichten.

»Nanu, Uwe - ich dachte, Sie machen sich einen schönen Abend!«

»Hätte auch fast geklappt, Chef. Ein Anruf um Mitternacht hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht.« Ich berichtete, was vorgefallen war.

Wir sprachen nur das Nötigste miteinander. Danach wandte ich mich der Wohnungstür zu.

»Ich geh dann mal!«, rief ich in ein erneutes Blitzlichtgewitter hinein.

Alex hob grüßend die Hand.

Auf der Treppe vor der Wohnungstür eine Nachbarschaftsversammlung. Die Leute, alle in Morgenmänteln, tuschelten miteinander. Die Dame von nebenan im Mittelpunkt.

Ich drängte mich durch die Menge. Vor dem Haus ebenfalls Gaffer aus der Nachbarschaft. Auch die Mediengeier hatten schon Stellung bezogen. Jemand fuchtelte mit einem Mikrofon vor meiner Nase herum. Ich ignorierte es. Ein Blick auf die Uhr Viertel nach eins …

Und dann die böse Überraschung: Mein Sportwagen war eingekesselt von Streifenwagen, Fahrzeugen der Spurensicherung, einem Leichenwagen und dem alten Volvo des Pathologen.

»Scheiße ...!«

Sage und schreibe zwanzig Minuten dauerte es, bis die Fahrer der einzelnen Autos endlich aufkreuzten und mir den Weg freimachten. Schlag zwei hielt ich vor dem Haus in Finkenwerder, in dem Linda seit knapp einem halben Jahr wohnte.

Im Laufschritt hetzte ich die Vortreppe hinauf und klingelte.

Nichts!

Ich konnte klingeln, so oft ich wollte, es blieb dabei, sie machte nicht auf.

Wohl ein Dutzend Mal versuchte ich es dann telefonisch. Sie überließ es ihrem Anrufbeantworter, mich abzuspeisen.

Fluchend stieg ich in den Sportwagen.

»Verdammter Dickschädel ...«

7

Undurchdringliche Finsternis. Und die Finsternis schaukelte hin und her.

Enge und Schmerzen, was sie da dicht neben sich hörte.

Wo bin ich ...? Was ist mit mir ...?

Linda riss die Augen auf. Die Finsternis blieb.

Etwas glühte in Lindas Nacken und an ihrem Hals. Sie wollte die schmerzenden Stellen betasten. Ihre Hände stießen gegen eine harte Wand.

Sie wollte ihre Beine anziehen. Sie schienen in einem Schraubstock eingespannt zu sein.

Panik brandete durch ihren gepeinigten Körper und zerriss für Augenblick die Nebelwand, die dumpf und schwer in ihrem Hirn hing. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt.

Nur ein krächzendes Stöhnen kam über ihre Lippen.

Warum ist es so finster ...?

Warum schwanke ich hin und her ...?

Die Luft drohte ihr wegzubleiben.

Warum ist es so eng ...?

Ich ersticke, ich ersticke …

Ihr Bewusstsein drohte erneut in einen Abgrund zu stürzen. Sie stemmte sich mit aller verbliebenen Willenskraft dagegen.

Wie aus einem riesigen, stockdunklen Kuppelraum drangen Geräusche an ihr Ohr.

Rhythmische Schläge. Und immer dieses Schwanken …

Sie versuchte sich zu räkeln, versuchte erneut Arme und Beine auszustrecken – es ging nicht.

Sofort stieß sie an harte Grenzen.

Gefangen, ich bin gefangen ...!

Ein Bild schälte sich aus dem wabernden Grau in ihrem Schädel. Ein Koffer, ein Kontrabass-Koffer.

Ich bin eingesperrt …

Sie stöhnte laut. Rhythmische Schläge von irgendwoher beschleunigten sich. Sie wurden lauter, schienen näher zu rücken. Linda begriff, dass es Schritte waren, was sie da dicht neben sich hörte.

Die Enge drückte ihr den Atem ab. Sie begann zu hecheln.

Wenn ich ersticke ...

Ein Gewitter tobte durch ihr Nervensystem.

Wenn ich hier nicht mehr rauskomme …

Sie schüttelte sich, stieß mit den Beinen nach unten, scheuerte mit den angewinkelten Unterarmen über die Innenseite ihres engen Kerkers.

Ich will raus ...!

Ihr Kopf schlug nach hinten, ihre Stirn nach vom an die Wand.

