La Via dell'Amore - Filippo Denaro - E-Book

La Via dell'Amore E-Book

Filippo Denaro

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Beschreibung

Eine wahre Geschichte über die Liebe, die Armut und die Suche eines italienischen Auswanderers nach Heimat – für alle, die so sehnsüchtig nach oben schauen und kein familiäres Dach über ihrem Kopf erblicken können. Aus dem Buch: Hier, auf der »Via dell’Amore«, ergriff Hilde meine Hand, und wir küssten uns … Und zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich Zukunft. Eine neue Qualität des Selbstvertrauens. Nicht mehr das Aufbegehren gegen die Stockhiebe im Heim, die jugendliche Arroganz, die mich aus der Armut Italiens trieb, der Gestus des Frauenhelden, der doch ein Suchender war – sondern die Gewissheit, endlich erkannt zu werden: »Du wirst von einer Frau begleitet, die bald Mitbegründerin der eigenen Familie sein wird. Du hast etwas anzubieten. Du hast Gewicht in dieser Gesellschaft.«

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La Via dell'Amore. Eine wahre Geschichte über die Liebe, die Armut und die Suche des Auswanderers nach Heimat – für alle, die so sehnsüchtig nach oben schauen und kein familiäres Dach über ihrem Kopf erblicken können.

Filippo Denaro ist auch nach über 30 Jahren glücklich mit Hildegund verheiratet. Sie haben vier Söhne. 1988 übernahm Hildegund das Textilhaus Büscher ihrer Eltern, Filippo stieg ein. Das Unternehmen expandierte und firmierte um auf den Namen Denaro. Heute betreiben die Eheleute 16 Bekleidungsgeschäfte und beschäftigen rund 40 Mitarbeiterinnen.

Aus der Armut kommend, habe ich mich gezaubert.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog

Erster Teil: Tristezza Italiana

Eine Sizilianerin in Rom

Gleich holen sie dich ab

Die Zuckerrübe und ich

Ein Regiment der Angst

Die Retterin in der Not

Plötzlich Zuhause

Tristezza italiana

Mein Freund Piero

Ziel Deutschland

Zweiter Teil: Deutsche Odysse

Der bittere Geschmack der Freiheit

Brot, Margarine und Kranwasser

Von den Frauen

Und ich war wirklich nicht in der lage, ihr aus dem Wege zu geh'n

„Ich bin der Manfred, kannst Manner sagen"

Dritter Teil: Zwischen Den Welten

Ciao Italia!

Monza und Adele

TV-Limbo im ersten Höllenkreis

La Via dell’Amore

Che sará

Vorwort

MIT DIESER GESCHICHTE wende ich mich an alle, die so sehnsüchtig nach oben schauen und kein familiäres Dach über ihrem Kopf erblicken können. Es ist möglich, aus den bescheidensten Verhältnissen heraus eine Familie zu gründen. Ich weiß, keine leichte Aufgabe, aber es gibt auch hier eine wunderbare Lösung: „Übung macht den Meister“, in guten wie in schlechten Zeiten.

Ich möchte allen Mut machen, die trotz des technischen und menschlichen Fortschritts, trotz dieses ungeheuren Zuwachses an Wohlstand, den Weg zu sich selbst nicht gefunden haben. Nicht so, wie sie es sich eigentlich gewünscht haben – mich eingeschlossen.

All jenen, die wegen der geistigen Armut anderer Individuen, ihre Heimat nie wieder betreten können oder, wie in meinem Fall, nicht zurückkehren wollen, wünsche ich den Mut zum bescheidenen Neuanfang. Von mir aus werden sie willkommen sein, egal, wo sie stranden. Einzige Voraussetzung, sehr geehrte/r Frau/Herr Innenminister/in: der vollkommene Integrationswille!

All jenen, die leider Gottes diese Sprache aus gesellschaftlichen oder besser religiösen Gründen nicht verstehen können oder wollen, wünsche ich die Bildung, die notwendig ist, um die eigenen Gedanken zu ordnen und von Dogmen zu befreien.

