Kurz-Krimis und andere Texte - Heinke Stulz - E-Book

Kurz-Krimis und andere Texte E-Book

Heinke Stulz

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Beschreibung

Kurz-Krimis führen in den Sumpf des Alltags, wo kriminelle Handlungen entstehen, gewollt oder ungewollt. Der Abstand von einer unbescholtenen Person zu einer kriminellen ist nicht groß, eher dem Zufall geschuldet als der Moral. Hier entstehen die Charaktere, die durch ihre Taten erstaunen, auch sich selbst. Aufgestöbert werden sie von der externen Ermittlerin, die jedesmal ihre Pfunde dafür in Bewegung setzen muss. Eigentlich will sie nur schnell wieder nach Hause, ins Bett. Deswegen löst sie ihre Fälle unkonventionell und schnell.

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Danksagung

Hier meine Prosatexte aus den letzten Jahren.

Viel Freude beim Lesen wünsche ich allen!

Für das Korrekturlesen danke ich Ute Schneider ganz herzlich.

Bildnachweise:

Die Fotos mit den Blüten hat Boris Airo aufgenommen.

Die Postkarten stammen aus dem Sensenhammer, Schlebusch.

Auch für die Fotos und Karten Danke, dass ihr sie kostenlos zur Verfügung gestellt habt!

So habt ihr das Buch um visuell-ästhetische Einblicke bereichert.

Heinke Stulz, Leverkusen 1.8.2023

Inhaltsverzeichnis

Im Hotel

Der Friseursalon

Das Hochhaus

Die Chinesen

Der Kölner Dom

Spieglein, Spieglein an der Wand

*

Gelöscht

Computerbriefe

*

Der Sensenkönig

Eine Milliarde Minuten

Der Tod und der Landmann

Gaudium Musicale

L´Arte del Mondo

Afrika

Im Hotel

Mein Sofa. Meine Seelenlandschaft. Warum hat der Mensch jemals angefangen, sich zu bewegen? Wäre er doch ein Stein geblieben, der irgendwo liegt sein ganzes Leben, dann wäre es ihm besser ergangen. Meine Vorfahren waren Steine, deswegen liege ich jetzt hier im Bett und bin glücklich. Um zu essen muss ich mich allerdings erheben, da hatten es meine Vorfahren, die Steine, besser. Sie konnten ihr ganzes Leben liegen bleiben.

Ich machte mein Telefon an, um Sushi zu bestellen, da blinkte es. Nein. Heute ist mein Steintag, ich rühr´ mich nicht vom Fleck.

Aber es blinkte weiter und sagte mir: Herr Becker ist am Apparat. Will ich mit Herrn Becker sprechen? Ehrlich gesagt, nein. Aber mein Bankkonto sagt etwas anderes. Ich sollte den Geldfluss auf mein Konto mal wieder anregen, d.h. arbeiten.

„Ja, Herr Becker, was gibt es?“

Ich lege meine Bettdecke um mich herum. Herr Becker ist rund und nervös und zwinkert ständig mit den Augen, unerträglich. Davon geht mein Blutdruck hoch. Gott sei Dank sehe ich ihn an meinem Telefon nicht.

„Herr Becker, ja? Sofort, meinen Sie? Ach?“

Nun gut. Wie sagen die Kommissare immer: In 10 Minuten. Bin gleich bei Ihnen.

Da haben wir es. An meinem Bett-Tag ein Toter. Als ob er es geplant hätte. Da wusste der Mörder doch, dass ich nicht dabei sein werde, außer ich bin pleite, das konnte der Mörder aber wirklich nicht wissen. Also raus aus dem Bett. Dusche? Nein. Anziehen, vielleicht kämmen, auf jeden Fall parfümieren, fertig. Im Auto Heizung anschalten, ist immer noch nicht Frühling. Also auf zu unserem Mord!

Mord im Gasthaus, nichts Besonderes. Sicher Totschlag, Wirtshausschlägerei. Warum holen die mich dann? Die wissen doch, dass sie mich extra bezahlen müssen. Gasthaus zum Fremden Mann, wer sich das ausgedacht hat, oh je! Die wussten noch nichts von den Flüchtlingsströmen. Also im Fremden Mann lag ein fremder Mann auf dem Boden in der Scheune. Unfreiwillig gestorben, sonst hätten sie mich nicht aus dem Bett geholt. Brutale Stichwunden. Kein spitzes Gerät in Sicht, also hat einer zugestochen. Niemand kannte den Fremden. Ich auch nicht. Bis ich ihn von vorne sah. Nein, ja, doch, das war Max!

Was machte der hier und in dem Zustand? Er sah nicht gut aus, es war ihm nicht gut ergangen, das konnte man sehen, auch vor dem Schlag nicht. Gast war er im Hotel, sie prüften gerade, ob er den richtigen Namen ins Register geschrieben hatte. Das konnten sie sich sparen, ich wusste, wer er war.

Mein Ex. Und warum sie mich geholt hatten? An meinem Bett-Tag? Natürlich, er hatte wahrscheinlich meine Nummer in seinem Handy, er wollte zu mir. Also nix mit Geldverdienen, als Zeugin bin ich hier. Für nichts und wieder nichts aus dem Bett.

Da war auch so ein Wichtigtuer aus der Kreisstadt, der mich verhören wollte, wie ein kleines Kaninchen. Als ob ich nicht sonst seinen Job mache. Als ich ihm sagte, dass ich als freie Ermittlerin arbeite, fiel ihm erst einmal nichts mehr ein. Nur die Kinnlade lockerte sich peinlich. Dann nahm er sich zusammen und verwandelte sich in einen Kollegen: „Nun, Frau Wagner“, (das war eindeutig mein Name) „Wieso hat dieser Mann Ihre Nummer?“ „Weil das Herr Wagner ist“, antwortete ich lakonisch und sah zu, wie diese Information in seinem Gehirn arbeitete.

Dann machte es klick und er fragte, von sich selbst erstaunt: „Sind Sie verheiratet?“

„Nein, nicht mehr.“

Auch diese Information brauchte ihre Weile, bis sie durch die Schlingungen seines Gehirns hindurch wieder als Frage im Mund angekommen war:

„Das heißt also, Sie waren mit ihm verheiratet?“

„Kann man so sagen.“

Bei diesem Verhör in Zeitlupe erfuhr er dann von mir, dass ich Max seit vier Jahren nicht mehr gesehen hatte, seit er damals nach Hamburg gezogen war. Wenn man wie ich hier in der Gegend verwurzelt ist, versteht man, dass Hamburg ein Scheidungsgrund ist.

