Kursbuch Klinische Neurophysiologie - Peter Vogel - E-Book

Kursbuch Klinische Neurophysiologie E-Book

Peter Vogel

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Beschreibung

EMG und ENG gehören zu den wichtigsten Instrumenten in der Neurologie zur Diagnostik von Erkrankungen des peripheren Nervensystems und der Muskulatur. Das vorliegende Arbeitsbuch bietet den idealen Einstieg in die Materie und dient ebenso zur vertiefenden Fortbildung. Die Klinische Neurophysiologie wird übersichtlich und klar strukturiert vermittelt: - Schritt für Schritt lernen und verstehen: Anatomie, Neurophysiologie und elektrophysiologische Untersuchungstechniken - für die tägliche Arbeit im EMG-Labor sowie zum vertiefenden Nachschlagen - alle Ableite-Techniken werden detailliert dargestellt und erläutert - inklusive Artefakt-Erkennung und gründlicher Befundinterpretation - hilfreiche Hinweise zu Fehlerquellen sowie Tipps und Tricks - alles Wichtige auf einen Blick im übersichtlichen Doppelseitenkonzept - Normwerte in übersichtlichen Tabellen Die digitalen Elemente des Werks vermitteln einen intensiven Praxisbezug: - 100 didaktisch hervorragende Videoclips direkt im Text verlinkt und zusätzlich zum Download - Funktion und EMG-Untersuchung aller wichtigen Muskeln mit anschaulichen Prometheus-Anatomie-Abbildungen - alle wesentlichen EMG-Phänomene in Bild und Ton, alle relevanten ENG-Techniken Jederzeit zugreifen: Der Inhalt des Buches steht Ihnen ohne weitere Kosten digital in der Wissensplattform eRef zur Verfügung (Zugangscode im Buch). Mit der kostenlosen eRef App haben Sie zahlreiche Inhalte auch offline immer griffbereit.

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Seitenzahl: 336

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Kursbuch Klinische Neurophysiologie

EMG - ENG - Evozierte Potentiale

Peter Vogel, Ilia Aroyo

4., aktualisierte Auflage

93 Abbildungen

100 Videos

Vorwort

Die im Jahre 2001 erschienene 1. Auflage dieses Kursbuches basierte auf umfangreichen Erfahrungen, gesammelt im Rahmen klinisch-neurophysiologischer Fortbildungs-Kurse, die alljährlich von der Neurologischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses St. Georg in Hamburg veranstaltet wurden.Von Beginn an lag dabei der Schwerpunkt auf einer möglichst umfassenden Darstellung der klinisch relevanten Untersuchungstechniken und auf einer prinzipiellen Bewertung der Aussagekraft der dabei erhobenen Befunde. Korrelationen zu bestimmten neurologischen Krankheitsbildern, die in anderen – z.T. enzyklopädisch angelegten – Handbüchern einen großen Raum einnehmen, wurde dagegen nur in beschränktem Umfang (im abschließenden Kapitel 8) vorgenommen.

Als Folge dieser primären Zielsetzung nahm die Elektro-Myografie (EMG) und die Elektro-Neurografie (ENG) einen vergleichsweise großen, die Technik der Evozierten Potenziale (EP) nur einen begrenzten Raum ein: Die EMG ist zwar ableittechnisch relativ unproblematisch (man sticht eine Nadel in einen Muskel…), kann aber bei der Interpretation erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Bei der ENG ist dagegen die Interpretation meist unproblematisch, da es für nahezu alle Befunde Normwert-Tabellen gibt; es gilt aber, eine Fülle unterschiedlicher Reiz- und Ableite-Techniken zu beherrschen. Demgegenüber stellen die EP sowohl in untersuchungstechnischer als auch in interpretatorischer Hinsicht eine vergleichsweise geringe Herausforderung dar.

Diese primäre Gewichtung hat sich auch in den folgenden Jahren als umso berechtigter erwiesen, als die diagnostische Relevanz der EP durch die modernen bildgebenden Verfahren zweifellos geringer geworden ist, während dies für die EMG (Muskel-MRT ??) nahezu gar nicht und für die ENG nur in begrenztem Umfange (MR-Neurografie/Neuro-Sonografie) zutrifft.

Eine Besonderheit dieses Buches, auch im internationalen Umfeld der EMG-Textbücher, stellt die konsequente Integration von Video-Clips dar, die immer da zum Einsatz kommen, wo Bewegung, Ton oder eine Vielzahl farbiger Abbildungen für das Verständnis wünschenswert sind. Die 100 Video-Clips, auf die an rund 200 Stellen des Textteils Bezug genommen wird, sind somit nicht einfaches „Anhängsel“, sondern integraler Bestandteil des Gesamt-Projektes; sie vermitteln etwa die Hälfte der hier präsentierten Erkenntnisse (weshalb der Buchteil auch vergleichsweise „schmalbrüstig“ ausgefallen ist) und sollten neben dem Buch immer wieder zu Rate gezogen werden.

Das gilt in besonderem Maße für die 57 „Anatomie“-Clips (Video 01 bis 57), in denen alle „EMG-geeigneten“ Muskeln hinsichtlich Topografie, Funktion und Zugang für die EMG-Nadel dargestellt werden.

Die 11 EMG-Clips (Video 58 bis 68) präsentieren alle wesentlichen EMG-Phänomene samt ihrer Pathophysiologie in Bild und Ton.

20 ENG-Clips (Video 69 bis 88) zeigen alle relevanten ENG-Techniken

Ein echtes „Anhängsel“ stellt schließlich der „Myopathologie-Atlas“ (Video 95 bis 100) dar, der aus der Idee entsprang, dass der „EMGist“ als Haupt-Initiator für eine Muskelbiopsie ein bisschen mehr von der Myopathologie verstehen sollte, als der „normale“ Neurologe.

Vor allem die Video-Clips sind im Vergleich zur vorangehenden 3. Auflage nachdrücklich überarbeitet worden. Sie werden jetzt nicht mehr auf einer Begleit-DVD angeboten, vielmehr kann man sie über die in einem „Video-Atlas“ am Ende des Buches integrierten QR-Codes online anschauen. Außerdem besteht die Möglichkeit die Videos in der eRef herunterzuladen. Eine Anleitung dazu finden Sie vorn im Buchdeckel.

Dankenswerterweise hat der Thieme-Verlag wieder die Möglichkeit eingeräumt, alle Videos auf eine Festplatte (z.B. des EMG-Gerätes) zu kopieren, damit der „EMGist“ auch während einer Untersuchung direkt auf sie zugreifen kann.

