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Italien erklärt – Wort für Wort
Ach, bella Italia: Schon der Espresso am Autogrill gleich hinter der Grenze schmeckt viel besser als jede Edelbohne bei uns. Die Italiener lieben ihren caffè wie ihren Fußball und ihre Pasta. Der Verkehr ist chaotischer als bei uns, die Politik – die Politik … Der deutsche Blick auf Italien ist geprägt von Sehnsucht und Bewunderung. Und von Stereotypen: Berlusconi, Bialetti, Bolognese.
Sebastian Heinrich lädt uns ein, hinter die Klischees zu schauen. Anhand einzelner, unübersetzbarer Begriffe bringt er uns das Land Wort für Wort ein Stückchen näher: von den herrlich kitschigen cinepanettoni, die an Weihnachten im Fernsehen laufen, über den berlusconismo bis hin zu papeete und der Frage, warum in Rom eigentlich so oft die Regierung stürzt. Er erklärt, warum der Norden über den Süden die Nase rümpft – und umgekehrt – und weshalb die Städte an ferragosto in einen tiefen Sommerschlaf verfallen. Ein Handwörterbuch für alle Italianità-Liebhaber!
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Seitenzahl: 345
Sebastian Heinrich
Kurz gesagt:Italien
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5434.
Originalausgabe © Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024
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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Umschlagfoto: Juri Gottschall
eISBN 978-3-518-77908-8
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Benvenute e benvenuti!. Zum Auftakt
Autogrill. Das Tor zu Italien
Belpaese. Woher die Italienklischees kommen
Berlusconismo. Wie der
cavaliere
Italien verändert hat
Cinepanettone. Weihnachtsfilme, die ein Land spalten
Dietrologia. Verschwörungsglauben auf Italienisch
Dissesto. Wo Italien abrutscht
Ferragosto. Wendepunkt des italienischen Sommers
La
482
. Von Arbërisht bis Zimbrisch – Italiens Minderheitensprachen
LVI
. Der lange Schatten des Faschismus
Merendina. So süß kann Industriegeschichte sein
Mezzogiorno. Warum der Norden über den Süden die Nase rümpft – und umgekehrt
Moka. Mythos und Wirklichkeit der
Caffè
-Kultur
Papeete. Warum in Italien so oft die Regierung stürzt
Patron. Warum an Italiens Fußball-Einzelherrschern niemand vorbeikommt
Sanremo. Glanz und Elend der italienischen Popmusik
Anhang
Anmerkungen
Autogrill
– Das Tor zu Italien
Belpaese
– Woher die Italienklischees kommen
Berlusconismo
– Wie der
cavaliere
Italien verändert hat
Cinepanettone
– Weihnachtsfilme, die ein Land spalten
Dietrologia
– Verschwörungsglauben auf Italienisch
Dissesto –
Wo Italien abrutscht
Ferragosto –
Wendepunkt des italienischen Sommers
La
482
– Von Arbërisht bis Zimbrisch – Italiens Minderheitensprachen
LVI
– Der lange Schatten des Faschismus
Merendina
– So süß kann Industriegeschichte sein
Mezzogiorno
– Warum der Norden über den Süden die Nase rümpft – und umgekehrt
Moka
– Mythos und Wirklichkeit der
Caffè
-Kultur
Papeete
– Warum in Italien so oft die Regierung stürzt
Patron
– Warum an Italiens Fußball-Einzelherrschern niemand vorbeikommt
Sanremo
– Glanz und Elend der italienischen Popmusik
Bildnachweise
Informationen zum Buch
Zum Auftakt
Einmal hat die Lehrerin mich wie eine niederländische Biermarke genannt. Es waren die letzten Wochen vor der Abiturprüfung, sie hatte gerade ihren ersten Tag als supplente, als Aushilfskraft für unseren Italienischlehrer. Sie tat, was fast jede Lehrerin und jeder Lehrer in Italien in der ersten Stunde mit einer neuen Schulklasse tut. Sie ging die Namensliste im registro di classe durch, im Klassenregister, in dem Lehrer abwesende Schüler, Verweise und sonstige besondere Vorkommnisse vermerken. Einen nach dem anderen rief sie die Nachnamen auf, die aufgerufene Person sollte sich darauf mit ihrer Stimme melden. Als die Lehrerin bei »G.« angekommen war, ahnte ich längst, dass es gleich kompliziert werden würde. »G.« meldete sich, dann wanderte ihr Blick zurück auf die Namensliste. Sie stockte, kniff die Augenbrauen zu, blickte auf uns Schüler zurück, blickte wieder auf das Klassenregister. »Wer ist das denn mit diesem seltsamen Namen, wie spricht man das denn aus, Heineken?«
In meinen acht Schuljahren in Süditalien habe ich solche Momente immer wieder erlebt. Momente, in denen ich auffiel, trotz meines längst vom örtlichen Dialekt gefärbten Italienisch – und obwohl rothaarige, hellhäutige Menschen in Kampanien kaum seltener sind als in Bayern oder Oberösterreich.
Keiner meiner Eltern oder Großeltern ist in Italien geboren oder aufgewachsen, aber meine Verbindung zu Italien reicht so weit zurück wie meine Erinnerungen. Bis ich zwölf war, sah diese Verbindung aus wie bei Hunderttausenden deutschen Kindern, deren Eltern Jahr für Jahr mindestens einmal nach Italien in den Urlaub reisen. Einmal pro Jahr saß ich links hinten im randvoll gepackten roten Toyota, mit dem wir über die Brennerautobahn nach Süden fuhren. Erst Sardinien, dann Jahr für Jahr ein bisschen weiter nach unten auf dem Stiefel: Abruzzen, Apulien, schließlich Kampanien. Im Sommerurlaub 1999 hatten wir ein Hotelzimmer gemietet in einem Ort am Hügel, dreihundert Höhenmeter über dem Meer und sechs Straßenkilometer vom Strand entfernt. Papa parkte den Toyota manchmal auf einem kleinen Asphaltplatz, an dessen Ende ein Immobilienmaklerbüro war. Mama blieb immer wieder an den Aushängen kleben. Da war dieses Haus. Drei Wochen, Dutzende Gespräche und mehrere Besuche im Maklerbüro später hatten meine Eltern einen Vorkaufsvertrag unterzeichnet. Wir würden umziehen, aus Bayern nach Kampanien.
Seit diesem Spätsommer 1999 bin ich kein Italientourist mehr. Wie es ist mit mir und Italien, das sage ich zu Beginn jeder Episode meines Podcasts ins Mikrofon: »Mein Name ist Sebastian Heinrich, ich bin politischer Journalist, und mein Leben ist eng verwoben mit Italien.« Bevor ich »Kurz gesagt: Italien« im Juni 2022 gestartet habe, habe ich beschlossen, diesen Satz jedes Mal aufs Neue zu sagen, weil ich jedes Mal aufs Neue auf den Punkt bringen wollte, warum ich das alles tue. Warum ich neben einem Vollzeitjob als Redakteur für die Nachrichtenagentur Agence France-Presse für diesen Podcast Bücher, Filmmaterial, Zeitungsartikel und wissenschaftliche Aufsätze wälze, Interviews führe und dann ein Skript aufschreibe, Monat für Monat eine Folge aufnehme, schneide, veröffentliche und online dafür trommele.