„Aha“, sagte er. „Was wollte er dann hier?“

„Das wüsste ich auch gerne“, erwiderte ich und bot mich an, seine Sachen durchzugehen. Nein, ich sei Zeugin, das gehe gar nicht. Der Wirt kam hinzu, unser Herr Brauer. Der Herr sei gestern angekommen und habe am Morgen noch ganz friedlich gefrühstückt. Was habe er denn hier gewollt? Tja, der habe vom Fischen geredet. Typisch Max, immer undercover, sogar wenn er seine Ex besuchen will. Der Wirt meinte noch, zuerst habe er geglaubt, er kenne den Mann. Aber der Besucher habe nicht erkennen lassen, dass er die Gegend kenne.

Max war nie vorher hier gewesen, das wusste ich, hierhin war ich gezogen, als wir uns getrennt hatten, noch mehr aufs Land, damit ich wenigstens wusste, wofür ich mich hatte scheiden lassen. Ob man die Bedienung mal sprechen könnte, vielleicht habe er mit der mehr geredet.

Die Bedienung sei nach Hause gegangen, der sei es heute gar nicht gut gewesen. Seit wann, fragte ich? Seit dem Frühstück, sagte Herr Brauer.

Das Frühstück ist niemandem bekommen, meinte ich. Da fühlte sich Herr Brauer angegriffen. Der tote Gast sei ja noch aus dem Gasthaus gegangen, aufrecht, und warum er sich habe finden lassen, ermordet, in der Scheune, das verstehe er auch nicht.

Es gäbe andere Orte, um sich ermorden zu lassen als seine Scheune. Da räusperte sich der Wichtigtuer, um auch mal was zu sagen und meinte: „definitiv“.

Ich würdigte ihn keines Blickes und wollte die Treppe hinauf ins Zimmer von meinem Ex. Der Wichtigtuer bekam fast einen Herzinfarkt. Aber er war nicht schnell genug. Als ich die Tür öffnete, war ich bei Max.

Seine immer gleichen Hemden, mit zarten Streifen, das Rasierwasser, das noch in der Luft hing, die brauen Budapester da hatte ich noch mit ihm zusammen gekauft, und seine Zeitung, die ihn überall begleitete wie ein treuer Hund. Hier war Max, ich spürte ihn. Was wollte er hier? Über die Schulter sagte ich zu dem werten Kollegen:

„Ich könnte Ihnen helfen. Ich kenne ihn schließlich. Ich kann herausfinden, was er hier wollte, wenn Sie mir Zugang zu seinen Sachen verschaffen.“

Der Wichtigtuer rang mit sich und verlor. Ja, aber nur unter Aufsicht. Und ich hätte sicher die vier Jahre keinen Kontakt mehr mit ihm gehabt?

„Wie auch immer“, murmelte ich. Und (ich versuchte es einfach mal): „Bekomme ich das auch bezahlt?“ Der Typ griff nach seinem Handy, als ob es klebrig wäre. Langsam spurte er, das war schön. Und am Ende könnte es sogar noch Geld geben. Max, was hast du nur hier gewollt. Warum hast du mich nicht gestern Abend angerufen?

Ach, natürlich! Er hätte mich ja nicht erreicht! Unter keinen Umständen! Ich hatte mein Handy ausgestellt, Steinzeit im Bett….nur für mich allein.

Tja, was wäre wenn, würde er noch leben? Im Handy immer noch der gleiche Pin, der Geburtstag seines Onkels. Das Display zeigte, dass er vier Mal versucht hatte, mich zu erreichen. Und er kannte meine Wohnung hier nicht. Nach Hamburg waren wir nicht mehr so eng. Eigentlich Fremde. Warum war er nun gekommen?

Er trug keinen Verlobungsring oder so was, das war es nicht. Er wollte etwas von mir. Aber nichts Privates, das wäre übers Telefon gegangen. Die Nummer hatte er ja noch. Nein, es musste etwas Berufliches sein, etwas Peinliches. Er wollte mit mir darüber sprechen. Von Angesicht zu Angesicht, ohne Zeugen.

Seine Dienststelle gab an, er hätte sich Urlaub genommen. Also so peinlich, dass er sich Urlaub genommen hatte. Jetzt musste recherchiert werden. Ich wusste noch, Familie gab es nicht viel. Einzelkind, Eltern getrennt, sehr beschäftigt mit sich selbst, aber seinen alten Onkel hatte er noch, den er liebte und das war gegenseitig, deswegen der Pin in seinem Handy.

Der musste aber schon sehr alt sein, über 80. Ob der noch lebte? Noch in dem Haus neben dem Rathaus da im Westfälischen?

Der Wichtigtuer meinte natürlich, dass ich die Todesnachricht überbringen müsste. Da ich inzwischen wusste, dass sie mich wirklich engagiert hatten, sagte ich zu. Warum nicht? Das bedeutet wieder ein paar freie Tage für mich zu Hause, mit gefülltem Kühlschrank. Was sind wir auch so bedürftig? Die Welt, unsere Existenz, unser Magen verschlingt täglich Geld, da lob ich mir die Steine, die brauchen gar nichts! Überhaupt nichts! Nicht einmal eine Toilette. Das ist echt würdevoll. Und wir sind Feiglinge, wir alle. Wir haben Angst vor dem Hinger und dem Tod. Deswegen kommen wir nie zur Ruhe.

Außerdem wollte ich seinen Onkel wiedersehen. Ich wusste ja, wo er wohnte.

Also setzte ich mich ins Auto mit Heizung und fuhr hin, ins Westfälische. In die nicht mehr so kleine Stadt, aufs Rathaus zu. Tatsächlich, das Türschild trug noch seinen Namen. Ich klingelte. Es öffnete eine Frau in meinem Alter. Ich holte meinen Ausweis heraus und sagte ihr, dass ich zum Hausherrn wolle. Sie sagte, mit einem gewissen Akzent, er liege drinnen im Wohnzimmer, und worum es denn gehe? Das müsste ich ihm persönlich mitteilen, und am besten jetzt gleich.

Widerwillig gab sie die Tür frei, und ließ mich hinter ihr ins Wohnzimmer kommen, einen Weg, den ich noch gut kannte.

Wie hatte sich das Haus verändert! Früher roch es nach Persil und frischem Kaffee. Heute konnte man nicht glauben, dass es noch bewohnt war. Alles zugedeckt und abgestanden. Ein Haus, stehengeblieben in der Vergangenheit. Ob Max das hier gesehen und gerochen hatte?

Im Wohnzimmer lag sein Onkel. Auf dem Sofa mit vielen Kissen, zugedeckt, die Augen geschlossen. Immer diese Leute, die glaubten, solange sie auf dem Sofa liegen und nicht im Bett, gehörten sie noch zu den Lebenden. Der Onkel hielt die Decke unter seinem Kinn fest, er brauchte Schutz.