Hamburg und Darmstadt im Januar 2018

Peter Vogel

Ilia Aroyo

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Einige Worte zur Technik

1.1 Abbildung des Biosignals auf dem Monitor

1.2 Verstärkung des Biosignals

1.3 Filterung des Biosignals

1.4 Extraktion sehr kleiner Signale durch Averaging

1.5 Elektrostimulation peripherer Nerven

2 Elektromyografie (EMG)

2.1 Einleitung

2.2 Grundsätzliches zur Ableittechnik

2.2.1 Einstellung des EMG-Geräts

2.2.2 Technik der Nadelableitung: Ist die Untersuchung wirklich so schmerzhaft?

2.3 Normales EMG

2.3.1 EMG des entspannten Muskels: Einstichaktivität, physiologische Spontanaktivität ( ▶ Video 9.58)

2.3.2 EMG bei leichter Innervation ( ▶ Video 9.64)

2.3.3 EMG bei zunehmender Innervation

2.4 Pathologische EMG-Befunde

2.4.1 Diagnostische Bedeutung

2.4.2 EMG des entspannten Muskels: pathologische Spontanaktivität

2.4.3 EMG bei leichter Innervation: Veränderungen der MUPs

2.4.4 EMG bei zunehmender Innervation: Rekrutierungsstörung ( ▶ Video 9.68)

2.5 Synopsis: Differenzierung neurogen/myogen im konventionellen EMG

2.6 Spezielle EMG-Techniken

2.6.1 Einzelfaser-EMG

2.6.2 Makro-EMG

2.7 Normalwerte der mittleren MUP-Dauer einiger wichtiger Muskeln

2.8 Vorschlag zur Dokumentation von EMG-Befunden

2.9 Vorschlag zur Dokumentation der Muskelkraft bei komplexerem Paresestatus

2.10 Topografie und Funktion der wichtigen EMG-Muskeln

2.10.1 Muskeln des Kopfes und Halses

2.10.2 Muskeln der oberen Extremitäten

2.10.3 Muskeln des Rumpfes

2.10.4 Muskeln der unteren Extremitäten

3 Elektroneurografie (ENG),Reflexuntersuchungen,Myastheniediagnostik

3.1 Grundsätzliches zur Impulsleitung in peripheren Nerven

3.2 Allgemeines zur ENG-Technik

3.3 Abhängigkeit der ENG-Parameter von Alter und Temperatur

3.4 Motorische Elektroneurografie (ENG)

3.4.1 Allgemeines zur Technik

3.4.2 Motorische Elektroneurografie einzelner Nerven

3.5 Sensible Elektroneurografie

3.5.1 Allgemeines zur Technik

3.5.2 Sensible Elektroneurografie einzelner Nerven

3.5.3 Elektroneurografie „gemischter Nerven“

3.6 Reflexuntersuchungen

3.6.1 Motorische „Reflexe“: F-Welle, A-Welle

3.6.2 Sensomotorische Reflexe

3.6.3 Sensoviszerale Reflexe

3.7 Endplattenuntersuchungen

3.7.1 Allgemeines zur Technik

3.7.2 Untersuchungsgang bei Verdacht auf Myasthenie

3.7.3 Myasthenes Syndrom/ Lambert-Eaton-Syndrom

3.8 ENG-Normalwerte

3.8.1 Motorische ENG

3.8.2 Sensible ENG

3.8.3 Reflexuntersuchungen

3.9 Vorschlag zur Dokumentation von ENG-Befunden

4 Sensorisch evozierte Potenziale: Allgemeines,sensibel evozierte Potenziale (SEP)

4.1 Grundsätzliches zu sensorisch evozierten („afferenten“) Potenzialen

4.2 Allgemeines zur Ableitung von SEP, VEP und FAEP

4.3 Sensibel evozierte Potenziale (SEP)

4.3.1 Anatomische Grundlagen

4.3.2 Reiz- und Ableittechnik

4.3.3 Normalbefunde

4.3.4 Diagnostische Bedeutung in der Neurologie

4.3.5 SEP-Normalwerte

5 Visuell evozierte Potenziale (VEP)

5.1 Anatomische und physiologische Grundlagen

5.2 Technik der visuellen Stimulation

5.3 Technik der Ableitung

5.4 Normalbefunde

5.4.1 Normalwerte für VEP

5.4.2 Einfluss von Alter und anderen Variablen auf das VEP

5.5 Diagnostische Bedeutung in der Neurologie

6 Frühe akustisch evozierte Potenziale (FAEP)

6.1 Anatomische und physiologische Grundlagen

6.2 Technik der akustischen Stimulation

6.3 Technik der Ableitung

6.4 Normalbefunde

6.5 Diagnostische Bedeutung in der Neurologie

7 Motorisch evozierte Potenziale (MEP)

7.1 Grundlagen

7.2 Untersuchungstechnik

7.3 Auswertung und Normalwerte der MEP

7.4 Kontraindikationen für die MEP-Untersuchung

7.5 Diagnostische Bedeutung in der Neurologie

8 Praxis der Problemlösungen mittels EMG/ENG

8.1 Fazialisparese

8.1.1 Akute inkomplette Fazialisparese: peripher oder zentral?

8.1.2 Akute komplette Fazialisparese: Ätiologie, Prognose?

8.1.3 Unwillkürliche Verkrampfung der mimischen Muskeln: Hemifazialisspasmus, Blepharospasmus, Tic?

8.2 Akute einseitige Schultergürtelaffektion

8.2.1 Trapeziusparese ( ▶ Video 9.92): Isoliert, komplett? Lokalisation der Läsion des N. accessorius?

8.2.2 Einseitige Scapula alata

8.2.3 Obere Armplexusparese

8.3 Chronisch-progrediente Parese der Schultergürtelmuskeln beidseits

8.4 Akutes schmerzhaftes (Nacken-)Schulter-Arm-Syndrom

8.4.1 Zervikale Wurzelläsionen

8.4.2 Untere Armplexusparese

8.5 Wichtige Mononeuropathien der oberen Extremitäten

8.5.1 N. medianus: Karpaltunnelsyndrom (KTS)

8.5.2 N. medianus: N.-interosseus-anterior-Syndrom

8.5.3 N. medianus: Pronator-teres-Syndrom

8.5.4 N. ulnaris: Ulnarisrinnensyndrom (URS, Sulcus-ulnaris-Syndrom)

8.5.5 N. ulnaris: distale Kompression

8.5.6 N. radialis: Läsion am distalen Oberarm (Sulcus nervi radialis)

8.5.7 N. radialis: Supinatorlogensyndrom

8.6 Lumboischialgie

8.6.1 Lumbosakrale Wurzelläsionen

8.6.2 Läsionen des Plexus lumbosacralis

8.6.3 Differenzialdiagnose L3/4-Syndrom vs. Femoralisläsion vs. (diabetische) Schwerpunktneuropathie

8.6.4 Differenzialdiagnose L5-Syndrom vs. Peronäusläsion

8.7 Wichtige Mononeuropathien der unteren Extremitäten

8.7.1 N. peronaeus: Läsion in Höhe des Fibulaköpfchens

8.7.2 N. tibialis: Tarsaltunnelsyndrom

8.7.3 N. cutaneus femoris lateralis: Meralgia paraesthetica

8.8 Nerventrauma

8.9 Polyneuropathien

8.10 Vorderhornzellerkrankungen

8.11 Erkrankungen der motorischen Endplatte

8.11.1 Myasthenia gravis

8.11.2 Lambert-Eaton-Syndrom, Botulismus

8.12 Muskelerkrankungen

9 Videoatlas

9.1 EMG-Anatomie

9.1.1 Kopf-/Halsmuskeln

9.1.2 Armmuskeln

9.1.3 Rumpfmuskeln

9.1.4 Beinmuskeln

9.2 EMG-Befunde

9.3 ENG-Techniken

9.4 Spezial-Clips

9.5 Myopathologie-Atlas

10 Literatur

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum

1 Einige Worte zur Technik

Die Zeiten, in denen man als „EMGist“ gut beraten war, wenn man ein paar Semester Elektronik studiert hatte, sind heute gottlob vorbei. Dank moderner Computertechnik ist heute vieles so vereinfacht, dass man das Innenleben seiner elektronischen Maschine (in der Folge einfach als EMG-Gerät bezeichnet) weitgehend mit Missachtung strafen darf, ohne beleidigte Reaktionen hervorzurufen. Wenn man heute weiß, wo der Netzschalter ist und ihn betätigt hat, kann man sich eigentlich auf das – oft gar nicht so unkomplizierte – Bedienungsmenü seines Geräts konzentrieren und sich dann ganz seinem Patienten widmen.

Allerdings kommt es auch bei modernen EMG-Geräten vor, dass die Elektronik plötzlich „verrückt spielt“ und sich Filter, Ablenkgeschwindigkeit oder Verstärkung ungewollt verstellen. In solchen Situationen ist es gut, wenn man sich ein wenig mit den basalen Grundlagen vertraut gemacht hat.

1.1 Abbildung des Biosignals auf dem Monitor

Die biologischen Spannungsschwankungen („Potenziale“ oder „Biosignale“), die als Elektromyogramm (EMG), Elektroneurogramm (ENG) oder als evozierte Potenziale (EP) abgeleitet werden, laufen überwiegend so schnell ab, dass sie nicht mit einem mechanischen Schreibsystem – wie beim EEG oder EKG – aufgezeichnet werden können.