Kurz gesagt: Ich tue es, weil mich dieses Land seit diesem Spätsommer 1999 nicht mehr losgelassen hat. Nach unserem Umzug habe ich die zweite Hälfte meiner Schulzeit in Italien absolviert: knapp drei Jahre scuola media, fünf Jahre liceo, in ganz normalen staatlichen Schulen. Ich habe Fußballabende in der örtlichen bar lieben gelernt und saß Jahr für Jahr mit Freunden beim Ostermontag-Picknick und am Ferragosto-Lagerfeuer, ich war auf dem concertone am 1. Mai in Rom und bin Samstag für Samstag auf meinem motorino, meinem Motorroller, über die Hügel zum Weggehen geknattert.
In meiner Abiturprüfung habe ich die Bestnote im schriftlichen Italienischtest erhalten, ein Aufsatz über die luoghi dell’anima, die Orte der Seele, in dem ich den Liedermacher Fabrizio De André zitierte. Knapp drei Jahre später, während des Studiums in Deutschland, hatte ich das Glück, eine fantastische Erasmusstudentin aus Norditalien kennenzulernen. Sie antwortete neun Jahre später mit Ja, als die Standesbeamtin sie fragte, ob sie mich heiraten wolle. Ein unverzichtbarer Teil meiner Familie und meines Freundeskreises ist heute italienisch.
Seit meinem Studium und vor allem seit ich meine journalistische Ausbildung abgeschlossen habe, vertiefe ich mein Wissen über Italien Tag für Tag: über Zeitungsartikel und Fernsehshows (Internet sei Dank!), über ältere und brandneue Sachbücher, über Gespräche mit Freunden, Bekannten und anderen klugen Menschen, die mehr wissen als ich. Ich hoffe, liebe Leserinnen und Leser, dass dieses Buch Ihnen dabei hilft, Italien besser zu verstehen – unabhängig davon, wie viel Sie bereits über das Land wissen.
Das Buch folgt demselben Aufbau wie mein Podcast »Kurz gesagt: Italien«. Jedes Kapitel geht von einem unübersetzbaren italienischen Wort aus – einem Wort also, das sich nicht ohne Weiteres ins Deutsche übertragen lässt. La parola, das Wort, so heißt der erste Teil jedes der 15 Kapitel: ein paar Stichpunkte zu dem unübersetzbaren Ausdruck. Damit sofort klar ist, wovon eigentlich die Rede ist.
Hinter jedem dieser unübersetzbaren Wörter steckt eine Geschichte. Eine Geschichte, die dabei hilfreich ist, ein Stück Italien zu begreifen, zu kratzen an der Oberfläche aus Klischees und einfachen Bildern, die Millionen Menschen im deutschsprachigen Raum im Kopf haben. Ich erzähle diese Geschichten, jeweils im zweiten und längsten Abschnitt jedes Kapitels namens La storia dietro la parola (die Geschichte hinter dem Wort).
Jedes Kapitel schließe ich mit ein paar Sätzen passaparola, wörtlich übersetzt Mundpropaganda. Es sind Empfehlungen, mit denen Sie noch etwas mehr Zeit mit der Geschichte des jeweiligen Kapitels verbringen können: vor allem zu Büchern und Filmen, die meisten von ihnen aus Italien.
Italien ist ein wundervolles Land, das fleißige, kluge, mutige Menschen aus schweren Krisen geführt haben und das von einem ärmlichen Land am Rand Europas zu einem wohlhabenden Gründungsmitglied der Europäischen Union aufgestiegen ist. Italien ist ein schreckliches Land, das Faschisten in den Abgrund gezerrt haben, das in den 1970er Jahren für europäische Verhältnisse beispiellos gewalttätig war und das seit gut drei Jahrzehnten messbar zurückfällt im Vergleich zum großen Rest des Kontinents.
Ich gebe mich weder mit dem Zerrbild vom chaotischen Land der Geldverprasser noch mit kitschig-klebriger Dolce-Vita-Romantik zufrieden. Den Leitgedanken hinter meiner Arbeit an »Kurz gesagt: Italien«, am Podcast wie an dem Buch, habe ich im Gespräch mit einem anderen Podcaster einmal so zusammengefasst: Italien ernst nehmen.
Das Tor zu Italien
Der autogrill Scaligera an der Autobahn A4 zwischen Verona und Vicenza.
Autogrill[autoˈgrill] – Markenname, zusammengesetzt aus »Auto« und »Grill«, Kurzform für [englisch] »Grillroom«; Imbisslokal oder Restaurant entlang einer Autobahn, üblicherweise verbunden mit einer Tankstelle.1
Stahlträger um Stahlträger, Betonteil um Betonteil reißen sie ein gigantisches Souvenir aus der Landschaft. Nach fünfeinhalb Jahrzehnten entfernen sie dieses Erinnerungsstück an den italienischen Aufbruch aus dem Val di Chiana, diesem Tal zwischen Arezzo und Orvieto in der südlichen Toskana, durch das sich die Autobahn A1 zieht. Im Oktober 2021 entfernen Bautrupps die Brückenraststätte Montepulciano aus dem mittelitalienischen Agrargebiet, in dessen Mitte sie jahrzehntelang tonnenschwer über der Autobahn geschwebt hatte. Hier verschwindet ein autogrill, und was für einer.
Die unübersetzbar italienischen Orte namens autogrill haben eine Bedeutung, die nicht erfassbar ist mit dem deutschen Ausdruck »Autobahnraststätte«. Für mutmaßlich Hunderttausende Italienbesucherinnen und Besucher, die im Familienwagen oder Reisebus aus dem Norden ins Land kommen, sind die autogrill Wegmarken in Richtung Urlaub. Menschen, die über den Brenner, über Chiasso oder Tarvisio nach Italien fahren, schlürfen in Adige, Villoresi oder Fella den ersten Espresso auf italienischem Boden, beißen dort in das erste cornetto, befriedigen den ersten Schub Italiensehnsucht. Nur wenige von ihnen erahnen, welche Rolle die autogrill für die nationale Identität Italiens spielen.
Etwas davon schimmert durch in den Worten, mit denen die Journalistin Maddalena Pieroni ihren Bericht vom Ende der Abrissarbeiten an der Brückenraststätte Montepulciano betextet, der im Lokalfernsehsender ToscanaTV ausgestrahlt wird.2 Als in dem Beitrag die Kräne am letzten Rest des Autogrill-Stahlskeletts eingeblendet werden, ist von Pieroni zu hören, dieses Gebäude sei hier, im Süden der Toskana, die »Konkretisierung des amerikanischen Traums« gewesen.
