Lächeln - Roddy Doyle - E-Book

Lächeln E-Book

Roddy Doyle

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Beschreibung

Victor Forde verbringt seine Abende immer öfter in Donnell'ys Pub. Dort trifft er auf Fitzpatrick, der behauptet, zusammen mit ihm auf der Oberschule gewesen zu sein. Allerdings kommt er Victor überhaupt nicht bekannt vor und er spürt auf Anhieb eine tiefe Abneigung. Nach und nach dringen lange vedrängte Erinnerungen an die Oberfläche. Besonders an den einen Lehrer, der immer sagte "Ich kann deinem Lächeln einfach nicht widerstehen, Victor Forde." Victor verliert sich immer mehr in den Abgründen der Vergangenheit, bis Fitzpatrick ihn zu einer schockierenden Erkenntnis drängt, die alles in ein neues Licht rückt. Doyle gelingt es wieder mal, sehr ernsten Themen gerecht zu werden, ohne dabei auf seinen typischen pointierten Humor und die messerscharfen Dialoge zu verzichten. Und dennoch ist "Lächeln" anders als alles, was Doyle bisher geschrieben hat. "Erst auf den letzten Seiten begreift der Leser, was Doyle getan hat, und man muss es vielleicht ein zweites Mal lesen, um zu verstehen, wie gut er es gemacht hat." Kirkus Reviews Das gleichnamige Hörbuch erscheint bei GOYALiT

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Seitenzahl: 293

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Roddy Doyle

Lächeln

Roman

Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld

DER AUTOR

Roddy Doyle, 1958 in Dublin geboren, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Booker-Preisträger. Er studierte Anglistik und Geografie und arbeitete viele Jahre trotz großer literarischer Erfolge weiterhin als Lehrer, bevor er sich ab 1993 ganz dem Schreiben widmete. Mit Romanen wie The Commitments, The Snapper und Fish & Chips, deren Verfilmungen zu Kinohits wurden, hat Doyle eine treue Leserschaft gewonnen. Lächeln ist nach Love. Alles was du liebst der zweite Roman von Doyle, der bei GOYA erscheint.

 

DIE ÜBERSETZERIN

Sabine Längsfeld übersetzt seit über zwanzig Jahren Literatur aus dem Englischen und Amerikanischen ins Deutsche. Ihr feines Gespür für Dialoge und ihre Liebe für Zwischentöne haben schon manchem Titel in die Bestsellerlisten verholfen. Zu den von ihr übertragenen Autorinnen und Autoren zählen u. a. Roddy Doyle, Glennon Doyle, Amitav Ghosh, Chan Ho-kei und Simon Beckett.

Das Buch

Gerade in eine neue Wohnung gezogen und zum ersten Mal seit Jahren allein, geht Victor Forde in Donnelly’s Pub auf ein Bier. Dort trifft er auf Fitzpatrick, der sich scheinbar an ihre gemeinsame Schulzeit erinnert. Victor mag ihn nicht, von Anfang an. Auch mag er die Erinnerung an Erlebnisse bei den Christian Brothers nicht, die Fitzpatrick immer wieder anspricht. Die lange verdrängten Ereignisse aus der Schulzeit suchen Victor in immer kürzeren Abständen heim, sie verstören ihn und rauben ihm schließlich fast den Verstand. Bis er zu einer schockierenden Erkenntnis gelangt, die alles verändert.

Doyles wichtiger und couragierter Roman beschäftigt sich mit dem brisanten und tragischen Thema des Kindesmissbrauchs in der katholischen Kirche. Er zeigt, dass die traumatischen Erlebnisse tief sitzen und die Betroffenen ein Leben lang beschäftigen. Es ist ein Beitrag dazu, das Schweigen zu brechen und das Leid spürbar und sichtbar zu machen.