All jenen, die keine Bildung erfahren können, weil sie in Armut leben, wünsche ich schlicht und einfach: eine bessere Welt.

Filippo Denaro, Gladbeck 2014

Ach ja! Und falls dieses Werk, auf welchem Wege auch immer, Tantiemen aktivieren sollte, möchte ich einen Großteil (sagen wir 70 Prozent) denjenigen zugute kommen lassen, die namentlich darin genannt werden. Als kleine Entschädigung – ist dieser Bestechungsversuch allzu durchsichtig? Nein, also dann. Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr Euch meldet! Und das meine ich vollkommen ernst.

Prolog

Der verlorene Vater

WIR KÖNNTEN EINE KLEINE REISE nach Rom machen.“

„Aber der Kleine ist doch erst eineinhalb Monate alt.“

„Keine Sorge, der wird das überleben“, antwortete Hildegund, die Draufgängerin. Als gelernte Kinderkrankenschwester sollte sie das wissen, dachte ich und willigte ein. Ich ahnte, sie hatte etwas vor. Sie hatte sich entschlossen, meiner gedanklichen Qual ein Ende zu bereiten. Ich durchschaute ihre Pläne, als seien wir füreinander vorgesehen gewesen … Einen Tag später saßen wir in einer Lufthansa-Maschine, hoben in Düsseldorf ab Richtung Rom – und in Richtung meiner eigenen Vergangenheit.

„Das Überraschungspaket wird erst nach der Landung geöffnet“ sagte Hildegund. „Nur Fliegen ist schöner!“

Ein paar Tage später nur stand ich plötzlich vor dem Standesbeamten des kleinen Dorfes Aprilia. Er sah mich fragend an, hatte seinen Rechner schon heruntergefahren. Die italienische Mittagshitze sickerte in seinen kleinen stickigen Raum; es war ein Freitag, er wollte ins Wochenende.

„Bitte“, sagte ich. „Wir fliegen am Sonntag schon zurück.“

„Mein Gott, wer ist denn das?“

Ich seufzte. Eigentlich hatte ich genau das für mich behalten wollen – diese komische Idee. Dieses Klischee. Dieses Abenteuer.

„Er ist mein Vater.“

Der Standesbeamte holte tief Luft und drückte den Startknopf.

„Ist schon in Ordnung, das kriegen wir hin.“

Das Haus meines Vaters war klein. Ein typischer Flachbau am Rande von Aprilia, einer Ortschaft an der „Superstrada“ nach Latina, wenige Kilometer südlich von Rom. Eine bescheidene Gegend. Heute würde man wohl 100.000 Euro bekommen für solch’ ein Haus, aber 1990 waren die Preise noch nicht so durch die Decke, Verwandte und Bekannte hatten zudem Hand angelegt. Die Straße war nicht mal asphaltiert, vielleicht war sie auch erst kurz zuvor entstanden. In Italien baut man ja zuerst, dann stellt man den Antrag, dann zahlt man die Strafe. Das ist der übliche Weg, wie ich ihn kenne.

„Giorgi“ stand auf dem Türschild. Dante Giorgi, so hieß mein Vater, das hatte meine Mutter mir gesagt. Ich selbst hatte ihn ja nie getrofen; aber nach einem Dante Giorgi hatten wir nun sechs Tage lang gesucht, was für eine schweißtreibende Bescherung. Meine Frau Hildegund und ich waren damals schon vier Jahre verheiratet. Immer wieder mal hatte ich ihr in dieser Zeit von meinem Vater erzählt, oder besser: Ich hatte die wenigen Brocken, die ich wusste, so oft wiederholt, dass sein Schatten eine gewisse Masse anzunehmen begann.

