Für Mütter - Heinke Stulz - E-Book

Für Mütter E-Book

Heinke Stulz

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Beschreibung

Für Mütter und solche, die nicht so werden wollen. Mutter werden ist eine Metamorphose, die man staunend an anderen und an sich selbst erlebt. Die Sicht auf die Welt dreht sich, die Sicht auf uns selbst erkennen wir nciht wieder, wir verändern uns rasant, ohne es beeinflussen zu können. Niemand, der das nicht selbst erlebt hat, würde uns das glauben.

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Einen Dank für die eindrucksvollen Illustrationen an Ellen Loh-Bachmann.

Für das Korrekturlesen danke ich Kerstin Schmidt und Ute Schneider. Und meinem lieben Ehemann für die fachmännische Begleitung am Computer.

Inhaltsverzeichnis

MORGENDÄMMERUNG – Die Kleinkinder

Es wird geboren

Sandkasten

Der kleine Kaiser

Lob der Stille

Welchen Geschmack hat eine Mutter?

Wen erziehen wir zuerst?

Die Fleckensuchbrille

Erlebnisse

Familienidyll

Drama 1 - Das Opfer

Drama 2 - Die Nachtwächtermutter

Drama 3 - Die Übermutter

GOLDENES ZEITALTER – Schulkinder

Mutterliebe

Kaffee und Kakao I

Kaffee und Kakao II

Kaffee und Kakao III

Die Strafe des Damokles

Heile Welt in Rosa

Morgenmuffel

Liebes Christkind

Ich will nicht erwachsen werden

Gestohlene Kindheit

Die Mutter, ein Dinosaurier

Alle zusammen

DER TUNNEL - Jugendliche

Die Mutter als Hohepriesterin

Kinder-Briefe

Verpuppung

Gehst du mit?

Ohne uns

Kaffee und Kakao IV

Kampf mit Jungens

Kampf mit Mädchen

Eigenes Zimmer

Der Hausgeist

Kokon

Haben Kinder Kultur?

Vorbildfunktion

Chillen

Sollen wir es glauben?

Gespräche im Auto

Zweite Geburt

Du verstehst gar nichts

Peinlichkeiten

Anhang: Dialog Mutter-Tochter in Shanghai

MORGENDÄMMERUNG

Die Kleinkinder

Es wird geboren

Die Schwangerschaft ist ein gewaltiges Ereignis, es ist wie mit einem Boot alleine auf ein unbekanntes Gewässer fahren, wie ohne Taschenlampe und ohne Führer in eine dunkle Höhle klettern, wie mutterseelenalleine in einer fremden Landschaft stehen und nicht wissen wohin, sich von einer Brücke werfen an einem brüchigen Gummiband. Man muss sehr viel Vertrauen haben in die dunkle Natur und in sich selbst. Nicht alle haben das.

Es hilft nicht, dass Susi viele kannte, die es schon erlebt haben, trotzdem weiß sie nicht, wie es für sie selber sein wird.

Um diesen Schritt ins Unbekannte zu vernebeln und zu versüßen, um die Angst zu nehmen, wurden die Muttermythen erfunden, von den Hebammen, von der Werbung, von den mütterlichen Ratgeberinnen. Allesamt süß, golden und sentimental. Nebelkerzen. Blauer Dunst. Wenig Wahrheit.

Die Gefühle, die eine schwangere Mutter begleiten, sind von der Tagesform abhängig.

Es gibt Tage, an denen Susi es vorziehen würde, kein Kind in sich zu haben und nicht schwanger zu sein, an denen sie den Tag verflucht, an dem sie den Vater des Kindes zum ersten Mal gesehen hat, an denen sie die Vorstellung, für immer ein Kind zu haben, nicht ertragen kann.

Und es kommen auch die Tage voll süßer Wonne, wo sie das Wunder erlebt, dass jede Empfängnis bedeutet, ein neues Leben beginnt, mit geschlossenen Augen, voll blinden Vertrauens, in Hoffnung auf Schönheit und Liebe, jedes Kind ein Versprechen, jedes junge Leben ein leeres Buch, mit verheißungsvoll leeren Seiten, vollgeschrieben mit unsichtbarer Tinte, die wir zu lesen versuchen, aber nicht können. So weiß, füllen wir sie mit unseren Hoffnungen und Sehnsüchten.