 

 

 

Für Dan Franklin

1

Ab und zu blieb ich am Tresen sitzen, aber ich wollte nicht, dass der Barmann glaubte, ich bräuchte wen zum Reden. Ich saß in einer Ecke in der Nähe eines Fensters, und er kam immer wieder vorbei, beiläufig, um leere Gläser einzusammeln, und dann fragte er mich, ob ich noch was trinken wolle oder wie ich dazu stand, dass Deutschland Brasilien so dermaßen in den Boden gerammt hatte, oder dazu, dass Garth Brooks jetzt doch nicht im Croke-Park-Stadion auftrat. Ich versuchte, mir mich aus seiner Warte vorzustellen. Ganz so schlimm kann ich nicht ausgesehen haben – so einsam, oder deprimiert. Oder vernachlässigt. Dass er schwul sein könnte, kam mir nicht in den Sinn. Ich war vierundfünfzig. Ich war zu alt, um noch ans andere Ufer zu schwimmen.

Ein Stück weiter, am Ende der Straße, gab es noch einen Pub, das Blue Lagoon. Ich war noch nie drin gewesen, es gefiel mir schon von außen nicht. Es war immer zu voll da. Voller Familien und Paare und Horden von Männern, die aussahen, als ginge es ständig um Rugby.

Ich kann sie hören.

Meine Frau.

– Werd endlich erwachsen, Victor.

Also blieb ich, wo ich war, und beschloss, das Donnelly’s zu meinem Pub zu machen. Ich hatte nie eine Stammkneipe. Fußläufig von unserem alten Haus – dem Haus, aus dem ich gerade ausgezogen war – gab es drei, vier Pubs, aber ich hatte nie eins zu meiner Stammkneipe gemacht. Ich war im Laufe der Jahre jeweils nur ein paar Mal dort gewesen und wahrscheinlich nie allein. Rachel war immer dabei gewesen.

Ich ging jeden Abend in meine neue Kneipe. Am Anfang musste ich mich dazu zwingen, wie zum Sport oder zum Sonntagsgottesdienst. Ich fuhr nach Hause – nach Hause! –, kochte mir was, aß und ging dann auf direktem Weg in den Pub. Auf ein gemütliches Pint. Ich hatte ein Buch dabei, oder mein iPad.

Donnelly’s.

Ein guter, altmodischer Name für einen Pub. Ich wohnte wieder am Meer und war an den Kneipen vorbeigelaufen, die ich noch aus meiner Kindheit kannte. Das Schooner, das Pebble Beach, das Trawler. Sie lagen alle eine kurze Autofahrt von meiner Wohnung entfernt oder einen langen Spaziergang, den ich nicht machen wollte. Oder zu nah an der Gegend, in der ich aufgewachsen war. Was für eine traurige Vorstellung, ein Typ in meinem Alter, der sich in eine faltige Version seiner Jugend zurückverwandelt. Der nach den Mädchen Ausschau hält, in die er vor vierzig Jahren verknallt war. Und sie findet.

Das Donnelly’s würde mein Lokal sein. Ich übte mich in dem Gefühl, eine Stammkneipe zu haben. Ich versuchte, die Namen der Angestellten aufzuschnappen. Mein Barmann, der Typ, der meistens Schicht hatte, wenn ich kam, wurde Carl genannt. Oder, von den Männern und Frauen, die ihn besonders gut zu kennen schienen, Carlo. Ich beließ es bei Carl.

– Wie läuft’s?

– Nicht schlecht, Carl.

– Immer noch dasselbe Buch.

– Ist ziemlich dick. Bin fast durch.

– Ist es gut?

– Ist ganz okay.

– Worum geht’s?

– Um Stalin.

– Was für ein Schwein.

– Allerdings.

– Schlimmer als Hitler. Heißt es.

– Ein Monster.

– Und? Wer gewinnt heute Abend?

– Costa Rica.

– Sind Sie sicher?

– Ich hab einen Fünfer gesetzt.

– Bei welcher Quote?

– 6 zu 1.

– Nicht schlecht für ein Rennen mit zwei Gäulen.

– War auch mein Gedanke.

– Na, ich drück die Daumen.

Ins Wettbüro zu gehen war auch neu. Oder so zu tun. Ich hatte nicht auf Costa Rica gesetzt. Von Pferden oder Windhunden hatte ich keine Ahnung, aber im Fußball setzte ich tatsächlich ab und zu einen Fünfer. Auf den Sieger, manchmal aufs Ergebnis. Direkt neben dem Pub lag eine Paddy-Power-Filiale. Sie wurde – auch wenn ich nur im Vorbeigehen einen Blick auf die WM-Quoten warf – zum Bestandteil meines neuen Tagesrhythmus. Zu einer weiteren Ecke meines neuen Zuhauses.