„Wenn Du schon A sagst, musst Du auch B sagen“, hatte meine Frau plötzlich erklärt, als unsere Romreise sich schon fast dem Ende zuneigte. „Wir machen uns jetzt richtig auf die Suche nach deinem Vater, koste es was es wolle. Diese Gelegenheit lassen wir nicht verstreichen.“

Ich antwortete nur: „Du bist mein Schutzengel, ab jetzt übernimmst du das Kommando.“

Und so fuhren wir zum Krankenhaus San Filippo Neri. Früher war es mal ein Sanatorium für Lungenkrankheiten, der Arbeitsplatz meines Vaters, wo er meine Mutter kennen gelernt hatte, wo ich gezeugt und auch geboren wurde. Dort sagte man uns, er habe gewechselt nach Santo Spirito. Dort habe ich auch einmal gelegen wegen einer Armfraktur, die einen Wendepunkt in meinem Leben darstellte. Hier hatte Dante Giorgi offenbar bis zu seiner Rente gearbeitet, wie wir erfuhren; darüber hinaus gab es aber keine Daten mehr.

So einfach gaben wir nicht auf. Tags darauf schnappte ich mir das Telefonbuch und ging wild drauf los. Doch Giorgi ist kein seltener Name, und nach ein paar Adressen am Morgen gab ich auf, und wir machten uns gemeinsam auf zur „Piazza Argentina“ wo ein Dante Giorgi samt seiner Familie wohnte. An ihrem ungeheuren Blick erkannte ich, dass Hildegund den armen Mann schon als meinen Vater abgestempelt hatte. Doch ich raunte ihr zu: „Das ist doch kein Etrusker, und schon gar nicht mit schwarzen Accessoires.“ Seine Augen und die Haare meinte ich. „Außerdem ist er auch noch kleiner als einsfünfzig.“ Zum Glück verstand der Mann unsere Aufregung als Familienglück und gab uns den freundlichen Rat, uns erst mal beim römischen Standesamt zu erkundigen.

Und so landeten wir nach einer, für meine Verhältnisse überschaubaren Wildfahrt durch die halbe Stadt und von Amt zu Amt in Aprilia und vor der Tür meines Vaters.

Ich kann mich an diese Stunde erinnern, als wenn es heute wäre: Wir stehen in unserem Auto vor dem Haus, meine beiden Söhne auf dem Rücksitz, der eine ist gerade drei, der jüngere erst vor eineinhalb Monaten geboren. Wir stehen dort und ich weiß nicht, was ich tun sollte. 35 Jahre lang hat mich mein Vater wenig berührt – ich hatte mit anderen Sorgen zu kämpfen, denn ich hätte ihn ja auch viel früher finden können, schon zwanzig Jahre zuvor, wenn ich es nur gewollt hätte.

Die Wahrheit ist wohl: Ich hatte damals Schiss. Einfach Schiss vor der Konfrontation und vielleicht auch vor einer Blamage. Was, wenn er mir gesagt hätte: Was willst Du denn überhaupt? Und ich habe auch mit 35 Jahren noch Angst vor dieser Situation. Ich bin wie paralysiert, als ich auf das Türschild starre. Was soll das denn? Der kennt mich doch gar nicht?

„Komm!Schellan!Fertig.“MeineFrau,dieDraufgängerin. „Stell Dich nicht so an.“ Und dann drückt sie tatsächlich die Schelle.

Ein alter Mann öffnet die Tür, ich weiß gar nicht, was ich ihm sagen soll. Und wieder ist es Hildegund, die die Initiative ergreift, ganz schnell: „Hier – tuo figlio!“

Da guckt er.

„Stopp!“ Ich erwache, gehe rasch dazwischen. „Jetzt rede ich erstmal. Sind Sie Dante Giorgi? Ich weiß, dass Sie 1916 geboren sind. Dass Sie im Sanatorium San Filippo Neri gearbeitet haben als Radiologieassistent.“

„Ja, das stimmt.“

„Und können Sie sich an eine Frau Denaro, Luigia erinnern?“

„Nee“, sagt er.

