Frauen im Gespräch und moderne Mythen - Heinke Stulz - E-Book

Frauen im Gespräch und moderne Mythen E-Book

Heinke Stulz

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Beschreibung

Launige Gespräche zwischen zwei Frauen über die kleinen und die großen Dinge des Alltags, die ihnen einen philosophischen Rahmen geben. Und: Mythen aus der Antike in die Jetztzeit transportiert und neu geschrieben.

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Für die Zeichnungen zu den Mythen sage ich herzlichen Dank an Stefan Wiezcorek, der sie extra für diese Ausgabe angefertigt hat.

Inhaltverzeichnis

Der Mantel

Gloria

Tomate

Weiße Orchidee

Unsichtbar werden

Schuhe

Dessous

Narzissus

What keeps you going?

Der smaragdgrüne Pullover

Hunger

Aktaion

Zu viel

Spieglein, Spieglein an der Wand

Sommerreigen I-III

Kassandra

Allein

Nichts

Hochzeitstag

Laptop

Pygmalion

Wahlverwandtschaften

Die Sonne

Vielleicht war es auch ganz anders

.....

DER MANTEL

A Bea, ich habe mir heute morgen einen neuen Mantel gekauft.

B Einen Mantel?

A Himmelblau, wie Vergissmeinnicht, weißt du?

B Anita, das trägst du doch nie.

A Als ich den anprobiert habe….

B Hast du in den Spiegel geschaut?

A Ja, und ich sage dir, da war eine andere Person im Spiegel. So attraktiv war sie!

B In diesem Mantel?

A Ja, das geht mir immer so. Jedes neue Kleidungsstück verwandelt mich in eine andere Person.

B Natürlich hast du den Mantel gekauft.

A Aber ja, natürlich, ich wollte unbedingt diese andere Person sein.

B (Murmeln: die andere Person in Himmelblau)

B Sag mal Anni, wenn du diesen Mantel jetzt am Körper hättest, wärest du jetzt diese andere Person?

A Ja, aber ich musste ihn leider am Eingang abgeben.

B Du hast dein neues Ich am Eingang abgegeben? Und jetzt bist du wieder hier als die Alte sozusagen.

A Ja, ist das nicht traurig? Am liebsten würde ich ihn gar nicht mehr ausziehen. Aber es ist eben ein Mantel.

B Du magst das Ich nicht, mit dem du gerade hier stehst?

A Ja und Nein, aber ich hätte jetzt schon gerne das andere. So elegant! Und diese Knöpfe!

B Einen Moment, bevor du diesen Mantel gekauft hast, himmelblau, mochtest du dein altes Ich aber ganz gerne?

A Na ja, es war das alte Ich, was ich die ganze letzte Saison getragen habe. So eher naturnah. Aber als ich dann das neue gesehen habe, in Himmelblau….

B Ich verstehe. Es gefiel dir einfach so viel besser.

A Ja, da sah ich so ladylike und zart aus. Bea, das ist Mohair, verstehst du?

B Ich mochte dein altes Ich, Anita. Dich hier. In deinem braunen Trenchcoat.

A Hm, ich muss mir gut überlegen, wann ich das himmelblaue Ich präsentiere. Denn alle werden mich dann ansehen und sich wundern.

(Denkpause)

A Man MUSS sich weiterentwickeln.

B Und ich dachte immer, das tut man durch Fortbildungen.

A Bea, ich habe mich noch nie durch eine Fortbildung weiterentwickelt.

Da erzählen sie dir immer nur, welche Art von Person SIE in fünf Jahren auf DEINEM Stuhl sehen wollen.

Das sind keine Persönlichkeiten, die mich interessieren.

B Aber Kleidungsstücke.

A Ja, das ist etwas anderes.

B Wie geht das, Annie?

A Ja, du siehst den Mantel oder eine Jacke – Ach, Bea, ich habe so eine edle schwarze Jacke gesehen!

B Anni, jetzt bleib mal bei dem himmelblauen Ich.

A Also, du siehst den Mantel und denkst: der sagt mir zu, der ist überwältigend, der hat etwas, was ich nicht habe.

B Ja, himmelblau ist nicht deine Farbe.

A Bis jetzt noch nicht! Und dann denkst du, wenn ich den kaufe, dann habe ich das, was der hat und ich nicht. Es ist dann Meins.

B Und die anderen….

A …sehen mich dann genau so. Das ist der Trick.