Und Susi fühlt sich auserwählt und beglückt, auch dieses ist wahr. Bis sie wieder einmal in den Spiegel geschaut hat.

Auch diese rosa Tage sind wahr, genauso wie die anderen, die schwarzen.

Irgendwann wird das Kind zu groß, es muss hinaus. Es will nun doch geboren werden.

Und da ist es nun. Das Kind. Die Hebamme sagt, es sei gesund, und was noch an Kommentaren von den Umstehenden kommt. Susi mag gar nicht hinschauen, so lange hat sie diese Vorstellung mit sich herumgetragen, dass da ein kleines Ich, eine kleine Susi herauskommen wird, denn als solches hat sie es neun Monate gehegt und gepflegt, andernfalls...wer weiß. Sie scheut den ersten Kontrollblick, scheut davor zurück, und was ist, wenn nicht....? Irgendwann kann sie es nicht mehr länger hinauszögern.

Da ist ES! Oh, es ist kein kleines Ich. Gar nichts zu tun damit. Nicht mal die gleichen Haare. Grauen erfasst sie. Ein unbekanntes Kind. Das hat sie die ganzen neun Monate in sich getragen. Es ist fremd und sehr anders und dieses...ist jetzt also nun ihr Kind. Und dieses da ist jetzt plötzlich per Beschluss von ganz oben ihr Kind, das sie nun ein Leben lang... was für eine Zumutung! Nein, nicht dass es ihr nicht gefiele... Es ist nur... Wer weiß, was da so alles hätte ankommen können! Man stelle sich nur vor! Und lasse die Phantasie nur gerade ein kleines bisschen die Zügel schießen... ja, ja, eben, seht ihr, was sie meint. Man stelle sich nur vor!!!

Also hat sie nun ein Kind. Da es zu ihr gekommen ist, Irrtum ausgeschlossen, müssen sie sich nun aneinander gewöhnen. Dem leeren Fotorahmen mit dem Kind als solchem, den sie natürlich längst mit einem Foto aus ihrer eigenen Kindheit gefüllt hatte, wird jetzt resolut ein aktuelles Foto eingeschoben, keine Illusionen mehr, bitte. Das reale Kind ist da. Das hier ist es, genau hinschauen, einprägen, merken. Ja. Natürlich ist es, wie alle Kinder für Mütteraugen, ein hübsches Kind, aber wenn sie den Vorgang so aus der Ferne betrachtet, nur den Vorgang als solchen...bleibt es eine Zumutung. Daher die Angst vor Kindesverwechselungen. Als ob das einen Unterschied machen würde...

Jetzt ist es also da. Die Gefühle entsprechen wieder nicht dem Mutterbuch. Keine Fanfaren, keine Engelschöre singen. Wenn das Kleine schon etwas sehen könnte, würde es bestimmt genauso misstrauisch äugen wie seine Mutter und sich anschauen, bei wem es da zu Hause ist, denn diese Person kannte es ja bisher auch nur von innen. Und ob innen und außen zusammen passt? Aber die Kleinen haben es da besser als die Mütter, sie sind nur mit sich selbst beschäftigt, so als neuer Nabel der Welt.

Siehe da, die erste Hürde für junge Mütter, die Susi nehmen muss, die auch in keinem Mutterbuch steht: lerne dein Kind lieben, dieses Unbekannte mit Pickeln und Grind.

Es helfen die Hormone. Mutter Natur, auch eine Mutter, kennt ihre Schäfchen und schüttet großzügig Liebesdrogen aus, auf beide, damit es auch klappt mit der Liebe. Manchmal klappt es aber auch nicht.

Ist das Kind hässlich, und das sind sie in den ersten Monaten meistens, geht Susi niedliche Kleidchen und Höschen kaufen, damit sie wenigstens die Kleidchen verzückt anlächeln kann; gehört es zu den wenigen hübschen, kauft sie trotzdem die Kleidchen, damit es die anderen wenigen hübschen, falls sie sich treffen, ausstechen kann.

Je nach Hormonsensibilität hört man die junge Mutter, teils wegen der Lektüre des Mutterbuchs, teils wirklich aus eigener Überzeugung, bald sagen: "Oh, für mich ist es das allerschönste Kind. Schau nur, wie es mich anlächelt!"