Diese Frau, jünger, stellt sich feindselig vors Sofa und sagte:

„Sie sehen doch, dass er schläft.“

„Wie geht es ihm denn?“, fragte ich kühl.

„Heute etwas besser, er konnte alleine trinken“, antwortete sie brav.

„Was ist es?“

„Krebs, aber stabil.“

„Aha. Dann lassen Sie mich mal mit ihm reden“, sagte und schob sie auf die Seite und setzte sie in einen Sessel, was erstaunlich einfach war, da die Leute niemals damit rechnen, dass man sie einfach anfasste und verschob.

Also saß sie nun da mit offenem Mund und ich hatte genug Platz, mich neben ihn zu knien und seine Hand zu nehmen.

„Onkel“, flüsterte ich.

„Du bist nicht Max“, sagte er nach einer Weile.

„Nein, ich bin Resa. Du weißt schon.“

Er erinnerte sich tatsächlich, denn ich gehört ja ins Langzeitgedächtnis, das funktionierte noch.

„Bist du wieder da?“, flüsterte er.

„Ja, aber ich muss dir etwas Trauriges erzählen.“

„Muss das sein?“

„Ich glaube schon, ich brauche deine Hilfe.“

„Oh, da muss ich wohl wach werden.“

„Lina, machst du Kaffee für unseren Besuch?“ Sie schaute ihn bitterböse an, sie wollte auf keinen Fall das Gespräch verpassen. Aber er schaute so harmlos zurück mit den graublauen Augen von Max, dass sie wortlos aufstand und tatsächlich ging.

„Was gibt es, Resa?“, seufzte er und versucht sich etwas höher auf die Kissen zu ziehen. Ich griff ihm unter die Achseln und zog ihn hoch. Er war so leicht. „Es geht um Max“, sagte ich sanft.

„Max, wo ist er?“, fragte er ängstlich. „Er kommt sonst immer vorbei…..“ „Er kann nicht mehr kommen“, sagte ich schnell.

„Wieso? Er kam immer.“

„Er ist aber jetzt tot.“

„Was, Max ist tot? Ich bin der, der hier am Sterben ist, nicht Max.“ Er war empört.

„Da hast du Recht“, baute ich ihn auf, um ihm dann den letzten Schlag zu verpassen: „Max ist nicht freiwillig gestorben, er wurde getötet.“

„Max? Der war ja noch jung. Wieso sollte man den denn töten? Dann hätten sie lieber mich nehmen sollen. Ich wäre gerne gegangen.“

„Siehst du, deswegen brauche ich deine Hilfe, du erinnerst dich, ich bin auch Polizistin.“

„Ich verstehe nicht, warum er getötet wurde.“

„Ich verstehe es auch nicht.“

„Max, was soll ich sagen. Er hat sich viel Sorgen gemacht, er ist jede Woche gekommen. Er war mein Sohn für mich.“

„Ja, du warst auch sein Vater für ihn, er stand dir sehr nah.“

„Er steht mir immer noch nah, auch wenn er tot ist. Er war so besorgt. Hat sich meine Medikamente angeschaut, mit meinem Arzt geredet. Dabei ist nichts zu machen. Deswegen liege ich hier und warte. Auf den Tod, oh ja.“

„Und wer ist sie?“

„Das ist Lina, sie kommt aus Schottland, sie wird dafür bezahlt, dass sie mich pflegt.“

„Max war auch Polizist. Was hat ihm Sorgen gemacht?“-

„Ich weiß es nicht, vielleicht das Erbe?“

„Er ist der Erbe, oder?“

„Ja, ja, deswegen verstehe ich es auch nicht.“

Lina kam mit dem Kaffee, eine riesige Kanne, brachte auch zwei nicht sehr saubere Henkelbecher in der anderen Hand, er trank offensichtlich keinen. Sie schenkte ein und setzte sich wieder mit kriegerischem Gesicht auf ihren Sessel, den ich ihr zugewiesen hatte.

„Lina, so heißen Sie?“

Sie nickte über ihrer Kaffeetasse. Ich schaltete meine kalte berufliche Höflichkeit an, Stahlblick, Lächeln, Polizeistimme.

„Würden Sie uns bitte alleine lassen für das Gespräch?“

Ich wusste, sie würde lauschen, aber so wäre der Onkel ruhiger, denn ich hatte gespürt, wie sich seine Muskeln anspannten, als sie ins Zimmer hereinkam.

„Geht sie dir auf die Nerven?“, fragte ich ihn, als sie murrend verschwunden war.

„Ja, ich wäre lieber allein, aber das geht eben nicht“, flüsterte der Onkel. „Warum nimmst du dir nicht eine ambulante Pflegerin, dann hast du deine Ruhe?“

„Ich will nur, dass alles so bleibt, wie es ist. Wenn es sich erst einmal anfängt zu verändern, wird es schlechter, das spüre ich.“

Ich streichelte ihm über den Kopf und half ihm wieder nach unten zu rutschen, er war erschöpft.

„Gib mir bitte die Tasse“, flüsterte er und ich suchte seine Schnabeltasse. „Was trinkst du da?“

„Irgendetwas, ich muss trinken, damit ich am Leben bleibe, ich nehme das ernst. Ich trinke jede Stunde einen halben Liter. Das schaffe ich. Und solange ich das schaffe...“

Er verstummte. Er war eingeschlafen. Ich strich ihm noch einmal über die Wangen.

Wie erwartet, hatte sich Lina nahe der Tür zu schaffen gemacht. Man könnte es Staubwischen nennen. Ich durchbohrte sie noch einmal mit einem Blick aus aufgerissenen Augen, lächelt mit dem unteren Teil meines Gesichts und sagte: „Ich komme wieder.“ Sie vermied es, mich anzuschauen.

Zurück im Städtchen erstattete ich meinem wichtigen Chef Bericht, der dünn ausfiel, denn das Wesentliche behielt ich für mich. Dann machte ich mich auf, um noch einmal den Wirt zu sprechen. Wer hatte Max gesehen, bevor er starb? Der Wirt gab an, nur er, weil er am Abend zuvor an der Rezeption gewesen war, Personal war erkrankt, vielleicht die Morgenschicht und eben die Bedienung im Frühstückszimmer. Ob er denn ihre Adresse habe? Aber sicher, er sei schließlich ihr Arbeitgeber, sagte er verschmitzt. Hier. Und wenn ich mit ihr spräche, könnte ich ihr gleich sagen, dass sie morgen unbedingt da sein müsse, er könne nicht jeden Morgen auch noch das Frühstück servieren.