Als der autogrill1967 eröffnet, wenige Meter vom Bahnhof der kleinen Gemeinde Montepulciano entfernt, ragt dieser Bau auf einem gigantischen Cortenstahl-Träger in die ländliche Gegend wie ein Objekt aus einer fernen Zukunft: mit seinen hohen Glasfassaden, den roten Sonnenblenden und dem roten Schild in der Form eines stilisierten Hundeknochens mit der Aufschrift »Autogrill Pavesi«.3 Entworfen hat ihn Angelo Bianchetti, ein Star der italienischen Nachkriegsarchitektur, der den seltenen Zukunftsmut dieser Jahre in aufsehenerregende Gebäude übersetzte.
Die Journalistin Pieroni erzählt in ihrem Fernsehbeitrag, in den Jahren nach der Eröffnung hätten sich viele Menschen aus der Region im autogrill mit Delikatessen eingedeckt. In den über den Fahrbahnen hängenden Räumen in Montepulciano habe es Ende der 1960er Jahre schon »seltene Waren« gegeben, die in den kleinen Lebensmittelläden der Umgebung noch nicht erhältlich waren. Viele Menschen aus dieser bis weit in die Nachkriegsjahrzehnte bäuerlichen Gegend hätten hier erstmals in ihrem Leben einen Aufzug gesehen.
Ein anderer Journalist, Alessandro Benetti, schreibt im Architekturmagazin Domus in einem Artikel zum Abriss dieser Raststätte, das über dem Autoverkehr hängende Bauwerk sei ein »Fixpunkt« gewesen. Ein »Ort mit einem Hauch Amerika, der die Menschen zum Träumen brachte, in einer Zeit, in der die Freiheit mit dem Automobil verbunden war«.4
15Jahre vor der Eröffnung von Montepulciano taucht das Wort »autogrill« zum ersten Mal auf. Es ist das Jahr 1952, sieben Jahre sind vergangen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem endgültigen Sturz der faschistischen Gewaltherrschaft von Diktator Benito Mussolini. Am 2. Juni 1946 haben die Italiener in einem Referendum für die Abschaffung der Monarchie und den Aufbau einer Republik gestimmt. 1948, nach den ersten Parlamentswahlen, hat die Regierung unter dem Antifaschisten und Christdemokraten Alcide De Gasperi deutlich gemacht, auf welcher Seite sie im gerade begonnenen Kalten Krieg stehen will: im Westen, an der Seite der USA, als Mitglied der Nato, zu deren Gründungsmitgliedern Italien im April 1949 gehört. Italien ist ein armes Land, gezeichnet von verbreiteter Armut und tiefer politischer Spaltung. Doch wer es damals durchquert, sieht auch die Zeichen des Aufbruchs.
Zu diesen Zeichen gehört ein einstöckiges Gebäude, das 1952 an einer der wenigen Autobahnen des Landes eröffnet: an der Strecke Turin–Mailand, nahe der Stadt Novara in der norditalienischen Region Piemont. In seinem Inneren ist ein Laden untergebracht, in dem Autofahrer Kekse kaufen können, und daneben ein Restaurant.5 Hinter der Attraktion steckt Mario Pavesi, ein Unternehmer, der seit den 1930er Jahren im piemontesischen Novara industriell Gebäck herstellt. Die Pavesini, Kekse in der Form eines stilisierten Hundeknochens, werden in der Nachkriegszeit zu einer der beliebtesten Süßwaren des Landes. »È sempre l’ora dei Pavesini«, es ist immer die richtige Uhrzeit für Pavesini, dieser Slogan gehört zu den erfolgreichsten Werbebotschaften, die je in italienischer Sprache geschrieben worden sind.6
Pavesi ist, wie viele italienische Unternehmer seiner Generation, vernarrt in die USA. Während einer Reise in die Staaten in den 1940er Jahren haben es ihm die grill rooms angetan:7 Restaurants für Autoreisende, entlang der Interstate Highways, die damals schon die US-Bundesstaaten miteinander verbinden. Bereits 1947 beginnt Pavesi am Rand einer Autobahn seine Produkte zu verkaufen: In Novara öffnet ein erster Verkaufsladen für die Kekse aus eigener Herstellung, ergänzt um eine bar mit Tischen und einer Pergola im Außenbereich, von weithin sichtbar gemacht mit einem Betonbogen, aus dem ein Dutzend beflaggter Fahnenmasten ragen – und an dessen Seite ein großes Neonreklame-Schild mit der Aufschrift Pavesini in die Landschaft ragt.8 Dann lässt Unternehmer Pavesi das Lokal ausbauen und um ein Restaurant erweitern. Über dem vergrößerten Gebäude hängt ein Schild mit der Aufschrift »Bar-Autogrill-Restaurant Pavesini biscuits«.9 Dem ersten autogrill lässt der schnell expandierende Keksunternehmer Pavesi bis 1958 drei weitere folgen.
Ende der 1950er Jahre erleben Italienerinnen und Italiener – vor allem im Norden und in der Mitte des Landes – den bis heute spektakulärsten wirtschaftlichen Aufstieg der Geschichte: den boom economico, das italienische Wirtschaftswunder. Millionen Menschen im Land ermöglicht der Aufschwung, einen Kühlschrank und eine Waschmaschine in die Wohnung zu stellen und ein eigenes Auto zu kaufen. Ein Auto, mit dem sie ihr Land Jahr für Jahr schneller und einfacher durchqueren können. Das Netz der autostrade wird dichter und dichter, und die autogrill werden zum wesentlichen Bestandteil der Planungen. Als die über 750 Kilometer lange Autobahn A1 geplant wird, die Autostrada del Sole zwischen Mailand und Neapel, sind in Abständen von vierzig Kilometern zueinander Raststätten vorgesehen.101961 gründet die Mehrheit im italienischen Parlament mit dem Zaccagnini-Gesetz die Autobahngesellschaft Società Autostrade und verpflichtet sie zum Bau weiterer Hunderter Kilometer Autobahnnetz.11
Für Mineralölkonzerne und die italienische Lebensmittelindustrie entsteht mit den Plänen für Dutzende neue Raststätten ein Geschäftsmodell von gigantischem Ausmaß. Am Business entlang der Autobahnen will nicht nur Pionier Pavesi verdienen. Zwei weitere wachsende Riesen der italienischen Lebensmittelindustrie steigen ein: Motta und Alemagna.
Angelo Motta hat 1919 unter seinem Nachnamen eine Bäckerei gegründet, in der er einen Kuchen namens Panettone umgestaltet und ihn nach und nach zum Weihnachtsgebäck der Nation macht. Motta eröffnet weitere Filialen, in den 1930er Jahren wird aus der Bäckerei ein Industriebetrieb und eine Aktiengesellschaft.121957, als Angelo Motta stirbt, stellt Motta längst Süßgebäck der unterschiedlichsten Arten her, daneben Speiseeis und die aus den USA im Land gelandeten Cracker. Die Aktiengesellschaft Motta SpA hat zu dieser Zeit 3600 Angestellte, sie verkauft ihre Produkte in 70000 Geschäften. Fast zehn Prozent des Umsatzes der gesamten italienischen Lebensmittelindustrie und sieben Prozent des im Land ausgegebenen Werbebudgets kommen von Motta.13 Aus dieser Position der Stärke heraus steigt die Firma in das Business der Autobahnraststätten ein.