Mutter Natur, die alte Giftmischerin, lächelt sonnig, sie hat wieder gute Arbeit geleistet.

Man stelle sich nur vor: junge ehrgeizige Frau, gar nicht auf den Kopf gefallen, sagt nun allen Vergnügungen Adieu, der Arbeit, den Freundschaften, dem Sport, allem, womit sie früher ihre Tage vollgestopft hat, ohne Angabe von Gründen, um sich stattdessen ausschließlich einem runzligen, schreienden, schmutzigen Sechseinhalbpfünder zu widmen, und das nicht nur ganztägig, sondern auch nachts.

Obendrein behauptet sie steif und fest, glücklich zu sein.

Das geht nur unter Drogen.

Der Körper wehrt sich gegen diese Überschwemmung, er entwickelt eine postnatale Depression. Er kann es nicht fassen, dass er nun alle Stunden des Tages und der Nacht an diese kleine Kreatur gefesselt sein soll. Voll verantwortlich vor sich, vor der Familie, vor der Welt für diese kleine Knospe. Ohne Pause, ohne Gnade, ohne Entschuldigungen.

Nie, nie wieder frei!! Dafür nun wirklich zu zweit.

Die Gefühle schwanken wie die Weiden im Wind. Einmal fühlt Susi sich auf die hässlichste Weise hintergangen, gefangen, missbraucht. Dann wieder ist sie so verliebt in dieses kleine Wesen, in seine Gerüche, auch die schlechten, seine Haut, jede seiner Bewegungen, dass sie es immer bei sich tragen möchte, es beißen möchte und nie wieder aus den Augen lassen.

Nachrichten, Strompreiserhöhungen, das Arbeitsleben des Vaters, all das tangiert sie nicht mehr. Gefangen schwebt sie dahin in einer rosenroten Seifenblase, die die Mutter und das Kind umhüllt, trunken vom Glück einer neuen Liebe, geborgen in einer kleinen Welt, die nur von zwei sehr naheliegenden Personen bevölkert ist, wo es nur ein Ich und ein Du gibt.

Eine sprühende, überirdische Zeit, in der es keine Einsamkeit gibt, man ist zu zweit in der Kugel, durch warme Liebe verbunden, Haut an Haut, berauscht von der Gegenwart des anderen.

Die kalte, äußere Welt bleibt draußen, in ihrer kleinen inneren Welt gibt es nur den utopischen Hochsommer.

Eine große, junge Liebe eben, eine von der ewigen Sorte, die alle mit Ehrfurcht erfüllt.

Kein Wunder, dass der Vater eifersüchtig wird.

Die sind auf Urlaub im Paradies.

Draußen hängt ein Schild: "Bitte nicht stören".

Und wehe, einer tut es! Er wird einfach nicht gehört. Alles, was er Kritisches sagen will, geht an tauben, undurchlässigen Ohren vorbei.

Aber zuhören darf er und neidisch sein.

Nur wenn die Hormone die Seifenblase wieder einmal schrumpfen lassen, kommt die Mutter heraus in die kalte Welt und sucht jemanden, bei dem sie sich beklagen kann, in der Sprache, die in der kalten Welt verstanden wird, über den Verlust ihrer Freiheit, die Verkindlichung und die Simplizität ihres Lebens jetzt, so anders.

Darum kann man auf die Frage, ob junge Mütter glücklich sind, keine abschließende Antwort geben.

Sandkasten

Die Epoche, die nun folgt, sind die Sandkastenjahre, für die Vicky erst einmal trainieren muss. Für sie ist es mindestens zwanzig Jahre her, dass sie sich eine Blüte in buddhistischer Versunkenheit 12 Minuten und 35 Sekunden lang angeschaut hat. Das Wunder des ersten Regentropfens nach einem langen Sonnentag, gemalt in ein erschrecktes zweijähriges Gesicht, dürfte ähnlich lange zurückliegen. Und im Sand wühlen mit nackten Zehen, nicht aus Koketterie, sondern aus unschuldigem Vergnügen, wann war das das letzte Mal?