Mit der Adresse bewaffnet ging ich zu Fuß in die Siedlung, wo sie wohnte, kleiner Morgenspaziergang. Die Häuser wurden größer, wuchsen zusammen und schluckten die Grünflächen. In einem dieser Hochhäuser, Beton, Pfützen, rostige Stangen, wohnte sie im 14. Stock.

Ich klopfte. Immer stärker. Nach ein paar Minuten gab es ein Geräusch an der Tür, sie wurde einen Spalt geöffnet, soweit es die Kette zuließ und zu sehen war das Gesicht einer Frau, etwa um die 40, mit erloschenem, scheuem Blick. Sie blickte an mir vorbei in den Himmel.

„Ich bin krank, ich kann nicht öffnen.“

Dann schaute sie auf meine Kehle.

„Gehen Sie bitte.“

Ich setzte dieses Mal mein echtes Lächeln auf und zeigte ihr meinen Ausweis.

„Was wollen Sie, ich habe nichts getan?“

Mit beruhigender Krankenschwesterstimme, etwas tief mit klingendem a, sagte ich zu ihr:

„Das nehmen wir gar nicht an, wir haben nur ein paar Fragen wegen gestern Morgen.“

„Gestern Morgen war ich auf Arbeit!“, sagte sie leise.

„Ja, gerade darum geht es ja. Sie waren im Fremden Mann?“

„Ja sicher, da arbeite ich doch.“

„Darüber möchte ich mich mit Ihnen unterhalten, darf ich reinkommen?“

„Nein“, jetzt weinte sie fast, „mein Kind schläft, verstehen Sie?“

Sie schaute mich flehend an. Ich kannte diesen Blick von meinen Freundinnen mit Kind. Die schauten auch immer so, wenn das Kind nach 23 Stunden mal endlich Pause machte.

„Ich verstehe“, sagte ich also ganz brav, „wir können ganz leise sprechen, wenn Sie wollen.“

Da leuchtete sie zum ersten Mal auf.

„Gut, dann kommen Sie herein. Ich habe Tee gekocht.“

Ich trat sehr vorsichtig in die Wohnung ein. Es war eine hübsche kleine Wohnung für eine Mutter mit einem Kind. Es musste ein Junge sein, so etwa 9 oder 10. Sie nahm ein paar Kleidungsstücke vom Sofa, errötete, ließ mich dort sitzen und setze sich neben mich in einen Sessel. Ich hatte offensichtlich den besseren Platz bekommen.

„Ihr Kind schläft?“, fing ich an.

„Ja, Gott sei Dank, er schläft. Er hatte so viel Fieber. Jetzt ist es aber gut.“ „Sind Sie deswegen gestern von der Arbeit früher zurückgekommen?“ Erschrocken sah sie mich an. „Aber, Sie sagen es nicht dem Chef! Bitte.“ „Nein, ich muss es ihm nicht sagen.“

„Gestern hatte Karl keine Schule, Sie verstehen, dann habe ich ihn mitgenommen in den Fremden Mann. Oh, und das weiß der Herr Brauer nicht.“

„Und, was ist passiert?“

„Ich habe ihn in der Vorratskammer versteckt, aber er bekam einen so roten Kopf und hatte so viel Hitze, da bin ich lieber mit ihm nach Hause gegangen.“

Die pure Angst war auf ihr Gesicht gemalt.

„Verdienen Sie denn gut im Fremden Mann?“

„Ja, ja, gut, es reicht für uns beide. Es reicht.“

Sie schaute auf den Boden.

„Wo ist denn der Vater?“ Fragte ich ganz zart.

„Fragen Sie nicht“, sagt sie und wurde wieder rot.

Sie begann die Teetassen abzuräumen und versucht so weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen.

„Gestern Morgen, wen haben Sie gesehen im Frühstücksraum?“

„Ja, die Gäste von der Messe, sehr laut, die brauchten sehr viel Kaffee, dann haben die Schnaps hineingegossen.“

Ich sah mich verstohlen um, da war ein Fernseher und ein Handy konnte ich auch erkennen. Ob sie es schon wusste?

„Da war ein Mann, der ist in der Scheune erschlagen worden.“

Sie zuckte zusammen, als ob sie das Opfer wäre, und flüsterte:

„Wirklich? Welcher Mann?“

Konnte es sein, dass sie die Neuigkeit gerade wirklich von mir erfahren hatte? Hier eingesperrt mit dem kranken Kind….vielleicht war es wirklich so.

„Der Mann, der alleine gefrühstückt hat“, ich zeigte ihr ein Bild. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck.

„Der da? Der war doch ganz nett? So höflich.“

„Was hat er denn erzählt?“

Nichts. Nur übers Wetter geredet hätten sie. Und er hat die beiden Brötchen aufgegessen, die jeder Gast bekommt. Ich sah, dass die Frau erst einmal mit der Nachricht fertig werden musste, dass da jemand an ihrer Arbeitsstätte ermordet worden war. Also verabschiedete ich mich allmählich und schüttelte ihr die Hand, als ob ich ihr Mut und Energie einpumpen wollte und gab ihr meine Visitenkarte. Immer diese Ersatzhandlungen.

Als ich beim Auto war, fiel mir ein, dass ich die Botschaft vom Wirt nicht ausgerichtete hatte. Ich ging noch mal zurück und klopfte ganz zart. Sie öffnete wieder einen Spalt, sah noch schlechter aus, als bei meinem ersten Besuch, hörte geduldig meine Botschaft an, nickte gehorsam und schloss die Tür ganz eingeschrumpft.

Ich stand etwas verloren vor der geschlossenen Tür und musste nun wieder den Tritt in meinem Leben finden. Steine sind glücklich, sie haben keine Familie, keine Freunde. Sie erleben, was so jeder Stein erlebt, Kälte, Hitze, Regen, und das war es auch schon. Man musste nicht mal drüber reden. Und natürlich lebten sie ewig, das war vielleicht überhaupt der Schlüssel zur Gelassenheit. Ich wusste, dass ich nicht ewig leben würde, dass mir aber noch viele Steintage vergönnt waren und dass ich etwas hatte, auf das ich mich freuen konnte. Also streckte ich mich und ging mit falscher Zuversicht zurück zu meinem Auto.

Im Präsidium gab ich Onkels Haare ins Labor und bat die Sekretärin um ein paar Recherchen.

Für heute hatte ich genug getan, ich würde mir endlich Sushi im Lieferservice bestellen, meine Heizung hochdrehen und diese Welt vergessen. Nein, es ist keine schlechte Welt, es ist eben nur keine besonders gute. Ich kann mir viele Welten vorstellen, die wirklich besser wären, deswegen zog ich mich daraus zurück, so oft es ging. Mit Telefon, Wasserflasche, Wärmekissen und drei Daunendecken lag ich bald im Bett und wartete, dass die Zeit an mir vorbeischlich, ohne mich zu belästigen. So wie jemanden, den man nicht kennt, der einfach an einem vorbei geht. Das mit dem Telefon war natürlich ein Fehler, es klingelte.