B Aber das ist doch nur äußerlich….

A Wichtig ist das, was alle sehen.

B Deine Fassade, nur deine Fassade.

A Bea, da irrst du dich.

B (Murmeln: ich irre mich, wirklich?)

A Das ist die MAGIE, Bea. Hast du jemals ein ganz ungewöhnliches Kleidungsstück getragen?

B Ja, Kommunion, Hochzeiten. Tanzschule! Gräßlich.

A Vielleicht ist das bei dir so. Die einen fühlen sich scheußlich, wenn sie ihr altes Ich bedecken müssen, wie versteckt, verkleidet, verleumdet.

B Ja, da bin ich. Und die anderen, Anni?

A Die anderen aber, die fühlen sich verwandelt, veredelt und wachsen in das neue Kleidungsstück hinein, lassen ein passendes, frisches Ich emporranken. Sie treiben Blüten in den neuen Kleidern.

B Ja, das habe ich schon einmal gesehen: junge Mädchen, wenn sie ihr erstes Cocktailkleid tragen. Sie verwandeln sich!

Es ist eine Metamorphose - wie bei den Raupen.

Sie werden Jahre älter, während sie den Reißverschluss zwischen der Seide hochziehen.

Und sie bekommen ein fremdes Gesicht, sobald sie in die Stilettos schlüpfen.

A Genau das meine ich, Bea.

Du trägst einen neuen Mantel, neuer Schnitt, neue Farbe und er färbt ab, auf dich, auf deine Persönlichkeit. Er ist keine Schale mehr, in der du dich versteckst, nein, er ist deine neue Form, er wirkt nach innen.

Es verwandelt dich wie die Kuchenform einen Kuchenteig.

B Kuchenteig? Das gefällt mir. Du steigst also in eine Kuchenform, in ein Abendkleid….

A ….und bist eine Prinzessin, die schönste im Saal.

B Und wenn du das Kleid wieder ausziehst?

A So ein Kleid willst du nicht wieder ausziehen.

B Nein, denn dann wird aus der Prinzessin wieder ein Aschenputtel.

A So ist es, aber bei Aschenputtel war es nur die Uhr, die sie dazu zwang, das Kleid wieder abzugeben.

B Und schon war sie keine Prinzessin mehr.

A Aber sie war eine, eine echte! Sogar der Prinz hielt sie für eine.

B (Murmeln: Eine frisch gebackene Prinzessin aus Kuchenteig, das ist gut.)

B Aber Anni, bei deinem Mantel hast du doch das Heft in der Hand, du kannst den Mantel aus- und anziehen, wann du willst.

A Tja, die Frage ist, welches Ich gerade am Zug ist.

B Das alte naturfarbene Ich will den himmelblauen Mantel lieber loswerden, stimmt´s?

A Ja, ja. Aber das neue, elegante Ich - das möchte den Mantel auf keinen Fall mehr ausziehen, sonst geht es vielleicht verloren.

B Du willst behaupten, dass du dieses neue Ich nur dann behalten kannst, wenn du den Mantel trägst.

A Ja, ist das nicht großartig, Bea! Diese Abwechslung…..wie eine Schauspielerin, immer neue Rollen.

B Immer neue Mäntel.

A Ja, so ist es, ich liebe es. So ist jeder Tag anders. Und wiederholen macht ja auch Spaß.

B Aber dann schillert dein Ich ja immer anders.

A Ja, das lieben die Leute an mir. Ich bin so erfrischend anders jeden Tag. Die Leute warten darauf, mich um zu sehen, welche Farben ich heute trage.

B Dann wissen sie, welches Ich du an den Tag legst.

A Ach, Bea, das ist herrlich. Herrlich! So macht das Leben Spaß!

(freut sich, klatscht in die Hände?)

B (Murmeln: das sehe ich, wie glücklich du bist)

B Ja, Anni, aber wer bist du denn dann eigentlich? Welcher Mantel?

A Das weiß ich auch nicht so genau. Ich habe auch das Gefühl, dass der letzte Mantel immer den neuen Mantel aussucht, ohne mich zu fragen.

B Jetzt wird es aber spannend. Deine Ichs gebe sich bei dir die Klinke in die Hand, ohne dich zu fragen?

A Bea, so kommt es mir vor.

B Du hast keine Kontrolle mehr über sie?

A Nein, denn die Ichs müssen ja sinnvoll aufeinander folgen, damit es wie eine Entwicklung aussieht. Sonst denken ja alle, ich bin irre.

