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In einer Wohnung in Hohwacht wird die brutal zugerichtete Leiche der ehrgeizigen Studentin Elin Petersen aufgefunden. Fast einen Monat später liegt in einem Salzwasserbiotop auf dem Graswarder in Heiligenhafen die erdrosselte Olivia Meindorf. Gibt es eine Verbindung zwischen den Morden? Als auf Fehmarn die junge Kellnerin Jolin Petrov verschwindet, ermitteln die Kommissare Westermann und Hartwig erneut. Ist ein Serienmörder auf der Jagd an der Ostseeküste? Und was haben Liebesschlösser mit den Morden zu tun?
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Seitenzahl: 742
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Heike Meckelmann
Küstenkiller
Kriminalroman
Bestialisch Die ehrgeizige Studentin Elin Petersen trifft sich mit einem Unbekannten in ihrer Wohnung in Hohwacht, um mit ihm die Nacht zu verbringen. Nur wenig später wird sie brutal ermordet von ihrer Mutter aufgefunden. Wurde Elin ihre Leichtgläubigkeit und ihr Drang zum unverbindlichen Sex zum Verhängnis? Knapp einen Monat später finden Anwohner in einem Biotop auf dem Graswarder in Heiligenhafen direkt an der Ostsee die ebenfalls erbarmungslos ermordete Olivia Meindorf. Hat sie dem gleichen Mann vertraut? Was verbindet die Frauen, die sich offensichtlich nicht kannten? Während die Kommissare Westermann und Hartwig ermitteln, verschwindet eine junge Ukrainerin, die als Kellnerin in einem Restaurant auf Fehmarn arbeitet. Handelt es sich um denselben Täter? Schaffen es die Kriminalisten rechtzeitig, die vermisste Frau aufzuspüren? Und was bedeuten die Liebesschlösser, die Charlotte Hagedorn während einer Fotoreportage für das »Fehmarnsche Tageblatt« entdeckt hat und welche die Initialen und das Todesdatum der ermordeten Frauen tragen?
Heike Meckelmann wurde in der Nähe von Elmshorn geboren und zog vor mehr als 30 Jahren auf die Insel Fehmarn. Sie betrieb nach dem Studium der Betriebswirtschaft auf der Insel lange Zeit einen Friseursalon und eine Hochzeitsagentur. Viele Jahre arbeitete sie in der Fotografie und nahm als Sängerin ein eigenes maritimes Album auf. Seit 2016 ist sie als freie Autorin auf Fehmarn tätig und schreibt Kriminalromane, die überwiegend auf der Insel spielen und Reiseliteratur. Über 20 Jahre mit einem Fehmaraner verheiratet, bezeichnet sie sich durch und durch als Insulanerin, die ihre Insel genauso liebt, wie die Geschichten, die sie auf der Sonneninsel schreibt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © denfran / Pixabay
ISBN 978-3-8392-7872-7
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Juni 2023
Das Telefon am anderen Ende klingelte zum 100. Mal. Ab einem bestimmten Zeitpunkt sprang der Anrufbeantworter an, verstummte wieder. Es war stockfinster und ekelerregend schwül. Der Geruch, der sich in der Wohnung ausbreitete, war feucht und tropisch. Riecht modrig. So könnte es in einer Gruft müffeln, überlegte sie, als ein Blitz die Szenerie befremdlich erhellte und einen Schauer über ihren Rücken jagte …
Hanna Jacobsen stand vor dem Fenster und stierte schweigend in die Dunkelheit, die sie umgab. Seit gestern versuchte sie, ihre Tochter zu erreichen. Aussichtslos, wie es den Anschein hatte. Sie nahm weder das Gespräch an, noch reagierte sie auf ihre unzähligen Sprachnachrichten. Ein Gefühl von Enge breitete sich in ihrer Brust aus, während sie ununterbrochen auf das Telefon in ihrer linken Hand starrte. Nur das Licht des Displays erreichte ihre Augen. Der Strom war ausgefallen, die Sicherung scheinbar durchgebrannt. Sie schluckte, der beklemmende Ring um ihren Brustkorb verengte sich zusehends. Mit dem Daumen betätigte die 46-Jährige die Wiederwahltaste, hielt den Hörer erneut gegen ihre Ohrmuschel und lauschte dem Freizeichen am anderen Ende. Der schrille Ton breitete sich zu einem Dröhnen in ihrem Kopf aus. Hanna holte tief Luft, weil sie das Gefühl übermannte, sie würde gleich ersticken. Schweigend zählte sie mit; sechs pfeifende Töne, dann sprang, wie schon etliche Male zuvor, der Anrufbeantworter an. »He Süße, melde dich. Ich mach mir große Sorgen. Wo steckst du?« Der Kloß in ihrem Hals schwoll an. Ihre Lippen zitterten.
Ein weiterer Blitz züngelte durch den Raum und bewegte Schatten über die kalkweiß getünchte Wand, als wollte er ihr drohen. Hanna zuckte zusammen und wich in die Dunkelheit zurück. Sie verglich die finstere Atmosphäre mit ihrem Gedankenwust. Die Arzthelferin brauchte dringend Sauerstoff und öffnete die Balkontür. Wieder ein gleißender Blitz. Sie fing lautlos an zu zählen und kaute an ihrem Daumennagel; eins, zwei … der knallende Donner, der folgte, jagte ihr eine Heidenangst ein. Ihr Herz klopfte, und sie hatte das Gefühl, es würde gleich stehen bleiben. Dann setzte ohne Vorwarnung Regen ein, der wenige Sekunden später hartnäckig gegen die Scheiben prasselte und daran herunterlief. Eilig schloss sie die Balkontür wieder. »Hoffentlich ist dieses Unwetter kein böses Omen«, flüsterte sie. Ihre Angst, ein Blitz könnte einschlagen und das Mehrfamilienhaus, in dem sie seit ewigen Zeiten lebte, in Flammen aufgehen lassen, lähmte die Arzthelferin. Die Ungewissheit, ihre Tochter nicht erreichen zu können, ließ sie fast verrückt werden. Wie ein Geist wanderte sie im dunklen Zimmer umher, hoffte, dass Elin bald reagierte. Hanna bettelte, dass sie endlich das verdammte Telefongespräch entgegennahm.
Die schlanke Sprechstundenhilfe warf beim nächsten Aufleuchten einen Blick auf das Außenthermometer an der Balkonwand. Sie fröstelte trotz der angezeigten 29 Grad Celsius. Hanna Jacobsen drehte sich um und guckte zur Uhr an der Wand. Jeder Sprung des Sekundenzeigers dröhnte wie ein Hammerschlag. Zehn Minuten nach Mitternacht. Sie stierte auf das Mobiltelefon, das bleischwer in ihrer Hand lag, und drückte von Neuem die Wiederwahltaste. Erneut sprang die Mailbox an. »Hallo, ihr Süßen, bin grad schwer beschäftigt. Hinterlasst mir eure Nachricht, ich rufe sicher zurück. Küssi.« Sie kannte die Worte auswendig und wollte sie einfach nicht mehr hören.
Hanna schluckte. »Verdammt, es reicht. Da stimmt etwas nicht.« Sie wählte die Nummer von Elins bester Freundin Rieka, während sie wie ein Tier im Käfig durch das Zimmer huschte. Vielleicht kann die mir sagen, wo sie steckt. Das hat sie noch nie getan. So kenne ich sie überhaupt nicht. Hoffentlich ist ihr nichts passiert! Hanna nagte an ihrer Unterlippe, bis sie blutete. Selbst wenn die Studentin 26 Jahre alt war und allein in ihrem Apartment lebte, so hielten sie seit jeher eine enge Verbindung. Sie waren mehr Freundinnen als Mutter und Tochter. Elin meldete sich mindestens einmal täglich. Spätestens, wenn sie von der Uni in Kiel in ihre Wohnung nach Hohwacht zurückkehrte.
Hanna Jacobsen wurde mit jedem Läuten des Rufzeichens gereizter. »Geh ran!«, krächzte sie. Die dunkelhaarige Frau lauschte dem wiederkehrenden Ton und kaute weiter an ihrem Daumennagel. Ihre Nerven lagen blank. Endlich meldete sich eine verschlafene Stimme. »Gott sei Dank«, flüsterte die Arzthelferin und spürte, wie der Ring um ihre Brust sich lockerte.
»Jo?«
»Hallo Rieka, hier ist Hanna. Sag mal, weißt du, wo Elin steckt? Ist sie bei dir? Ich kann sie nicht erreichen und mach mir echt Sorgen. Sie geht nicht ans Handy.« Ihre Worte klangen gequält.