Da platzt Hildegund hinein, auf Italienisch: „Pass mal auf, das ist dein Sohn hier.“

Der alte Mann bleibt überraschend ruhig, äußerlich zumindest, und er tritt vor die Tür, schließt sie hinter sich. Ich erkläre ihm, wie wir zu ihm gefunden haben. Und ich merke, dass er Angst hat. Er sagt: „Wir haben uns dieses Haus mit Mühe und Not erspart und erarbeitet.“

„Keine Sorge, ich möchte nichts von dir“, versuche ich ihn zu beruhigen. „Ich möchte überhaupt nichts von dir. Uns geht’s gut. Du siehst ja, wir haben hier ein Auto. Wir sind mit dem Flugzeug nach Rom gekommen. Wir sind eine wunderbare Familie. Ich möchte nichts von dir haben. Ich möchte nur von dir wissen, ob Du es wirklich bist oder nicht.“

Ich weiß von meiner Mutter, dass er weiß, dass es mich gibt. Er muss in den ersten Jahren nach meiner Geburt ein paar Mal versucht haben, mich zu sehen. Er soll auch angeboten haben, uns zu unterstützen. Aber meine Mutter wollte das nicht. Vielleicht konnte mein Vater sich auch einfach nicht durchsetzen. „Du verdienst ja selbst nicht genug“, sagte sie ihm. Es war das Jahr 1955, und sehr wahrscheinlich stimmte das.

Und weil meine Mutter ebenfalls nicht für mich sorgen konnte, gab sie mich ins Heim und gestattete ihm nicht, mich zu sehen; natürlich hätte er mich finden können, vermutlich aber hatte er in seiner, sagen wir: misslichen Lage, mich auch aufgegeben. Er hatte ja schon zwei Töchter, als ich geboren wurde, und er bekam zwei weitere nach mir, der Episode im Dienst.

Er drückt sich vor einer Antwort auf meine Frage. Ist er es wirklich?

Meine Frau wird später sagen: Ja, der sieht so aus wie du. Aber ich selbst kann in diesem Moment keine große Ähnlichkeit erkennen. Gut, er hat hellblaue Augen, so hellblau wie meine. Aber sonst – ein ruhiger Mann von 74 Jahren. Ich finde ihn sympathisch. Allein seine Art, wie besonnen er reagiert. Allerdings hatte er kurz zuvor eine Lungenoperation, sagt er. Vielleicht hat er darum nicht mehr die Kraft, sich aufzuregen.

Wir stehen noch immer vor seiner Tür; da kommt plötzlich seine Frau aus dem Haus zum Gartentor und fragt: „Wer sind diese Leute?“

Schnell schalte ich mich ein: „Wir waren hier spazieren und uns gefiel die Gegend. Und da wollten wir mal fragen, ob es nicht irgendwo noch ein freies Grundstück zu kaufen gibt.“

Die Frau sagt: „Hier, ein Stück weiter hoch, da gibt es noch schönes, preiswertes Bauland.“ Sie sagt, sie wolle nur kurz der Nachbarin eine Insulinspritze geben und verschwindet. In Italien ist es durchaus üblich, dass solche Kleinigkeiten nicht nur von Krankenschwestern erledigt werden.

Ich spürte in diesem Moment, dass meinem Vater ein Stein vom Herzen fällt.

Noch einmal frage ich ihn nach meiner Mutter. Er sagt: „Junge, das Krankenhaus ist wie ein Hafen gewesen. Wer weiß schon, was wann mit wem geschah und warum. Es muss eine einmalige Geschichte gewesen sein. Und das war’s.“

Ich weiß, dass das eine Ausrede ist, und ich weiß auch, dass sie zum Teil der Wahrheit entspricht. Bevor Dante Giorgi weiter bestreiten kann, dass er mein Vater ist, sage ich: „Pass mal auf, ich mache dir gar keinen Vorwurf.“ Und Hildegund springt ein: „Ich bin schon ganz froh deswegen. Das hast Du gut gemacht. Wärst Du nicht gewesen, wäre Filippo gar nicht da, und ich hätte ihn nicht getroffen.“ Sie wendet das Negative ins Positive, darin ist meine Frau ein Meister.