Den Namen autogrill kann Motta nicht verwenden, Pavesi hat ihn nach der Eröffnung seiner ersten Raststätte in Novara als Marke eingetragen. Die Firma, inzwischen geleitet von Manager Alberto Ferrante, weicht auf eine naheliegende Alternative aus, 1960 eröffnet sie den ersten mottagrill. Somaglia ovest liegt an der A1, nahe dem norditalienischen Piacenza, mit seinen Glasfassaden und Metallstreben wirkt er wie ein meterhoher Wintergarten.
Alemagna, das dritte Raststätten-Unternehmen, ist in den 1950er Jahren Mottas ärgster Konkurrent. Als Motta in der Adventszeit mit dem Slogan »Es ist kein Weihnachten ohne Motta« wirbt, antwortet Alemagna mit »Man schreibt es Weihnachten, man spricht es ›Alemagna‹ aus«.14 Im italienischen Wirtschaftswunderjahre-Roman La bella di Lodi lässt die Protagonistin Roberta ein Buffet im Familiensitz von Alemagna organisieren.15
Wie Simone Colafranceschi in seinem Buch Autogrill. Una storia italiana schreibt, ist es für den Alemagna-Vorstand logisch, neben Pavesi und Motta selbst auch in das Autobahnraststätten-Geschäft einzusteigen. Die Lokale von Alemagna sind deutlich nüchterner als die der Konkurrenz: Die autobar sind meistens Fertigbauten, in denen sowohl der Gastronomiebereich als auch die Tankstelle untergebracht sind.
An den Autobahnen schießen in diesen Jahren autogrill, mottagrill und autobar aus dem Boden. Die Raststätten werden überrannt, die stetig anschwellende Masse der automobilen Menschen im reicher werdenden Italien steuert die Lokale an wie touristische Attraktionen. Um spektakuläre 82 Prozent wächst etwa allein zwischen 1961 und 1962 der Umsatz von autogrill, mottagrill und autobar am Rand der A1 auf der Teilstrecke zwischen Mailand und Florenz.16 In La bella di Lodi beschreibt Arbasino die »unfassbare sonntägliche Menschenmenge«, die in einem autogrill einfällt und »alles Mögliche kauft: Einkaufswagenladungen voller glitzernder Pakete mit Stofftieren, Korbtaschen, Marsmenschenhelmen, Go-Kart-Helmen, etruskischen Amphoren, nachtleuchtenden Strandeimern, miauenden Teddybären, Krokodilen zum Aufhängen für die Windschutz- und die Rückscheibe, Plastikblumen für die Feier bei den Cousins«.17
Die Autobahnraststätten werden zu Pilgerorten für Millionen. Kirchliche Würdenträger erteilen den konsumhungrigen Menschen im damals noch tiefkatholischen Italien ihren Segen. Als am 29. April 1961 an der Autobahn A1 nahe Bologna der mottagrill Cantagallo eröffnet wird, die größte aller italienischen Autobahnraststätten, ist neben Bildungsstaatssekretär Giovanni Elkan auch Giacomo Kardinal Lercaro vor Ort, der Erzbischof von Bologna.18 Cantagallo ist eine Brückenraststätte: 70 Meter lang, 13 Meter breit, mit 70000 Quadratmetern Gewerbefläche, auf denen 150 Angestellte im Dreischichtbetrieb 24Stunden täglich die Kundschaft versorgen.19
Bei der Einweihungsfeier vergleicht Kardinal Lercaro diesen gigantischen mottagrill mit einem Rastplatz auf dem Weg nach Jerusalem, von dem Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt habe. Dann sagt Lercaro: »Und nun haben wir den Herrn gebeten, seinen Segen über diese Raststätte zu bringen, die so viel größer und schöner ist, aber auf den Fleiß der Menschen und den Segen Gottes wartet.«20 Es sind Worte, die zur Strategie der Kirche im damaligen Italien passen: Die eng mit den regierenden Christdemokraten verbandelten Kirchenoberen heiligen die Konsumgesellschaft, weil sie in ihren Freuden den mächtigsten Wirkstoff sehen, gegen den Kommunismus, den sie angesichts der anhaltenden Beliebtheit der größten kommunistischen Partei Westeuropas für das schrecklichste aller Gespenster halten.
Brückenraststätten wie Cantagallo – und das am Kapitelanfang genannte Montepulciano – stehen auf das Spektakulärste dafür, wie sehr sich in den italienischen Autobahnraststätten der Modernisierungsschub abbildet, den Italien in dieser Zeit erlebt. Die autogrill und mottagrill a ponte sind Zeugen der »eher kühnen als strengen, eher frenetischen als nachdenklichen Epoche, in der sie entstanden sind«, schreibt Architekturjournalist Alessandro Benetti für Domus. Allein der Architekt Angelo Bianchetti plant neben Montepulciano zehn weitere dieser Gebäude für die Firma Pavesi. Eines davon vergrößert den allerersten autogrill: 1962 wird aus der Raststätte in Novara ein autogrill a ponte. Im Jahrzehnt danach lassen Pavesi und Motta ein knappes Dutzend weiterer Brückenraststätten bauen.
Aber in den Jahren, in denen diese mächtigsten Symbole der goldenen Raststättenjahre entstehen, beginnt die Grundlage dieser italienischen Wirtschaftswundergeschichte schon zu bröckeln. Das Wirtschaftswachstum in Italien verliert ab 1963 erstmals an Fahrt, die Beschäftigungsquote geht zurück. Zwei der drei Lebensmittelriesen hinter den Autobahnraststätten, Alemagna und Motta, erschließen sich neue Geschäftsfelder, um den Umsatz trotzdem weiter zu steigern: von Grissini über Eier bis zu löslichem Kaffee. Aber die neuen Produkte verkaufen sich teilweise nur schleppend, was auf die Gewinnmargen drückt. In der Autogrill-Erfinderfirma Pavesi verliert in dieser Zeit die Familie um Gründer Mario Pavesi an Einfluss: Der Industriekoloss Edison kauft nach und nach größere Anteile des Unternehmens, bis er zum Mehrheitseigner wird. Edison fusioniert dann mit der Industriegruppe Montecatini, und Pavesi wird – wie Alemagna und Motta – Teil einer der großen Industriedynastien Italiens.21
In diesen Jahren beginnt im Land die Hochzeit der borghesia di stato. Nach der Gründung des staatlichen nationalen Stromversorgers Enel im Jahr 1962 bringen staatliche Großunternehmen weite Teile der Wirtschaft in Italien unter ihre Kontrolle. Eines davon ist das Staatsunternehmen Società Meridionale di Elettricità, kurz SME, eine Tochter der nationalen Wiederaufbaugesellschaft Istituto per la Ricostruzione Industriale. Die SME kauft sich in die italienische Lebensmittelindustrie ein – unter anderem in Alemagna, Motta und Pavesi. Ab Mitte der 1960er Jahre gehen zwischen 35 und 50 Prozent der Anteile der drei Unternehmen ins SME-Eigentum über. Aber während der italienische Staat immer stärker zum Unternehmer wird, schaffen es die Regierungsmehrheiten der Zeit nicht ansatzweise, diese Entwicklung mit einer klugen Industriepolitik zu begleiten.22
Das Jahrzehnt des rauschhaften Aufstiegs ist vorbei, die Unternehmen hinter den Autobahnraststätten verändern sich tiefgreifend. Aber in den autogrill, mottagrill und autobar klingeln die Kassen zunächst weiter. Bis 1973 wächst das Business um durchschnittlich rund zehn Prozent pro Jahr.23 Die Zahl der Autobesitzer und somit der Kundenstamm steigt weiter – und die Autobahnen wachsen in Italien in diesen Jahren um deutlich mehr zusätzliche Straßenkilometer pro Jahr als in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich.