B Stell dir mal vor, eine Person, die von ihren Kleidern regiert wird! Nein!

A Dann wäre sie ja eine kopflose Anziehpuppe.

B Statt Persönlichkeit eher Kuchenteig.

A Ach, Bea, da habe ich so einen Kashmir-Pullover gesehen, puderfarben, ich sage dir….

B Irgendeines deiner unentdeckten Ichs schreit danach, ich weiß….

B (Murmeln: Deine Einkaufstouren….)

A Man kann ja nicht immer beim gleichen Mantel bleiben…...

B Ich bleibe immer bei den gleichen Farben, der gleichen Größe, bei dem gleichen Marke.

A Warum überrascht mich das nicht, Bea?

B Aber jeder erkennt mich auch noch nach Jahren wieder.

A Nur die Anzahl deiner weißen Haare zeigen an, dass du dich weiterentwickelt hast.

B Äh, aber niemand wird annehmen, dass mich meine Kleider steuern.

A Natürlich wirst auch du von deinen Kleidern gesteuert, warum bist du wohl immer dieselbe, hm? Schwarz und Weiß. Innen und außen. Auch Kuchenteig.

B Ich mag mein Leben, deswegen soll es so bleiben, wie es ist.

A Aber wir sind doch Menschen, Bea, keine Steine, wir müssen wachsen und uns ändern.

B Aber nicht so, dass dich niemand mehr erkennt.

A Nein, nein, dafür sorgen meine Ichs schon. Der himmelblaue Mantel ist jetzt echt eine Ausnahme.

B Es muss also aber immer eine Weiterentwicklung sein bei dir? Immer weiter und höher? Wie ehrgeizig!

A Ja, so will ich es.

(A Murmeln: ja wirklich, das ist es, das will ich)

A Aber weißt du, was manchmal passiert, Bea?

B Ach bitte, Anni, verrate es mir.

A Manchmal kaufe ich Kleider, die ich schon im Kleiderschrank hängen habe, zum zweiten Mal.

B Das passiert mir jedes Mal, wenn ich einkaufen gehe.

A Ja du, du lebst ja langweilig.

Aber stell dir mal meinen Schreck vor. Diesselbe gelbe Seiden-Bluse im Schrank wie die in meiner exklusiven

Einkaufs-Tüte, aber die eine ist drei Jahre älter!

B Oh Anni, das macht die schöne Theorie von deiner ewigen Weiterentwicklung zunichte.

A Oh ja, das ist ein Schlag ins Gesicht, meine Vergangenheit springt mich an.

B So als ob du in den Jahren dazwischen gar nicht existiert hättest.

A Du verstehst mich. Ein Stillstand über drei Jahre, ohne dass ich es gemerkt habe.

B Das ist wie tot sein, oder?

A Totale Sinnlosigkeit.

B Drei verlorene Jahre.

A Bea, dann gibt es nur eins. Ich gehe los…..

B Und suchst etwas, was du noch NIE gekauft hast.

A Ja, in dem mich niemand erkennt! Der totale Sprung.

B Eine echte eigene Entscheidung. Ohne dein Ichs zu fragen.

A Sonst ist unser Leben vorbei, bevor wir es merken.

B Also ich kaufe neue Möbel, um die Jahre nicht zu vergessen.

A In denen du dann mit deinen alten Klamotten…

B Nein!

A Stimmt, mit deinen neuen alten Klamotten sitzt.

B Ja, tolles Gefühl. Wie Jahresringe umgeben mich meine Möbel.

A Dann verstehen wir uns ja doch, Bea!

B Anita, es lebe der Fortschritt! Egal, ob er fortschreitet oder in einem Fort auf der Stelle tritt!

(schauen sich an)

A Ja, auf alle meine Ichs, die mich immer höher entwickeln, immer weiter und weiter…..

B Auf alle meine Möbel! Solange sie noch in meine Wohnung passen!

A Über Schuhe könnten wir auch mal sprechen. Die verändern die gesamte Statur, nicht nur den Status.

B Oh, da kann ich mit Teppichen kontern, die haben so etwas Grundlegendes.

A Gut, nächstes Mal sprechen wir über die Dinge, die wirklich wichtig sind.

GLORIA

A Gestern hatten wir eine Fortbildung.