Eine 10/s-Alpha-Welle hat eine Dauer von 100 ms; ein Fibrillationspotenzial, einzelne Komponenten eines sensiblen Nervenaktionspotenzials oder eines akustisch evozierten Hirnstammpotenzials dauern dagegen nur etwa 1 ms. Die Registrierung solcher Potenziale war früher nur mit dem völlig trägheitslos arbeitenden Kathodenstrahloszillografen möglich, der den Kern jedes Registriergeräts bildete. Bei den modernen, auf PC-Basis arbeitenden Geräten werden die (analogen) Spannungswerte rasend schnell in digitale Daten umgewandelt, die Sie dann auf dem PC-Monitor als Kurven sehen.

Der Schirm eines EMG-Geräts ist in aller Regel durch ein Gitter- oder Punktmuster ( ▶ Abb. 1.1) eingeteilt. Die Kantenlänge eines solchen Gitterelementes resp. der Abstand zwischen zwei Punkten wird meist mit dem neuhochdeutschen Begriff „Division“ (abgekürzt DIV) bezeichnet. In Anlehnung an das mathematische Koordinatensystem bezeichnet man die horizontale Achse als X- und die vertikale als Y-Achse.

In X-Richtung verläuft die Zeitachse. Hier kann man wählen, wie schnell der Strahl von links nach rechts über den Monitor wandern soll. Sehr schnell ablaufende Vorgänge, die z. B. nur 1  Millisekunde (ms) benötigen, erfordern eine recht hohe Ablenkgeschwindigkeit (z.B. 1ms/DIV). Verläuft die biologische Spannungsschwankung dagegen sehr träge (z. B. über 100 ms), muss eine deutlich geringere Ablenkgeschwindigkeit (100ms/DIV) gewählt werden.

Bei niedrigen Ablenkgeschwindigkeiten kann man das Wandern des Strahles mit dem Auge verfolgen. Demgegenüber ist das z. B. bei der zur EMG-Registrierung üblichen Geschwindigkeit von 10 ms/DIV nicht mehr möglich. Auf einem Monitor wie in ▶ Abb. 1.1 dargestellt, benötigt der Strahl für den ganzen Schirm 100 ms, kann also 10-mal pro Sekunde seine Wanderung wiederholen: Es entsteht hier für den Betrachter schon der Eindruck einer stillstehenden, wenn auch noch etwas flackernden Linie. Bei noch höheren Geschwindigkeiten sieht man nur noch eine stillstehende Linie, obgleich der Strahl ständig, aber eben 100-mal pro Sekunde oder noch häufiger, von links nach rechts flitzt.

In Y-Richtung verläuft die Amplitudenachse. Hier wird die Höhe des Biosignals eingestellt, die in Millivolt (mV) oder Mikrovolt (µV) angegeben wird. Über die Wahl der Empfindlichkeit oder „sensitivity“ kann eingestellt werden, wie stark das Potenzial vergrößert werden soll: Dabei muss man sich erst daran gewöhnen, dass kleine Werte (z. B. 1 µV/DIV) eine hohe Verstärkung und große Werte (z. B. 100 mV/DIV) eine geringe Verstärkung repräsentieren.

Abb. 1.1 Kalibrierung des Bildschirms in x- und y-Richtung.

Mit der beschriebenen Ablenkung des Strahls in X- und Y-Richtung wird ein Biosignal kontinuierlich registriert. Dabei bewegt sich der Strahl mit einer vom Gerät fest eingestellten Wiederholrate vom linken zum rechten Bildschirmrand. Bei dieser Form einer kontinuierlich-repetierenden Ablenkung (kontinuierliche Triggerung) des Strahls wird das Biosignal frei durchlaufend abgebildet ( ▶ Abb. 1.2a).

Um wiederholt auftretende Biosignale (z. B. beim EMG) besser miteinander vergleichen zu können, muss man versuchen, sie immer an der gleichen Stelle abzubilden. Dazu wird eine interne Triggerung benutzt: Hier steuert nicht ein fest eingestellter Triggergenerator den Strahl, sondern das Biosignal selbst löst das Wandern des Strahls über den Bildschirm aus. Der Triggergenerator wartet, bis das Biosignal einen bestimmten – vom Untersucher frei wählbaren – Wert erreicht hat (als Beispiel siehe Pfeil in ▶ Abb. 1.2a) und startet erst dann den Strahl. Dadurch wird das Signal immer an der gleichen Stelle „festgenagelt“ ( ▶ Abb. 1.2b), leider aber am linken Bildschirmrand, wodurch sein linker Teil abgeschnitten wird. Erst durch eine zusätzliche Verzögerungsschaltung lässt sich das komplette Biosignal an der gewünschten Stelle auf dem Monitor darstellen ( ▶ Abb. 1.2c).

Eine eingehendere Darstellung dieser Technik (mit Hinweisen auf die „Fenster-Triggerung“) findet sich in ▶ Video 9.64.

Eine dritte Form der Triggerung ist schließlich die externe Steuerung des Triggergenerators durch ein Stimulationsgerät (siehe Kap. ▶ 1.5).

1.2 Verstärkung des Biosignals

Mit den üblichen biologischen Spannungen im Millivolt- oder gar Mikrovoltbereich kann ein EMG-Monitor nicht viel anfangen, er benötigt Spannungen in der Größenordnung von 1 Volt, um seinen Strahl sichtbar in Y- Richtung auslenken zu können. Ein Biosignal mit einer Amplitude von 10  Millionstel Volt (10 µV) muss also etwa um den Faktor 100 000 verstärkt werden.

Das tun die Verstärker, die in einen Vorverstärker und einen Endverstärker aufgeteilt sind. Der Vorverstärker verstärkt nicht sehr viel, z. B. nur um den Faktor 50; er hat aber zwei andere, viel wichtigere Eigenschaften.

Zum einen ist er stets ein Differenzverstärker, d. h., er misst nicht die absolute Spannung, die an einer Elektrode (bezogen auf das Erd-Masse-Potenzial) herrscht; vielmehr registriert er nur die Differenz zwischen den Potenzialen, die an den beiden Ableitelektroden (für die EMG-Nadel: siehe ▶ Abb. 2.1a) anliegen. Externe Störpotenziale, wie z. B. der stets im Raum herumschwirrende Wechselstrom-„Brumm“, streuen in beide Ableitelektroden relativ gleichförmig ein und werden durch die Differenzverstärkung weitgehend wegsubtrahiert.

Zum anderen ist er durch einen sehr hohen Eingangswiderstand gekennzeichnet: Die biologische Spannungsquelle, also letztlich der über zwei Elektroden angeschlossene menschliche Körper, hat einen Ausgangswiderstand, der je nach Beschaffenheit sowohl der Elektroden (Elektrodenwiderstand) als auch der Haut (Hautwiderstand) etwa zwischen 1 und 100 Kiloohm liegt. Läge der Eingangswiderstand der angeschlossenen Verstärkerkette im gleichen Bereich, würde eine Spannungsteilung stattfinden, d. h., die Amplitude des biologischen Signals würde auf etwa 50‍% reduziert. Damit dies nicht passiert, muss der Eingangswiderstand des Vorverstärkers um ein Vielfaches höher liegen, er liegt heute meist bei 100  Millionen Ohm (100MΩ).

Der Ausgang des Vorverstärkers ist im Gegensatz zu seinem Eingang niederohmig, ebenso wie der Eingang des angeschlossenen Endverstärkers. Das Verständnis von Einzelheiten ist hier nicht notwendig. Wichtig ist nur, dass ein niederohmiges Signal wenig störanfällig ist. Das bedeutet für die Praxis, dass das Kabel zwischen Vor- und Endverstärker relativ lang sein kann, ohne Störungen aus dem umgebenden Raum einzufangen. Das hochohmige Eingangssignal des Vorverstärkers ist dagegen sehr störanfällig, weswegen das Elektrodenkabel, das die Verbindung zwischen Patienten und EMG-Gerät herstellt, möglichst kurz sein muss.

Deshalb ist der Vorverstärker mit seinen Eingangsbuchsen stets an einem beweglichen Gerätearm befestigt, den man dicht an den Patienten heranbringen kann.

Am Endverstärker wird die jeweils erforderliche Empfindlichkeit eingestellt, die etwa zwischen 0,5 µV/DIV und 10 mV/DIV variiert werden kann.

Abb. 1.2

Abb. 1.2a Darstellung des Biosignals auf dem Monitor: Frei durchlaufend.