1971 entsteht in Alfaterna sogar die erste Brückenraststätte im wirtschaftlich schwächeren Süden Italiens. Es ist ein besonders wuchtiges, mehrstöckiges Gebäude. Sogar ein Motel befindet sich darin, in dem Gäste über den Fahrspuren der Autobahn zwischen Neapel und Salerno die Nacht verbringen können.24 Nach Alfaterna, nach 1971, wird in Italien nie wieder eine neue Brückenraststätte gebaut werden.
1973 ist es vorbei mit der goldenen Ära. In diesem Jahr erwischt die bis dahin heftigste wirtschaftliche Krise seit Kriegsende Italien wie den Rest der westlichen Welt: Nach dem Jom-Kippur-Krieg gegen Israel drosseln die wichtigsten arabischen Erdölproduzenten ihre Förderung, die Treibstoffpreise schießen in die Höhe. In Italien werden, wie in Westdeutschland und der Schweiz, autofreie Sonntage verordnet. Die Regierung in Rom stoppt den Autobahnausbau größtenteils und schwenkt um auf austerity, Sparpolitik. Autogrill, mottagrill und autobar bleiben die Kunden weg, die Umsätze brechen ein, während gleichzeitig die Personalkosten deutlich steigen.25
Die staatliche SME setzt für die Autobahnraststätten einen Rettungsplan aus Personalkürzungen und Einsparungen beim Service auf: Automaten und Thekenrestaurants mit Selbstbedienung statt livrierter Kellner, die primo und secondo an den Tisch bringen.26 An Autobahnabschnitten mit wenig Verkehr gelegene Lokale werden verkauft. Das reicht aber nicht. Mitte der 1970er Jahre geraten Alemagna und Motta, diese beiden Symbolfirmen der italienischen Boomjahre, in eine existenzbedrohende Krise. Das Autobahnraststätten-Geschäft wird aus den Firmen ausgegliedert.
1977 wird ein neues Unternehmen gegründet, in dem sämtliche Autobahnraststätten von Alemagna, Motta und Pavesi zusammengefasst sind: Es entsteht die Autogrill SpA, eine zu einem großen Teil staatlich kontrollierte Aktiengesellschaft, der größte Gastronomiebetrieb Italiens. Autogrill verwandelt sich von einer Marke in ein Unternehmen. Sie versucht, die 278 Raststätten in ihrem Eigentum aus der Krise zu führen.27
Das funktioniert Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre zunächst kaum: Zwischen 1973 und 1984 liegt die jährliche Teuerungsrate in Italien ununterbrochen über zehn Prozent, das Einkommen vieler Familien schmilzt dahin – und damit auch das Budget, das viele Menschen bei einem Halt im Autogrill ausgeben können. In dieser Zeit zerstören auch noch Brände zwei besonders prestigeträchtige Brückenraststätten: 1981 die größte Brückenraststätte Cantagallo, 1984 den allerersten autogrill Novara.28
1984 aber beginnt in Italien auch das, was mehrere Autoren das »zweite Wirtschaftswunder« nennen: Das Wirtschaftswachstum schnellt nach mageren Jahren auf 2,5 Prozent nach oben, 1987 steigt Italien auf Rang fünf der größten Volkswirtschaften der Welt auf, Hunderte neue Autobahnkilometer werden im Land gebaut.29
Das Management von Autogrill verpasst den Autobahnraststätten eine neue Identität, behutsam, wie sich das für ein notorisch nostalgisches Land wie Italien empfiehlt. Das von 1977 bis 1996 verwendete Autogrill-Logo – ein rotes Dreieck aus drei ineinander verschachtelten Pfeilen – steht für die alten drei Raststättenpioniere Alemagna, Motta und Pavesi.30 Bis Anfang der 1990er Jahre sind die drei Namen sogar noch an den Lokalen sichtbar und werden in der Werbung genannt. Zeitgleich aber möbelt Autogrill seine Raststätten auf und vereinheitlicht ihr Aussehen, richtet moderne Self-Service-Lokale ein, schafft Untermarken wie die Fast-Food-Pizza-Kette Spizzico und verpasst seinen Panini unverwechselbare Autogrill-Namen: Camogli, Rustichella, Apollo werden zu ikonischen Produkten, für die Menschen gerne von der Autobahn herunterfahren.
1994 wird Autogrill privatisiert, 1997 folgt der Börsengang.31 Die neue Unternehmensführung verwandelt es binnen weniger Jahre in den mächtigsten Global Player der Reisegastronomie. Die Firma expandiert nach der Jahrtausendwende weiter, in die Schweiz, nach Österreich, in die USA und nach Vietnam. 2023 fusioniert Autogrill mit dem Schweizer Konzern Dufry, aus beiden wird die Avolta AG. Zur Autogrill Group gehören mittlerweile nach eigenen Angaben 3300 Lokale weltweit, vom Aperitif-Lokal an der Piazza Duomo in Mailand bis zum Flughafenrestaurant auf der indonesischen Insel Bali.
Im Bewusstsein der meisten Menschen in Italien aber bleiben die autogrill Orte an der Autobahn. Lokale, die jede und jeder kennt, mit denen die allermeisten Erinnerungen, Gefühle, manchmal Sehnsüchte verbinden. Das seit 1996 genutzte Firmenlogo – ein stilisiertes A, mit einem Querbalken wie ein abgeschnittener Nike-Swoosh – ist Menschen in Italien mindestens so präsent wie im Rest der Welt das McDonald’s-M. »In manchen Nächten, wenn alle Bars zu sind / wird am erstbesten autogrill noch jemand feiern«, diese Passage der 1995 veröffentlichten Rockhymne »Certe notti« des Liedermachers Ligabue können in der Generation der seit 1975 Geborenen bis heute ähnlich viele Menschen in Italien mitsingen wie die Nationalhymne.