»Nö, weiß ich nicht. Ich versuch es auch schon seit gestern. Wir wollten eigentlich zusammen ins Kino, aber sie hatte, wie es aussieht, etwas Besseres vor.« Die Stimme der Freundin klang nicht besorgt, eher angefressen. »Ich bin heute sogar zu ihr gefahren, um ihr die Meinung zu geigen. Stand wie ein Depp vor ihrer Wohnung. Keine Ahnung. Hat niemand aufgemacht. Brannte auch kein Licht in der Küche. Du weißt, dass sie das immer an hat. Wahrscheinlich ist sie für ein paar Tage abgetaucht und liegt jetzt mit irgendeinem Kerl auf der Matratze. Kennst sie ja. Wär ja nicht das erste Mal. Sie hätte mir wenigstens Bescheid geben können … die alte Kuh«, knurrte die 25-jährige Anwaltsgehilfin mit rauchiger Stimme. Sie unterhielt sich mit Elins Mutter, als wären sie beste Freundinnen. Es gab, wie es aussah, keine Geheimnisse zwischen ihnen. Hanna kannte ihre Tochter und wusste von deren lockerem Lebenswandel. »Rieka, ich kann mir das nicht vorstellen. Du weißt, dass sie sich meldet, oder etwa nicht? Selbst wenn sie abtaucht, wie du es nennst, ruft sie an. Und dass mir das nicht gefällt, ist dir bekannt.« Hannas Stimme klang auf einmal verbittert. »Ich glaub, da stimmt was nicht. Das spür ich. Ich fahr jetzt zu ihrer Wohnung und guck nach dem Rechten. Ich bin mittlerweile total von der Rolle. Es ist, als wenn mir jemand die Luft abdreht. Rieka, ich hab ein scheiß Gefühl im Bauch. Dann noch dieses verdammte Gewitter. Ich dreh hier zu Hause durch. Hab nicht mal Strom, die Sicherung ist durchgeknallt.« Hanna wartete, dass die Freundin ihrer Tochter antwortete. Elins Mutter schaute zum Fenster und verfolgte das Unwetter, das sich durch die große Scheibe wie ein Theaterstück vor ihren Augen abspielte.
»Warte, warte, ich komm mit. Lass uns vor ihrer Wohnung treffen, ja? Ich bin in einer halben Stunde da.«
»Ja, ist gut. Soll ich dich nicht abholen?«, fragte die 46-Jährige, die, genau wie die beste Freundin ihrer Tochter, in Oldenburg wohnte. Sie war sichtlich erleichtert, dass sie Unterstützung fand.
»Nee, bin schon auf dem Weg, bis gleich.« Hanna Jacobsen beendete das Gespräch und steckte das Handy in die Tasche ihrer kurzen Sporthose. Sie trat in den Flur, leuchtete den Raum mit ihrer Handytaschenlampe aus und zerrte ihre Kapuzenjacke vom Haken. Hastig streifte sie sie über die schmalen Schultern. Die zierliche Frau stürzte in Jogginghosen und Adidas-Latschen die Treppenstufen des Mehrfamilienhauses runter. Durch strömenden Regen überquerte sie den Parkplatz. Völlig durchnässt stieg sie in den Wagen und schüttelte ihre braunen schulterlangen Haare.
Wenig später befuhr sie im Schritttempo die Landstraße nach Kiel. Der Dauerregen ließ die Fahrt zu einer Angstfahrt werden. Die Arzthelferin erkannte kaum noch die Fahrbahn. Sie stierte durch die Frontscheibe, suchte immer wieder die weißen Streifen der Fahrbahnmitte. Die Scheibenwischer pendelten im schnellsten Gang von einer Seite zur anderen und quietschten nervtötend. Es erschien ihr, als schafften sie es nur mit Mühe, gegen die Wassermassen anzukämpfen. Hanna umklammerte mit schweißnassen Händen das Lenkrad. Sie hatte Angst vor Aquaplaning und Wild, das, aufgeschreckt vom Gewitter, die Straße kreuzen könnte. Die Strecke nach Kiel war für lebhaften Wildwechsel bekannt und gefürchtet. Steif wie ein Brett saß sie im Polster und versuchte, die Spur zu halten. Ihre Nervosität wuchs zunehmend. Nicht ein Fahrzeug kam ihr auf der einsamen Fahrbahn entgegen. Die Umgebung wirkte gespenstisch. Hanna kaute auf ihrer Unterlippe, starrte durch die Scheibe und wischte alle paar Minuten den milchigen Belag fort, der sich durch ihren Atem bildete.
Normalerweise dauerte die Fahrt nicht einmal eine halbe Stunde. Heute Nacht nahm die Strecke die doppelte Zeit in Anspruch. Die knapp 23 Kilometer schienen nicht enden zu wollen. Es blitzte und donnerte ständig. Hannas Nervenkostüm war zum Zerreißen gespannt. Unmengen Wasser ergossen sich über die Fahrbahn, und ihr Wagen geriet mehrfach gefährlich ins Schlingern. Sie war so konzentriert, dass sie für einen Moment die Angst um Elin verdrängte. Dann endlich bog sie nach fast 40 Minuten laut aufseufzend auf den Parkplatz ein.
Erleichtert kam Hanna Jacobsen auf dem Stellplatz ihrer Tochter zum Stehen und atmete mehrfach tief ein, um sich wieder zu beruhigen. Ihre Hände flatterten, als sie das Lenkrad losließ. Der Kloß in ihrer Kehle schwoll erneut an. Sie fühlte ihren Herzschlag bis zum Hals. Die 46-Jährige stellte den Motor aus und öffnete die Wagentür. Sie stieg aus, stülpte die Kapuze über. Dann rannte sie durch Pfützen und sintflutartigen Regen auf den Hauseingang des zweigeschossigen Wohnblocks zu. Unter dem schützenden Vordach blieb sie stehen und klopfte die Regentropfen von der Jacke. Fröstelnd schüttelte sie das Wasser aus ihren Adidas-Latschen von den Füßen. Sie zog die Schultern hoch, registrierte die Feuchtigkeit ihren Rücken hinunterlaufen. Es war ein ekeliges Gefühl, die Wassertropfen auf der Haut im Nacken zu spüren. Hanna drückte auf den Klingelknopf, der den Namen ihrer Tochter trug. Elin Jacobsen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, ihr Körper zitterte trotz der Wärme. Sie trommelte auf das Namensschild, richtete ihr Augenmerk gegen die Decke des schützenden Vordachs. Das milchige Glas der Deckenleuchte war mit zahllosen toten Fliegen verklebt und spendete nur fahles Licht. Angewidert drehte sie sich weg, suchte in der Dunkelheit Elins Wagen. Sie entdeckte ihn nicht. Entweder war sie tatsächlich nicht zu Hause, oder ihr schwarzer Polo stand in der angemieteten Garage. In diesem Augenblick fuhr Rieka Ludwig auf den Parkplatz und stoppte direkt neben Hannas 15 Jahre alten Ford Focus. Die Freundin ihrer Tochter stieg aus und hechtete wie sie vorher quer über den Platz. Sie zerrte die Kapuze ihres Hoodies auf die dunkle Strickmütze, die sie selbst bei dieser Hitze auf ihrem Kopf trug. Fast schien es, als sei die Mütze mit ihr verwachsen. Ihre pechschwarzen schulterlangen Haare lugten seltsam störrisch darunter hervor.
Hanna betrachtete den Ankömmling. Sie musste schmunzeln. Rieka hatte die gleiche Haarfarbe wie Elin, und selbst ihr Kleidungsstil war fast identisch. Schwarz! Nur, dass ihr Mädchen ein schmaleres Gesicht und azurblaue Augen kennzeichneten, hingegen Riekas Schmollmund und ihre rauchige Stimme hervorstachen. Sie wirken wie Geschwister, dachte Hanna und war froh, dass die beste Freundin ihrer Tochter sie unterstützte und nicht für verrückt hielt.
Die Arzthelferin lächelte, obwohl ihr zum Heulen zumute war. Sie umarmte Rieka mit einer knappen Bewegung, nachdem die zu ihr unter das Vordach gespurtet kam und sich vom Regenwasser befreit hatte. »Na, dann los. Ich hab jetzt zweimal geklingelt. Sie scheint wirklich nicht da zu sein. Ist alles dunkel, wie du gesagt hast. Aber es könnte wenigstens sein, dass wir in der Wohnung einen Hinweis finden, der uns weiterbringt. Ich mach mir echte Sorgen, Rieka. Sonst würde ich nicht so ein Theater raufbeschwören.« Hanna deutete nach oben. »Lass uns raufgehen.« Die Freundin nickte und folgte der Mutter, die mit zittrigen Fingern die Haustür öffnete. Sie zog zuerst die Kapuze, dann die Mütze vom Kopf und schüttelte ihre triefend nassen schwarzen Haare. Die Arzthelferin hastete als Erste die Treppe hoch. Die junge Anwaltsgehilfin hatte Mühe, ihr zu folgen.
Elins Mutter steckte einen Schlüssel mit grüner Ummantelung aus ihrem Schlüsselbund ins Schloss, der dem der Eingangstür ähnelte. Ein eigenartiger Geruch drängte sich auf, der ihr schon beim Betreten des Flures unangenehm aufgefallen war. Hanna schnüffelte und schüttelte den Kopf. »Riechst du das?« Rieka nickte und sah sie durch rehbraune mandelförmige Augen fragend an. »Ekelig«, murmelte Elins Mutter und öffnete die Tür. »Oh nein«, schnaubte sie und hielt die Hand über Mund und Nase. Jetzt hoffte sie selbst, dass ihre Tochter sich bei einem Mann aufhielt und nicht in dieser muffelnden Wohnung.