Abb. 1.2b Darstellung des Biosignals auf dem Monitor: Getriggertes Signal.

Abb. 1.2c Darstellung des Biosignals auf dem Monitor: Getriggertes und verzögert dargestelltes Signal.

1.3 Filterung des Biosignals

Die erforderliche hohe Verstärkung der sehr kleinen biologischen Signale führt trotz der eben erwähnten Differenzverstärkung zu einer Störanfälligkeit, da alle möglichen von außen eingestreuten Spannungsschwankungen (Wechselstrom, Radiowellen, Rufanlagen) ebenso wie biologische Störpotenziale (Muskel-, EKG- oder EEG-Aktivität) mit verstärkt werden. Um diese Störungen möglichst gering zu halten, werden die Frequenzbereiche, die nicht im interessierenden Signal enthalten sind, durch spezielle Filter abgeschnitten. Das betrifft einerseits tiefe Frequenzen, d. h. träge Grundlinienschwankungen, wie man sie als unangenehme Störungen vom EEG her kennt, und andererseits hohe Frequenzen wie z.B. das Verstärkerrauschen.

Tiefe Frequenzen werden vom LF-(Low-Frequency-)Filter, hohe Frequenzen vom HF-(High-Frequency-)Filter an der Passage gehindert. Gelegentlich werden in der deutschsprachigen Literatur die HF-Filter noch als „Tiefpassfilter“, die LF-Filter als „Hochpassfilter“ bezeichnet. Man sollte die Filter immer so eng wie möglich wählen, aber nicht so eng, dass wesentliche Teile des biologischen Signals verloren gehen.

Prinzipiell kann man jedes biologische Signal in Sinuswellen verschiedener Frequenzen und Amplituden „zerlegen“. Dies geschieht mit der Fourier-Analyse, zu der ein „normaler“ Neurologe aber keinen Zugang hat. Für die Praxis reicht es aber, wenn man sich anhand der Dauer des Biosignals annähernd über seinen Frequenzgehalt orientiert:

Kurze Potenziale von etwa 1 ms Dauer (z. B. sensibles Nervenaktionspotenzial, Fibrillationspotenziale, Einzelkomponente eines FAEP) bestehen vorwiegend aus hohen Frequenzen. Der HF-Filter sollte hier keinesfalls unter 3 kHz liegen; es kann aber der LF-Filter zur Ausblendung von trägen Grundlinienschwankungen ohne weiteres auf etwa 100Hz, oft sogar auf  300 Hz angehoben werden. Dies erweist sich gerade bei den FAEPs und kleinen sensiblen Nervenaktionspotenzialen (siehe unten) oft als sehr hilfreich.

Dagegen sind bei trägen Potenzialen, deren Komponenten etwa 20 – 50 ms dauern (z. B. VEP), die tiefen Frequenzen besonders wichtig. Man muss hier einen LF-Filter von deutlich unter 1 Hz (z. B. 0,2 Hz) wählen, kann aber alle höheren Frequenzen (> 100 Hz) beruhigt „wegschneiden“.

Die erforderlichen Filtereinstellungen sind bei den speziellen Kapiteln angegeben. Bei den modernen automatisierten Geräten sind sie ohnehin voreingestellt. Dennoch sollte man die Fehlermöglichkeiten kennen, die sich aus einer falschen Filterauswahl ergeben. ▶ Abb. 1.3 zeigt als Beispiel den Einfluss unterschiedlicher HF- und LF-Filter auf ein kortikales Medianus-SEP (siehe Kap. ▶ 4.3.2): In der unteren Reihe ist jeweils das Ausgangspotenzial dargestellt. In der linken Reihe wurde der HF-Filter abgesenkt (wie wenn man beim Radio die Höhen wegdreht). Es resultieren eine beträchtliche Amplitudenminderung und eine Latenzverlängerung (hier bis 0,9 ms).

In der rechten Reihe wurde der LF-Filter angehoben. Auch hier zeigen sich eine deutliche Minderung der Amplitude und daneben eine leichte Verkürzung (!) der Latenzzeit.

Abb. 1.3

Abb. 1.3a Filterung des Biosignals: Absenkung des HF-Filters.

Abb. 1.3b Filterung des Biosignals: Anhebung des LF-Filters.

1.4 Extraktion sehr kleiner Signale durch Averaging

Über die Ableitbarkeit bzw. Identifizierbarkeit eines biologischen Signals entscheidet nicht nur dessen absolute Amplitude, sondern in gleichem Maße die Amplitude der störenden Hintergrundaktivität. Man spricht vom Signal-Rausch-Verhältnis (SRV, „signal to noise ratio“). So kann man ein 3 µV großes sensibles Nervenaktionspotenzial bei einem Verstärkerrauschen von 1 µV durchaus noch erkennen, denn hier liegt das SRV mit 3 : 1 noch günstig.

Dagegen „ertrinkt“ ein mit 5 µV sogar größeres SEP ( ▶ Abb. 1.4b) in der im „Hintergrund“ ablaufenden Alphaaktivität des EEGs mit einer Amplitude von z. B. 50 µV ( ▶ Abb. 1.4a); hier ist das SRV mit 5 : 50 bzw. 1 : 10 ganz miserabel!

Nun kann man Signale, die immer zu einem festen Zeitpunkt auftreten, durch elektronische Mittelung (Averaging) mehrerer Kurvenausschnitte aus der Hintergrundaktivität extrahieren.

Mittelt man eine Anzahl konsekutiver EEG-Kurvenausschnitte ( ▶ Abb. 1.4c), läuft der Mittelwert gegen Null ( ▶ Abb. 1.4d), da die EEG-Wellenzüge innerhalb des gewählten Ausschnitts zufällig verteilt sind. Dagegen lässt sich ein kleines SEP, das stets in einem festen zeitlichen Bezug zum Beginn des jeweils analysierten Kurvenausschnitts auftritt, durch diese Mittelwertbildung herausheben ( ▶ Abb. 1.4e, ▶ Abb. 1.4f).

In ▶ Abb. 1.4d und ▶ Abb. 1.4f sind jeweils zwei nacheinander durch Mittelung gewonnene Kurven übereinander abgebildet, um ihre Konstanz bzw. Variabilität zu dokumentieren.

Die elektronische Mittelwertbildung wird heute routinemäßig bei der Ableitung sensibler Nervenaktionspotenziale und evozierter Potenziale eingesetzt. Dabei ist die erforderliche Anzahl der Einzelantworten, die gemittelt werden müssen, vom Signal-Rausch-Verhältnis abhängig. Man ermittelt den Faktor, um den man das SRV verbessern möchte. In dem oben genannten SEP-Beispiel betrug dieses Verhältnis 1 : 10 (5 µV [SEP] zu 50 µV [EEG]), dieses möchten wir in ein Verhältnis von 20 : 10, d. h. um den Faktor 20, verbessern. Dieser Verbesserungsfaktor wird nun einfach quadriert: 20 × 20 = 400; 400 ist damit die Anzahl der Antworten, die elektronisch gemittelt werden müssen.

Günstiger ist das SRV bei den größeren VEPs, hier sollte die Mittelung von etwa 100 Antworten ausreichen (siehe Kap. ▶ 5.3). Viel schlechter ist das SRV bei den sehr kleinen FAEPs, die oft erst nach Verbesserung des SRV um den Faktor 50, d. h. nach Mittelung von 50 × 50 = 2500 Antworten (siehe Kap. ▶ 6.3) hinreichend zu erkennen sind.

Man sollte es sich grundsätzlich angewöhnen, bei diesen kleinen Potenzialen eine Doppelableitung durchzuführen, um die Reproduzierbarkeit zu belegen. Besonders elegant ist die Methode des „alternierenden Averagings“, das in ▶ Abb. 3.14d im Kapitel Allgemeines zur Technik der ▶ sensiblen Elektroneurografie beschrieben wird.