Wer heute auf Italienisch »mi fermo in autogrill« (mit Betonung auf der letzten Silbe) sagt, meint einfach: Ich fahre von der Autobahn und bleibe an einer Raststätte stehen – ob in Prenestina Ovest, Angath Nord oder Frankenwald West. »Autogrill« ist ein Deonym, ein Markenname, der als allgemeine Bezeichnung dient: so wie »Tesa« im Deutschen für Klebeband steht und »Tempo« für Taschentücher.
Gut 200 Autogrill, also Raststätten der gleichnamigen Firma, gibt es heute noch an Autobahnen in Italien. Aber in manchen Landstrichen fahren Reisende heute erst an einer Handvoll autobahngrüner Hinweisschilder von Fini, Sarni, Chef Express oder Ristop vorbei, bis sie einen »echten« Autogrill sehen, eine Raststätte, die tatsächlich dem gleichnamigen Unternehmen gehört.
Die Zahl dieser Autogrill wird in den kommenden Jahren eher sinken. »Gezielt in eine kleinere Zahl von Filialen investieren, um eine höhere Rentabilität zu erreichen«, so formuliert das Unternehmen selbst die eigenen Ziele für den italienischen Autobahnmarkt – den Markt, in dem alles anfing.32 Auch in Italien fahren heute weniger Menschen lange Autobahnstrecken als früher, Wachstumsraten wie in den Wirtschaftswunderjahren wird es an den Rändern der autostrade wohl nie mehr geben.
Nachdem sie 2021 im Süden der Toskana die Montepulciano-Brückenraststätte aus der Landschaft gerissen haben, sind zwei kleinere Autogrill an beiden Seiten der A1 entstanden, moderne und effiziente Gebäude mit in Gitterstahl und LED-Installationen verkleideten Dächern.33
Der allererste autogrill, Novara, hat inzwischen den Eigentümer gewechselt. Das Konkurrenzunternehmen Chef Express hat die Brückenraststätte umbauen lassen und betreibt sie seit 2017.34 Als sie unter dem neuen Betreiber eröffnet wird, zitiert das lokale Nachrichtenportal Prima Novara Gianni Luciani, den Chef der für den Abschnitt zuständigen Autobahngesellschaft SATAP, mit diesem Satz zur umgestalteten Raststätte: »Es ist mir ziemlich schwergefallen, sie nicht mehr autogrill zu nennen.«35
Vermutlich fängt kein zweites Buch den Geist der italienischen Wirtschaftswunderjahre so gut ein wie La bella di Lodi. Wegen Alberto Arbasinos schnellen Sprachrhythmus und seiner schnörkellosen, flotten Beschreibungen von Orten, Menschen und Denkweisen – und wegen der Szenen aus dem Leben eines unruhigen Lands im Aufwind. Mehrere Szenen von La bella di Lodi spielen in und um Autogrill-Raststätten: architektonisch unerhört moderne Gebäude, in denen aus bitterer Not aufgestiegene Menschen ihre Lust am Konsum mit ihrer Lust an automobiler Bewegung vereinbaren können. Die unromantische und sehr körperliche Liebesgeschichte der reichen und selbstsicheren norditalienischen Agrarindustriellen-Tochter Roberta mit dem ungebildeten Automechaniker Franco hat Regisseur Mario Missiroli 1963 verfilmt. La bella di Lodi, mit Stefania Sandrelli in der weiblichen Hauptrolle, ist auf Videoportalen in der Originalfassung mit englischen Untertiteln abrufbar. Wer Gefallen findet an der Ästhetik der Autogrill-Raststätten, an Autogrill-Produkten von heute und aus vergangenen Jahrzehnten, sollte auf Instagram den Profilen @passione_autogrill und @nostalgiautogrill folgen.
Woher die Italienklischees kommen
Eine Illustration aus dem frühen 20. Jahrhundert. Auf der in den Farben Italiens gehaltenen Trikolore stehen die Worte: »là dove ʼl sì suona«, wo das sì erklingt, aus Dantes Göttlicher Komödie. Die Person in der Mitte ist der Dichter höchstselbst.
Belpaese[bɛlpaˈeːze], seltener: bel paese – wörtlich: das schöne Land, zusammengesetzt aus »bello« (schön) und »paese« (Land).
1. Name, der stellvertretend für Italien steht. Angelehnt an berühmte Zitate der italienischen Nationaldichter Dante Alighieri (1265-1321) und Francesco Petrarca (1304-1374). Titel eines 1875 erschienenen populärwissenschaftlichen Buchs von Antonio Stoppani über landschaftliche Sehenswürdigkeiten Italiens.
2. Markenname eines Weichkäses, der in der norditalienischen Region Lombardei hergestellt wird.1
Womit hat Italien das eigentlich verdient? Hügel mit Zypressen auf den Kuppen; elegant gekleidete, braun gebrannte Frauen und Männer mit Sonnenbrille auf der Nase, die Espresso aus kleinen, weißen Tassen nippen; ein Mensch auf einer Vespa, der mit knatterndem Geräusch über die dunklen, breiten Kopfsteine der Piazza einer italienischen Stadt fährt. Warum schießen so vielen Menschen heute angenehme Bilder wie diese in den Kopf, wenn sie an Italien denken? Warum gilt Italien im deutschsprachigen Raum als so schön, dass zum Wort »Italiensehnsucht« seit 2006 ein eigener Wikipedia-Eintrag existiert?2
Das unübersetzbare italienische Wort belpaese ist so etwas wie die Mutter aller Italienklischees. Wer diesem Wort auf den Grund geht, entdeckt Spuren von Jahrhunderten des Kampfs um den Aufbau der italienischen Nation und um eine nationale Identität. In belpaese spiegelt sich aber auch ein Teil des Blicks von außen und vor allem von Norden aus auf Italien wider: ein Blick, der zwischen sehnsüchtig und abschätzig pendelt.
Belpaese ist im Italienischen des frühen 21. Jahrhunderts die wohl populärste Bezeichnung für Italien. Verwendet wird sie im Wesentlichen mit drei unterschiedlichen Bedeutungen. Zum einen wird belpaese nah an der wörtlichen Bedeutung verwendet. Italien ist ein bel paese, ein schönes Land, das ist in den Augen vieler Besucher ebenso wie eines großen Teils der knapp 59 Millionen Einwohner eine Wahrheit, die sich leicht überprüfen lässt: an den Hängen der Dolomiten, in den Ortschaften der Cinque Terre in Ligurien, an den Stränden Sardiniens. Diese Selbstzuschreibung findet Anklang auch bei Italienromantikern im Rest der Welt. Belpaese mit der vermeintlich nur beschreibenden Bedeutung »schönes Land« wird gerne genutzt im Tourismus und in den anderen Formen der Italienvermarktung: Reiseveranstalter preisen ihre Trips in die Toskana oder nach Rom mit diesem Wort an. Restaurants und Pizzerien tragen es in ihrem Namen. Leiter von Italienischkursen locken Menschen mit der Möglichkeit, die »Sprache des belpaese« zu lernen.