Vicky muss lernen, in die Kinderzeit hineinzupassen. In der Kinderzeit geht alles sehr langsam, wie in Zeitlupe, denn alles erzeugt so starke Gefühle, durch die man hindurchgehen muss. Sie kommen auf, brausen, stürmen und ebben wieder ab. Das hat sie seit der Adoleszenz, seit dem Erwachen der Ratio nicht mehr so erlebt. Also, zurück, zurück, noch ein Stückchen, bis in die tiefe Kindheit hinein mit der Mutter.

Wenn sie es schafft zu fühlen wie das Kind, kann sie selbst in einer zweiten Kindheit die Wunder der Welt wieder frisch und neu erleben, es ist wie eine Wiedergeburt.

Bleibt sie aber die Erwachsene, die erlebt mit der Geschwindigkeit und Oberflächlichkeit der erwachsenen Gefühle, dann wird sie es schwer haben. Dann wird sie es nicht erwarten können, dass ihr Kind wächst und wächst und dann endlich so groß und klug ist wie sie selber, damit sie mit ihm reden kann, so von Gleich zu Gleich.

Dann aber hat sie das Kind durch seine Kindheit gejagt.

Für die Kinder ist die Welt so schön und schrecklich, frisch und großartig, alles ist ein Mirakel, alles ist geheimnisvoll und wert, es zu ergründen.

Durch Kinderaugen lernen auch wir wieder die Welt so zu sehen.

Die langen Stunden am Sandkasten. Aufpassen, dass es keinen Sand in den Mund steckt, keine Käfer, nicht wegläuft! Und dabei kann Vicky nicht lesen, nein! Es entgeht ihr sonst zu viel, im Buch und beim Kind. Und wenn sie gerade mitten in einem wirklich fesselnden Abschnitt steckt und in diesem Moment gebeten wird, den zwölften bröseligen Sandkuchen mit kieseligen Erdbeeren zu kosten... dann legt sie resigniert das Buch weg, denn hassen möchte sie ihr Kind ja nicht in seinen unschuldigen Versuchen zu kommunizieren.

Also verzichtet Vicky lieber auf die erfreuliche und intelligente Unterhaltung durch das Buch, um Geduld und Freundlichkeit für das Kind zu haben. Auch Musik hören geht nicht, sie wird sofort dabei gestört! Die Mama langweilt sich offensichtlich und muss unterhalten werden, wenn sie da so mit Ohrstöpseln im Kopf leeren Blickes in die Wolken starrt. Nichts wie hin und sie aufwecken, noch ein Sandkuchen oder schaukeln, vielleicht, liebe Mama.

Auch Unterhaltungen am Sandkasten, die einzige Vergnügung, die ihr bleibt, finden ganz anders statt als die Kinderlosen das gewohnt sind. Nicht konzentriert, nicht intensiv, nicht von widerspiegelndem Minenspiel begleitet, nein. Nur sehr extensiv, die Art von Gesprächen, die sie früher verachtet hat, dieses oberflächliche Dahingeplätscher, zerdehnt, unterbrochen, mit unendlicher Geduld wieder angeknüpft und weitergeführt, mal mit Gesprächspartner, mal ohne, die Sätze flattern unvollendet in der Luft, drehen sich im Kreis, fallen nicht gehört zu Boden, werden vielleicht wiederholt, vielleicht auch nicht, denn wichtig sind sie meistens nicht. Aber etwas anderes zu tun gibt es nicht. Und wer möchte denn schon stricken und dauernd die Nadeln ablegen, wenn wieder Käfer- oder Kampfalarm ist?

Diese langen Stunden am Sandkasten sind eine Lektion in langsamem Leben, im Genießen von Muße, darin, Urlaub im Alltag zu haben. Erinnert an Yogaübungen, tibetanische Meditationen, esoterische Versunkenheit, eigentlich nicht Vickys Fall. Wenn man es bei anderen sieht und selbst keine Zeit dafür hat, findet man es großartig und beneidenswert. Aber wenn man dann selbst dran ist und jeden Tag stundenlang meditieren soll, dann merkt man doch, dass man sich von diesem ruhevollen, vegetativen Stadium des Lebens schon weit entfernt hat.

Sie kann sich auch so schlecht darüber beklagen. Über die Morgens-, Abends- und Einkaufshektik mit dem Kleinkind zu schimpfen, fällt leicht, und wird auch von jedem verstanden, sogar vom Ehemann.