Ich war im Sommer eingezogen, und alles spielte sich bei Tageslicht ab. Aufstehen, rausgehen, wiederkommen, die Treppe raufgehen, Fenster öffnen, Abendessen kochen, dann ins Donnelly’s. Ein Pub bei Tageslicht ist ein vollkommen anderer Ort – weniger Pub. Es war eine gute Zeit für einen Neuanfang, eine gute Zeit, mich einzurichten. Ich konnte einfach dasitzen und zusehen, wie der Raum zur Kneipe wurde. Ich nickte Männern zu, die ich vom Sehen kannte.

– Was für eine Hitze.

– Unfassbar.

Die Wohnung – das Gebäude, von außen – erinnerte mich an meine alte Grundschule. Selbst der Parkplatz vor dem Haus sah aus wie ein verlassener Schulhof. Das Holz der Eingangstür war an den Stellen, wo die Farbe abgesplittert war, ein bisschen morsch. Die Glasscheibe war mit Maschendraht verstärkt. Die Treppe in den ersten Stock war breit genug für rangelnde Schülerhorden. Selbst das Licht, das morgens durch das Oberlicht ins Treppenhaus fiel, hatte etwas an sich – es sah genauso aus wie im Schultreppenhaus damals vor vierzig Jahren. Es war kein unangenehmes Gefühl.

Meine alte Grundschule befand sich nur ein paar Meilen entfernt. Die Oberschule lag noch näher.

Die Wohnung war in Ordnung. Das hatte ich im Grunde schon beschlossen, als sie noch leer gewesen war, als die Immobilienmaklerin – nett und jung, vielleicht Anfang zwanzig – sie mir zum ersten Mal gezeigt hatte. Sie würde genügen.

– Frisch gestrichen, sagte ich.

– Ja, sagte sie.

– Wieso? War Blut an den Wänden?

Sie warf mir einen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass ich einen Witz gemacht hatte. Ich war mir nicht sicher. Aber sie lächelte.

– War einfach mal wieder nötig.

– Schön.

Ich fragte mich, ob der letzte Mieter hier gestorben war. Im Küchenbereich des großen Zimmers, oder nebenan im Schlafzimmer, in das ich nur einen kurzen Blick geworfen hatte. Oder im Bad. Aber ich stellte die Frage nicht laut. Es hätte makaber geklungen. Eigentlich war es mir auch egal.

– Ich nehme sie, sagte ich.

– Oh. Super.

– Bin ich der erste Interessent?

– Der vierte.

– Gehört die Agentur Ihrem Vater?

– Nein.

– Entschuldigung, sagte ich. – Das war dumm von mir.

– Kein Problem.

Es gab zwei Fenster. Ich schaute zu dem einen hinaus, sah den Parkplatz, das niedrige Geländer, sah Bäume und die Backsteinhäuser auf der anderen Straßenseite.

Ich deutete nach unten.

– Katzen, sagte ich.

Sie hockten zu zweit – zu dritt – unter einem Renault, der aussah, als stünde er schon ewig dort.

– Die sind hier überall.

Sie stand hinter mir.

– Die tun aber nichts.

– Super.

Zwei Tage später zog ich ein. Ich hatte aus dem alten Haus ein Bett mitgenommen und das Roberts-Radio, das in unserem Schlafzimmer gestanden hatte. Die Kleidung, die ich mitnehmen wollte, passte in einen Koffer. Meine Schwester schenkte mir einen neuen Küchentisch und zwei Stühle. Ich fuhr nach Swords raus und besorgte mir bei Harvey Norman einen Fernseher, eine Couch und einen Kühlschrank. Ich fuhr zum SuperValu und kaufte drei Rieseneinkaufstüten voller Dinge – Kaffee, Teebeutel, Suppe, Äpfel, Bananen, Spülmittel, einen Scheuerlappen, Waschpulver, Vollkornbrot, ein Baguette, Tomaten, Salz. Ich verstaute die Sachen im Kühlschrank und in den Fächern des Eckregals. Ich stellte das Salz auf den Tisch und schrieb meinen ersten Einkaufszettel.