Es war die Sekretärin, sie wollte mir die beiden Nachrichten mitteilen, die sich ergeben hatten. Ich seufzte, hätte das nicht Zeit gehabt bis morgen? Sie war gekränkt. Als ich die Nachricht vernommen hatte, verstand ich ihre Eile.

Ich schloss die Augen für weitere drei Minuten, in denen ich die Kraft sammelte, die nötig war, um meine Bettlandschaft zu verlassen und in die andere Welt zurückzukehren, in der ich mein Brot verdienen musste.

Ich schminkte mich, um etwas tüchtiger auszusehen und setzte mich in mein Auto. Nun verstand ich schlagartig, warum Max zu mir gekommen war. Er hatte sich mit mir beraten wollen. Ich ließ den Motor aufheulen und fuhr an diesem Tag zum zweiten Mal ins Westfälische.

Inzwischen war es dunkel, ein Wind jagte alte Blätter vom vergangenen Herbst wie Gespenster über die Straße, Vergangenheit.

Als ich vor dem Haus stand, das noch dem Onkel gehörte, sah ich kein Licht mehr. Hätte das nicht auch bis morgen warten können? Die Sekretärin hätte es nicht verstanden, wenn ich bis morgen warten würde. Sie war schnelle Polizeiarbeit gewohnt. Aber manchmal hatte Schnelligkeit keinen Sinn. Ich beschloss, im Hotel zu übernachten und am Morgen hier zu klingeln. Vielleicht hatte der Onkel gerade jetzt in den Schlaf gefunden.

Am nächsten Morgen um 9.00 war ich da, mit ein paar Polizisten von der Wache dort. Ich brachte den Onkel ins Krankenhaus. Natürlich wollten sie ihn nicht aufnehmen als hoffnungslosen Fall und noch weniger als einer, bei dem man nachgeholfen hatte. Aber ich murmelte etwas von Herzrhythmusstörungen und schon öffneten sich die Türen und die weißen Mäntel flatterten herbei. Damit hatten wir mindestens 5 Tage im Krankenhaus gewonnen. Onkel sah eigentlich erleichtert aus. Ich sagte ihm, dass ich ihn bald besuchen würde und strich ihm noch mal übers Haar, dieses Mal nicht, um eine Haarprobe zu bekommen.

Lina hatte versucht, den Onkel schneller ins Grab zu bekommen, mit kleinen Beigaben in sein Trinkwasser. Der Onkel hatte ihr dummerweise gesagt, dass er sie in seinem Testament bedacht hatte, 5000 Euro war er wert. Wir hatten genug Beweise, um sie anzuklagen. Max war bestimmt auf die gleiche Idee gekommen. Aber für seinen Tod hatte Lina ein Alibi, einen Zahnarztbesuch.

Ich musste noch mal mit der Bedienung sprechen. Warum hatte sie so grausige Angst?

Wie ich es mir gedacht hatte, traf ich sie zu Hause an. Dieses Mal ließ sie mich sofort herein. Sie waren gerade beim Mittagessen, ich sah einen verwuschelten dunklen Schopf über einem Kinderschlafanzug. Das war wohl ihr Sohn Karl.

Als er den Kopf drehte, um mich in den Blick zu nehmen, wäre ich fast gestolpert. So würde ich mir einen Sohn von Max vorstellen, so hätte ich mir unseren Sohn vorgestellt. Die dunklen Haare, graublaue Augen, die harmlose Neugier, das spontane Lächeln mit den kleinen Zähnen. Ich war sprachlos.

Dir Frau sah in mein Gesicht und geriet in Panik. Sie stellt sich hinter ihren Jungen, bedeckte ihn und sagte: er hat nichts getan. Er ist unschuldig. Er ist doch noch ein Kind.

Ich schaute sie verdutzt an, bis es mir langsam dämmerte, dass mir da jemand ein Geständnis servierte.

Hatte sie ein Verhältnis mit Max gehabt? Aber das musste ja noch zu meiner Zeit gewesen sein? Ist er deswegen hierhergekommen? Nicht um mich zu besuchen, sondern um seine Freundin von damals wieder zu sehen? Hat er sich deswegen von mir scheiden lassen, weil er von ihr einen so schönen Sohn hatte? Eine Frage verdrängte die nächste in meinem Kopf, sodass ich nicht dazu kam, auch nur über eine einzige wirklich nachzudenken. Ich war völlig verunsichert, meine Vergangenheit fiel zusammen wie ein Kartenhaus und ich wusste nicht mehr, wer ich war.

Ich wagte den frontalen Angriff:

„Der Tote, Max Wagner, sieht Ihrem Sohn da sehr ähnlich.“

Ihre Augen wurden blank. „Das scheint nur so.“

Karl war nicht zufrieden: „Aber er sieht aus wie ich, das weiß ich. Und zuerst hast du geglaubt, dass er es ist. Gib es zu.“

Sie schaut ihrem Sohn in die Augen. „Ja, das habe ich ja auch geglaubt am Anfang. Aber beim Frühstück“ sagte sie, „im Sonnenlicht, habe ich dann gesehen, dass er es nicht ist.“

Meine Vergangenheit baute sich wie bei einem zurückgespulten Film blitzschnell wieder zusammen aus den Karten, die weggefallen waren. Mein geliebter Max, meine Ehe, alles war wieder zurückverwandelt in das schöne Gebäude, an dem ich mich immer noch erfreute.

Einer plötzlichen Eingebung folgend wandte ich mich an Karl:

„Du hast geglaubt, dass er dein Vater ist?“

„Ja, ich glaube das“, sagte er treuherzig.

„Aber er ist ein böser Mann“, fügte er hinzu.

„Bist du hinter ihm hergelaufen?“

„Ja, ist doch mein Vater. Ich wollte ihm die Kätzchen in der Scheune zeigen, ich wollte mit ihm sprechen. Ich darf ja nicht im Fremden Mann herumlaufen, das ist verboten.“

„Und, hast du ihm die Kätzchen gezeigt?“

„Nein, ich wollte nur wissen, ob er versteht, dass er mein Vater ist. Aber er hat es nicht verstanden.“

„Oh, das war sicher schlimm für dich. Da war jetzt dein Vater und er gibt es nicht zu.“

„Ja, ich bin sehr böse geworden. Da war jetzt endlich mein Vater und er wollte nicht mein Vater sein. Ich hatte mich so darauf gefreut.“

Die Frau nahm ihren Sohn und führt ihn ins Schlafzimmer.