So schaffen wir es, glaube ich, ihn einigermaßen zu beruhigen; er fragt mich, was ich mache. Für ihn ist es natürlich ebenfalls ein Erlebnis sondergleichen. Vielleicht hat er unseren Besuch auch als Déjà-vu erlebt, vielleicht hat er sich diese Situation schon einmal aus meiner Perspektive erträumt! Mein Vater, auch das hat Mama mir erzählt, ist selbst ein uneheliches Kind. Mein Großvater kam aus Rom. Und er hat in Livorno eine Affäre gehabt, aus der mein Vater entsprungen ist. Wie sich die Zeit im Kreise dreht, wie soll einem da nicht schwindlig werden?

Ich bin mir jetzt sicher: Er ist es. Und es ist brennend intensiv, dieses Gefühl, zu wissen: Jetzt habe auch ich einen Vater. Nun weiß ich, wie er aussieht.

Eine Stunde sprechen wir. Und ich weiß schon während des Gesprächs, dass es die einzige Stunde sein wird, die ich mit meinem Vater verbringen werde. Natürlich hätte ich ihn gern wiedergesehen, hätte mich noch einmal in Ruhe mit ihm unterhalten, ohne die Angst vor seiner Frau. Aber ich wollte ihm das nicht antun. Und kurz bevor wir uns verabschieden, bevor wir uns bedanken und ihm versprechen, uns nicht wieder zu melden, geht er kurz in sein Haus und kehrt mit zwei Bananen zurück, geht damit zum Auto, wo meine zwei Söhne sitzen. Er schaut sie an, den Kleinen und das Baby, reicht ihnen die Bananen und sagt: „Da un bacetto al nonno.“

Gib dem Großvater einen Kuss.

Erster Teil

TRISTEZZA ITALIANA

Geboren auf dem bösen Berg

ICH WURDE AUF EINEM DER HÜGEL ROMS GEBOREN. Nicht auf Hügel oder Wolke sieben, aber immerhin nah dran. Der Monte Mario ist mit seinen 139 Metern der höchste der Ewigen Stadt. Wer früher nach Rom pilgerte, zu Fuß oder mit dem Karren aus dem Norden, der erklomm diesen Berg und sah plötzlich unter sich diese fantastische Stadt.

Allerdings, muss man nun hinzufügen, war der Monte Mario früher eher bekannt als Monte Malo, als der „Böse Berg“. Hier wurde 998 mal ein Patrizier ermordet, der es wahrscheinlich verdient hatte. Und eigentlich ist er auch nur ein platter Hügel, dieser Monte. Das Sanatorium San Filippo Neri thronte natürlich auch nicht auf seiner Kuppe, sondern klammerte sich an seinen Hang und überhaupt könnte man zu dem Eindruck gelangen, dass dieses Haus auf dem bösen Berg, in dem ein Radiologieassistent meine gerade von der Tuberkulose genesende Mutter schwängerte, alles in allem kein geeigneter Ort für Kinder war. Zumal meine Mutter mich nicht ohne Weiteres durchs Leben bringen konnte. Mich nicht und keines ihrer vier Kinder. Also wurde ich eine gute Stunde nach meiner Geburt fortgebracht ins Heim.

Was mir blieb, um mich stets an meine Herkunft zu erinnern, war mein zweiter Vorname: Filippo, nach dem Sanatorium San Filippo Neri. (Gut, es gab noch einen Grund mir diesen Vornamen zu verpassen. Ich wurde zufällig oder nicht an meinem Namenstag geboren. Welcher das ist? Tut mir leid, aber dieses Rätsel muss der nicht kundige Leser, wenn er will, selber lösen! … Wikipedia oder eine andere schlaue Maschine hilft ;-)

Nun, meine Geburt war nicht ohne, erzählte man mir. Aber meine Mutter hatte ohnehin schon vorher beschlossen, mich fortzugeben. Gestillt wurde ich dennoch – von einer Amme im Neugeborenenheim des Roten Kreuzes, die ersten vier Monate lang; so bin auch ich zu meinen Antikörpern gekommen.

Ich sitze in meinem Bettchen, die Neonröhren leuchten grell. Ich bin vielleicht ein bis eineinhalb Jahre alt. Das ist meine erste Erinnerung. Neben mir müssen, drei, vier, fünf Betten gestanden haben mit anderen Kindern, die ebenfalls schrien. Doch ich war der erste im Raum, der nächste an der Tür rechts von mir. Ich fand das bedrohlich. Dieses grelle Licht – und keiner neben mir. Keine Schutzperson, keiner, der mich getröstet hätte. In dem Moment hatte ich Angst, daran kann ich mich genau erinnern.