1.5 Elektrostimulation peripherer Nerven

Bei den ENG-Untersuchungen und den Untersuchungen sensibel evozierter Potenziale (SEP) muss ein peripherer Nerv elektrisch gereizt werden. Dieser Reiz wird über zwei Elektroden appliziert, von denen die negativ geladene (Kathode) die aktive Elektrode darstellt, die über dem zu stimulierenden Nerv angebracht sein muss. Der Strom fließt gewissermaßen an der Kathode in den Nerv hinein und über die Anode wieder zum Reizgerät zurück. Der elektrische Reiz wird von einem (im EMG-Gerät integrierten) Elektrostimulator geliefert. Er besteht aus einem rechteckförmigen Impuls, dessen Dauer und Amplitude eingestellt werden können.

Die heute verwendeten Stimulatoren arbeiten überwiegend als Konstantstrom-Geräte, d. h., sie prägen dem biologischen Gewebe und damit auch dem Nerv einen fest vorgewählten Strom ein. Die dabei am Nerv abfallende Spannung ergibt sich dann entsprechend dem Ohmʼschen Gesetz (U = R × I) aus dem Gewebewiderstand (R). Der biologische Effekt, d. h. die Erregung eines Nervs, hängt letztlich ab vom Produkt aus

Stromstärke (= Amplitude des Rechteckimpulses),

Stromflussdauer (= Länge des Rechteckimpulses),

Spannung, die am Gewebe abfällt.

Das bedeutet für die Praxis: Wenn sich ein Nerv bei voll aufgedrehtem Stimulator (100mA, vom TÜV festgelegt!) nicht hinreichend erregen lässt, kann man durch Verlängerung der Reizdauer (z. B. Erhöhung von 0,2 auf 0,5 oder gar 1 ms) noch einen ausreichenden Effekt erzielen.

Seit einigen Jahren stehen Hochvoltstimulatoren zur Verfügung, die Spitzenspannungen bis 1000 Volt liefern. Mit ihnen kann man tief liegende proximale Nervenabschnitte (z. B. N. femoralis, N. ischiadicus) oder Plexus bzw. Wurzeln supramaximal reizen.

Bei der externen Stimulation kann natürlich der zur Registrierung dienende Oszillograf nicht in der oben beschriebenen Weise (siehe Kap. ▶ 1.1) mit einem ständig frei über den Schirm laufenden Strahl arbeiten. Vielmehr wartet der Triggergenerator des EMG-Geräts auf den Moment des Reizes und startet erst dann den Strahl. Die Reizwiederholung erfolgt entweder mit fest eingestellter Frequenz (z. B. mit 3/s bei der sensiblen Neurografie oder in der Myastheniediagnostik) oder, wenn eine für den Patienten nicht vorhersehbare Reizfolge gewünscht wird, durch einen vom Untersucher – am besten mittels eines Fußschalters – ausgelösten Einzelreiz.

Abb. 1.4

Abb. 1.4a Amplitudenvergleich der EEG-Aktivität …

Abb. 1.4b und des SEP.

Abb. 1.4c Die EEG-Wellen sind nicht Reiz-gekoppelt, …

Abb. 1.4d ihr Mittelwert läuft gegen 0.

Abb. 1.4e , f Die SEP sind streng Reiz-gekoppelt (e),

Abb. 1.4f sie werden durch Averaging herausgehoben (f).

2 Elektromyografie (EMG)

2.1 Einleitung

Die Elektromyografie ist noch immer die schwierigste der klinisch-neurophysiologischen Untersuchungstechniken, nicht zuletzt deshalb, weil man in erheblichem Maße auf eine gute Kooperationsfähigkeit des Untersuchten angewiesen ist.

Sie ist aber auch die spannendste Technik. Anders als beim EEG und den evozierten Potenzialen, die sich als bloße Summenpotenziale von Millionen Nervenzellen ohnehin einem tieferen Verständnis verschließen, gelangt man mit der EMG-Nadel wirklich an die Front des Geschehens, kann letztlich einzelne Muskelfasern bei ihrer Tätigkeit „belauschen“.

Abschließender Hinweis zur Nomenklatur: Die Untersuchung heißt „die Elektromyografie“ , die registrierten Kurven sind „das Elektromyogramm“. Es gibt somit die EMG, die man durchführt und das EMG, welches man dabei ableitet. Der oft zu lesende Satz „Das durchgeführte EMG zeigte….“ ist nicht nur wegen des überflüssigen Wortes „durchgeführt“ sperrig, sondern auch grammatikalisch falsch.

2.2 Grundsätzliches zur Ableittechnik

Mit der Elektromyografie werden die Spannungsschwankungen registriert, die unter Ruhe- und Innervationsbedingungen in der Skelettmuskulatur ablaufen.

Merke

Über den zeitlichen Ablauf der Kontraktion (z. B. Verlangsamung bei Hypothyreose) und die Kontraktionskraft gibt das EMG keine Auskunft!

Die in der Muskulatur ablaufenden Spannungsschwankungen lassen sich bei Verwendung von Oberflächenelektroden nur ganz grob beurteilen. Mit solchen Elektroden können nur globale Aussagen über die Aktivität ganzer Muskelgruppen gemacht werden, z. B. im Rahmen einer Tremoranalyse. Die bei der eigentlichen Elektromyografie interessierenden elektrischen Phänomene sind ausschließlich mit Nadelelektroden zu registrieren. Hier ist eine Ableitung mit Oberflächenelektroden pure Scharlatanerie!

Bei der allgemein akzeptierten und standardisierten konzentrischen Nadelelektrode ( ▶ Abb. 2.1a) ist im Inneren einer Art von Injektionskanüle von 0,3 – 0,6 mm Durchmesser ein feiner Platindraht (rot in ▶ Abb. 2.1a), isoliert durch eine Kunststoffmasse, angebracht, dessen Spitze als differente Elektrode dient. Die indifferente Elektrode wird von der gesamten Außenhülle der Nadel gebildet. Die Potenziale der beiden Elektroden werden über das Kabel der Eingangsbuchse des Vorverstärkers zugeleitet, und zwar das der differenten Elektrode Pin 1 und das der indifferenten Elektrode Pin 2.

2.2.1 Einstellung des EMG-Geräts

Sie ist meist schon automatisch wie folgt vorgegeben:

Ablenkgeschwindigkeit: je nach Gerät und Gewohnheit 5 oder 10 ms/DIV

Verstärkung: zuerst zur Beurteilung von Spontanaktivität 50 – 100 µV/DIV, dann zur Beobachtung der Potenziale einzelner motorischer Einheiten Standardwert von 100 µV/DIV, schließlich bei zunehmender Innervation zur Beurteilung der Rekrutierungsfolge geringere Verstärkung (1, 2 oder 5 mV/DIV) je nach Größe der Potenziale

Filter (siehe Kap. ▶ 1.3): HF-Filter: etwa 3 kHz, LF-Filter: 10 – 20 Hz; bei den offiziell vorgeschriebenen 2 Hz bewirken die Bewegungen der EMG-Nadel oft intensive Grundlinienschwankungen bis zum völligen Verschwinden des Oszillografenstrahls vom Bildschirm

Merke

Allerdings: Bei großen Innervationspotenzialen führt ein 20-Hz-LF-Filter zu einem Überschwingen der Terminalphase und zu einer Pseudoverlängerung der Potenzialdauer ( ▶ Abb. 2.1b, rote Kurve, aus [14]); in diesen Fällen ist der vorübergehende Einsatz des 2-Hz-Filters nicht zu umgehen.

Abb. 2.1

Abb. 2.1a Konzentrische EMG-Nadel mit differenter „Seele“ und indifferenter Aussenhülle, Anschluss an Pin 1 resp. 2 des Vorverstärkers.

Abb. 2.1b Veränderung eines großamplitudigen Biosignals durch Anhebung des LF-Filters von 2 auf 20 Hz.