„Er hat noch Fieber, lassen Sie ihn in Ruhe“, funkelte sie mich böse an.

Jetzt kam richtig Leben in ihren Blick. Sie schloss die Tür hinter ihm. Ich setzte mich auf einen Küchenstuhl und entspannte die Schultermuskeln, das hilft immer für die Empathie.

„Machen wir es kurz“, sagte ich müde. „Wer hat ihn umgebracht, Sie oder Karl?“

„Ich wusste, dass er nicht Karls Vater war“, erwiderte sie tonlos.

„Aber Karl wusste es nicht“, murmelte ich. Langsam dämmert es mir:

„Und Sie konnte es ihm nicht sagen, weil er versteckt war. Und er hat ihn in die Scheune gelockt, weil er sich seinen Vater ansehen wollte.“

Sie starrte mich nur an.

„Sie wissen, dass Ihrem Sohn nichts passieren wird? Er ist nicht strafmündig.“

Sie reagierte nicht.

„Aber sagen Sie“, fragte ich sie verträumt weiter, „hat er gemerkt, dass er ihn getötet hat?“

„Ich weiß es nicht“, sagt sie ruhig, „er sagt immer nur, dass der Mann nicht sein Vater sein wollte und dass er deswegen hingefallen ist, einfach so. Aber ich habe die Heugabel gesehen. Ich habe sie versteckt. Dann sind wir nach Hause gegangen. Er weiß nichts, er hatte hohes Fieber.“

Wir saßen eine Weile an dem Tisch und schauten uns nur indirekt an. Ich verfolgte die Zeiger der Küchenuhr. Zwei Küken.

„Machen Sie sich keine Sorgen, bleiben Sie bei Ihrem Sohn“, sagte ich zu ihr und stand auf und legte ihr die Hand auf die Schulter, damit sie sitzen blieb.

Ich drehte mich um, ging langsam hinaus und zog die Tür hinter mir zu, hinter diesem zerbrechlichen Familienglück, das nicht zerbrechen sollte, wenn ich es verhindern konnte.

Strafunmündig und unzurechnungsfähig.

Mal sehen, was die Psychologin daraus machte. Ich musste meine Freundin anrufen. Aber das konnte ich auch von meinem Bett aus tun.

Ich hoffte, dass ich die Mutter hatte beruhigen können. Es hätte Max´ Sohn sein können, wenn er einen gehabt hätte. Er wird keinen mehr haben, in diesem Leben. Ich seufzte, als ich das Auto aufschloss.

Ja, zurück nach Hause, ohne Max, der nun für immer aus meinem Leben verschwunden war, durch einen Unfall. Und ich durfte zurück in den natürlichen Liege-Zustand, der mich immer tröstete, in die Wärme und dort ruhig liegen und auf den eigenen Puls hören. Das ist Leben, das ist ein erreichbarer Glückszustand.

Dieses zweibeinige Dasein war echt eine Fehlentwicklung. Wir sollten liegen bleiben, jeden Morgen, das entspricht eher unserer Natur. Dann wäre die Welt auch nicht so voll von unseren sinnlosen und tödlichen Aktivitäten. Und im Liegen werde ich dann diesen traurigen Fall abschließen und ihn in den Akten begraben. Der Tod meines Ex. Er war ein guter Mann gewesen, ich hatte immer noch goldene Erinnerungen an ihn, aber unsere Wege hatten sich getrennt, beruflich und unwiderruflich, leider.

Der Friseursalon

Mein Bett, mein Zuhause, my place to be. Verstehe gar nicht, warum Leute immer glauben, sie müssten im Bett fernsehen, um sich paradiesisch wohl zu fühlen. Ich brauche das nicht. Im Fernsehen sieht es doch so aus wie draußen und genau das möchte ich manchmal einfach nicht sehen. Da schaue ich mir lieber meine Wand an, mein Bett und vor allem einfach Nichts. Ich brauche gar nichts und bin dann ziemlich glücklich. Nicht, dass das irgendjemand verstehen müsste. Aber es ist nun mal so. Genug Geld auf der Bank, ein gefüllter Kühlschrank, für die leidigen Bedürfnisse des Magens und dann Eintauchen in das Meer von Ruhe, das mich umgibt, sich sinken lassen bis auf den Boden der Zeit und zuhören, wie sie verstreicht, wie sie an dir vorbeischleicht, dich nicht sieht und nichts von Dir will. Das ist der Kern des Daseins. Da hat man ihn gefasst. Endlich.

So lag ich da und war fast auf dem Boden des Seins und am unteren Rand meines Blutdrucks angekommen, als jemand an meiner Tür läutete. Oh Mann. Die hatten es sicher schon auf dem Handy und dem Haustelefon versucht, aber die hatte ich natürlich abgeschaltet, Ich wollte meine Ruhe haben, entschieden meine Ruhe. Es war ein Brückenwochenende, Pfingsten, ich hatte mir sogar einen Tag mehr frei genommen, denn ich wollte auch weg sein, ganz versteckt im Inneren meiner Wohnung, in mir selbst und weg, unsichtbar für die anderen.

Es klingelte wieder. Die wussten, dass ich da bin, ich hatte vergessen, mein Auto ein paar Straßen weiter zu parken. Meine Schuld, vielleicht, aber es war mein freier Tag! Natürlich hätte ich auch liegen bleiben können, aber das hätten sie mir als Böswilligkeit ausgelegt, meine Brötchengeber. Ich quälte mich also aus dem Bett und stemmte meinen Blutdruck nach oben, indem ich mich meinem Ärger hingab, das half immer. Als ich an der Tür ankam, im Bademantel und barfuß, war ich schon auf 180.

„Was gibt es denn?“, schnauzte ich, schon während ich die Tür öffnete.

Es war ein Streifenpolizist, aber nicht von hier, ein kleines Licht, was es sich sicher nicht ausgesucht hatte, mich holen zu dürfen.

„Sorry“, fuhr ich wieder runter. Aber trotzdem: „Was gibt’s? Ich habe heute frei genommen, falls das bei gewissen Leuten nicht bekannt sein sollte.“

Sagte ich und reckte nun doch etwas das Kinn. Schließlich kam er im Auftrag von jemandem, dem er Bericht erstatten musste. Vielleicht wurde ich mit dem kleinen Licht doch fertig und konnte mich wieder hinlegen.

„Sie wi..wissen schon“, stotterte er und bog seinen Kopf nach unten wie ein verlegener Vogel.