Eine andere Erinnerung, vielleicht ein halbes Jahr später: Meine Mutter trug mich bei einem Besuch die Treppe hinunter – und sie ist ausgerutscht. Mit mir auf dem Arm, doch sie ließ mich nicht fallen, federte den Sturz mit ihrem Körper. Sie hat mich gerettet.

Meine Mutter zu Besuch

Im ersten Heim habe ich dennoch unterm Strich eine schöne Kindheit verbracht. Wir kleinen Kinder, wir waren frei. Das Haus war eine Welt für sich. Ein Radio gab es im Aufenthaltsraum, und ein Lied, das ich hier hörte, könnte als Hintergrundmusik dieser Zeit herhalten. „Il mare“, aber nicht die italienische Version von Charles Trenets „La mer“, sondern das eigenständige Stück mit der leicht schwingenden Stimme von Sergio Bruni: ein seltsam schwebender Sonntagnachmittag, dessen Realität man sich nicht allzu sicher sein kann, solch ein leicht schwankendes Gefühl hat er hinterlassen, als würde man nach langer Zeit auf See wieder festen Boden spüren. Sogar ein Kino gab es, in dem Kindersendungen liefen; Dinge, die in Deutschland die Maus macht. Und während wir spielten auf der abschüssigen und hügeligen Wiese, wurde hinter den Mauern gebaut. Überall sahen wir die Kräne aufragen. Damals lag das Heim am Rand, an der Via Portuense im Südwesten von Rom, nahe bei der herrschaftlichen Villa Maraini, die dem Roten Kreuz gehört – und die Stadt wuchs über uns hinweg, ohne dass sie uns etwas hätte anhaben können.

Das auffälligste Zeichen, dass wir doch in Kontakt zur Außenwelt standen, waren die Hubschrauber. Ja, das Hauptgebäude hatte einen Landeplatz auf dem Dach, tatsächlich auf dem Dach. Die einfliegenden und mit Getöse abhebenden Hubschrauber waren für mich als Kind normal. Sie trugen ein Rotes Kreuz.

Es war eine Welt ohne Stress und ohne Zorn seitens der Bediensteten. Jedes Mal wenn die Aufseherin Anna, es war immer dieselbe, mich auf ihren Schoß nahm, spürte ich ein Glücksgefühl; das lag sicherlich daran, dass mir die Bezugsperson Tag und Nacht fehlte. Sie war brünett, ich schätze um die dreißig.

Alle vier Wochen durften uns die Eltern, oder was man so nennen wollte, besuchen. Einmal brachte meine Mutter meinen jüngeren Halbbruder Franco mit. Sie berichtete mir viel später von dieser Szene: Ich hatte eine Banane in der Hand, und der kleine Franco, pfiffig, vielleicht sieben oder acht Monate alt, schnappt mir das süße Ding aus der Hand. Und ich habe geweint, statt mir die Banane zurückzuholen. Dabei war ich schon vier Jahre alt.

Mein Bruder kam ins selbe Heim, ich kann mich jedoch nicht daran erinnern, ihn dort gesehen zu haben. Ich weiß auch nicht, ob Franco schon so früh ins Heim kam wie ich. Er hatte jedenfalls einen anderen Vater, den ich übrigens – im Gegensatz zu ihm – auch kennengelernt habe. Ein, zwei Mal habe ich ihn gesehen, er war größer als meine Mutter, nur soviel weiß ich noch – genauso ein Armschlucker wie alle anderen, ist anzunehmen. Ich habe nie nach ihm gefragt.

Eine Sizilianerin in Rom

MEINE MUTTER WURDE IN ARMUT GEBOREN, in Ganzirri bei Messina; das ist der Punkt, wo Sizilien vom italienischen Stiefel getreten wird. Luigia wurde sie getauft, aber Luisa wurde sie gerufen, wohl weil es einfacher klingt … Als sie zehn Jahre alt wurde, überreichten meine Großeltern sie einer reichen Familie als Hausmädchen. Und das blieb meine Mutter ihr Leben lang, eine Hausmagd.