Rieka Ludwig drängte sich hinter Elins Mutter, als diese mit vorgehaltener Hand eintrat. Ein strenger, Brechreiz auslösender Geruch und unerwartete Hitze waberte ihnen entgegen. »Was stinkt hier so?«, wollte Hanna wissen und betätigte den Lichtschalter im Flur. Wider Erwarten blieb es dunkel. »Warum brennt die Lampe nicht? Mann, Elin.« Die Arzthelferin warf der jungen Frau einen fragenden Blick zu. Die Treppenhausbeleuchtung ließ nur spärliches Licht in die Wohnung. »Wir müssen sofort sämtliche Fenster aufreißen. Lass uns bloß die Tür zumachen«, murmelte Rieka, zog den Kragen des Hoodies über ihren Schmollmund und spurtete in die Küche, die der Eingangstür am nächsten lag. Sie tastete sich im Dunkeln durch den Raum, zückte ihr Handy und stellte die integrierte Taschenlampe an. Auf der Fensterbank stapelten sich unzählige Teepackungen, die sie mit einer Handbewegung auf den kleinformatigen Kieferntisch fegte, um frische Luft reinzulassen. Sie hielt den Atem an und riss das Fenster in der Küche weit auf. Entfernt blitzte und grollte es immer noch. Der Regen fiel nach wie vor bindfadenartig vom Himmel, und man hörte selbst von hier oben, wie das Wasser durch die Regenrinne rauschte. Feuchtwarme Luft flutete den Raum, und Rieka atmete erleichtert auf. Alles besser als der Gestank hier drinnen. Hanna bewegte sich mit einer Hand an der Wand entlang ins Wohnzimmer und suchte nach dem Lichtschalter. Sie berührte ihn, doch selbst hier keinerlei Reaktion. Die Birne kann nicht auch noch kaputt sein, überlegte sie. »Die Sicherung. Die ist sicher bei dem Gewitter rausgesprungen«, vermutete sie. »Aber dieser Mief. Was stimmt hier nicht?«, fragte sie an Rieka gerichtet, die nach ihr den Raum betrat. »Diese elende Wärme und der fiese Geruch. Irgendwo gammelt hier was ganz übel vor sich hin. Warum ist hier so eine Bullenhitze? Wo verdammt ist Elin?«
Im Licht der Taschenlampe erkannte Hanna auf dem Sofa im Wohnzimmer eine zerknüllte Wolldecke. Auf dem Tisch ungeordnete Zeitschriften und heruntergelassene Jalousien vor dem Fenster. Das erklärt nicht den fiesen Geruch, überlegte die Arzthelferin. »Die Heizung läuft Volldampf«, sagte Rieka und fasste mit einer Hand gegen den Heizkörper. Sie drehte den Regler herunter. »Wir haben Sommer. Das ist nicht normal! Haben die hier keine Absenkung?« Elins Mutter zuckte die Schultern und guckte die Freundin ihrer Tochter fassungslos an. Sie hatte das Gefühl, jemand würgte sie.
»Das einzige Zimmer, was übrig bleibt, ist ihr Schlafzimmer. Ich hoffe nicht, dass sie dort mit ’nem Kerl im Bett liegt und poppt«, flüsterte Rieka und presste die Lippen zusammen. »Bei dem Gestank? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Vielleicht sind hier irgendwo tote Mäuse oder Ratten in einem Abfluss unter der Küchenzeile und stinken vor sich hin. Hab ich bei einer Freundin in Hamburg erlebt. Die hatten jede Woche den Kammerjäger. Ich denke, sie ist wirklich nur geflüchtet. Das kann man ja nicht aushalten. Aber warum geht sie nicht ans Telefon?«, wollte Elins Mutter wissen, bewegte sich durch das dunkle Wohnzimmer und öffnete die Balkontür. »Und lässt die Heizung auf vollen Touren laufen? Niemals.« Hanna trat auf den Balkon, sog gierig die Nachtluft in ihre Lungen. Es regnete immer noch. Das Gewitter zog langsam weiter.
Rieka schlich zurück in den Flur und entdeckte auf dem Boden dunkle Flecken. Sie bückte sich. »Verdammt, was ist das?« Sie roch daran und zuckte die Achseln. »Rotwein auf jeden Fall nicht. Es riecht nach Metall.« In ihr breitete sich ein mulmiges Gefühl aus. Ihr Puls fing an zu rasen. Hier stimmt was nicht, stellte sie fest und wollte endlich wissen, was in dieser Wohnung vor sich ging. Leise klopfte sie an die Schlafzimmertür, legte den Kopf gegen das Holz und lauschte. Sie hörte ihr eigenes Herz laut schlagen. Sie war die Letzte, die Elin beim Sex mit einem Kerl überraschen wollte. Und sie hatte mittlerweile das fürchterliche Gefühl, dass sie dort nicht mit einem Mann lag. In ihrem Kopf hämmerte es. Mit zitternden Fingern öffnete sie die Tür einen Spalt und presste reflexartig den Arm über Mund und Nase. Sie würgte, drehte sich um und übergab sich. Rieka zitterte am ganzen Körper, stand wie erstarrt im Flur. Dann nahm sie allen Mut zusammen, hielt das Handy in die Höhe und leuchtete den finsteren Raum aus.
In der Polizeidienststelle der Mordkommission Oldenburg, im Norden Schleswig-Holsteins, verhielt es sich ruhig in dieser Nacht. Es gab keine Vorkommnisse. Drei Kollegen des Teams saßen an ihren Schreibtischen, arbeiteten Aktenberge durch, zwei weitere in der Küche tranken Kaffee und unterhielten sich angeregt. Das Mobiltelefon von Kommissar Arno Jensen klingelte. Er saß an seinem Arbeitsplatz und nahm das Gespräch entgegen. »Polizeidienststelle Oldenburg, Jensen.«
Der aus Lübeck stammende 42-jährige Oberkommissar hörte konzentriert zu, wurde aschfahl und schluckte, als säße ihm ein Frosch in der Kehle. Mit zügigen Bewegungen schrieb er etwas auf einen Zettel und beendete das Telefonat. Er stand auf. »Wir müssen nach Hohwacht, sie haben eine Leiche entdeckt«, sagte der blonde Hüne zum Kollegen und nickte. Jensens Gesicht wirkte wie versteinert, als er Sekunden später wählte. »Jo, Moin, Dirk. Ihr müsst kommen. So wie es sich anhörte, wurde eine junge Frau tot aufgefunden, sieht nach Mord aus!«
*
Als Rieka Ludwig auf das zerwühlte Bett im Schlafzimmer starrte, drehte sich ihr der Magen ein zweites Mal um. Ihre Lippen bebten, sie presste die Hand vor den Mund, und ihr Blick verschwamm. Sie taumelte, krallte sich am Türrahmen fest, schrie, würgte und übergab sich ein weiteres Mal.
Hanna fuhr zusammen und stürzte in den Flur. Als sie Rieka kreidebleich gegen die Wand gelehnt sah und das Erbrochene auf dem Boden entdeckte, wusste sie, dass etwas Furchtbares passiert sein musste. Ihr wurde schwindelig und speiübel. Der eiserne Ring, den sie die ganze Zeit um ihrem Brustkorb gespürt hatte, zog sich zu und nahm ihr die Luft. Sie hatte auf einmal das Gefühl zu ersticken und wurde leichenblass. Die 46-Jährige traute sich nicht, sich zu bewegen, und blieb wie versteinert vor der Freundin stehen. Als sie sie zitternd schreien und schluchzen sah, taumelte sie mit bleiernen Schritten an ihr vorbei. Hanna krallte sich mit einer Hand am Türrahmen fest. Ihr Blick fiel ins Schlafzimmer. Es war stockdunkel. Sie erkannte … nichts. Nur der Geruch ließ auch sie würgen. Rieka hielt ihr das Handy entgegen. Sie war nicht in der Lage zu sprechen. Elins Mutter schluckte, bewegte das Telefon und leuchtete in den Raum. Der Schein der Handleuchte glitt durchs Zimmer. Schemenhaft nahm sie wahr, dass jemand auf dem Bett lag. Sie fokussierte ihren Blick, entdeckte verschwommen Umrisse. Sie wusste, wer dort lag. Mit rasendem Puls schlich sie ins Schlafzimmer. Hanna fröstelte. Ihre Lippen bebten. Das Licht flackerte und machte es ihr unmöglich, die Lage einzuschätzen. Dann hielt sie die Leuchte mit beiden Händen und ließ den Lichtkegel auf die Person fallen, die dort lag. Alles um sie herum drehte sich. Sie taumelte und sank direkt vor dem Bett auf die Knie. Das Handy fiel zu Boden. Der Strahl der Lampe streckte sich zur Decke. Die Szenerie wirkte unwirklich. Sie merkte, dass lange dunkle Haare von der Bettkante hingen. Hanna hob ihren Kopf und strich der jungen Frau auf dem Bett eine Haarsträhne von der Wange. Ihre Tochter lag mit geweiteten Augen da, den leeren Blick reglos gegen die Decke gerichtet. Die 46-Jährige nahm Elins Hand, legte sie auf ihre bleiche Haut, dann schrie sie.
Riekas Schultern zuckten, als sie Hannas Schrei hörte. Sie kauerte im Flur auf dem Boden und versuchte zu begreifen, was passiert war. Ihr eigenes Schluchzen verebbte. Sie schniefte, wischte aus der Nase laufenden Rotz am Ärmel ihres Hoodies ab. Langsam schob sie sich an der Wand hoch, bis sie auf wackeligen Füßen stand, und wankte ins Schlafzimmer. Die Anwaltsgehilfin wagte nicht zu atmen. Sie hatte keine Wahl, sie musste Hanna beistehen. Ihre Blicke gingen zum Bett, blieben auf der Leiche haften. Rieka betrachtete den Körper ihrer besten Freundin. Ihr Augenmerk wanderte durch den Raum, während deren Mutter wie erstarrt am Boden kauerte und die Hand der Toten hielt. Sie vermied es, ihr ins Gesicht zu sehen und bemerkte unnatürliche Spritzer an der Wand. Ihr war klar, dass es sich um Blut handelte, das gesprenkelte merkwürdige Muster auf der schneeweißen Raufasertapete und dem Teppichboden hinterlassen hatte. Jetzt wusste sie auch, was für Flecken sie auf dem Flur entdeckt hatte. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, ihr war grottenschlecht. Rieka suchte Hannas Blick, die apathisch vor dem Bett hockte und liebevoll die Hand ihrer toten Tochter streichelte. Die 25-Jährige wischte sich die Tränen aus den Augen und wankte zu ihr.