B Oh Schreck. Da wurdet ihr schon wieder gebildet? Demnach seid ihr ja nicht gebildet genug. Bei euch soll es ungebildete Angestellte geben? Eine unfreundliche Unterstellung. Hat die Gewerkschaft dazu nichts zu sagen?

A Eigentlich wollte ich dir jetzt von meiner Fortbildung erzählen, aber wenn du lieber über etwas anderes sprechen möchtest….

B Sag bloß, sie war interessant und erwähnenswert? Das hört man selten.

A Nein, war sie nicht. Aber die wurde von einer Frau gehalten, die kannte ich von früher.

B Ah, jetzt kommen wir der Sache näher.

A Ich kenne sie vom Studium her, 20-30 Jahre her also, Gloria heißt sie.

B Und, habt ihr nette Erinnerungen ausgetauscht?

A Nein, denn sie hat mich nicht erkannt.

B Das ist unfair.

A In der Tat, ich fühlt mich total verkannt. Für wen hielt sie mich? Aber ich habe sie klar vor mir gesehen. Wie früher. Halblange, blonde Haare, ziemlich schlank, braune Augen.

B Na ja, die Augenfarbe ändert sich auch nicht. Das ist der Vorteil der blauäugigen Menschen. Diese Juwelen behalten sie bis ins hohe Alter.

A Ich wollte aber nicht über blauäugige Menschen sprechen.

B Ich weiß, denn du bist ja nicht blauäugig.

A Genau.

B Du wolltest über dich sprechen.

A Aber ja, über mich.

B Darum geht es ja immer.

A Wenigstens, wenn ich aufgewühlt bin.

B Dies Gloria hat dich aufgeregt?

A Sie sah noch so gut aus nach 20 Jahren. Die haben ihr fast nichts angetan!

B Was brauchst du jetzt? Soll ich anfangen, ein Loblied auf dein Erscheinungsbild zu singen?

A Sie sieht immer noch umwerfend aus. Ein Loblied auf mich würde nicht viel nützen. Aber Danke, Bea.

B Also wollen wir sie jetzt schlecht reden, damit du dich besser fühlst, wäre es das?

A Ja, bitte, das hilft mir vielleicht seelisch etwas auf.

B Dann muss ich aber dir das Feld überlassen, denn ich kenne sie gar nicht.

A Oh, ich kann dir ein Foto von ihr zeigen.

B Ja, nicht schlecht, könnte noch als 40 durchgehen.

A Das hat zu mir schon lange niemanden mehr gesagt.

B Wäre ja auch gelogen….

A Ach, sei still, Bea. Aber Gloria. Diese blöde Kuh! Hat mir meinen ganzen Tag verdorben.

B Und wenn du sie nicht getroffen hättest?

A Wäre nichts passiert.

B Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die schönste im ganzen Land?

A Ihr, Frau Königin….

B Aber Schneewittchen hinter den 7 Bergen, die ist 1000mal schöner als ihr. Da hast du ein Schneewittchen gefunden.

A So eine böse Kuh, gibt bestimmt ihr ganze Geld für Botox und Massagen aus. Und Wellness-Wochenenden.

B Die du dir als Familien-Mensch nicht gönnen kannst.

A So wird es sein. Ich bin ein Opfer.

B Jetzt halt mal die Luft an, Annie. Die Frau Königin ändert sich doch nicht, weil ihr Schneewittchen begegnet. Sie sieht noch genau so aus wie vor der Begegnung.

A Ja, aber jetzt WEISS sie, dass sie nicht mehr die Schönste ist.

B Gut, die Sache mit der Königin ist klar. Die Superlative ist immer abhängig vom Vergleich. Aber du – du bist doch immer dieselbe, du musst dich doch mit niemandem, mit keiner vergleichen!

A Was soll ich sagen: Obwohl ich wirklich alles tue für meine Aussehen, harte Arbeit all die Masken und Bodybuilding – trotzdem sieht sie jünger aus als ich, und tut sicher nicht so viel dafür wie ich. Das ist so ungerecht.

B Ach Annie….ich als Versicherungsmathematikerin könnte dir jetzt sagen: Statistisch gibt es wahrscheinlich einen Haufen Frauen, denen es schlechter geht als dir, und einen anderen Haufen, die besser dastehen. Pech für dich, dass du einem Exemplar aus dem überlegenen Haufen in Gloria begegnet bist und nicht einer aus dem anderen Haufen, neben der du dich wie eine Königin so jung gefühlt hättest.

A Ja, wirklich Pech. Es hat mich so erschüttert.