Ich will raus, ich will raus ...!

Etwas schien sich warm in ihren Gedärmen aufzublähen, ihr Magen begann zu pulsieren, sie übergab sich, verschluckte sich, hustete, stöhnte und übergab sich erneut.

Ein metallenes Rasseln über ihr – ein Schlüsselbund - das Schlagen einer Tür. Dann schien sie für den Bruchteil einer Sekunde zu fallen. Hart schlug ihr finsteres Gefängnis am Boden auf. Linda röchelte.

Etwas klickte, etwas schnappte von außen gegen ihr Gefängnis. Der Deckel öffnete sich, unverhofft prallte Neonlicht auf ihre Netzhäute. Linda schoss geblendet die Augen.

»Scheiße«, brummte eine Männerstimme. »Hat tatsächlich gekotzt ...«

Grobe Hände packten sie und zerrten sie nach oben. Lindas schmerzende Glieder streckten sich. Ihre Knie gaben nach, sie stürzte auf Steinfliesen.

Endlich gelang es ihr, die Augen aufzureißen. Die Spitzen schwarzer Schnürstiefel direkt vor ihrem Gesicht. Und daneben, wesentlich kleiner, braune Wildlederboots.

Sie versuchte sich auf die Hände zu stützen. Der Steinboden war dreckig. Ihr Kopf fühlte sich an wie ein Fremdkörper. Ein Fremdkörper aus Blei.

Trotzdem gelang es ihr, von den Schuhen aus über Hosenbeine und Mantelsäume nach oben zu blicken. Zwei Gesichter verschwammen dort, hoch über ihr.

Wieder packten sie Hände. Diesmal an beiden Armen. Sie wurde über die Steinfliesen geschleift.

»Wir müssen sie sauber machen«, sagte eine Frauenstimme.

»Blödsinn«, antwortete die Männerstimme.

8

Es war noch dunkel, als ich aufwachte. Ich schob mich aus dem Bett und wankte zum Fenster meines Schlafzimmers. Traumfetzen huschten durch meinen Schädel – Lindas hübsches Gesicht, eine Frau mit Lockenwicklern, Alex’ Volvo, eine Tote mit einer Plastiktüte über dem Kopf.

Was, zum Teufel, hatte ich da zusammengeträumt? Die Bilder verzogen sich in die Abgründe meines Hirns und lösten sich auf. Der Traum ließ sich nicht festhalten. Ein schales, bitteres Gefühl blieb.

Ich zog die Vorhänge auf.

Schneeflocken tanzten vor dem Fenster. Schnee auf dem Fenstersims vor den Scheiben.

Ich schlurfte in das Wohnzimmer zum Telefon. Neben dem Apparat ein Stapel Post. Ich hatte ihn in der vergangenen Nacht bei meiner Rückkehr aus dem Postkasten gezogen und achtlos neben das Telefon geworfen.

Unter Lindas Nummer meldete sich ihr Anrufbeantworter. Drei Mal versuchte ich′s, aber immer nur die Konservenstimme. Auch in ihrem Büro nahm keiner ab.

Sollte sie schon auf dem Weg zur Redaktion sein?

Ich blickte zu meinem Regal neben der Couch. Halb sieben zeigte die Digitaluhr meines Videoplayers. So früh war Linda nie auf den Beinen.

Vielleicht konnte sie nicht schlafen?

Eine kalte Dusche vertrieb die Bettschwere aus meinen Gliedern. Und der Kaffee anschließend weckte mein Hirn auf.

Bevor ich das Wohnung verließ, versuchte ich noch einmal, Linda zu erreichen. Wieder nichts.

Flüchtig sah ich die Post durch. Ein Brief vom Präsidium. Vermutlich das Fortbildungsprogramm für das erste Halbjahr des kommenden Jahres. Ungeöffnet ließ ich das Kuvert zurück auf den Telefontisch fallen.

Dann ein Brief aus Berlin von Sven Jörgensen, meinem Neffen.

Hat Zeit bis heute Abend.

Der Rest Werbung. Durch die wattierte Hülle eines großen Kuverts tastete ich einen harten, länglichen Gegenstand, Ein Verlag, den ich nicht kannte, stand als Absender auf dem Brief. Ich warf ihn auf den Stapel der anderen.

Ich hatte die Klinke meiner Wohnungstür schon in der Hand, als mein Telefon läutete.

Linda!

Hastig nahm ich ab. Alex′ volltönender Bass meldete sich.