Sie griff nach ihrem Arm, wollte sie hochziehen und aus dem Zimmer bringen. »Neiiiin«, schrie Hanna und riss sich los. »Ich bleibe bei ihr. Ich kann sie nicht alleine lassen«, schluchzte sie und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. Nie vorher hatte Rieka so viel Schmerz empfunden wie in diesem Augenblick. Ihr war hundeelend. »Ich kann nicht …!«, krächzte Hanna. »Warum war ich nicht hier, als sie mich am meisten brauchte?« Rieka wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis sie völlig zusammenbrach. »Komm raus hier. Wir können ihr nicht mehr helfen. Hanna, bitte, ich bring dich jetzt aus dieser Wohnung. Wir müssen die Polizei rufen«, flüsterte sie. Sie betrachtete die auf dem Boden kauernde Frau und zog sie erneut an den Armen hoch. »Komm … bitte … du kannst nichts mehr für sie tun.« Rieka ließ nicht nach und zerrte Hanna hinter sich her. Dann wankte sie zurück ins Schlafzimmer, hob das Handy vom Boden und wählte den Notruf. Sie schniefte, dann sprach sie mit einem Polizeibeamten. »Ich habe die Polizei gerufen«, flüsterte sie, als sie sich im Flur wiederfand. Sie öffnete die Haustür und drängte die Mutter aus der Wohnung. Hanna schluchzte ununterbrochen, ihre Knie knickten immer wieder ein. Elins Freundin hielt sie. »Wer hat das getan? Sie hat doch niemandem etwas Böses angetan. Elin …« Der Schrei hallte durchs Haus, dann brach sie in Riekas Armen zusammen.
Im Treppenhaus öffneten sich Türen. Nachbarn, die sich in ihrer Nachtruhe gestört sahen, standen im hell erleuchteten Hausflur. Eine etwa 70 Jahre alte Frau aus dem Erdgeschoss schlurfte die Stufen hoch. Sie zurrte den Gürtel ihres Bademantels enger um die Taille. Am Haaransatz klebte ein aufgerollter grüner Haftwickler. Im ersten Stock pausierte die spillerige Frau, hielt sich schnaufend am Geländer fest. Sie wandte sich an das Pärchen, das direkt über ihr wohnte und ebenfalls in der offenen Tür stand. »Was ist hier los? Dieser Lärm mitten in der Nacht. Und wie das hier stinkt.« Ihr verächtlicher Blick wanderte durchs Treppenhaus. »Ich hab diesen Mief schon heute Morgen beim Putzen gerochen. Der kommt von oben. Ich hab’s mir gleich gedacht.« Sie deutete in die obere Etage. »Ich hab ja immer gesagt, dass die noch mal Ärger macht. Jeden Abend laute Musik und dauernd fremde Kerle, ich sag’s Ihnen. Der ist was passiert.« Das Pärchen Anfang 30, das ihr leicht bekleidet gegenüberstand, beäugte sie. Der Mann ordnete seine dunklen Locken und antwortete: »Gehen Sie zu Bett. Was wissen Sie denn …? Vielleicht ist sie gestürzt und braucht Hilfe. Schlafenszeit, Omchen.«
»Also hören Sie mal … bodenlose Frechheit. Da macht man sich Gedanken um seine Mitmenschen und Sie … Sie … ist doch überall das Gleiche«, quäkte die Grauhaarige und stiemte laut bölkend die Stufen wieder runter. »Sodom und Gomorra«, keifte sie, als ihre Tür knallend ins Schloss fiel. »Ich gehe da jetzt rauf, vielleicht braucht wirklich jemand Hilfe.« Der 32-Jährige spurtete barfuß, in Shorts und Shirt, die Marmorstufen in die zweite Etage hoch. Fassungslos blieb er stehen, sah die Mutter seiner Nachbarin reglos, mit dem Kopf auf Riekas Oberschenkel, am Boden liegen. Er kannte die Frauen. Sie waren des Öfteren im Haus. Die jüngere von beiden schluchzte, hielt die Hand der anderen. Björn Lehmann schluckte und verkniff sich das Atmen. Ihm wurde übel, als der aus der Wohnung drängende Geruch in seine Nase zog. Er presste den Arm vor seinen Mund. Der Gestank erinnerte an Eisen, an einen Schlachthof. Das ist Leichengeruch, stellte er mit weit aufgerissenen Augen fassungslos fest. Sein Blick schweifte über die Frauen. An Kleidung und Händen beider entdeckte er Blutanhaftungen. Das hatte er nicht erwartet. Jetzt wusste er, dass der Geruch, der sich seit gestern im Treppenhaus ausbreitete, aus dem Apartment stammte. Die Bewohnerin eine Tür weiter befand sich im Urlaub. »Kann ich helfen? Sie brauchen einen Arzt.« Bestürzt lehnte er sich über das Treppengeländer. »Bettina, ruf einen Krankenwagen, hier ist jemand verwundet.« Seine Stimme klang rau. Rieka schüttelte den Kopf. »Wir sind nicht verletzt. Ich hab die Polizei gerufen … meine Freundin … irgendjemand hat Elin umgebracht«, schrie sie, ließ Hannas Finger los und schlug ihre Hände vors Gesicht. »Sie ist tot«, schluchzte sie. Björn Lehmann sah die Frauen entgeistert an und drängte an ihnen vorbei in die Wohnung. Er konnte im Licht des Treppenhauses nur bedingt sehen und stürzte mit vorgehaltener Hand zur offenen Schlafzimmertür. Bewegungslos verharrte er im Türrahmen. Als er das Drama erkannte, würgte er und verließ panisch den Tatort.
*
Eine Stunde später hatte das Gewitter sich verzogen. Die Polizeibeamten aus Oldenburg hatten die knapp halbstündige Fahrt schweigend in Westermanns Dienstwagen verbracht. Die Luft war warm, aber bei Weitem nicht mehr tropisch. Der Erste Hauptkommissar und Leiter der Oldenburger Dienststelle traf mit seinem Kollegen Thomas Hartwig am Tatort in Hohwacht ein. Sie parkten ihren Wagen direkt vor dem Eingang des Mehrfamilienhauses. Er stieg aus und blies den Rauch seiner Pfeife in den Himmel. Entschlossen schob der attraktive Polizeibeamte sie in den Mundwinkel, als er einen hochgewachsenen Polizisten vor der Tür wahrnahm. Er ordnete seine nackenlangen weißen Haare und reichte dem Mann als Erster die Hand. »Moin.«
»Na, wie sieht’s aus?«, fragte er den fassungslos und bleich wirkenden Beamten, der mit der Mütze in der Hand dastand. Thomas Hartwig begrüßte ihn ebenfalls. »Wie soll’s aussehen. Da drinnen ist ein fürchterliches Massaker passiert. Ich krieg das Bild nicht mehr aus dem Schädel. Das müsst ihr euch selbst ansehen«, schluckte er.
»Dann lasst uns reingehen«, entgegnete Westermann und bewegte sich auf den Eingang zu. Der Polizeibeamte aus Hohwacht schüttelte den Kopf. Er sträubte sich, den Männern zurück in die Wohnung zu folgen. »Ne, das macht mal alleine. Eure Leute sind schon da. Ich geh da sicher nicht mehr rein.« Der Erste Hauptkommissar staunte über die Anwandlungen des Kollegen mittleren Alters.
»Na, dann wollen wir mal«, erklärte er, klopfte die Pfeife am Mauerwerk aus und betrat den Hausflur. Er sah sich um, registrierte das gepflegt wirkende Treppenhaus und zog irritiert die Tabakspfeife aus dem Mund. Am oberen Ende der Treppe bemerkte er einen Blumentopf mit Geranien. Der Leiter der Mordkommission nahm sofort den Geruch wahr. Es war die penetrante Ausdünstung des Todes. »Riechst du das auch?«, fragte er Hartwig. »Nicht gut«, murmelte der, ließ seinen Partner an sich vorbeiziehen. Angewidert presste er seine Hand vor Mund und Nase, als sich eine Tür neben ihm öffnete. Der jüngere der beiden Polizeibeamten blieb stehen.
»Wenn Sie mich fragen, das war ein wildes Luder …«, krächzte die dünne Frau mit dem Lockenwickler im Haar wichtig. Hartwig beachtete sie nicht weiter, folgte dem Kollegen ins obere Stockwerk. Sie wollten sich später mit den Bewohnern des Hauses unterhalten. Schnaubend schlug die Frau ein weiteres Mal in dieser Nacht die Tür zu. »Übel«, knurrte der jüngere dunkelhaarige Kommissar, als sie den ersten Stock erreichten und der Geruch intensiver wurde. Je näher sie an den Tatort gerieten, umso mehr verzog er das Gesicht.