Dieser Ausdruck hat aber auch etwas Ausschließendes. Er wird nur für Italien verwendet. Und dieser patriotisch-selbstverliebte Blick kann ausarten, in Überhöhung – und somit in die zweite Ausprägung des Begriffs belpaese. »Pizza-Chauvinismus«, so hat Ulrich Ladurner, ein in Südtirol geborener italienischer Journalist der Zeit, diese Bedeutungsdimension genannt. In einem Text aus dem Sommer 2002 bietet Ladurner eine Erklärung für ein italienisches Phänomen an, das damals viele Menschen im deutschsprachigen Raum ratlos zurücklässt: die Beliebtheit Silvio Berlusconis, der damals seit gut einem Jahr zum zweiten Mal als Regierungschef amtiert (→ Berlusconismo). Warum dieser Mann so beliebt ist, erklärt der Zeit-Journalist unter anderem so:
Zwischen ihm und seinen Wählern gibt es so etwas wie eine Übereinstimmung der Seelen. Sie senden auf gleicher Welle. Berlusconi verfügt über ein gigantisches narzisstisches Ego, und er ist der Sohn eines Volkes, das zwischen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn schwankt und das sich seiner selbst nicht sicher ist. Würde man fragen, was es denn bedeute, Italiener zu sein, bekäme man sehr unterschiedliche Antworten. Nur in einem würden sich alle wiederfinden: Italien ist il bel paese, das schöne Land, heißt das übersetzt, gemeint ist aber »Italien ist das schönste Land«.3
Schön, schöner, Italien: Berlusconi wird diesen überhöhenden Belpaese-Begriff immer wieder verwenden in den insgesamt rund siebeneinhalb Jahren, in denen er nach Erscheinen von Ladurners Text noch die Regierung Italiens anführen wird.
Berlusconi nutzte ein Muster, das italienische Politikerinnen und Politiker seither immer wieder verwendet haben. Kritik aus dem Ausland an bestimmten politischen Entscheidungen oder an der allgemeinen Linie der Regierung wird umgedeutet in einen Angriff auf den Stolz des belpaese, des schönsten Lands der Welt, auf das diese schnöseligen Ausländer einfach nur neidisch seien. »Non prendiamo lezioni da nessuno«, wir lassen uns von keinem anderen Land belehren, dieser Satz ist die wohl kürzeste Fassung dieser Haltung. In den vergangenen Jahren haben ihn so (zumindest auf den ersten Blick) unterschiedliche Politiker wie der Mitte-links-Regierungschef Matteo Renzi und der spätere rechtsnationale Innenminister Matteo Salvini verwendet: Renzi im Jahr 2014 gegen Kritik des deutschen Konservativen Manfred Weber an der hohen Staatsverschuldung Italiens, Salvini 2019 gegen Kritik an der Migrationspolitik seiner Regierung.4
Dass auf diese Belpaese-Wagenburgmentalität oft zurückgegriffen wird, um von hausgemachten Fehlern und Problemen abzulenken, erkennen in Italien viele Menschen. Und auf dieser Erkenntnis beruht die dritte Bedeutung, mit der belpaese im Italienisch der Gegenwart gebraucht wird: als selbstironisch oder sarkastisch gebrochenes Klischee. »Che belpaese, eh«, mit diesem Ausruf würzen Menschen in Italien regelmäßig Gespräche über den jüngsten politischen Skandal im Land, über den Rückstand Italiens zu anderen europäischen Staaten in vielen Bereichen, über chronische Übel wie organisierte Kriminalität oder großflächigen Steuerbetrug. In Medien wird der sarkastisch gebrochene Mythos regelmäßig gebraucht: Die Tageszeitung La Repubblica betitelt etwa einen Artikel über die im europäischen Vergleich überdurchschnittlichen Arbeitszeiten der Italiener mit »il belpaese che lavora troppo«, das belpaese, das zu viel arbeitet.5 Die linke Zeitung Il Manifesto wettert gegen das »belpaese smemorato«, das belpaese ohne geschichtliches Gedächtnis.6
»Tanto ci sarà sempre chi pagherà le spese / in questo benedetto, assurdo belpaese«, so singt sich der linke Liedermacher Francesco Guccini in seinem 1996 erschienenen Lied »Cirano« den Frust über die politische Entwicklung aus dem Leib: »Irgendeiner wird ja immer die Zeche bezahlen / in diesem gesegneten, lächerlichen belpaese.« Vier Jahre waren da vergangen seit der Explosion des riesigen Tangentopoli-Korruptionsskandals, der die politischen Parteien der Nachkriegsjahrzehnte weggefegt und bei Millionen Italienern die Hoffnung auf eine bessere Republik geweckt hatte. Herausgekommen sind der Aufstieg des milliardenschweren Politikneulings Silvio Berlusconi und die Zersplitterung der italienischen Linken.
15Jahre später – in einem Italien, das im europäischen Vergleich wirtschaftlich noch weiter zurückgefallen7 und politisch noch tiefer in die Krise gerutscht ist – veröffentlicht der Rapper Caparezza »Goodbye malinconia«. Der Song ist eine bittere Hymne für die Millionen junger Italiener, die aus dem Land auswandern, um ordentlich bezahlte Jobs und eine Perspektive zu finden. Caparezza reimt, in Italien, das Dante Alighieri Anfang des 14. Jahrhunderts als »bel paese dove ’l sì sona« besungen hatte, habe früher ein Schulabschluss gereicht, um über die Runden zu kommen. Man habe dafür nicht, wie heute, ein Star sein müssen oder mit dem Lebenslauf eines Pornostars in die Politik gehen müssen. Caparezza spielt hier auf die vielen Frauen an, die der damals noch amtierende Regierungschef Berlusconi mit Posten versorgt oder anderweitig finanziell abgesichert haben soll – weil sie mutmaßlich an Feiern beteiligt waren, die unter dem Stichwort »Bunga Bunga« in die Geschichte eingegangen sind. Sogar der Espresso, sagt Caparezza, schmecke inzwischen bitter, als wäre er mit Zyankali vergiftet – wie jener im Gefängnis getrunkene Becher Espresso, an dem im März 1986 der wegen mehrerer schwerster Verbrechen verurteilte Banker Michele Sindona starb.
Solche Verse sind das Gegenteil von romantischer Italienverklärung. Aber belpaese ist eben seit Jahrhunderten ein viel komplizierteres Wort, als manche Italienromantiker der Gegenwart uns weismachen wollen. Wie Caparezza korrekt rappt, ist der Erste, der den Ausdruck nachweislich verwendet hat, Dante Alighieri: jener inzwischen zum Nationaldichter erhobene Mann aus dem mittelitalienischen Florenz, nach dem heute knapp 3800 Straßen und Plätze im Land benannt sind.8 Dante, zeitlebens ein hochpolitischer Schriftsteller, verwendet den Ausdruck »bel paese là dove ’l sí sona« (das schöne Land, in dem das sì erklingt) in seinem mit Abstand einflussreichsten Werk, der Göttlichen Komödie. Der aus seiner Stadt verbannte Florentiner reist darin als Ich-Erzähler durch die drei Reiche des christlichen Jenseits: Hölle, Fegefeuer, Paradies. Und das bel paese taucht in der Hölle auf, genauer gesagt im 33. Gesang von Dantes Inferno, im letzten Ring, nur kurz vor dem Erdkern, in dem der Teufel sitzt.