»Hi, Uwe – gut, dass ich dich noch erwische!«

»Du so früh am Morgen?«, wunderte ich mich.

»So ist es«, brummte er. »Und schon wieder wegen einer Leiche.« Seine Stimme klang müde. »Ich hab die Frau obduziert. Ich schicke eine Kopie des Berichts ans Präsidium. Da ist allerdings eine Sache, die wollte ich dir persönlich sagen.«

»Schieß los!«

»Die Frau war seit mindestens vier Stunden tot, als du sie gefunden hast.«

Mir verschlug es für Sekunden die Sprache. Ein Karussell begann sich in meinem Kopf zu drehen. Ich sah mich neben meinem Wagen stehen und mit Linda streiten. Ich hörte mein Handy läuten, ich hörte die Stimme der Frau, die sich als Karin Berger vorgestellt hatte.

»Das kann nicht sein, Alex. Sie hat mich kurz vor Mitternacht angerufen. Keine vierzig Minuten später hab ich sie tot in ihrem Wohnung gefunden.«

»Ich hab keinen Augenblick daran gezweifelt, dass eine Frau dich angerufen hat, Uwe.« Der Pathologe sprach so gelassen wie immer. »Ich informiere dich lediglich über ein wissenschaftliches Faktum: Die Frau war mindesten vier Stunden tot, als du sie gefunden hast. Wahrscheinlich sogar länger. Jetzt bist du am Zug – du musst dieses Faktum interpretieren.«

Meine Gedanken ordneten sich.

Eine Frau, die dich kurz vor Mitternacht anruft, ist zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr am Leben.

»Konntet ihr sie identifizieren?«

»Karin Berger sechsundzwanzig Jahre alt, offiziell Kassiererin in einem Kino in Altona, inoffiziell ein Callgirl.« Mehr sagte er nicht.

Jemand benutzt den Namen einer Toten, um sich mit dir zu verabreden …

»Danke, Alex. Ich melde mich, wenn ich noch Fragen habe.«

»Wär schön, wenn bei unserer nächsten Begegnung keine Leiche dabei ist.«

»Ich lad dich zum Bier in die Nordstern-Bar ein.« Ich hörte nur noch mit halbem Ohr zu. »Sprich mir mal auf den Anrufbeantworter, wann du Zeit hast.«

Wir verabschiedeten uns. Ich legte auf. Nachdenklich betrachtete ich das Telefon.

Jemand lockt mich ins Wohnung einer Toten. Warum? Warum solltest du die Frau finden? Warum ...?

Ich verließ mein Wohnung. Es war zwanzig nach sieben.

9

Der Mann trug einen Siegelring an der Rechten. Lindas Lippe platzte auf, als sein Handrücken ihren Mund traf. Der nächste Schlag war so heftig, dass ihr Kopf zur Seite geschleudert wurde und der Stuhl zu kippen drohte, auf den man sie gefesselt hatte.

»Nur, damit du begreifst, wie ernst es uns ist!«

Die Stimme des Mannes klang kehlig, fast krächzend. Er sprach mit einem harten Akzent und rollte das »R«. Trenchcoat und Jackett hatte er abgelegt und seine weißen Hemdsärmel über die Ellenbogen gekrempelt.

Eine graue Haarbürste bedeckte seinen großen Schädel. Seine schmalen Augen waren von einem wässrigen Blau, seine Nase knollig und blau geädert, und sein Mund breit mit leicht vorgeschobener Unterlippe.

Tränen strömten Linda über das Gesicht. Sie wollte sich keine Blöße geben, aber die Brutalität dieses Menschen sprang sie mit solcher Wucht an, das ihr das Wasser unkontrolliert aus den Augen stürzte.

»Ein Versuch, uns zu linken, ein Wort, eine Bewegung, die wir nicht anordnen ...« Die Rechte des Mannes streckte sich zum Tisch aus und schloss sich um das schwarze handliche Gerät, den Stromschocker. Er führte ihn an ihre Kehle. »Wir verstehen uns«, sagte er heiser.

Linda schluckte und bog den Kopf in den Nacken.

»Verstehen wir uns?«, brüllte der Kerl.

Linda nickte hastig.

Wie ein großes, schwarzes Tier hockte die Angst auf ihrer Brust, in ihrem Hirn, streckte ihre giftigen Tentakel nach ihren Sinnen und Nervenzellen aus. Sie zwang sich zu tiefen Atemzügen. Nur so schaffte sie es, das Bedürfnis laut zu schreien, zu unterdrücken.