»Watson hätte das schon im Auto gerochen«, brummte er. Der tschechoslowakische Wolfhund, der zum Team der beiden gehört hatte, war seit der Katastrophe am Sund nicht mehr bei ihnen. Eine Explosion hatte den Hund offensichtlich getötet, den Kommissar, der in Lütjenbrode lebte, seitdem verändert. Sein Vorgesetzter ignorierte Hartwigs Worte und nahm die letzten Stufen zum zweiten Stock. »Endstation«, sagte er und blieb vor der weit geöffneten Tür stehen, die sich unter dem Dach befand. Hier gab es zwei Wohnungen, und es schien klar, welche von beiden der Tatort war.
Die Tür der Dachgeschosswohnung stand offen. Westermann rief dem Kollegen, der sich vor der Haustür postiert hatte, zu: »Macht mal sämtliche Türen und Fenster auf, sonst drehen die Mieter im Haus durch.« Er streifte mit seinem Teamkollegen Schutzkleidung über. »Brauchst du Pfefferminz?«, fragte der Leiter der Mordkommission seinen jüngeren Kollegen, weil er wusste, dass der immer kurz davor war, sich zu übergeben, und reichte ihm eine Dose. Hartwig schüttelte den Kopf. »Passt schon.« Sie betraten die Wohnung. Der Flur war ausgeleuchtet und Blutspritzer an Wänden und Boden sichtbar. Ein eindeutiger Geruch zog durch die Räume. Die Beamten der KT waren vor Ort. Ohne dass Genaueres mitgeteilt worden war, ahnten sie, dass hier Schreckliches auf sie wartete. »Spuren?«, fragte Westermann, als er den Leiter der KT, Nils Henning, im Flur entdeckte.
»Jede Menge Fingerabdrücke, Blutanhaftungen und sehr wahrscheinlich DNA-Spuren«, entgegnete der Kriminaltechniker.
Die Temperaturen im Apartment glichen einer Sauna. »Was ist hier los?«, fragte Westermann und guckte den Kollegen irritiert an. »Heizung lief auf Volldampf. Die Zeugin hat die Heizkörper schon runtergedreht, bevor wir kamen. Sieht nicht gut aus«, sagte der Bär von einem Mann und schüttelte den Kopf. »Der Medizinmann ist im Schlafzimmer. Ach ja, die Mutter und eine Freundin sind bei Nachbarn ein Stockwerk tiefer untergebracht. Werden ärztlich betreut.« Der Leiter der Mordkommission nickte und trat ins Zimmer. »Ich gehe und guck, ob ich aus den Frauen was rauskrieg«, knurrte Hartwig. Er wollte sich eher mit den Zeugen unterhalten, als länger an diesem Ort auszuharren. Ohne ein weiteres Wort entfernte er sich, trabte mit wenigen Hechtsprüngen die Stufen runter und klopfte.
Der Hauptkommissar räusperte sich, als er den Rechtsmediziner entdeckte, der sich im weißen Schutzanzug über die Leiche beugte. Sebastian Floor hob den Kopf. »Moin, Westermann. Sieht übel aus«, sagte er und verzog das Gesicht, um sich anschließend wieder seiner Arbeit zuzuwenden. »Der Fundort ist nicht der Tatort. Die Spur verläuft, wie es aussieht, vom Wohnzimmer über den Flur bis hierher. Er hat sie gewürgt, ihr Zungenbein ist gebrochen. Ob sie da schon tot war, muss ich erst rausfinden!« Floor deutete auf die Würgemale am Hals, ohne den Kopf zu heben. »Zusätzlich ist der Täter mit einer etwa 20 Zentimeter langen Klinge auf sie losgegangen. Ich hab mehr als 60 Einstiche gezählt. Er hat auf sie eingestochen, bis er sich abreagiert hatte. Da hatte jemand unglaublichen Hass. Klare Übertötung. Wie viele der Stiche post mortem zugefügt wurden und welche tödlich gewesen sein könnten, ist noch zu klären. Aufgrund der unverhältnismäßigen Menge an Blutspuren kann ich bisher kein eindeutiges Bild abgeben. Auf jeden Fall gibt es hier auf dem Bett weniger Anhaftungen als auf dem Fußboden und dem Rest der Wohnung. Scheint, dass sie tot war, als er sie aufs Bett gelegt und weiter auf sie eingestochen hat. Obendrein weist sie eine Schädelfraktur auf.« Der Rechtsmediziner zuckte die Schultern und zeigte dem Kollegen die klaffende Wunde am Hinterkopf. »Das hier war eine ganz miese Nummer. Meiner Meinung nach habt ihr es mit einem Irren zu tun«, murmelte er, sah Westermann aus braunen Augen an und strich seinen Ziegenbart.
Der sportlich schlanke Mediziner trat zur Seite. Der Leiter der Mordkommission betrachtete die Tote. Ihm wurde das Ausmaß der Tat deutlich. Vor ihm auf dem Bett lag die fast nackte, entsetzlich zugerichtete Leiche einer jungen Frau. Er schätzte sie auf Mitte 20. Ihre ebenholzschwarzen, hüftlangen Haare fielen über die Bettkante. Westermann trat näher an die Tote und beugte sich über sie. Ihre stahlblauen Augen starrten zur Decke. Wangen und Lippen erschienen blutleer. Die Leichenflecken waren abgesackt, und die Verwesung hatte spürbar eingesetzt. Der Erste Hauptkommissar seufzte. Er hatte trotz sämtlicher Todesanzeichen selten eine so bildhübsche Frau gesehen. Dann nahm er die Sommersprossen wahr, die sich auf ihrer bleichen Nase abzeichneten. »Du sagst Täter? Gibt es dafür eindeutige Beweise?«
Floor nickte. »Ja, wenn du dir ihren Unterleib ansiehst. Wir haben Proben entnommen. Sie wurde penetriert. Ob vor oder nach ihrem Tod wird sich zeigen.« Westermanns Blick wanderte über ihren entstellten Körper. »Die Tote ist, wie du sehen kannst, fast völlig entkleidet, was auf ein Sexualdelikt hinweist.« Er deutete auf das weiße Top, das hochgeschoben kleine feste Brüste entblößte, die genau wie Bauch, Arme und Beine, unzählige Stichwunden aufwiesen. »Wie lange?«
»Wie lange sie tot ist? Ich schätze 20 bis 24 Stunden. Die Leichenstarre hat sich bereits wieder gelöst, die Totenflecken sind trotz Umlagerung sichtbar.« Floor zeigte auf das gelagerte Blut im unteren Teil des Körpers und drückte in die Haut. »Schwierig, sie mit dem Finger wegzudrücken. Allerdings ist die Umgebungstemperatur extrem hoch, was darauf hinweist, dass der Vorgang beschleunigt wurde. Wer auch immer das hier angerichtet hat, hat anscheinend sämtliche Heizkörper aufgedreht und gehofft, dass er so Spuren beseitigen kann. Und … er ist nicht in ihr, sondern auf ihr gekommen. Könnte bedeuten, dass er, als er sie penetrieren wollte, keinen hochgekriegt hat, ihn aber die Tötung an sich dermaßen erregt hat, dass er später ejakulierte.«
Westermann nickte. »Du sagtest, er hätte sie penetriert? Das verstehe ich nicht ganz.«
»Ich sagte, sie wurde penetriert. Könnte bedeuten, dass er sie mit Gegenständen …«
Westermann holte tief Luft. Es war für den Moment genug. Er wechselte das Thema. »Ich wundere mich, dass die Heizung läuft. Normalerweise sind die Thermen auf Sommerbetrieb geschaltet, oder nicht?«
»Eventuell hat jemand an der Haupttherme rumgefummelt. Das müsst ihr rausfinden. Dazu habt ihr euren Brummbären«, murmelte Floor, zuckte die Achseln und deutete nickend auf den Flur, während er sich zum wiederholten Mal den Bart kraulte und wie ein Igel die Nase kräuselte. Es schien eine Macke zu sein, die Westermann schon des Öfteren aufgefallen war. »Ja, Nils wird das untersucht haben.«
»Ich muss weitere Untersuchungen vornehmen, bis ich euch Detailliertes sagen kann, so viel ist sicher. Du kriegst Info, wenn ich sie in der Rechtsmedizin habe. Die Reihenfolge der Angriffe ist mir noch ein Rätsel. Der hat eine Reihe von Tötungsarten zelebriert, das macht die Sache nicht einfacher«, endete er seine erste Beurteilung. Der Hauptkommissar warf einen kurzen Blick auf die Hände der Toten, die seltsam verrenkt über ihrem Kopf angeordnet lagen, und nickte. »Was ist mit den abgebrochenen Fingernägeln?«
»Die zeigen deutlich, wie sie sich gewehrt hat«, murmelte Floor und krauste die Nase. »Die sind zum Teil bis auf die Nagelhaut runtergerissen. Unter einigen könnten sich, wenn wir Glück haben, DNA-Spuren finden lassen. Aber das braucht Zeit«, entgegnete er und guckte den Leiter der Mordkommission von der Seite an. »Wie gesagt, da hat jemand enorme Wut im Bauch gehabt. Sie hat sich anscheinend heftig gewehrt«, sagte der Rechtsmediziner. »Das war brutal! Ich nehme an, er hat sie durch die ganze Wohnung gejagt, und irgendwo auf dem Weg hierher ist sie zu Tode gekommen. Könnte übrigens ein Küchenmesser gewesen sein, mit dem er sie getötet hat. Die Kollegen haben erwähnt, es fehle eines in einem Messerblock. Von der Größe her könnte es das Tatwerkzeug sein.«
»Haben Sie die Waffe?«, fragte Westermann. Floor schüttelte den Kopf. »Bislang nicht. Auf jeden Fall hat sie versucht, die Klinge abzuwehren. Das siehst du an den Abwehrspuren. Es hat ein dynamisches Kampfgeschehen gegeben«, bemerkte er. Der Hauptkommissar nickte. »Folgende Hypothese wäre möglich: Der Täter hat nicht mit dem Vorsatz der Tötung gehandelt. Das Zusammentreffen beider Parteien ist eskaliert. Die Waffe scheint dabei aus diesem Apartment zu kommen«, murmelte Floor und zuckte erneut die Schultern. »Bisher alles nur vage Vermutungen. Jetzt ist es an euch rauszufinden, was wirklich hier passiert ist. Ich sage euch bis morgen Abend auf jeden Fall, wie die Tötung abgelaufen ist. Bis dahin …«
»Alles ziemlich undurchsichtig«, sagte Westermann. Floor nickte. »Weil hier heilloses Durcheinander herrscht, das bisher keine Handlungsweise erkennen lässt. Stellen wir die Hypothese auf, dass der Täter nicht gezielt an die Sache rangegangen ist. Er wusste nicht, was er tat, hat wie im Rausch gehandelt. Wir müssen in Betracht ziehen, dass es so nicht ablaufen sollte. Blutlachen sowie Blutspritzer deuten auf einen Kampf hin. Im Eingangsbereich sind deutliche Anhaftungen und blutige Handabdrücke, die zur Toten gehören. Vielleicht aber auch zum Täter, wenn sie ihn verletzt hat. Die Auswertungen und Muster werden den Ablauf zeigen. Du weißt ja, dass beim Interpretieren der Blutspuren chemische und physikalische Gesetzmäßigkeiten berücksichtigt werden müssen. Wenn der Blutspurenexperte mit seiner Analyse fertig ist, wissen wir mehr. Ich denke, er hat sie dann auf dem Boden in diesem Raum überwältigt und versucht, sie zu vergewaltigen.«
»Versucht? Was bedeutet das?«
»Dass er unter Umständen keinen hochgekriegt hat. Ejakulat haben wir bisher nur außerhalb ihres Körpers gefunden. Das könnte meiner Annahme nach seinen Hass geschürt haben. Es war vielleicht der Todeskampf, der ihn getriggert hat. Er hat eventuell nicht rational, sondern überreizt reagiert.«
Westermann sah Floor fassungslos an. In seinem Kopf spielte sich in diesem Augenblick das Szenario des Tatablaufes ab, und er hörte, wie sie schrie. »Dass er nicht zum Zug kam, wäre auf jeden Fall ein mögliches Motiv.«
Der Erste Hauptkommissar schluckte, schüttelte sich und verließ den Raum. Er hatte vorerst genug gehört … und gesehen. Mit zugeschnürter Kehle bewegte er sich auf das Wohnzimmer zu.