B Ist aber reiner Zufall…

A Ja, leider! Hätte besser laufen können.

B Warum musst du dich auch immer vergleichen?

A Wie soll ich denn sonst wissen, welchen Marktwert ich noch habe?

B Du siehst dich doch jeden Morgen im Spiegel, oder?

A Im großen und im kleinen.

B Dann weißt du doch, wie du aussiehst?

A Aber nicht, wie ich so eingeordnet werde, wenn Leute mich auf der Straße sehen.

B Das wirst du nie wissen, außer du machst eine repräsentative Straßenumfrage: Entschuldigen Sie, aber für wie alt halten Sie mich? Und finden Sie, dass ich für meine Alter noch gut aussehe? Oder eher nicht?

A Sehr lustig. Würde ich dir glatt zutrauen.

B Aber was heißt das denn schon? Zufällige Auswahl von Leuten, die eine zufällige Meinung haben. Und daran willst du dein Glück aufhängen?

A Klingt doof, wenn du das so sagst.

B Ist es auch und wie! Stell dir vor. Jeder Mensch, der dir am Tag begegnet und dir zu verstehen gibt, dass er dich superhübsch oder vielleicht schon ziemlich angeranzt findet, von dem machst du dein Glück abhängig. Als ob du nicht jeden Tag in den Spiegel schaust und ganz genau wüsstest, wie du aussiehst. Du bist doch die Person, die dich am besten kennt, du bist dein ständiger Begleiter und dein Coach.

A Ja.

B Dann frag dich doch einfach selber, wie du dich findest. Und bleib dabei. Ist doch am Ende das Einzige, was zählt, oder?

Lass dich nicht von anderen in deiner Meinung korrigieren. Das würde ja heißen, dass du Unrecht hattest, dass du einer Illusion aufgesessen bist, dass du dich falsch einschätzt.

A Und das kann ja gar nicht sein!

B Nein, kann es auch nicht. Du gibst dir deinen Wert und halte ihn fest! Egal, wer dir begegnet und wenn die ewig junge Heidi Klump ist, die kann ihn dir nicht nehmen. Du bist du, egal, wer dir begegnet.

A Ja, kann doch nicht sein, dass Gloria mich so aus den Latschen wirft.

B Weder Gloria noch Heidi. Deine Selbsteinschätzung ist keine Illusion!

A Nein, du hast recht. Eigentlich bin ich ganz zufrieden mit mir, natürlich wäre ich noch glücklicher, wenn ich aussehen würde wie Gloria, so knapp 40!

B Du warst mal 40, zu einer Zeit, und da sahst du auch so aus. Und jetzt zeigst du das Alter, das du hast – ist normal, oder?

A Ja. Und die Gloria, die sah damals schon so jung aus. Die hat niemand in die Bars und die Clubs gelassen, weil sie so jung wirkte.

B Schau an.

A Wir mussten sie immer mitnehmen, sonst wäre sie nicht hinein gekommen.

B Vielleicht wäre es jetzt umgekehrt….

A Boh, bist du gemein. Dass sie mich nicht mehr reinlassen würden, weil ich zu alt bin….so eine Unverschämtheit! Und das von dir, Bea?

B Ach Annie, komme mal runter, wann warst du das letzte Mal in einem Club?

A Mindestens 10 Jahre her.

B Eben, ist was für 40Jährige. Lass es gut sein.

A Jetzt habe ich mich so über dich geärgert, dass ich mich wieder richtig gut fühle!

B Wenn das nicht der Sinn der Übung war!

A Selbstvergewisserung nennen wir das in der Werbung. Danke dir, Bea.

B Ich kenne dich doch, Annie! Sei du selbst, dann bist du froh.

A Ja!

B Ja.

A Ja!

TOMATE

B Gestern habe ich Gazpacchio gemacht.

A Lecker!

B Habe sehr viele Tomaten geschnitten!

A Das glaube ich dir.

B Wenn ich Tomaten schneide, könnte ich Buddhist werden.

A Du eine Buddhistin? In einer Kutte? Glaube ich nicht.

B Doch, wenn ich so die Tomate nehme….

A Liegt es an der Tomate?

B Nein, also ich nehme die Tomate und schneide sie durch mit meinem scharfen Messer.

A Ein stumpfes hätte ja wenig Sinn.

B Folge mir, Annie. Dann öffne ich sie und lege die beiden Hälften im Licht nebeneinander.