Der Raum, in dem sie sich befand, wirkte ein wenig wie eine ehemalige Küche oder wie ein Labor, ein Kühlraum. Linda konnte es beim besten Willen nicht sagen. Graue Steinfliesen bedeckten den Boden, grünliche Kacheln die Wände. Ein langes Waschbecken auf einem verrosteten Metallgerüst zog sich an der linken Wand entlang. An der Rechten standen Regale aus stumpfem Aluminium. Altpapier stapelte sich darauf. Dazwischen ein paar Metallkästen.

In der Mitte des Raums ein quadratischer Tisch, nicht besonders groß und ebenfalls aus Aluminium. Eine Karte – vermutlich ein Stadtplan – war darauf ausgebreitet. Daneben ein Handy. Ein kleiner Schraubstock war am Tischrand befestigt. Wieder und wieder wanderte Lindas Blick dorthin.

Unter dem Tisch das Gitter eines Abflusses. Die Tür an der Schmalseite war aus grau angestrichenem Metall. Stangen zogen sich der Länge nach unter der Decke, von Schmalseite zu Schmalseite. Ein paar Haken hingen dort. Fleischerhaken, nahm Linda an.

Die Frau konnte Linda nicht sehen. Aber sie spürte ihre Nähe, wie man die Gegenwart eines Zahnarztes oder eines scharfen Hundes spürt. Sie stand hinter ihr.

Als das teuflische Paar sie in diesen Raum geschleift und an den Holzstuhl gefesselt hatte, da hatte Linda ihr Gesicht gesehen: Das junge Gesicht einer blassen Frau mit kurzen schwarzen Haaren. Die Miene hart, die braunen Augen erbarmungslos.

Auch den Wandtisch, der sich jetzt hinter ihr befand, hatte sie in diesen Momenten gesehen. Geräte standen auf ihm. Geräte, die Linda nicht identifizieren konnte. Nur den Monitor hatte sie erkannt.

Der Mann hatte die Frau einmal beim Namen genannt – Johanna. Irgendwo in Lindas Kopf wunderte sich etwas darüber, dass er ihren Namen und beide ihre Gesichter preisgaben.

Hinter sich hörte sie Kleider rascheln. Die Frau berührte ihre auf die Rückenlehne des Stuhls gefesselten Hände. Die Rechte band sie vom kantigen Holm der Stuhllehne los.

Der Geschmack von Blut sickerte auf Lindas Zunge. Säuerlicher Geruch stieg in ihre Nase. Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass sie noch immer ihren schwarzen, frackartigen Mantel trug. Kragenaufschläge und die Bluse darunter waren feucht von Erbrochenem.

Der Mann und die Frau namens Johanna packten Linda und trugen sie samt Stuhl näher an den Tisch heran. Das Holz knarrte, und das hölzerne Gestell wippte unter ihr, als die beiden den Stuhl vor dem Tisch absetzten. Die Frau nahm Lindas Arm, streckte ihn aus und legte das Handgelenk zwischen die Backen des Schraubstocks.

»Nein«, keuchte Linda. »Nein ...!«

Sie versuchte, den Arm zu sich zu ziehen. Der Handrücken des Mannes traf sie an der Schläfe. Er drückte ihr den Schocker an den Hals, während die Frau ihr Handgelenk zwischen den Schraubstockbacken festhielt und zudrehte. Nicht sehr fest, doch fest genug, um Lindas Hand jede Bewegungsfreiheit zu rauben.

Die Frau hatte plötzlich eine Nadel in der Hand. Sie schob sie ein Stück unter den langen, rot lackierten Nagel von Lindas Mittelfinger.

Lindas Unterlippe bebte, nie zuvor hatte jemand sie dermaßen gequält und gedemütigt. Sie wünschte sich, Zorn würde ihre Brust füllen. Stattdessen nur das schwarze Tier Angst.

»Ein falsches Wort ...« Der Mann flüsterte jetzt, und es klang bedrohlich. »Ein falsches Wort, und sie sticht zu.«

Er entfaltete ein Blatt Papier vor ihren Augen. Wenige Sätze standen darauf. Die großen Druckbuchstaben verschwammen vor Lindas Augen.

»Das sagst du ihm«, befahl der Mann. »Und kein Wort mehr!«

Der Mann nahm das Handy vom Tisch und wählte eine Nummer …

10