Eine Anzahl von Strahlern der Kriminaltechnik spendete ausreichend Licht, um die Ausmaße des Verbrechens aufzuzeigen. Westermann sah das Zimmer einer Studentin. Ein rotes Sofa an der Wand, zwei Sessel aus den 70ern, eine zerknüllte Wolldecke, eine Vielzahl von Zeitschriften und Büchern. An der gegenüberliegenden Wand ein in die Jahre gekommener Schreibtisch, auf dem Platz für einen Computer oder Laptop vorhanden war. Er registrierte, dass dort nichts dergleichen stand. Hat die KT wohl schon eingetütet, dachte er und wandte sich den unzähligen Lehrbüchern zu, die verstreut auf dem Boden und in Regalen lagen. Westermann nahm eines von ihnen in die Hand … Biochemie … sie studiert. Dann wurde er in seinen Gedanken unterbrochen. Nils Henning, den sie auch Wikinger nannten, weil er durch seinen Körperbau, die blauen Augen und den Vollbart wie einer aussah, der aus dem hohen Norden kam, tippte ihm auf die Schulter. »Wer immer das getan hat, hat sie hier in diesem Zimmer überrascht und das erste Mal angegriffen. Wenn du genau hinguckst, erkennst du Erde auf dem Boden. Die Pflanze stand jedoch wieder auf dem Sideboard neben dem Fernseher. Der Täter hat, wie es aussieht, keine großen Anstalten unternommen, um seine Spuren zu verwischen. Das wirkt dilettantisch. Wir haben jede Menge Fingerabdrücke gefunden. Ob sie allerdings alle vom Täter sind, wird sich zeigen. Er könnte sich seiner Sache ziemlich sicher gewesen sein. Aber auch das ist nur eine Vermutung. Der Kerl hat sich im Übrigen mehrfach an ihr vergangen, Gegenstände benutzt und diese äußerst brutal eingeführt. Wann das passiert ist, kann ich dir nicht sagen. Wir bringen die Gegenstände in die Rechtsmedizin und schauen, von wem das Blut ist.« Er deutete auf ein paar Flaschen. »Das ist dann Sache der Rechtsmedizin.« Nils Henning stand wie ein Grizzly in weißem Schutzanzug vor ihm und schnaubte, als er die Glasflaschen in Klarsichttüten fallen ließ. Westermann merkte, dass der Brustkorb des muskulösen Ermittlers sich heftig hob und senkte, sein Blick sich verfinsterte. »Ich muss rational bleiben, aber wenn das meine Tochter wäre … der Scheißkerl würde nicht mehr aufstehen, das schwöre ich dir.« Hennings Stimme klang beunruhigend tief und gefährlich leise, als er sich mit der Faust gegen die Brust schlug. »Das ist ein ganz abgewichstes Arschloch. Obendrein hat augenscheinlich der Täter sämtliche Sicherungen rausgedreht. Wir haben sie in einer Schublade in der Küche gefunden. Hat er fein säuberlich abgewischt. Wir mussten uns erst mal mit Taschenlampen einen Weg bahnen.« Westermann nickte, beobachtete den breitschultrigen Mann, der sich den Vollbart kratzte und dessen finsterer Blick Angst einflößte. Der Leiter der Mordkommission verstand, warum einige Kollegen immense Wut in sich trugen, wenn sie an einem Mordfall wie diesem arbeiteten. Er hatte erlebt, wie oft er an seine eigenen Grenzen geriet. Er schüttelte den Kopf. Westermann rückte seine Brille zurecht und warf dem Kriminaltechniker einen fragenden Blick zu. »Wir finden raus, warum er das getan hat und wer hinter diesem Tötungsdelikt steckt, versprochen. Dann haben wir auch geklärt, seit wann der Strom weg war und auch, wann die Heizung angestellt wurde.«
»Wenn der Strom ausgeschaltet war, wie konnte dann die Heizung laufen?«
»Anderer Stromkreis. Das läuft separat. Die Anlage ist wahrscheinlich im Keller und manipuliert worden … überprüfen wir.« Der Erste Hauptkommissar nickte, verließ den Raum, dann das Apartment. Im Treppenhaus blieb er stehen, entzündete die Pfeife und zog gierig daran. Mit versteinerter Mimik reflektierte er die letzte halbe Stunde. Er brauchte ein paar Minuten, um das Erlebte sacken zu lassen. Die Fenster im gesamten Hausflur waren weit geöffnet. Frische Luft flutete das Haus. Als die Tabakspfeife erlosch, lief er die Stufen runter. Die Tür, in dessen Wohnung er wollte, war angelehnt. Er trat ins Wohnzimmer. Vier Augenpaare waren auf den eintretenden Kommissar gerichtet. Die jüngste muss die Freundin sein, überlegte er und betrachtete die tieftraurigen dunklen Augen, die ihn beschwörend ansahen. Die etwas ältere Frau, die neben ihr auf dem Sofa kauerte, erweckte einen verstörten Eindruck. Sie stierte in seine Richtung, aber es hatte den Anschein, als würde sie ihn überhaupt nicht wahrnehmen. Bei Dirk Westermann richteten sich die Nackenhaare auf. Er hatte sich bis heute nicht an die Qualen gewöhnt, die ein Mordfall in den Opfern auslöste. Und es machte ihn wütend, wenn den Tätern weit mehr Interesse entgegengebracht wurde als den Leidtragenden.
Auf dem Sofa saß ein junges, dürftig bekleidetes Pärchen. Er vermutete, dass es sich um die Nachbarn handelte. Die Frau mit den blonden langen Haaren wirkte blass, aber gefasst. Er hingegen machte einen erschütterten Eindruck. Das ließ darauf schließen, dass sie das Opfer nicht in dem fürchterlichen Zustand zu Gesicht bekommen hatte, er sehr wohl. »Westermann, Mordkommission Oldenburg. Ich ermittle mit dem Kollegen in diesem Fall.« Er hielt sich zurück und ließ Hartwig die Befragung zu Ende führen.
»Wir haben uns wirklich Sorgen gemacht. Und jetzt ist sie tot«, weinte Rieka Ludwig. »Wer macht so was?«, flüsterte sie und schniefte. Die zierliche Nachbarin, die stumm auf dem Sofa saß, versuchte umständlich, das durchsichtige Shirt enger um ihren Körper zu schlingen. Hartwig schüttelte seine dunklen nackenlangen Haare und antwortete: »Das wissen wir nicht, aber wir werden alles daran setzen, denjenigen zu finden, der ihr das angetan hat. War das die feste Wohnung Ihrer Freundin?« Rieka nickte. »Ja, sie wohnt seit vier Jahren in Hohwacht. Sie wissen doch, wie das zurzeit ist. Studentenwohnungen sind kaum bezahlbar und hier …«, sie deutete um sich, »dieses Apartment war ein Glücksfall. Auch wenn sie länger als ’ne halbe Stunde fahren musste.«
»Hm, wo wohnen Sie?«, fragte er weiter.