Aber schimpfe mal über die öden Stunden am Sandkasten, die dem Kind offensichtlich so gut tun! Da wird sie selten eine Person finden, die nicht die Stirn runzelt bei dem vergeblichen Versuch, die entsprechenden Gefühle nachzuempfinden.

Denn Muße ist ja gerade das, wovon die meisten Vielbeschäftigten träumen! Auch wenn sie eigentlich nicht viel damit anfangen könnten, wie sich bald herausstellen würde, kämen sie unerwartet doch in den Genuss von so viel freier Zeit, wie die jungen Mütter sie haben.

Vicky sitzt am Sandkasten, die Sonne scheint großzügig, die Vögel zwitschern gedankenlos, außer ihr und der unsäglichen Frau Meier ist heute niemand draußen, und weit weg, anderswo, hört sie das Leben an ihr vorbeirauschen, wie ein wilder, tosender Strom. Die Vögel hört sie gar nicht mehr, so ist sie darauf versessen, dieses kräftige Brummen und Rauschen in der Ferne zu verfolgen, wo sich was bewegt, wo Menschen Ziele verfolgen, Erfolg, Misserfolg haben, in den nächsten fünf Minuten schon etwas anderes tun, ja dort, wo es spannend ist, wo das pralle Leben poppt, wo man nicht einmal zum Nachdenken kommt.

„Auszeit“ nennt man das in modernem Deutsch. Da steckt „aus“ drin, draußen ist sie, „out“ in brutalem Englisch, außerhalb, auf einer Kinderinsel, abgeschnitten vom normalen Leben, denn aus dem Haus kann sie nur sehr selten ohne Kind, fast nie, denn das ist teuer. Das ist dann eine Ausnahme, ein Ausflug, ein festlicher Anlass, und selbst dann ist sie ja nicht wirklich draußen. Die eine Gehirnhälfte beschäftigt sich weiter unablässig mit dem Kind, bewusst oder unbewusst, wo auch immer sie sein mag und mit wem sie gerade spricht.

Wirklich Feuer und Flamme ist sie deswegen nur, wenn sie über ihr Kind sprechen darf, nur dann kann sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit ins Gespräch stecken. Zum Leidwesen der Frauen ohne Kinder, die dann überraschend früh müde werden, und das zum großen Erstaunen der jungen Mutter („Geht es dir auch immer so?“), die dann endlich wieder zu ihrem Kind zurückkehren darf.

Die Freunde von früher, als man noch keine Kinder hatte, finden es schwierig, mit der so veränderten Frau umzugehen. Die meisten Themen, bei denen sie sich früher mit Energie eingehakt hat, lässt sie heute zerstreut an sich vorüberziehen.

Sie wurde in eine andere Welt geworfen und versucht nun, dort zu überleben. Aber diese Welt ist so anders. So existentiell und so konkret. Immer geht es um das Leben des kleinen Geschöpfs und dies anhand von bedrohlichen Kleinigkeiten. Sie muss dafür sorgen, dass das Kind überlebt und gut überlebt, sie darf keinen Fehler machen, nichts übersehen, obwohl der Job neu für sie ist: die Stopfnadel auf dem Boden etwa, den Luftballon, das Messer auf dem Tisch. Wachsam sein, immer, oder den Posten mit genauen Instruktionen an eine andere Person übergeben, wobei immer die Frage bleibt, ob man ihr auch wirklich trauen kann.

Das ist so, wie wenn der Kommandant einer belagerten Festung plötzlich unter eine heitere Geburtstagsgesellschaft geriete. Er wird schweigsam sein, gedankenverloren und abwesend. Seine Welt ist eine andere, und er kann sie nicht einmal einen Augenblick verlassen, weil er die Verantwortung nie ablegen darf.

Darum fühlen sich vor allem junge Mütter am wohlsten im Kreis anderer Mütter, mit denen sie die Gedanken, die sie den ganzen Tag bewegen, besprechen können.

Aber sie weiß natürlich, dass sie von Zeit zu Zeit wieder einen Ausfall in die Erwachsenenwelt machen muss, mit dem Babyphon den Kontakt mit dem Kind haltend, sonst verkindlicht sie ganz.