Die Bezeichnung Italiens als bel paese ist bei Dante Teil einer grauenhaften Verfluchung, die er gegen das nahe Florenz gelegene Pisa richtet. Die Stadt solle von einer Flut zerstört werden, die jeden Menschen in ihr ertränken möge, schreibt der Dichter. Pisa sei die Schande des bel paese, weil die Oberen der Stadt die unschuldigen Kinder des verurteilten Grafen Ugolino della Gherardesca im Kerker verhungern lassen hatten.
Als ein paar Jahrzehnte später der zweite italienische Großdichter vom belpaese schreibt, tut er das in einem deutlich weniger brutalen Zusammenhang. Der im toskanischen Arezzo geborene Francesco Petrarca schreibt im Canzoniere, seiner autobiografischen Gedichtsammlung, von Italien als »il bel paese Ch’Appennin parte, e ’l mar circonda e l’Alpe«: das schöne Land, geteilt vom Apennin, umgeben vom Meer und von den Alpen. Diese Bezeichnung ist Teil des 146. von 366 Gedichten im Canzoniere. Die von ihm geliebte und in seinem Werk oft gelobte Frau Laura, so Petrarca, könne er nicht auf der ganzen Welt bekannt machen, sondern eben nur im bel paese, nur in Italien – zumindest bei jenen Menschen, die die frühe Form von italienischer Sprache verstehen, die er benutzt.
Als Petrarca diese Zeilen schreibt, ist Italien noch ein halbes Jahrtausend davon entfernt, ein geeintes Land zu sein: Es ist ein mittelalterlicher Flickenteppich aus kleinen Republiken, Herzogtümern, Königreichen, unter dem Dach von Papst und Kaiser stehend – aber weitgehend unabhängig und oft miteinander verfeindet. Als Idee, als geistiges Sehnsuchtsziel für Intellektuelle wie ihn, existiert ein einiges Italien aber schon damals. Im 128. Gedicht, das mit dem Ausruf »Italia mia« beginnt, mein Italien, wünscht sich Petrarca diese Einigkeit herbei. Söldner aus Deutschland, klagt er, würden im Land ihr Unwesen treiben, beauftragt von gegeneinander kämpfenden italienischen Herrschern. Petrarca besingt die glorreiche Vergangenheit des Römischen Reichs, als die in Italien geborenen Gaius Marius und Julius Cäsar die Barbaren aus dem Norden besiegten. Nun wüteten die Nachfahren dieser Leute hier sogar im Auftrag italienischer Herrscher.
Italien bleibt nach Petrarcas Ausruf politisch zersplittert. Aber schon lange vor seiner politischen Einheit beginnt die Karriere des belpaese als Sehnsuchtsland der Menschen aus dem nördlicheren Europa. Ab dem späten 17. Jahrhundert, nachdem Europa sich vom jahrzehntelangen Gemetzel des Dreißigjährigen Kriegs erholt hat, begeben sich vor allem junge Erwachsene auf die Grand Tour durch Europa. Angehörige aus der kleinen wohlhabenden Schicht Englands, Frankreichs und der deutschsprachigen Länder bereisen den Kontinent, und Italien ist ein besonders begehrtes Ziel.
Johann Wolfgang Goethe schreibt seine Jubelzeilen vom »Land, wo die Zitronen blüh’n«, wohl schon, bevor er 1786 zu seiner italienischen Reise aufbricht. »Auch ich in Arkadien!«, schreibt er an den Anfang seines Reiseberichts. Er meint: Auch ich im Sehnsuchtsland, in dem die antike Hochkultur entstanden ist, im belpaese, das Idylle und Glück verheißt. In dem Werk selbst schreibt Goethe ausgiebig über die Menschen, vor allem aber die Bauwerke und die Landschaft des geliebten Lands, unter anderem über die Zypresse, diesen »respektabelsten Baum, wenn er recht alt und wohl gewachsen ist«. Das Gemälde Goethe in der Campagna, auf dem sein malender Begleiter Johann Heinrich Wilhelm Tischbein den Dichter in einem idealisierten ländlichen Mittelitalien abbildet, wird die Italienfantasien von Generationen von Menschen nördlich der Alpen prägen.
Eine französische Italienbesucherin verhilft dem Wort belpaese zu neuer Bekanntheit. Madame de Staël, Schriftstellerin und Vorreiterin von Literaturwissenschaft und Literatursoziologie, bereist das Land Anfang des 19. Jahrhunderts. Nach ihrer Rückkehr verfasst sie den Roman Corinna oder Italien. Auf der ersten Seite zitiert sie Petrarcas Verse aus dem Canzoniere: »Udrallo il Bel paese Ch’Appennin parte, e ’l mar circonda e l’Alpe«, das schöne Italien wird von dieser Geschichte hören.
Das Italienbild der Besucher aus dem Norden hat aber auch eine großflächige Schattenseite. Denn sosehr manche der Reisenden für Vegetation, Kultur, Architektur im belpaese schwärmen, so stark fremdeln viele von ihnen auch mit Land und Leuten. Und mit der Küche. »Die klassische Italienreise war Augenlust, nicht Gaumenschmaus«, so beschreibt es der Autor und ausgezeichnete Italienkenner Dieter Richter.9 Johann Gottfried Seume, der 1802 von Sachsen ins sizilianische Syrakus wandert, sieht die Menschen auf der größten Mittelmeerinsel Nudeln essen und lästert über den »bestialischen Maccaronifraß«.10 In Rom und Neapel gibt es gut besuchte deutsche Gaststätten, dank denen den Besuchern die angeblich ungenießbare heimische Küche erspart bleibt.11
Wenige Jahre später bringen die Nationalbewegungen die alten europäischen Reiche ins Wanken. In Italien nimmt das Risorgimento an Fahrt auf, wörtlich die »Wiederauferstehung« Italiens. Nach zwei Unabhängigkeitskriegen gegen das österreichische Kaisertum und dem »Zug der Tausend« des republikanischen Revolutionärs Giuseppe Garibaldi von Sizilien aus bis nach Neapel wird 1861 das Königreich Italien ausgerufen, sein König ist Viktor Emanuel II. Italien ist erstmals ein moderner, einheitlicher Nationalstaat.
Doch das Land steht vor gewaltigen Problemen: Wirtschaftlich und militärisch ist man im Vergleich zu den Staaten West- und Mitteleuropas eklatant abgeschlagen.12