»Ist das wichtig?«
»Ja, alles, was zum Täter führen könnte, ist wichtig.«
»Ich wohne in Oldenburg. Ist ’ne knappe halbe Stunde von hier.«
Hartwig nickte. »Und sie? Wo wohnt sie?« Er warf einen Blick auf die Mutter der Toten, die geistesabwesend neben ihr saß und zu keinem Gespräch fähig schien. »Der Notarzt ist auf dem Weg«, flüsterte er. Die Ähnlichkeit mit der Ermordeten war verblüffend, nur dass sie um einiges älter war und ihre Haare knapp über der Schulter endeten. »Sie wohnt auch in Oldenburg. Deshalb waren wir fast zeitgleich hier«, erklärte Rieka, als wäre es von Bedeutung. Westermann nickte und lauschte dem Gespräch. »Wo waren Sie Donnerstagabend in der Zeit von 21 bis 24 Uhr?«, fragte Hartwig die Freundin der Toten. »Ich? Ich war zu Hause. Sie glauben doch nicht etwa, dass ich …?«, stotterte sie und errötete. »Ich glaub erst einmal gar nichts. Aber wenn Sie möchten, dass wir Elins Mörder finden, sollten Sie uns helfen rauszufinden, was am Donnerstagabend im Apartment passiert ist. Dazu gehört auch, dass wir überprüfen müssen, wer mit ihr zur Tatzeit zusammen gewesen ist.«
»Ich war unterwegs und bin kurz nach 23 Uhr zu Bett gegangen. Ich wollte eigentlich mit Elin ins Kino, aber ich habe sie nicht erreicht. Zuerst war ich sauer, aber dann …«, sie zog die Schultern hoch, »bin ich alleine los.« Sie betrachtete ihre kurzen schwarz lackierten Fingernägel und im Anschluss Westermann. Sie versuchte zu lächeln, doch es missglückte jämmerlich. »Kann das jemand bezeugen? Was gab es für einen Film?«
»Wie, was gab’s für einen Film? Ist das wichtig, um den Täter zu kriegen? Zeugen gab es 20 oder 30. Aber niemanden, den ich kannte. Vielleicht der Mann an der Kasse. Keine Ahnung.« Sie lachte verächtlich. Es machte sie anscheinend wütend, dass sie sie für eine Verdächtige hielten. »Ich dachte, Sie wollen den Mörder meiner Freundin festnageln«, murrte sie. »Es gab einen Film, Noir, falls Ihnen das was sagt.«
»Kenne ich. Welchen?«
»Die Spur des Falken von 1941, wenn Sie es genau wissen wollen.« Die dunkelhaarige Anwaltsgehilfin räusperte sich immer wieder und versuchte, den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. »Sie glauben nicht ernsthaft, dass ich was mit dem Tod meiner besten Freundin zu tun haben könnte, oder?«
»Wir glauben erst einmal gar nichts. Das sagte mein Kollege bereits. Aber danke für die Auskunft. Im Übrigen kenne ich den Film. Er war einer der Ersten in diesem Genre. Humphrey Bogart, wenn ich nicht irre. Meiner Meinung nach eine der besten Detektivgeschichten aller Zeiten. Einer der Gründe, warum ich diesen Beruf ergriffen habe«, zwinkerte Westermann versöhnlich, sammelte einen Fussel von seinem dunkelblauen Leinenhemd und krempelte die Ärmel hoch. Er wusste, dass er Vertrauen schaffen musste, um mehr zu erfahren. Dann wandte er sich der Mutter der Toten zu. Er wollte mit ihr sprechen, bevor sie völlig zusammenbrach. »Hatte Ihre Tochter einen Freund oder jemanden, mit dem sie ihre Freizeit verbrachte?«
Hanna Jacobsen schüttelte den Kopf. »Nein, sie liebte ihre Freiheit. Für einen Mann war kein Platz. Sie hat studiert und konnte keine Ablenkung gebrauchen.« Sofort fing sie wieder an zu weinen.
»Außerdem war sie ein Freigeist. Sie nahm sich, was sie brauchte«, flüsterte Rieka an ihrer Stelle. Westermann wurde hellhörig. Er warf Hartwig einen Blick zu. Er schien ebenfalls erstaunt und fragte: »Was bedeutet, sie nahm sich, was sie brauchte?«
»Na ja, was heißt das? Sie hatte keinen festen Freund, wenn Sie das meinen. Ein paar lose Bekanntschaften, aber ansonsten null Beziehung«, sagte Rieka, zuckte die Achsel und warf Elins Mutter einen verlegenen Blick zu. Dirk Westermann sah seinen Kollegen, dann die junge Frau durch seine schwarz gerahmte Brille prüfend an. Hatte sie sich selbst einer Gefahr ausgesetzt? »Was heißt, sie nahm sich, was sie brauchte? Männer? Sex?« Ihm war sofort klar, dass es dann weitaus größere Probleme gab, diesen Täter ausfindig zu machen. Was genau hatte sich in der Wohnung der Toten abgespielt? »Erzählen Sie uns, was Sie wissen. Vielleicht fällt Ihnen ja ein, ob und wenn ja, mit wem sie sich Donnerstagabend getroffen haben könnte.« Rieka schüttelte den Kopf. »Sie hat mir nur erzählt, dass sie nicht ins Kino, sondern ihre Ruhe haben wollte. Mehr weiß ich nicht. Ansonsten … sie hatte keine feste Beziehung, das meinte ich damit. Hier mal einen, da mal einen. So wie wir alle es heute machen. One-Night-Stands halt.« Rieke wurde rot. Ihr war es offensichtlich peinlich, in Gegenwart von Hanna derart Privates auszuplaudern.
»Wissen Sie, ob sie am Donnerstag jemand besuchen wollte?«, fragte der Leiter der Mordkommission. Sein Ton wurde rauer. »Nein, ich weiß nicht. Hörte sich nicht an, als ob sie ein Date haben würde. Sie sagte nur, sie wollte ihre Ruhe«, flüsterte sie, schwieg und betrachtete mit verschwommenem Blick ihre French-manikürten Nägel. »Wär sie nur mit mir ins Kino gekommen.«
»Sie sagten, Sie waren allein im Kino.« Rieka nickte.
»Wo spielte der Film?«
»Im Filmtheater in Burg auf Fehmarn.«
»Kenne ich, gemütliches Kino«, antwortete Westermann und guckte aus dem Fenster. Es war dunkel. Das Gewitter und der Regen hatten sich aufgelöst. Er schob die Pfeife in den Mundwinkel und hätte sie am liebsten angezündet. Der Erste Hauptkommissar erinnerte sich an einen Abend mit Katrin. Sie waren zuerst in einem Lokal in der Burger Altstadt gewesen und anschließend im Kino, um einen alten Film anzusehen. Allein das Gefühl jagte einen wohligen Schauer über seinen Rücken.
»Kinokarte, Ticket?«
»Ne, glaube nicht mehr. Aber ich fall auf, wenn ich rausgehe.« Sie schluckte und sah den hochgewachsenen Kriminalbeamten, der ihr in verwaschener Jeans gegenübersaß, befremdlich an. »Warum stellen Sie immer wieder die gleichen Fragen? Ich habe nichts mit Elins Tod zu tun. Ich war ihre beste Freundin.« Sie senkte den Kopf. Plötzlich sprang sie vom Sofa und verließ fluchtartig die Wohnung. »Was ist denn jetzt los«, wollte Hartwig wissen, der das Gespräch offensichtlich nicht mehr verfolgt hatte und abwesend dasaß. »Lauf ihr nach, oder willst du hier Wurzeln schlagen«, rief Westermann und schnaubte. Der sportliche Kommissar sprang auf und folgte der jungen Frau, die die Treppenstufen runterstürzte, als wäre der Teufel hinter ihr her. Der Leiter der Mordkommission sortierte seine Gedanken, als könnte er nicht fassen, was sich vor seinen Augen abspielte. Hanna Jacobsen saß immer noch apathisch auf der Couch, und es schien, als würde sie von alledem nichts mitbekommen. Wenige Minuten später kamen sowohl Hartwig als auch Rieka Ludwig atemlos zurück. »Hier, meine Eintrittskarte … genügt das?«, prustete sie und japste nach Luft. Sie schien sichtlich erleichtert über ihre Eingebung zu sein.
Westermann nahm die Karte entgegen, prüfte das Papierstück und nickte. »Tolles Kino«, sagte er erneut. »Was meinten Sie eben damit, dass Sie auffallen, wenn Sie rausgehen?«
»Ja, so wie Sie mich jetzt zu Gesicht bekommen, würde ich nicht mal zum Bäcker gehen. Ich war sozusagen schon im Bett, als Hanna anrief.« Westermann betrachtete die Frau in schwarzer Jogginghose und ebenso nachtschwarzem Hoodie. Sie trug weiße knöchelhohe Adidas-Tennis-Spezial-Sportschuhe, die er aus seiner eigenen Jugend kannte und die heute mit Sicherheit das Vier- bis Fünffache wert waren. Ein kaum merkliches Schmunzeln huschte über sein Gesicht. Er erinnerte sich daran, dass er selbst welche besessen hatte. Wo sind die eigentlich abgeblieben?, überlegte er und riss sich zurück in die Gegenwart.