Natürlich wird sie mit den Kindern wachsen und auch wieder erwachsen... aber viel langsamer, hinterherhinkend, die Kinder werden schneller erwachsen.

Der kleine Kaiser

Das Kind auf dem Schoß, Stunden vor dem Fenster, durch das sie zuschauen, wie der Garten sich am Regenwasser sättigt. Dasselbe Liedchen 36mal hintereinander singen, ohne Variation, immer gleich. Und das Kinderlachen, noch frei von Häme, frei von Bosheit, frei von Traurigkeit, pure Freude, Lebensfreude, an sich, an der Mutter, an allem, was es umgibt, gluckert da aus seiner Kehle. Auch in den kindlichen Wutanfällen, selbstgerecht und höchst zornig, weil natürlich im Recht, steht das kleine Ich da, noch ungebrochen von fremden Moralvorstellungen, der kleine Kaiser der Welt, dem alles gehört, was er sieht, denn alles existiert ja nur für ihn, nur seinetwegen.

Alles verneigt sich vor ihm und erweist ihm die Reverenz. In diesem schönen Glauben lebt es lange, bis ...bis ein anderer kleiner Kaiser vorbeikommt... dann beginnt das Wundern und Infragestellen ihrer kleinen Weltordnung, wo sich alles noch um sie selber drehte.

Für zwei Kaiser ist auf dieser kleinen Welt kein Platz. Es beginnt der Krieg und die Erziehung.

Bisher hat Renate ihrem Kind immer nur alles zu Gute getan, es getröstet, gereinigt, angekleidet, gesäubert, gefüttert, unterhalten, belehrt, geduldig und meistens gut gelaunt, sie hat sich angestrengt. Dabei dachte sie sich, dass all die Geduld, die sie dabei aufgebracht hatte, eigentlich schon sehr viel verlangt war.

Aber es kommt noch schlimmer.

Irgendwann, spätestens in der berühmt-berüchtigten Trotzphase, muss sie dem Kind zum ersten Mal versagen, seine laut artikulierten und korrekt verstandenen Bedürfnisse zu stillen. Sie lässt das Kind alleine, wird Teil der bösen Welt und sieht ihm scheinbar teilnahmslos in seinem Leiden zu, wie es da herumtobt, weil das Bonbon die falsche Farbe hat.

Ein schwerer Schritt, denn es war so wonnig, sich immer als erwachsener Fortsatz des Kindes zu fühlen, Sorgen und Freuden mit ihm zu teilen, zu erleiden und zu erleben und zu lenken.

Nun muss sich Renate zum ersten Mal gegen das Kind stellen. Dies ist schmerzhaft, sie leidet dabei mehr als ihr Kind. Aber das Kind muss beginnen, die Grenzen seiner Persönlichkeit zu spüren, zu verstehen, wo es aufhört und die Mutter anfängt, zu lernen, sich von der Mutter zu unterscheiden. Erster Ablösungsprozess, weitere werden folgen.

Es ist das erste Mal, dass nicht nur die Welt ihm Widerstand entgegenbringt, sondern auch seine eigene Mutter. Seine eigene Mutter wird zum Feind, der mitleidslos zusieht, wie es doch so sehr weinen muss. Schlimmer noch, die Mutter geht vielleicht sogar aus dem Zimmer und zieht die Tür hinter sich zu.

Zum ersten Mal betrachtet es sich selbst, traurig, als einzelnes Wesen, das von seinen heftigen Gefühlen und Wünschen gequält wird und nicht weiß, was es mit ihnen anfangen soll. Diesmal kann es sie nicht, wie üblich, auf die Mutter abladen, um sich von ihr trösten und aufrichten zu lassen. Jetzt muss es das selbst tun! Das ist die erste Unabhängigkeitserklärung! Der erste Schritt in die Souveränität. Unfreiwillig und ohne Freude.

Bisher hat immer die Mutter seine Schmerzen, Freuden, Wutanfälle verwaltet und versorgt und bezahlt. Es musste sie gerade mal empfinden und dann der Mutter melden, die wusste dann schon immer, was zu tun war mit diesen Gefühlen, die in seiner Brust tobten und das Kind belästigten.