2.2.2 Technik der Nadelableitung: Ist die Untersuchung wirklich so schmerzhaft?

Als praktizierender „EMGist“ tut man gut daran, sich selbst einmal mit einer konzentrischen Nadelelektrode zu „stechen“ (z.B. in den dorsalen Unterarm). Man wird feststellen, dass man bei vielen Nadelpositionen keinen nennenswerten Schmerz empfindet. Mit dieser Erfahrung ausgerüstet, wird man später bei einem während der Untersuchung ununterbrochen Wehklage führenden Patienten sein schlechtes Gewissen unter Kontrolle halten können. Es existieren aber auch Stellen im Muskel, an denen es sehr unangenehm sein kann. Es gibt einen scharfen Schmerz, der wohl von einem Kontakt der Nadel mit einem Nervenast verursacht wird (Nerven liegen im Perimysium, vor allem aber im Epimysium und in der Faszie). Noch unangenehmer ist ein dumpfer Tiefenschmerz, der vor allem entsteht, wenn die Wand eines kleinen arteriellen Gefäßes getroffen wird.

In einem solchen Selbstversuch kann man einige banale Erkenntnisse gewinnen: Eine dünne Nadel schmerzt weniger als eine dicke, eine scharfe weniger als eine stumpfe, und es ist weniger unangenehm, wenn der Untersucher den Nadeleinstich rasch ausführt als wenn er sich vorsichtig durch die einzelnen Kutisschichten „hindurchhäkelt“.

Merke

Nehmen Sie die dünnste Nadel, die den Durchstich durch die Haut und die Verlagerung im Muskel mechanisch noch verkraftet, ohne sich zu verbiegen. Ersetzen Sie alte, stumpfe durch neue, scharfe Nadeln. Betriebswirtschaftlich gesehen lohnt sich diese Investition sehr rasch, da die Zahl Ihrer EMG-Patienten zunehmen wird. Stechen Sie die Nadel rasch senkrecht zur Haut in die ganz oberflächlichen Muskelschichten ein, da sich hier die Elektrode besonders subtil verlagern lässt.

Am Beginn steht die Suche nach Spontanaktivität im entspannten Muskel. Die Nadel muss mehrfach verlagert werden. Dabei sind stets kurze Potenzial-„Schauer“ unterschiedlicher Intensität von weniger als einer Sekunde Dauer zu registrieren: die Einstichaktivität (siehe Kap. ▶ 2.3.1 und Kap. ▶ 2.4.2).

Wichtig bei der Wahl des Einstichorts für die Nadel ist die Position der Endplattenregionen im jeweiligen Muskel. Man sollte diese Regionen möglichst meiden, da hier besonders oft physiologische Spontanaktivität (siehe unten) zu registrieren ist, die zu Fehlinterpretationen Anlass geben kann. Genaue anatomische Studien über die exakte Lage der Endplatten existieren bisher nur für wenige Muskeln (M. biceps brachii, M. extensor digitorum communis). Man kann sich aber recht gut an den schon vor Jahrzehnten erarbeiteten Tafeln orientieren ( ▶ Abb. 2.2). Sie zeigen die Punkte, an denen sich im Rahmen der konventionellen Elektrodiagnostik früherer Jahrzehnte (Bestimmung von Rheobase, Chronaxie etc.) der jeweilige Muskel mit besonders geringer Stromintensität zur Kontraktion bringen ließ, was gemeinhin der Endplattenregion entspricht.

Beim Einstich der EMG-Nadel sollte man nicht nur auf die akustischen (Lautsprecher) und optischen (Monitor) EMG-Signale achten, sondern unbedingt auch den mechanischen Widerstand beurteilen, den das Muskelgewebe dem Nadeleinstich entgegensetzt, d. h. die Gewebekonsistenz. Sie kann entweder vermehrt sein, unter Umständen so stark, dass ein gewisser Kraftaufwand erforderlich ist, um die Nadel vorzustechen; in diesem Fall liegt ein fibrotischer Umbau der Muskulatur vor. Oder sie kann vermindert sein, die EMG-Nadel lässt sich dann „wie in Butter“ vorstechen: Hinweis auf einen fettgewebigen Umbau. In beiden Fällen fehlt hier die oben erwähnte Einstichaktivität, man spricht von „stummen Arealen“ (siehe Kap. ▶ 2.4.2).

Es folgt die Ableitung von „Potenzialen der motorischen Einheit“, die in der Folge mit der Abkürzung des englischen Begriffs (motor unit potentials) als MUP bezeichnet werden. Hierzu muss der Patient den untersuchten Muskel ganz leicht innervieren. Das ist nicht einfach, da die Innervation unter Umständen zu einer Zunahme des Schmerzes führt. Der Patient innerviert dann gar nicht oder zu stark; beides ist nicht geeignet, um einzelne MUPs zu analysieren.

Hat der Patient den gewünschten Innervationsmodus erreicht, sollte man die Nadel mehrfach sehr vorsichtig verlagern, um verschiedene MUPs sammeln zu können. Dabei sollten mindestens drei konsekutive Entladungen einer bestimmten motorischen Einheit registriert werden, um durch Formvergleich Anfang und Ende eines MUPs genau festlegen zu können. Dessen Dauer wird dann am Bildschirm geschätzt oder nach angemessener Aufzeichnung ( ▶ Abb. 1.2c, ▶ Video 9.64) genau ausgemessen. Bei einer solchen quantitativen Auswertung muss die Verstärkung 100 µV/DIV betragen, da die Normalwerte (siehe Kap. ▶ 2.7) bei dieser Verstärkung ermittelt wurden.

Die Untersuchung endet mit der Aufforderung an den Patienten, den Muskel zunehmend zu innervieren; hierbei werden die Rekrutierungsfolge ( ▶ Video 9.68) und schließlich die maximal erreichte Dichte des Innervationsmusters (siehe Kap. ▶ 2.3.3) beurteilt. Man sollte dabei mittels einer Fixierung des Gelenks (siehe Videos) stets eine isometrische Kontraktion anstreben, d. h. eine Kontraktion ohne Gelenkbewegung und damit ohne Verkürzung des Muskels; dadurch wird eine oft schmerzhafte Verlagerung der Nadelspitze verhindert (siehe z.B. ▶ Video 9.18, ▶ Video 9.19, ▶ Video 9.21).

Abb. 2.2 Ungefähre Position der Endplattenregion.

2.3 Normales EMG

2.3.1 EMG des entspannten Muskels: Einstichaktivität, physiologische Spontanaktivität ( ▶ Video 9.58)

Beim Vorstechen der Nadel sind, wie bereits erwähnt, immer kurze Schauer kleiner Potenziale zu erkennen, die nach Beendigung des Einstichvorgangs rasch sistieren. Die Lebhaftigkeit dieser Einstichaktivität ist interindividuell sehr verschieden und hat schon deshalb keine verlässliche diagnostische Bedeutung. Sie zeigt lediglich an, dass man mit der EMG-Nadel im Muskel ist und nicht mehr im subkutanen Fettgewebe; und das ist vor allem bei sehr adipösen Patienten sicher nicht zu unterschätzen.

Das pathologische Fehlen der Einstichaktivität bei einem bindegewebigen Ersatz der Muskelfasern wurde oben erwähnt.

Sind nach Abklingen der Einstichaktivität keine Fibrillationspotenziale, myotone oder komplexe repetitive Entladungen (siehe  Kap. ▶ 2.4.2, ▶ Video 9.59, ▶ Video 9.60, ▶ Video 9.61) zu beobachten, sind auch keine mehr zu erwarten. Denn diese Spontanphänomene werden immer durch den mechanischen Reiz der Nadelverlagerung ausgelöst.

Warten bei unveränderter Nadellage ist nur sinnvoll, wenn man nach Faszikulationspotenzialen oder Serienentladungen ( ▶ Video 9.62, ▶ Video 9.63) sucht.

Immer wieder findet man auch im gesunden Muskel anhaltende physiologische Spontanaktivität. Eindeutig den Endplatten zuzuordnen ist das Endplattenrauschen ( ▶ Abb. 2.3a, ▶ Video 9.58), das wirklich klingt, als rauschten die Blätter im Wald; es ist optisch und akustisch ohne Mühe zu identifizieren. Das Endplattenrauschen entspricht nach allgemeiner Auffassung lokalen, nicht fortgeleiteten Depolarisierungen der Endplattenregion, die als „Miniatur-Endplattenpotenziale“ schon seit Jahrzehnten von neurophysiologischen Spezialisten mit Mikroelektroden abgeleitet werden können.