Pfeffer etc.

Ich setzte mich auf meine Couch, schaute Deutschland gegen Ghana und fühlte mich ganz gut. Ich stellte mir vor, dass meine Nachbarinnen Prostituierte waren. Noch bevor ich eine von ihnen gesehen hatte. Das Mietshaus hatte irgendwas an sich. Wenn es gerade keine Schule war – wenn ich mich nicht gerade im Treppenhaus befand –, war es reinster Ostblock. Ich zog mir am ersten Abend gerade die Hose aus, als ich über mir ein Lachen hörte, das Lachen einer Frau. Sie wurde fürs Lachen bezahlt. Das fühlte sich irgendwie stimmig an. Ich lebte gefährlich. Hinter feindlichen Linien. Irgendwo in diesem Haus saß die Hure mit dem Herzen aus Gold und wartete auf mich. Sie würde in mir sehen, was meine Frau nicht gesehen hatte, und sie würde mich vögeln. Umsonst. Und mich bekochen. Oder sich von mir bekochen lassen. Pfeffer etc. Wir würden im Bett liegen und Fußball schauen. Ich würde sie vor ihrem Zuhälter verstecken. Ich würde ihn von meinem Sohn verprügeln lassen.

Ich wohnte seit drei Tagen da und lief die Treppe runter, auf den Weg in mein neues Stammlokal, als ich den ersten Nachbarn traf. Er kam die Treppe hoch und schleifte eine schwere Schultertasche hinter sich her, wie ein großer, kahl werdender Schuljunge. Er sah mich an und nickte mir zu. Er war zwanzig Jahre jünger als ich und schwitzte.

– Schönes Wetter heute, sagte ich.

Er antwortete nicht. Ehe ich unten bei der Haustür war, hörte ich seine Wohnungstür aufgehen – er hatte nicht angeklopft. Er war nicht auf dem Weg zu einer Prostituierten.

Am nächsten Morgen sah ich die erste Frau. Ich stand am Fenster und schaute den Möwen zu. Irgendwer hatte bei einem der schwarzen Müllcontainer den Deckel offen gelassen, und eine Möwe hatte ein Hähnchengerippe aus dem Müll gezerrt und auf den Boden befördert. Drei Möwen stritten sich um die Knochen, eine weitere Schar attackierte den Müllcontainer. Die Katzen hockten unter dem Renault. Am Straßenrand fuhr ein Taxi vor. Nach der üblichen Verzögerung öffnete sich hinten eine Tür. Ein nackter Fuß erschien, dann kam der Rest der Frau ins Bild. Sie blieb gegen das niedrige Geländer gelehnt stehen und zog sich die Schuhe an, während das Taxi langsam die Straße hinunterfuhr. Die Frau richtete sich auf und betrat den Parkplatz vor dem Haus. Sie war jung – sehr jung. Vor allem die Knie sahen sehr jung aus. Sie ging, als wäre sie schwerelos. Ich machte einen Schritt zurück – ich wollte nicht, dass sie mich beim Runterschauen entdeckte. Trotzdem sah ich, dass sie glücklich wirkte. Ich hörte die Haustür – sonst nichts. Sie war die Tochter einer Prostituierten. Stellte ich mir vor. Mit Chancen, die ihre Mutter nie hatte.

Auf dem Parkplatz sah es aus, als wäre das Hähnchen explodiert. Der Kampf zwischen den Möwen war zur großen Schlacht um Flügel und Keule geworden. Dieses Gezeter – ich hatte es schon immer geliebt. Ich sah zu den Katzen. Sie hatten sich immer noch nicht bewegt, aber sie waren auf der Lauer, wie kurz vor dem Sprung. Über mir wurde ein Fenster geöffnet.

– Verpisst euch!

Ein Mann. Er hatte erst vor Kurzem gelernt, »verpisst euch« zu sagen. Ich fragte mich, warum er nicht irgendwas in seiner eigenen Sprache gebrüllt hatte. Und ich war froh, dass er’s nicht getan hatte. Was ich gerade beobachtet hatte, war großartig – die Möwen, die Katzen, das Mädchen, die Knie, das Gezeter. Es war wunderbar gewesen. Es gab niemanden, dem ich davon hätte erzählen können, aber das war mir egal.