Ich weiß nicht, ob ihre Eltern daraus Kapital schlagen konnten. Oma und Opa hätten sich das Ganze jedenfalls sparen können, denn wenige Jahre später wurde ihnen die dicke Rechnung präsentiert: Das erste uneheliche Kind meiner Mutter, meinen Halbbruder Salvatore, mussten meine Großeltern bis zu seinem 15. Lebensjahr alimentieren. Ich habe sie erst spät kennengelernt, 1980 in Sizilien. Es ist emotional nicht weiter erwähnenswert verlaufen.

Meine Mutter aber wurde erneut schwanger vom selben Mann. Der Armselige sah sich als Gitarrenkünstler allerdings nicht in der Lage, seine natürlich entstandene Familie zu unterstützen. Und so zog meine Mutter eine andere Variante in Betracht. Mit der Familie, in der sie arbeitete, zog sie nach Rom, und hier brachte sie auch ihr zweites Kind, meine Halbschwester Giuseppina, zur Welt. Nach ein paar Monaten gab sie die Kleine dem Croce Rossa Italiana, dem Italienischen Roten Kreuz, an der „Via Portuense“ in Rom gelegen. Das CRI gab der Kleinen alles Erdenkliche (glaube ich) um sie für den weiteren Lebensweg fit zu machen.

Eine Zeitlang wurde es für meine Mutter etwas ruhiger, bis sie an Tuberkulose erkrankte. Wie das geschah, weiß ich nicht. Aber die Krankheit brachte ihr ein gutes Jahr in dem bereits bekannten, als Sanatorium eingestuften Kurheim mit Namen „San Filippo Neri“ ein. Dort wurde sie vielleicht zu liebevoll von, vermutlich unter anderem, einem Radiologieassistenten behandelt. Das Ergebnis dieser Hingabe schreibt heute diese Zeilen.

Luigia Denaro war noch keine dreißig, als sie mich geboren hat. Kurz darauf konnte oder musste sie offenbar das Sanatorium verlassen, um wieder als Hausmädchen zu arbeiten. Es muss gerade am Anfang eine harte Zeit gewesen sein. Meine Mutter wohnte zwar mitten in der Stadt, und dennoch hatte sie keine feste Bleibe in Rom. Einmal, als ich sieben war, hat meine Mutter mich für einige Tage nach Hause geholt – was immer das hieß. Sie wohnte damals bei einer Freundin zur Untermiete. Meist aber wohnte sie wohl dort, wo sie auch arbeitete. Ihr Leben spielte sich in der Altstadt ab, ich vermute zwischen dem Campo de Fiori und dem Mausoleum des Augustus. Ich stelle mir vor, wie sie für ihre Arbeitgeber jeden Morgen die Einkäufe erledigen musste. Und vielleicht war vor dem Wochenende mal ein Strauß Blumen dabei. Die Nelken unterm Arm, mit schwerer Tasche, in einfacher Kleidung eilt sie am Pantheon vorbei – eine schöne Frau, eine arme Sizilianerin in Rom.

Gleich holen sie dich ab

ICH ERFUHR EIN, ZWEI WOCHEN VORHER von dem geplanten Heimwechsel. Es gab auch einen einleuchtenden Grund: Ich war reif für die Grundschule. Dennoch war ich wie traumatisiert: Ich habe lange geweint, habe mit meinem zarten Körper versucht, mich dagegen zu wehren. Ich spürte das raue Klima, welches an diesem unbekannten Ort herrschte schon im Voraus.

Es war im Juni oder Juli 1961, als ich abgeholt wurde. Meine Mutter hat mich ein, zwei Tage zu sich nach Hause mitgenommen. Zum ersten Mal. Ich weinte, und es war nicht nur die Angst, die Mutter wieder zu verlassen oder den Ort zu wechseln. Etwas Bedrohliches lag in der Luft.