Oft kann man neben diesem Endplattenrauschen schlanke biphasische Endplattenpotenziale ( ▶ Video 9.58) ableiten, die offenbar durch eine fortgeleitete Depolarisation von Muskelfasern entstehen. Da Patienten bei der Ableitung aus solchen Arealen gelegentlich einen unangenehmen Schmerz angeben, ist es denkbar, dass zuweilen auch feine intramuskuläre Nervenfasern in der Generierung solcher Potenziale eine Rolle spielen.

Diese Potenziale beginnen in aller Regel mit einer initialen nach oben gerichteten (negativen) Auslenkung ( ▶ Abb. 2.3c, ▶ Video 9.58), was darauf hindeutet, dass die Ableitung direkt am Entstehungsort der Potenziale erfolgt. Schon durch eine geringfügige Verlagerung der Nadelspitze kann man eine Formänderung hin zu triphasischen, mit einer positiven (nach unten gerichteten) Auslenkung beginnenden Potenzialen erreichen, wie es ▶ Abb. 2.3b zeigt. Man kann sie als Variante von Endplattenpotenzialen bezeichnen oder als „benigne Fibrillationen“ ▶ [15]. Schließlich gibt es – um die Verwirrung zu komplettieren – in der Endplattenregion selten auch Spontanpotenziale, die formal positiven scharfen Wellen entsprechen und die man konsequenterweise als „benigne positive Wellen“▶ [15] bezeichnet.

Die Abgrenzung dieser physiologischen Spontanaktivität gegen pathologische „Denervationspotenziale“ (siehe Kap. ▶ 2.4.2) – die dem EMG-Einsteiger oft Probleme bereitet – sollte sich somit nicht an der Form der Potenziale orientieren.

Merke

Weitaus verlässlichere Unterscheidungskriterien zwischen physiologischer und pathologischer Spontanaktivität sind die vergleichsweise hohe Frequenz (zum Teil > 60/s; Interpotenzialintervall < 5 ms) und die unregelmäßige Entladung der physiologischen Spontanpotenziale ( ▶ Video 9.58).

Abb. 2.3.

Abb. 2.3a Negativ-monophasische Potentiale: „Endplatten-Rauschen“.

Abb. 2.3b Bi- und triphasische Endplattenpotentiale mit positiver Initialphase („benigne Fibrillationen“).

Abb. 2.3c Bi- und triphasische Endplattenpotentiale mit negativer Initialphase.

2.3.2 EMG bei leichter Innervation ( ▶ Video 9.64)

Hier lassen sich bei guter Mitarbeit des Patienten einzeln „feuernde“ Potenziale motorischer Einheiten registrieren. Zum Verständnis dieser „Motor Unit Potentials (MUPs)“ ist eine Kenntnis der Architektur motorischer Einheiten notwendig. Eine solche Einheit ( ▶ Abb. 2.4a) besteht aus einem peripheren Motoneuron (Vorderhornzelle plus Neurit) und den zugehörigen Muskelfasern.

Wie in ▶ Abb. 2.4a schematisch dargestellt, kann man kleine und große motorische Einheiten unterscheiden. Die kleinen umfassen nur wenige Muskelfasern. Extrembeispiel sind hier die Larynx- und Augenmuskeln, bei denen eine motorische Einheit nur 6 – 10 Muskelfasern umfasst. In großen Einheiten, z. B. den proximalen Muskeln der unteren Extremitäten, werden unter Umständen mehr als 1000 Muskelfasern von einer einzigen Vorderhornzelle innerviert. Weitere Unterscheidungsmerkmale zeigt ▶ Tab. 2.1.

Die zu einer motorischen Einheit gehörenden Muskelfasern liegen – wie die schwarzen Sechsecke in ▶ Abb. 2.4b gezeigt – im Muskelquerschnitt nicht dicht beieinander, sondern sind über ein großes Areal verstreut, das als „Territorium“ bezeichnet wird und einen Durchmesser bis etwa 10 mm aufweist. Innerhalb eines solchen Territoriums sind zahlreiche (man schätzt bis zu 20) verschiedene motorische Einheiten miteinander vermischt.

▶ Abb. 2.4b zeigt eine durchschnittliche motorische Einheit mit einem Durchmesser von 5 mm. Maßstabsgerecht durch kleine schwarze Felder gekennzeichnet sind 200  regellos verstreute Muskelfasern, die meist solitär liegen, gelegentlich zu zweit und nur selten zu dritt. Weiterhin maßstabsgerecht eingezeichnet ist eine konzentrische Nadelelektrode von 0,6 mm Durchmesser mit ihrem Auffangradius: Dieser hat nach modernen Vorstellungen ▶ [11] eine „Tropfenform“ (rote Linie in ▶ Abb. 2.4b). Die innerhalb des von dieser roten Linie begrenzten Areals liegenden Muskelfasern tragen nach diesen Vorstellungen zu mehr als 90% der Amplitude des MUP bei ( ▶ Abb. 2.4c). Muskelfasern, die außerhalb dieses äußeren Auffangradius liegen, spielen demnach für die Amplitude des MUPs praktisch keine Rolle, wohl aber für die Dauer, zu der wahrscheinlich die Gesamtheit aller zu einer motorischen Einheit gehörenden Fasern beiträgt.

Der Auffangradius wird in der Folge vereinfacht als Halbkreis dargestellt, dessen Durchmesser etwa 1 mm beträgt.

Merke

Wie dicht die EMG-Nadel an den aktiven Muskelfasern liegt, kann man theoretisch an der Anstiegssteilheit (Rise Time) des MUPs erkennen. Darunter versteht man die Zeit vom Beginn bis zum ersten negativen Gipfel des MUPs, wie in ▶ Abb. 2.4d dargestellt. Sie beträgt bei günstigen Ableitbedingungen 0,2 – 0,5 ms; liegt die Rise Time deutlich über 0,5 ms, ist die Nadel zu weit von der aktiven motorischen Einheit entfernt. Selten ist das Gegenteil der Fall: Die Rise Time beträgt weniger als 0,2 ms. In diesem Fall liegt die aktive Elektrode der EMG-Nadel ungewöhnlich dicht an einer aktiven Muskelfaser. Dann wird ein nahezu reines Einzelfaserpotenzial abgeleitet, das eine Amplitude von mehreren Millivolt aufweist und dadurch ein „Riesenpotenzial“ (siehe unten) vortäuschen kann.

In der Praxis ist eine Bestimmung der Rise Time in aller Regel verzichtbar, da man die Anstiegssteilheit eines MUP recht einfach akustisch analysieren kann (siehe dazu ▶ Video 9.64).

Die bei leichter Innervation ableitbaren MUPs („Einzelpotenzial-Analyse“, detailliert dargestellt in ▶ Video 9.64) müssen beurteilt werden hinsichtlich

Form (einschließlich ihrer Stabilität),

Dauer,

Amplitude.

Tab. 2.1

 Unterscheidungsmerkmale großer und kleiner motorischer Einheiten (MUs).

Merkmal

kleine MUs

große MUs

Größe des Neurons

klein

groß

Aktivität des Neurons

tonisch

phasisch

Axon

dünn

dick

Rekrutierung

früh

spät

Muskelfasertyp

I

II

Muskelfaserkontraktion

langsam

schnell

Muskelfaserermüdung

langsam

schnell

Muskelfaserstoffwechsel

oxidativ

anaerobe Glykolyse

Abb. 2.4

Abb. 2.4a Schematische Darstellung einer kleinen und einer großen motorischen Einheit.

Abb. 2.4b „Engerer Auffang-Radius“ einer EMG-Nadel (s. Text).

Abb. 2.4c Normales biphasisches MUP.

Abb. 2.4d Anstiegs-Steilheit („rise time“) eines MUP.

Die MUP-Form ist sehr variabel und ändert sich bei konstanter Ableitung aus der gleichen motorischen Einheit praktisch mit jeder Verlagerung der Nadelspitze; bei konstanter Nadelposition ist sie jedoch bemerkenswert stabil ( ▶ Video 9.64) (im Gegensatz zu pathologischen Fällen, ▶ Video 9.66). Besonders häufig sind tri- und tetraphasische Potenziale( ▶ Abb. 2.5a); als Phasen werden dabei nur solche MUP-Komponenten gewertet, deren Schenkel die Null-Linie durchkreuzen.