Ich warf einen Blick auf mein Telefon. Es war zwanzig vor sechs.

Milch – kleine Packung.

Müllbeutel.

 

– Victor?

Ich hörte meinen Namen und hob den Kopf, aber ich konnte nichts erkennen. Ich saß neben der geöffneten Pubtür, und das hereinfallende Licht hing wie ein undurchsichtiges Laken zwischen mir und der Stimme, die zu mir gesprochen hatte. Meine Augen tränten ein bisschen – das war inzwischen normal. Ich hatte oft das Gefühl, sie würden in meinem Kopf schmelzen.

– Hab ich recht?

Ein Mann. In etwa mein Alter, nach der Silhouette zu urteilen, dem schwarzen Klotz, der da vor mir stand, und nach der mittelalten, leicht heiseren Stimme.

Ich klappte die Hülle meines iPads zu. Ich war auf der Facebook-Seite meiner Frau gewesen.

Jetzt konnte ich ihn sehen. Zwei Männer waren zum Rauchen nach draußen gegangen. Sie standen nebeneinander und sperrten die Sonne aus.

Ich kannte ihn nicht.

– Ja, sagte ich.

– Dacht ich’s mir doch, sagte er. – Mein Gott. Das gibt’s doch nicht!

Ich wusste nicht, was ich machen sollte.

– Das ist doch bestimmt … ja, Scheiße, Mann … das ist vierzig Jahre her, sagte er. – Also mindestens siebenunddreißig oder achtunddreißig. Du hast dich fast nicht verändert, Victor. Das ist unfair. Darf ich mich setzen? Ich will aber auf keinen Fall stören oder so.

Er pflanzte sich vor mich auf einen Hocker.

– Du musst es nur sagen, dann verzieh ich mich wieder.

Unsere Knie berührten sich beinahe. Er trug Shorts, kurze Hosen mit großen, aufgesetzten Taschen für Schrotpatronen und tote Kaninchen.

– Victor Foreman, sagte er.

– Forde.

– Richtig, sagte er. – Forde.

Ich hatte keine Ahnung, wer der Typ war. Achtunddreißig Jahre, hatte er gesagt. Das hieß, wir hätten uns von der Oberschule kennen müssen. Aber ich hatte keine jüngere Version dieses Mannes vor Augen. Ich mochte ihn nicht. Das wusste ich sofort.

– Wie hieß der Bruder noch mal, der damals so auf dich stand?, fragte er.

Er klopfte mit der flachen Hand auf die Tischplatte.

– Mann! Wie hieß der noch?

Er trug ein rosarotes Hemd, dem man ansah, dass es ziemlich teuer gewesen war. Aber irgendwas stimmte damit nicht, es saß nicht besonders. Es hatte nicht immer ihm gehört.

– Murphy, sagte er. – Hab ich recht?

– Es gab zwei Murphys, sagte ich.

– Echt jetzt?

– Geschichte und Französisch.

– War das nicht derselbe Wichser?

Ich schüttelte den Kopf.

– Nein.

– Mein Gott, sagte er. – Ich hasse das. Scheiß Gedächtnis. Als würde man ständig kleine Stückchen von sich verlieren, oder?

Ich antwortete nicht. Ich habe ein gutes Gedächtnis – dachte ich zumindest bislang. Ich wusste noch immer nicht, wer der Kerl war.

Er verlagerte das Gewicht und schlug einen Fuß übers Knie. Ich hatte freie Sicht auf seinen Oberschenkel.

– Ist ja auch egal, sagte er. – Der Französisch-Bruder, der war scharf auf deinen Arsch. Hab ich recht?

Ich verspürte das Bedürfnis, ihn zu schlagen. Ich wollte ihn umbringen. Ich konnte den gläsernen Aschenbecher spüren, den es nicht mehr gab, der nicht mehr auf dem Tisch stand, seit vor zehn Jahren das Rauchverbot eingeführt worden war – ich konnte das Gewicht in meiner Hand und meinem Arm spüren, als ich das Ding hochhob, als ich aufstand und es auf seinen Schädel krachen ließ.