Bei Schmerzen ein Pflaster oder sonst was Schönes, bei Wut das Ventil sportlichen Ehrgeizes suchen oder den Tisch hauen, bei Traurigkeit eine gute Portion Mama, bei Freude fällt dem Kind meistens genug selber ein. Jedes Gefühl bekam seine Form, die ihm die Mutter vorgab, und auf diese Weise wurde es durchlebt, gestaltet und abgeschwächt, so dass es einen nicht mehr so quälte in seiner Heftigkeit. Die Mutter, die Verwalterin der kindlichen Gefühle.

Nun aber sitzt es alleine im Zimmer, abgetrennt von seiner Verwaltung, von seinem Zentrum, und muss das alles selber machen. Seine Gefühle sortieren, sie verstehen, über sie nachdenken und etwas mit ihnen machen, damit sie ihm nicht wie Steine um den Hals hängen. Eine Menge Seelenarbeit. Das Kind muss sie alleine tun.

Dafür muss die Mutter sich in eine böse Hexe verwandeln, manchmal.

Jedes Kind hat von Geburt an ein Selbstbewusstsein wie der Kaiser von China. Es hält sich für die mit Abstand wichtigste Person in seiner kleinen Welt und denkt deshalb, dass ihm entsprechende Ehren und Vorrechte von allen Seiten gebühren. Es ist so rührend und ergreifend, wenn wir sehen, mit welch natürlicher Würde es nur nach den besten Sachen greift, sie jedem anderen streitig macht, denn sie gebühren ja ihm, dem Kaiser von China, das ist doch sonnenklar!

Beim Rennen muss es der erste sein, auch wenn seine kleinen Beinchen es nicht hergeben, aber diese Ehre muss man dem Kaiser einräumen, man muss ihn dann eben gewinnen lassen, so hat man einen Kaiser zu behandeln, denn es gibt ihn ja nur einmal auf der Welt. Und dass die Mutter nur ihm gehört, versteht sich ja wohl von selbst.

Nun muss man diesen niedlichen Egomanen in seiner angeborenen Anmaßung erziehen, zurechtbiegen, verkleinern, damit er mit den anderen Egomanen auf dieser Erde zurechtkommt.

"Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg´ auch keinem anderen zu!"

Diese harte und unliebsame Wahrheit muss man ihm eintrichtern, einbläuen, ... alles Worte, die aus einer handgreiflichen Epoche der Erziehung stammen.

So wird der arme Kaiser von China entthront, eine traurige Erniedrigung. Der Kaiser von China wird sich wehren und bittere, saure Tränen weinen über diese hässliche Welt, die ihn, den Kaiser von China, nicht willkommen heißt und ihn nicht behandelt, wie es ihm gebührt. Sogar seine über alles geliebte Mutter, nach ihm die wichtigste Person auf diesem Planeten, vergreift sich manchmal im Ton! Dass auch sie ihn verrät, das hätte er nie von ihr gedacht!

Auch für Renate ist es der erste Verrat an ihrer großen Liebe, aber sie muss es aus Liebe tun, und das ist umso schwerer.

Wie viel leichter ist es, dem kleinen Kaiser von China seinen Willen zu lassen und ihn in seiner Ansicht zu bestärken, dass er bei weitem der größte und wichtigste von allen sei. So wüchse er dann zu einem großen und vielleicht von allen gefürchteten Tyrannen heran. Dann wäre man Mutter eines Helden! Vielleicht. Die Verführung ist groß!

Erzieht man sein Kind zu Höflichkeit und Rücksichtnahme auf andere? Oder macht man sich die Arbeit nicht, sondern bestärkt ihn in seinen überzogenen Ansprüchen und bleibt die über alles geliebte Mutter, loyale Untertanin seiner Majestät, die mit ihm in seiner selbstherrlichen Welt lebt, in der er als alles überstrahlendes Zentrum regiert

Das hat gewisse Vorteile, seine Majestät bleibt seiner Mutter immer besonders verbunden und verpflichtet, denn keine schätzt ihn so wie sie.

Auf der anderen Seite aber lässt die Mutter ihr Kind damit ganz unvorbereitet ins Messer laufen, wenn es nach draußen gehen will, um mit anderen Kontakt aufzunehmen. Vielleicht will sie das, unbewusst, denn die Erfahrungen draußen werden es nach Hause zurücktreiben.