„Was weiß ich?“

„Durch die Brückentage sind wir mit Personal knapp.“

„Und?“ Grunzte ich, „ich bin auch in Ferien, das sehen Sie doch.“

„Ja, aber Sie sind wenigstens vor Ort.“

„Leider, ich sehe ein, das war ein Fehler.“

„Eben“, sagte er, ohne zu wissen, was er da sagte, „deswegen kommen wir ja zu Ihnen. Sie sind wenigstens noch greifbar, hat mein Chef gesagt.“

„Das hofft er“, verbesserte er sich schnell.

„Warum denn so eilig?“ Ich wollte endlich Infos haben. „Wer ist denn eigentlich Ihr Chef?“

„Der Herr Sontheim.“

Ach, der Herr Sontheim, der Hauptstellenleiter aus der nächsten Kreisstadt, wie merkwürdig. Was wollte der von mir?

„Der Herr Sontheim, ach so. Was machen Sie dann hier bei mir?“

„Er hat keine Ermittler vor Ort. Ob Sie so nett wären und zu ihm kommen würden.“

„Sie bekämen auch die Feiertag-Zulage….“ Sagte er fast verschämt. Das musste ihm der Sontheimer extra aufgetragen haben, hätte das Vögelchen sich doch alleine nie getraut. Das hieß, Sontheimer brauchte mich wirklich. Ist sogar dazu bereit, viel Geld auszugeben. Geld bedeutet freie Tage in meinem Kosmos. Arbeiten, um frei zu haben, ist schon paradox, aber so ist das bei mir. Arbeiten ist nun nicht das, was ich am liebsten tue. Denn Arbeit ist Arbeit, versteht sich. Aber wenn ich schon arbeiten muss, dann doch lieber meine Arbeit, die lieber als jede andere. Und außerdem bin ich gut. Ach ja, das könnte auch ein Grund sein, warum sie mich holen.

„Warten Sie unten, bin in zehn Minuten da. Sind Sie mit dem Auto?“

„Ja“, sagte er sehr erleichtert und drehte seinen langen Hals, schüttelte sein Gefieder, „ich warte unten auf Sie.“

Schon war er auf der Treppe, zog gleichzeitig sein Diensthandy aus der Jacke und suchte die Nummer vom Sontheimer, könnte ich wetten.

Wenn Leute mich anfordern, muss ich sie nicht durch mein Outfit überzeugen, kleiner Vorteil in meinem Beruf. Also in Schwarz, geht schneller, eine Jacke, Bürste, Make up und Lippenstift, das muss sein, sonst erkennen sie mich nicht wieder, und die Tasche. In 7 Minuten stand ich unten und überraschte den Jüngling mit seinen Streifen bei seinen Flügelschlägen. Erfreut öffnete er mir die Tür und schloss sie flink hinter mir wie die Käfigtür bei einem Beutefang.

„Fahren Sie mich denn dann auch nach Hause?“

Er errötete tatsächlich. Hielt er die Frage für anzüglich? Oder dachte er tatsächlich, ich sei mit meinen 38 Jahren zu alt für ihn?

Vielleicht macht das Herr Sontheimer, der wohnt ja hier.

Stimmt, das war so…..Dieser Storch, glaubt tatsächlich, ich sei nicht in seiner Altersgruppe. Na ja, am äußeren Rand, und ich bin nicht in seiner Gehaltsklasse, da hat er sicher recht.

Während wir uns durch die krummen Straßen schlängelten, die alle 30 Sekunden einen anderen Ausblick auf andere Häuser bot, versuchte ich ihn auszuquetschen. Aber er war ein Fahranfänger und flatterte so nervös mit seinem Gefieder, geriet bei der Doppelbelastung so ins Schwitzen, dass ich Erbarmen mit ihm hatte.

„Fahren Sie einfach zu“, seufzte ich und machte mir meine eigenen Gedanken.

Sontheimer. So ein Typ, der neben sich kein Gras wachsen lässt. Deshalb ist er auch der Chef in einer kleinen Stadt, anders geht es nicht, im Team kann er nicht glänzen, nur als Kopf. Und mit dem sollte ich nun zusammenarbeiten. Hoffen wir mal, dass er mit den Dienstjahren schon faul geworden ist und die Arbeit lieber von externen Ermittlern machen lässt und inzwischen seinen Ehrgeiz in seinen Hobbys auslebt. War er nicht Judomeister oder so?

Nach einer flotten Fahrt durch Rapsfelder und Slalom vorbei an Fahrrädern in Ferienlaune, fuhren wir in den nächsten Ort und parkten bald vor der Polizeistation. Wir waren der einzige Wagen.

„Und Sontheimer?“, fragte ich.

„Ich muss ihn anrufen“, flötete beflissen unser Erstsemester.

Dafür musste er sich wieder entfernen, Geheimniskrämerei….

„Er erwartet uns“, sagte er und hielt mir wieder als Entschuldigung die Tür auf.

Seufzend nahm ich die Geste an und plumpste wieder in den Beifahrersitz.

„Wir fahren zum Tatort“, sagte er mit jugendlichem Ernst und ließ den Motor an.

Der Tatort war anscheinend der Friseurladen am Ort. So ein Städtchen hatte überraschenderweise meistens mehrere, aber nicht mehr als drei oder vier. Dieser hier lag aber am Marktplatz, beste Lage, wahrscheinlich Traditionsunternehmen. Der Jungvogel führte mich in den Keller. Ich war neugierig auf die Leiche, musste aber erst mal Sontheimer begrüßen. Mittelgroßer Mann mit blondem Haarkranz und misstrauischen grünen Augen hinter einer Pilotenbrille, die trotzdem intelligent waren. Von wieviel Intelligenz, war ich mir noch nicht so sicher. Aber er hatte den Blick eines Hundes, der seinen Knochen nicht loslassen wollte. „Ach, sind Sie endlich hier“…… schaute auf die Uhr, „ich muss jetzt auch wirklich gehen, 80ter Geburtstag, Sie verstehen. Am besten fragen Sie Frau Under, sie kennt alle Einzelheiten, erster Bericht an mich bitte morgen früh. Ciao.“

Bevor ich Luft holen konnte, war er schon weg. Ich schaute mich um: Wir standen in einem Kellerraum, Regale an den Wänden, Boxen mit Friseurbedarf, relativ geordnet, in der Mitte frei, ein vergittertes hohes Fenster und unter diesem Fenster lag jemand.