Ich schaute mich um, um nachzusehen, ob jemand ihn gehört hatte. Das Wort »Arsch« schien im Schankraum nachzuhallen. Ich hasste den Mann, wer immer er war.

Ich nickte trotzdem.

– Krass, sagte er. – Und jetzt schau uns an. Glaubst du, der wäre immer noch scharf auf uns, Victor?

– Eher unwahrscheinlich.

– Auf mich jedenfalls nicht.

Er tätschelte seine Wampe.

– Du siehst immer noch gut aus, sagte er.

Der Akzent stimmte. Er stammte von hier. Er trank schlürfend einen Schluck von seinem Pint – Heineken oder Carlsberg – und stellte das Glas zurück auf den Tisch.

– Hast dich ganz gut gemacht, was, Victor? Oder nicht?

Ich konnte nicht antworten.

– Aus dir ist was geworden, sagte er. – Man liest ständig irgendwo deinen Namen.

– Inzwischen nicht mehr.

– Scheiß auf inzwischen.

Ich wollte gehen.

– Du hast Erfolg, sagte er. – Wir sind stolz auf dich.

Ich wollte weg von hier. Zurück über den Fluss. Zurück nach Hause.

– Victor Forde, sagte er. – Einer von uns.

Eben hatte er noch gedacht, mein Name sei Foreman.

– Du hast diese Puppe geheiratet.

Ich hätte es lassen sollen, aber ich nickte wieder.

– Verfluchte Scheiße!, sagte er. – Gut gemacht. Die Liste deiner Errungenschaften kennt kein Ende.

– Wer bist du?

Sein Blick war eine Mischung aus Glotzen und spöttischem Lächeln.

– Dein Ernst?

– Dein Gesicht kommt mir bekannt vor, sagte ich.

– Mein Gesicht?

Er lachte. Sah mich herausfordernd an.

– Meine Visage?, sagte er. – Mein Gott. Ich war … wie alt? … siebzehn. Als wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Oder?

Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, wer er war.

Ich nickte trotzdem.

– Kleine Hilfestellung?

Diesmal nickte ich nicht.

– Síle Fitzpatrick.

Der Name sagte mir nichts.

– Wer?

– Ach komm … spinnst du?

– Ich kenn keine Síle.

– Síle. Fitz. Patrick.

– Nein.

– Natürlich kennst du sie, sagte er. – Wach auf, Victor. Síle. Du warst verrückt nach ihr. Absolut. Wart ihr alle. Sie war ’ne Matratze. Síle Fitzpatrick. Sie war die Matratze. Das habt ihr alle immer gesagt.

Die Bezeichnung »Matratze« hatte ich seit Jahren nicht mehr gehört. Es war, als hätte man ein Stück Geschichte ausgegraben und würde es mir vor die Nase halten. Ein widerliches Stück Geschichte.

– Nein, sagte ich.

– Doch! Blonde Puppe, hochgewachsen. Ging auf die Holy Faith, Bowie-Fan, Titten wie ’ne Erwachsene.

Langsam setzte sich ein Bild zusammen. Ich glaubte, mich an jemanden zu erinnern.

– Ihr wart alle total scharf auf sie.

– Und du nicht?

– Klar, doch. Aber bei mir ging’s halt nicht.

– Wieso das?

– Weil sie meine Schwester war.

Er explodierte vor Lachen, als hätte er sich schon die ganze Zeit zusammengerissen. Daran war nichts komisch. Ich hatte das Mädchen jetzt wieder vor Augen, Síle Fitzpatrick, und ich wünschte, sie würde wieder aus meinem Kopf verschwinden. Ich wollte ihm sagen, dass ich sie nicht kannte. Aber ich sah sie auf der niedrigen Mauer vor dem Fish’n’Chips-Laden sitzen, mit dem Rücken zur Fensterscheibe. Ich stand im Laden und schaute zu ihr raus, sah ihre Haare, ihre Schultern, die weiße, im Rockbund steckende Schuluniformbluse. Ich wollte, dass sie sich umdrehte und durchs Fenster sah. Dass sie mich ansah.

– Jetzt erinnerst du dich wieder an mich.

Tat ich nicht. Aber an seine Schwester.

– Ja, stimmt, sagte ich. – Jetzt fällt’s mir wieder ein. Entschuldige.