Als polyphasisch werden Potenziale ( ▶ Abb. 2.5b) bezeichnet, die mindestens vier Durchgänge durch die Null-Linie bzw. mindestens fünf Phasen aufweisen.

Merke

Polyphasische Potenziale sind nicht per se pathologisch, sie kommen in jedem Muskel vor. Als pathologisch gilt, wenn ihre Gesamtzahl einen bestimmten Prozentsatz überschreitet. Leider existieren aber für diesen „bestimmten Prozentsatz“ praktisch keine allgemein akzeptierten Normwerte. Selbst führende Standardwerke wählen sybillinische Formulierungen:

bis 12%, im M. tibialis anterior bis 20% ▶ [15]

bis 10%, im M. deltoideus bis 25% ▶ [11]

meine Faustregel: „möglichst unter 20‍%, im Zweifelsfall nicht kleinlich bewerten“

Auch die MUP-Dauer variiert beträchtlich. Misst man nicht nur die Spikekomponente, sondern analysiert die Dauer des gesamten MUPs, kann man ohne weiteres eine Variabilität der Dauer von etwa 5 – 20 ms feststellen: Das in ▶ Video 9.64 gezeigte Histogramm basiert auf Werten von EMG-Altmeister F. Buchthal, dessen akademische EMG-Schule die Ausmessung von mindestens 20 Einzelpotenzialen mit Errechnung einer mittleren MUP-Dauer verlangt. Als Grenze der Norm gilt dabei der Mittelwert ± 20‍%, wobei allerdings ein Statistiker erhebliche Einwände gegen diese Grenzziehung zum Pathologischen vortragen würde. Zudem konnten neuere Untersuchungen ▶ [1] die von Buchthal postulierte Altersabhängigkeit der MUP-Dauer nicht reproduzieren.

Darüber hinaus ist gegen diese Form der quantitativen Einzelpotenzialanalyse eine Reihe von Einwänden vorzubringen:

Die Methode ist zeitaufwendig – wenn auch dank der Analyseprogramme moderner EMG-Geräte (bei guter Mitarbeit des Kranken) durchaus zumutbar für Patienten und Arzt.

Ein erfahrener Untersucher kann auch bei direkter („qualitativer“) Auswertung am Bildschirm die durchschnittliche Potenzialdauer näherungsweise abschätzen.

Auch der Erfahrene ist nicht dagegen gefeit, dass er bei einer quantitativen Analyse unbewusst eine Auswahl von MUPs trifft, die seiner vorgefassten diagnostischen Auffassung entsprechen.

Es gibt immer wieder neurogen-myogene Mischbefunde (siehe Kap. ▶ 2.5), bei denen sowohl verkürzte als auch verlängerte MUPs in pathologischer Anzahl nebeneinander zu finden sind. Der statistische Mittelwert für die Potenzialdauer würde hier unter Umständen normal ausfallen, pathologisch wäre lediglich die statistische Verteilung („Distribution“) der MUP-Dauer, deren Bestimmung jedoch – da zu zeitaufwendig – bisher keinen Eingang in die klinische Diagnostik gefunden hat.

Diese statistische Analyse kann somit nur bei ausgewählten hochkritischen Fragestellungen (z. B. Myopathien, Nachweis einer Prozessgeneralisierung bei Verdacht auf ALS) zur Anwendung kommen. Für den EMG-Anfänger, dem die rasche Beurteilung von MUPs am Bildschirm große Schwierigkeiten bereitet und der dazu neigt, überall „deformierte“ oder polyphasische MUPs zu sehen, hat diese Methode aber fraglos einen hohen didaktischen und erzieherischen Wert.

In jedem Fall wäre es aber verfehlt, bei Auswertung der MUP-Parameter allein die statistische Methode einzusetzen. Ein solches Vorgehen müsste ja in der Behauptung gipfeln, dass letztlich jede Form eines MUPs auch im gesunden Muskel vorkommt und nur ihre statistische Verteilung die Grenze zwischen normal und pathologisch markieren würde. Zweifellos aber gibt es Einzelpotenziale, die per se pathologisch sind. So kommen nach eigenen Erfahrungen MUPs mit einer Dauer von über 18ms kaum vor; polyphasische MUPs, wie sie in ▶ Abb. 2.5b durch einen Kreis markiert sind und in ▶ Video 9.66 präsentiert werden, gibt es bei Gesunden nicht, sie sind klar „neurogen“.

Die MUP-Amplituden sind noch variabler als die Dauer. Sie variieren bei ganz leichter Innervation etwa zwischen 100 µV und 2 mV; eine quantitative Analyse hat sich hier nicht als sinnvoll erwiesen.

Abb. 2.5

Abb. 2.5a Bi-, tri- und tetraphasische MUPs eines gesunden Muskels.

(Ludin HP. Praktische Elektromyographie. Stuttgart: Enke; 1976)

Abb. 2.5b Polyphasische MUPs.

(Ludin HP. Praktische Elektromyographie. Stuttgart: Enke; 1976)

2.3.3 EMG bei zunehmender Innervation

Wird der Patient nach Beendigung der Einzelpotenzialanalyse aufgefordert, den untersuchten Muskel nicht mehr minimal, sondern zunehmend kräftig anzuspannen, laufen zwei Prozesse nebeneinander ab ( ▶ Video 9.68): Frequenzsteigerung des/der bereits aktiven MUP(s) und Nachrekrutierung weiterer motorischer Einheiten (activation and recruitment ▶ [11]).Frequenz: Die erste rekrutierte motorische Einheit (MU) feuert oft mit relativ niedriger Frequenz von etwa 5 – 8/s (langsamer als 4 – 5/s kann eine MU nicht feuern). Unmittelbar vor der Rekrutierung weiterer motorischer Einheiten (siehe unten) erhöht die bereits aktive MU ihre Frequenz; bei etwa 10/s steigt die nächste MU ein, meist mit etwas höherer Frequenz; bei etwa 15/s eine weitere MU. Eine Faustregel lautet, dass in einem gesunden Muskel – wenn mindestens zwei motorische Einheiten aktiv sind – der Quotient aus Entladungsfrequenz einer MU und der Zahl der aktiven MUs nicht über 5  betragen sollte: Entlädt z. B. bei Aktivität von drei MUs die frequenteste MU mit 15/s, ist das bei einem Quotienten von 5 (15:3) gerade noch in Ordnung, feuert diese MU dagegen mit 20/s, ergäbe sich 20: 3 = 6,7, und das wäre pathologisch im Sinne eines „Ausfalls motorischer Einheiten“, also „neurogen“. (Diese Regel gilt allerdings nicht für die hirnnervenversorgte Muskulatur, z. B. die mimischen Muskeln, die mit wesentlich höheren Entladungsfrequenzen „einsteigen“).

Es muss eingeräumt werden, dass dieses Frequenzverhalten direkt am EMG-Monitor schon bei Aktivität von mehr als 2 MUs oft nur schwer zu beurteilen ist und bei mehr als 3 MUs nur mit automatischen Analyseverfahren bewertet werden kann. Dennoch sollte man dem Frequenzverhalten unbedingt Aufmerksamkeit schenken.Rekrutierung: Nach dem „Größenprinzip“ (size principle) werden bei der Muskelinnervation immer zuerst die kleineren und erst danach die größeren motorischen Einheiten ( ▶ Abb. 2.4a) eingesetzt, deren MUPs naturgemäß größer, d. h. breiter und höher sind. Bei leichter Innervation (Aktivität von 1–2 MUs) liegen die Amplituden meist unter 1mV, stets unter 3mV. Bei Maximalinnervation werden Werte von 6 – 8 mV, in den kleinen Hand- und Fußmuskeln auch von 10 mV erreicht.

Bei zunehmender Innervation interferieren im Regelfall durch MUP-Rekrutierung und -Frequenzsteigerung die Einzelpotenziale so miteinander, dass man keine durchgehende Grundlinie mehr erkennen kann; man spricht dann von einem „Interferenzmuster“.

Cave

Aber Vorsicht ist geboten ( ▶ Video 9.68