Wer da lag, interessierte mich im Moment mehr als Frau Unger kennenzulernen. Da lag eine Frau, tot, Alter zwischen 50 und 60, rot lackierte Fingernägel, schwarz gefärbtes Haar, mit künstlichem Volumen. Auffällige Kleidung, Schwarz und bunt – und in ihrem Gesicht stand Entsetzen eingefroren. Wo war denn die Spurensicherung, die Fotografen? Wo ist Frau Unger? Wieso bin ich allein mit dieser Toten? Haben die alle Ferien? Bin ich hier für alle Jobs engagiert? Der Fahranfänger hatte sich auch verzogen, der mochte wohl keine Toten. Ich lief nach oben die Treppe hoch und sah eine weibliche Person, die oben rauchte, in der Sonne und mit dem Fahranfänger schwatzte, fröhlich, die beiden, recht fröhlich. Also sie mich aus dem Keller steigen sahen, wurden sie nervös, traten die Zigarette auf dem Boden aus, und Frau Unger war nun entschlossen, sich mir vorzustellen.

Aber ich war schneller: „Also, Sie sind Frau Unger und Sie rauchen gerne.“

„Ja, ja, ich bin gerade erst gekommen.“

„Wie?, Herr Sontheimer sagte, Sie wüssten Bescheid!“

„Nein, ich bin spät gekommen, ich war eigentlich bei einem Picknick am See.“

Stimmt, sie hatte noch einen Badeanzug an.

„Ich bin gleich bei Ihnen. Muss mich noch umziehen.“

Ach, so wusste ich, dass sie zur Spurensicherung gehörte.

Ich wartete unten auf sie. Endlich kam sie, zögerlich, in ihrem weißen Anzug und den Sicherheitsschuhen. Wortlos hielt sie mir auch welche hin. Da ich kein Spielverderber sein wollte, zog ich sie über, sinnlos, völlig sinnlos. Wenn ich schon samt Sontheimer hier unten herumgelaufen war. Aber sie war ein nettes, junges Ding und nahm solche Dinge noch ernst.

„Wer hat die Leiche gefunden?“, fragte ich sie.

„Ich glaube, es war ein Hausbewohner.“

„Ein Hausbewohner?“

„Ja, hier im Keller haben alle ihren kleinen Kellerverschlag, sehen Sie, da, den Gang entlang können Sie die Türen sehen. Aber der Vorratsraum hier war abgeschlossen. Ja, und er hat oben ein Sichtfenster.“

„Stimmt, an der Tür war ein Sichtfenster.“

„Da war ein Nachbar schon am Dienstagmittag zurückgekommen und wollte sein Mountainbike wieder in den Keller stellen, da hat er einen Blick hier hereingeworfen.“

„Und uns angerufen….verstehe. Ist der Mann noch da?“

„Er wartet im vierten Stock, in der Wohnung 4c.“

„Danke. Sie sind hier noch beschäftigt? Ich gehe mal nach oben. Warten Sie aber auf mich.“

Es gab hier keinen Aufzug, die Treppenstufen aus weißschwarzem Granitkörnchen mussten einzeln erklommen werden. Im vierten Stock brauchte ich erst mal eine Pause. Ich schaute mich um. Das Treppenhaus war senfgelb gestrichen, ein Hauseigentümer mit ästhetischen Ansprüchen. Man mochte sich und vertraute sich hier, man stellte sogar Pflanzenkübel für die anderen in den Flur. Also erwartete ich beim Klingeln in Wohnung 4c einen freundlichen jungen Mann. Den gab es auch, er öffnete mit einem so strahlenden Lächeln, dass ich fast geblendet war.

Zur Dämpfung sagte ich: Sie haben die Tote gefunden.

Wenn man das so sagen kann. Ich habe sie nur als erster gesehen und wollte ihr helfen. Aber die Tür war abgeschlossen. Da habe ich gleich die Polizei gerufen. Aber die kam erst nach 40 Minuten. Die mussten wohl erst geweckt werden.

Als er meinen bösen Blick sah, fügte er entschuldigend hinzu:

„Sie sind nicht von hier, nicht? Die Polizeistation liegt um die Ecke, aber da war wohl keiner…..verstehe ich nicht.“

„Kennen Sie die Tote?“

Zu meinem Erstaunen nickte er sofort: “Ja, das ist die Besitzerin des Friseursalons unten.“

„Oh, also ist sie in ihrem eigenen Keller gestorben…..“

„Ja, sieht so aus. Ist traurig, denn sie war richtig nett. Hat mir auch die Haare geschnitten, wenn ich gerade kein Geld hatte…“

„Tatsächlich? Also keine Feinde…“

„Sie benehmen sich ja wie im Fernsehen….wer hat denn schon Feinde in seinem Alltagsleben? Sie etwa? Ich nicht. Und so nennt man das auch gar nicht….“

„Na gut, hatte sie Ärger mit jemandem?“

„Wenn überhaupt, dann mit dem Hauseigentümer….“

„Ach ja?“

„Ja, der will eine 20% Mieterhöhung durchsetzen.“

„Und sie war dagegen?“

„Na ja, sie sagte, das würde ihren schmalen Gewinn auffressen….“

„Betreibt sie den Friseurladen schon lange?“

„Ich glaube schon, aber da müssen Sie mal die alten Damen über mir fragen, die sind schon länger hier. Ich weiß nur, dass sie schon lange da ist, viele alte Kunden hat, aber trotzdem weiter ausbildet. Mir hat sie immer gesagt, das Geschäft lohne sich eigentlich gar nicht mehr, aber sie mache weiter, weil es besser sei als gar nichts zu tun. Und es ist eine Stütze für die alten Damen in der ganzen Nachbarschaft, Sie wissen schon, die so einmal die Woche hierherkommen, um sich ihre Wasserwellen legen zu lassen.“

„Sich kennen sich aber aus….Ich dachte, die Spezies mit Wasserwellen sei ausgestorben…“

„Noch nicht ganz, meine Urgroßmutter gehörte auch dazu, aber das ist schon Legende….Haben Sie schon mal von Wäscheblau gehört?“

„Nein“, sagte ich erstaunt, „Sie etwa?“

„Ja, Frau Greiner, die Besitzerin hat mir das erzählt, die alten Damen lassen sich die weißen Haare blau färben mit Wäscheblau.“

Mehr wusste der erstaunlich lustige Mountainbiker aber auch nicht, und ich musste mich nun losreißen von seinen kornblumenblauen Augen und meine Arbeit anderswo machen.

Ich klingelte ein Stockwerk weiter oben bei den alten Damen, die zu zweit in einer recht großen Wohnung saßen. Es roch nach Lavendel und gutem Pfefferminztee.

„Möchten Sie auch eine Tasse?“, fragten sie sofort und ihre weiße Haarwolke, die tatsächlich einen Stich ins Blaue hatte, nickte dazu.

Zu meinem eigenen Erstaunten hörte ich, wie ich mit „ja“ antwortete.

Also saßen wir bald zusammen im Wohnzimmer in ihrer vergangenen Zeit, in der jeder Tisch seine geklöppelte Spitzendecke hatte und Geschirr sehr dünn und vergoldet war.