A Aha! Und wo ist Buddha?

B Die beiden Hälften, aufgeschnitten, liegen nun nebeneinander vor mir.

A Ja, hoffentlich.

B Ich sehe sie.

A Ich nun fast auch schon.

B Niemand vor mir hat sie je gesehen. Die Anordnung der Kerne, die Schattierungen des Rots, der Bogen der Oberhaut.

A Ich weiß, wie Tomaten aussehen.

B Niemand vorher hat das je gesehen. Und dann offenbart sich die Tomate mir, sie offenbart mir das Innere, diese Höhle in ihr, die bisher im Verborgenen gewachsen war.

A Ich folge dir nur mit Mühe.

B Nun ja, das springt mich dann an.

A Das Innere der Tomate.

B Wie eine Offenbarung. Ein Wunder!

A Was für eine Erfahrung mit einer einfachen Tomate. Die meisten müssen dafür ein Flugzeug besteigen.

B Nein, es geht auch mit einer Tomate.

A Und, bist du jetzt gläubig und betest zu den Tomaten?

B Sei nicht albern. Zu Tomaten muss man nicht beten, sie sind nur Symbole.

A Für die Geheimnisse der Natur?

B Für die Mysterien der Natur, zu denen wir trotzdem Brücken schlagen können, das ist das Faszinierende. Obwohl wir nur relativ blöde Menschen sind, gefangen in unserer Menschenwelt.

A Und da hast du es jetzt mal rausgeschafft.

B Ja, vielleicht habe ich den Sprung geschafft, in eine andere Welt.

A Die Welt der Tomaten….

B Eine fremde Welt. In die ich aber gelangt bin, denn alles Lebende hängt zusammen.

A O.k. Das ist der Buddhismus.

B Pantheismus, überall ist Gott.

A Und was machst du jetzt mit dieser Erkenntnis?

B Jetzt fragst du wie ich immer. Nichts eigentlich, aber es war wie ein Durchbruch, durch eine unsichtbare Mauer in eine andere Welt.

A Aha, jetzt verstehe ich langsam. So wie wenn Leute eine Gotteserfahrung haben oder in den Sciencefiction-Filmen einer in eine andere Dimension gerät.

B Und das alles mit einer simplen Tomate!

A War das eine von diesen neuen Antik-Tomaten?

B Nein, eine ganz normale.

A Aber mindestens Bio, oder?

B Ich muss dich enttäuschen, aber es war eine ganz normale Holland-Tomate aus dem Sonderangebot bei Rewe.

A Keine Bioverehrung also.

B Nein, ein kleines Wunder in einer ganz normalen Welt.

A Aber du hast sie danach gegessen?

B Ja, sicher, Gazpacho, es ging ja auch nicht um die Tomate, die wird ja nicht heilig. Es ging um die Erfahrung, da war die Tomate nur der Zünder. Es hätte auch eine Paprika sein können.

A Bei einer Paprika kann ich mir das besser vorstellen. Tomaten sind immer gefüllt im Inneren. Aber die Paprika, die überraschen mich auch manchmal. Die sind leer, irgendwo hängen die Kerne, viele oder wenige und manchmal gibt es drinnen noch eine Baby-Paprika in den seltsamsten Formen und Farben. Und ich habe sie entdeckt. Nach mir wird sie niemand mehr zu Gesicht bekommen, weil ich sie ja verzehren werde. Was für eine Verantwortung. Ich sehe diese Baby-Paprika, bin Zeuge, dass sie existiert, nehme sie wahr, nehme sie in meine Hand und nach mir niemand mehr.

B Ja, du bist die einzige Zeugin, dass sie existier hat.

A Faszinierend.

B Das finde ich auch. Deswegen werde ich mir auch nie einen Thermomix kaufen.

A Dann hätte man ja keine Chance mehr zu mystischen Erfahrungen mit dem Gemüse.

B So ist es. Die Küche ist ein Heiliger Ort. Da geht das Sein über den Tisch und wird von uns in andere Seins-Zustände gebracht. Ein Schöpfungsakt.

A Ich glaube, jetzt sollten wir aufhören, es wird zu mystisch.

B Hast recht, die kritische Schwelle ist überschritten, wir machen einen Schritt zurück und werden wieder realistisch.

A Nicht zu viel Mystik, bitte!

B Aber etwas schon. Um die Welt in einem anderen Licht zu sehen.

A Tomaten...