»Wissen Sie, mit wem sich Ihre Tochter treffen wollte?«, versuchte Westermann ein weiteres Mal, Hanna Jacobsen ihrem Trauma zu entreißen. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, weiß ich nicht. Das Gewitter hat aufgehört«, flüsterte sie stattdessen und fiel zurück in ihre Apathie. Der Notarzt trat ins Zimmer. Der Hauptkommissar deutete auf die zerbrechlich wirkende Frau auf dem Sessel. »Schockzustand«, sagte er. »Ist die Mutter der Toten und hat sie gefunden.«
Dann stand er auf und wandte sich Rieka Ludwig zu. »Ich denke, wir belassen es für den Moment dabei. Fahren Sie nach Hause. Falls Ihnen noch irgendetwas einfällt, das für uns von Bedeutung sein könnte …« Er reichte ihr seine Visitenkarte. »Wenn es etwas Neues gibt, melden wir uns.« Hanna Jacobsen stand auf, und bevor der Arzt sie erreichen konnte, sackte sie zusammen.
*
Es war 8.30 Uhr morgens, als Charlotte an diesem Samstagvormittag summend durch den Garten lief, um sich in ihrer Loungeecke niederzulassen. Der Tisch war gedeckt, und in wenigen Minuten würde Josch Diekmann eintrudeln. Er wollte Brötchen vom Inselbäcker mitbringen, und sie hatten vor, den Tag gemeinsam zu verbringen. Das Wetter war herrlich und die Temperaturen um die 20 Grad. Der Seewind brachte Kühlung und ließ alles erträglicher erscheinen. Charlotte hielt die Teekanne in der Hand, als hinter ihr ein leises »Hallo« ertönte. Sie drehte sich um. »Hallöli«, rief sie, und ihr Herz klopfte auf einmal wie das eines jungen Mädchens. Dass dies selbst nach all den Jahren derart in Wallung geraten konnte, hätte sie nie für möglich gehalten. Der Kapitän a.D. Josch Diekmann war wie ein Wirbelsturm in ihr Leben gefegt, hatte bei einer Demonstration auf dem Marktplatz mit seinem Pfeifenqualm nicht nur ihre Sicht, sondern auch ihr Herz eingehüllt.
Charlotte Hagedorn stellte die Kanne auf das Stövchen und rutschte auf die Rattanbank. Verlegen zupfte sie an ihrer blumenbedruckten Bluse und ordnete die Frisur. Extra für ihn hatte sie im Frühjahr ihren Haarstylisten aufgesucht und ihre Haarpracht mit ein paar Strähnchen und einem Haarschnitt aufpolieren lassen. Sie fühlte sich mindestens zehn Jahre jünger, als es in ihrem Ausweis stand. Josch kam mit einer Brötchentüte um die Ecke und schlenderte pfeifend auf sie zu. Der Kapitän schmunzelte. »Na, min Deern, bist ja schon einsatzbereit. Da können wir ja nach dem Frühstück gleich los«, zwinkerte er und schüttete die knusprigen Teiglinge aus der Tüte in den geflochtenen Korb auf dem Tisch. Charlotte schenkte Tee in seinen Becher und griff nach den Frischlingen. »Ja, das scheint ein herrlicher Tag zu werden. Was brauchen wir mehr: blauer Himmel, ein paar weiße Wölkchen und angenehme Temperaturen. Ist weitaus sinniger, wenn wir vormittags fahren, dann ist es nicht so heiß, und für Fotos gibt es eindeutig schöneres Licht. Heute Nachmittag möchte ich nämlich zum Südstrand, eine Runde in der Ostsee baden. Was hältst du davon?« Sie sah Josch an, und in ihren Augen entdeckte er den Glanz, den er schon geliebt hatte, als er die quirlige Studentin kennengelernt hatte. »Jetzt aber erst noch mal zum Thema. Ich habe den Auftrag, für ein Magazin über Liebesschlösser zu berichten. Weißt du, diese Vorhängeschlösser, die überall an Gestellen aufgehängt werden, um sich ewige Liebe zu bezeugen. Mein Plan ist es, heute ein paar Orte anzufahren, an denen diese Schlossvorrichtungen aufgebaut sind. Ich dachte an Heiligenhafen, Großenbrode, vielleicht Grömitz und zum Abschluss hier auf der Insel. Soweit ich weiß, gibt es mittlerweile Unzählige dieser Gerätschaften. Einige habe ich mir auf Fotos angesehen, aber das schönste ist mit Abstand das Rostherz in Burgtiefe.« Charlotte schwärmte und klatschte begeistert in die Hände. Josch schmunzelte. Er konnte ihren Redefluss sowieso nicht stoppen und nickte fortwährend. Die Pfeife zwischen seinen Lippen verströmte ein angenehmes Vanillearoma und dicken Qualm, der der Künstlerin immer wieder ins Gesicht blies. »Kannst du nu nicht mal in die andere Richtung schmöken? Das macht mich ja ganz rammdösig. Ich kann mich gar nicht richtig konzentrieren«, prustete sie überzogen. »Ach, min Deern, nun mach mal keine Fisimatenten. Ist doch alles halb so schlimm. Ich weiß ja, dass du den Geruch liebst.« Er zwinkerte erneut. »Wie auch immer. Du bringst mich völlig aus dem Konzept. Also, dieses rostige Herz in Burgtiefe ist bepackt mit unzähligen Schlössern. Da passt überhaupt keines mehr ran, so vollgepfropft ist es. Die sollten weitere aufstellen und eines nach dem anderen auf den Wegen um die Insel führen. Das wäre eine Geschichte, die Sinn und Freude bereitet«, schnatterte Charlotte und warf Josch einen Blick zu, der ihn verunsicherte. »Und nu? Was soll mir das jetzt sagen? Dass du auch ein Liebesschloss von uns beiden Hübschen aufhängen willst?«, zwinkerte er, als hätte er ihre geheimsten Wünsche erraten. »Ach du … dafür sind wir wohl schon zu alt, meinst du nicht?«
Er schmunzelte, wusste, worauf sie hinauswollte. »Wer sagt das? Für die Liebe und ein paar Verrücktheiten ist man nie zu alt. Du weißt doch, du bist mir nicht unsympathisch. Aber zurück zu deiner Schlosstour. Ich finde, das ist eine ausgefallene Idee. Lass uns erst mal die Umgebung abklappern, die ein bisschen außerhalb liegt, min Deern. Außerdem habe ich eine Überraschung für dich. Vielleicht müssen wir das Plantschen auf später verschieben.« Er zwinkerte ihr geheimnisvoll zu. Charlotte sah ihn verwundert an. »Was hast du denn für eine Überraschung?«, wollte sie wissen. »Min Lütten, das verrat ich nicht, dann wär’s ja keine mehr«, erklärte er mit stoischem hanseatischem Akzent.
»Aye, aye, Herr Kaptein«, entgegnete sie, hielt die Handkante gegen die Schläfe und kicherte. Was hatte Josch vor? Sie konnte es kaum erwarten, endlich hinter sein Geheimnis zu kommen. Vielleicht hatte er irgendwo einen Tisch bestellt, um mit ihr romantisch essen zu gehen. Sie wurde rot, behielt ihre Vermutung jedoch für sich. »So, jetzt aber erst mal lecker Frühstück«, betonte er mit rollendem R und betontem S, mit dem er, wie man in Hamburg sagte, »über den spitzen Stein stolperte«. Charlotte liebte sein hanseatisches Hamburch, und ihr Herz schlug wie verrückt.
Der Leiter der Mordkommission Oldenburg, Dirk Westermann, verabschiedete sich mit einem Kuss von seiner schlafenden Lebensgefährtin Katrin Duvenstedt und dem sechs Monate alten Sohn Mats Ole. Sein Herz wurde jedes Mal schwer, wenn er seine kleine Familie verlassen musste. Er warf einen Blick in das Kinderbett, das neben Katrins Schlafseite am Fenster stand, und fuhr sich mit der Hand über seinen grau melierten Bart. Dieser unschuldige Winzling stellte sein Leben seit Monaten vollends auf den Kopf. Gott sei Dank waren das Durchbrechen erster Zähne und das nächtliche Stillen vorbei. Mats Ole hatte sich zu einem prächtigen Nordlicht entwickelt, der seiner Verlobten wie aus dem Gesicht geschnitten war. Westermann beugte sich über das Bett, strich seinem schlafenden Sohn mit den Fingern durch die weichen Locken und verließ das Zimmer. Es war nach 6 Uhr, als er sich wie gerädert aus der Wohnung schlich. Sie sollen ruhig noch schlafen, dachte er und schloss lautlos die Tür hinter sich. Mats hatte ihnen eine kurze Nacht beschert, und irgendwie zwang die Dauermüdigkeit beide Elternteile in die Knie.
Westermann schmunzelte, als er sich hinters Lenkrad setzte und das Foto auf dem Armaturenbrett betrachtete. Seitdem er sein Kind im Eutiner Krankenhaus das erste Mal im Arm gehalten hatte, hatte sich die Sicht auf viele Dinge grundlegend verändert. Er hatte weitaus mehr Verantwortung und wollte alles dafür tun, dass diese Welt besser funktionierte. Der Gedanke an das, was draußen passierte, verbannte er, so gut er konnte, aus seinem Gedächtnis. Daher war ihm wichtig, die Menschen, die das Leben anderer gefährdeten, aus dem Verkehr zu ziehen. Und dieser Fall war einer von denen, die eine Bestie zu verantworten hatte, die es zu stellen ging.