B Und Paprika lässt grüßen.

A Du könntest mir übrigens das Rezept für dein Gazpacho schicken.

B Wenn du die Erfahrung mit mir teilen willst.

A Das weiß ich noch nicht, ob ich das will. Aber auf jeden Fall kommt Gazpacho dabei heraus. Das mag ich. Schick es mir.

B Mach ich gerne. Was immer das für Folgen haben wird!

A Bei Gazpacchio kann nicht viel schief gehen.

DIE WEISSE ORCHIDEE

B Ich wage mich nicht mehr in meine Küche.

A Wieso? Sitzt da eine Spinne? Oder eine Ratte? Iiiiii Dann würde ich auch nicht mehr in die Küche gehen! Soll ich dir meinen Mann vorbei schicken?

B Ach, Annie, mit einer Ratte würde meine Katze schon fertig werden. Mit einer Spinne auch.

A Ja, was ist es denn dann, Bea?

B Es ist eine Orchidee, eine weiße.

A Hast du ihr etwas getan? Gießt du sie etwas nicht ordentlich?

B Aber sicher, das würde ich doch nie wagen, ihr Wasser vorzuenthalten.

A Äh, sind die besonders gefährlich?

B Weiß ich nicht. Aber die schaut mich an.

A Wenn du in die Küche kommst. Ah.

B Ja, du weißt ja, diese Orchideen haben Blüten wie kleine Mädchengesichter mit Hauben.

A Ja-a. Und die schauen dich an.

B Ja, und jeden Tag werden es mehr. Sie blühen, verstehst du?

A Dann stell´ sie doch woandershin, wenn sie dir Angst machen, die Blüten.

B Das geht doch nicht!

A Ja, warum denn nicht?

B Diese Orchidee stand im Zimmer meiner Mutter.

A Nein! Sie hatte also einen Ehrenplatz.

B Natürlich, sie war ein Geschenk von uns an sie.

A Sie hat sie noch erlebt, die Orchidee.

B Ja, sie hat sie noch gesehen. Du verstehst.

A Und jetzt vertreibt sie dich aus deiner Küche.

B Ich gehe nur noch nachts in die Küche.

A Ohne das Licht anzuschalten.

B Genau, ich ertrage diese Blicke nicht. Und es werden immer mehr.

A Der Orchidee gefällt es in deiner Küche, wenn sie all ihre Blüten öffnet.

B Jetzt, nachdem meine Mutter gestorben ist. Ist doch unheimlich.

A In deiner Küche hat sie sicher mehr Sauerstoff.

B Bitte, sei doch nicht so profan. Da steckt mehr dahinter als Sauerstoff.

A Mh, was denn zum Beispiel?

B Na ja, meine Mutter hat diese Orchidee noch gesehen, angeblickt sozusagen, und jetzt schaut sie mich an, mich!

A Die Blume schaut dich an?

B Durch ihre Blüten, ja.

A Und wo ist jetzt deine Mutter?

B Na, die schaut mich durch die Blüten an.

A Und du mit deinem mathematischen Verstand, du meinst das jetzt ernst?

B Sicher, ist doch eine einfache Gleichung. Mutter schaut Blüten an, Blüten schauen mich an, Mutter schaut mich an.

A Einfach, sagst du.

B Leider, unausweichlich.

A Hm.., aber du sagst doch, die meisten Blüten waren noch geschlossen, als deine Mutter sie gesehen hat.

B Das war vor fast 6 Wochen, ja.

A Die Blüten, die dich jetzt anschauen, die hat deine Mutter also nicht gesehen.

B Das ist zwar logisch, hilft aber nicht. Es gibt immer noch so ein paar Blüten, die sie selbst noch gesehen hat, und die einfach nicht abwelken wollen.

A Was machst du eigentlich, wenn die Orchidee abgeblüht ist? Kaufst du dir dann eine neue? Vielleicht in Rosa?

B Ja, ich kaufe wieder eine, aber wieder in Weiß, die ist ja dann auch ganz unschuldig. Die hat nie meine Mutter gesehen.

A Wo ist eigentlich das Problem, wenn dich deine Mutter aus den Blüten anschaut?

B Hör mal, willst du, dass dich deine Mutter in deiner eigenen Küche beobachtet?

A Wenn sie dabei den Mund hält….

B Aber meine Mutter ist gestorben. Das sind Geisteraugen.

A Also kann sie nichts sagen. Dann wäre es mir egal.