Wie hieß er? Wir waren fünf Jahre lang in dieselbe Klasse gegangen. Ganz offensichtlich. Fitzpatrick, Fitzpatrick.

Ich hatte es.

– Edward.

– Guter Mann, sagte er.

Ich kannte ihn, und ich hatte ihn vor Jahren gekannt. Ich kannte sein Gesicht, und ich hatte sein Gesicht gekannt.

– Eddie, sagte ich.

– Inzwischen ist mir Ed lieber, sagte er. – Klingt erwachsener.

Er zuckte mit den Schultern.

– Irgendwann musste ich erwachsen werden, sagte er.

Da war was gewesen, bevor er gelacht hatte – da war was hängen geblieben und quälte mich.

– Du hast »war« gesagt. Du hast gesagt, sie war deine Schwester.

– Ja, sagte er.

– War, sagte ich.

– Tja.

– Sorry, sagte ich. Ich verstehe nicht – Sie ist doch nicht …

– Gestorben?

– Ja.

– Nein, sagte er. Nein. Wir stehen uns nur einfach nicht sehr nahe.

– Oh.

– Tja.

– Dann ist gut.

– Sie wissen schon, Sie wissen schon …

Die Lücke wurde kleiner. »Sie wissen schon, Sie wissen schon« – das Monty-Python-Zitat stammte direkt aus meiner Schulzeit.

– Wartest du auf wen?, fragte er.

– Nein, sagte ich. – Nein. Bin nur auf ein Bier hier.

– Ich auch. Also wohnst du in der Gegend?

Ich zögerte. Ich wollte ihm nichts erklären.

– Oder bist du nur zu Besuch?, fragte er. – Um dich ein bisschen unters gemeine Volk zu mischen?

– Nein.

– Nein?

– Ich wohne ein Stück die Straße runter … fünf Minuten von hier.

– Oh, super, sagte er. – Dann ist das deine Stammkneipe.

– Eigentlich nicht.

– Scheiße, sagte er.

Er stand auf und griff nach seinem Hocker. Er hatte ihn sich unter dem Hintern weggezogen, noch ehe er ganz stand. Es blieb keine Zeit, in Deckung zu gehen. Aber er wandte sich nur dem Nebentisch zu und stellte den Hocker mit einer Hand ab, griff sich mit der anderen einen Stuhl mit Lehne und zog ihn zu sich heran. Er setzte sich wieder und lehnte sich zurück.

– Schon besser.

Jetzt zeigte er noch mehr nacktes Bein. Er trug eindeutig keine Unterhose.

– Also, sagte er. – Tja …

Ich wartete.

– Ich war selbst eine ganze Weile weg, sagte er.

– Ach ja?

– Ja. War hier und da. Nichts Besonderes. Aber Síle. Die würde sich sicher freuen, von dir zu hören.

Er hatte es erraten: Síle war das Einzige, was ich an ihm mochte.

– Wir kannten uns doch kaum.

– Quatsch. Verarsch mich nicht.

– Das ist die Wahrheit.

– Ja, ja, sagte er. – Sie stand auf dich. Und wie. Was ist die mir auf die Eier gegangen! Geht er aufs College? Was ist sein Lieblings-Bowie-Song? Hat er eine Freundin? Die totale Nervensäge.

– »Heroes«, sagte ich.

– Was?

– Mein Lieblings-Bowie-Song.

Er lachte. Er lehnte sich zurück, lag fast und bellte die Decke an. Aus seiner kurzen Hose ragten graue Schamhaare heraus. Er setzte sich auf, rückte den Schritt zurecht. Hatte er meinen Blick bemerkt?

– Weißt du was?, sagte er. – Ich bin mir sicher, dass sie das immer noch interessieren würde.

– Was meinst du?

– Síle. Sie fänd’s toll zu wissen, dass »Heroes« dein Lieblings-Bowie-Song war. Was ich dir übrigens nicht ganz abnehme. Heute vielleicht, aber wir reden hier von 1975 oder ’76. »Heroes« kam ’77 raus. Du bist ein Blender. Ganz der Alte. Weißt du was? Du kannst mich mal, okay? Vict’ry.

Ich hätte aufstehen sollen.

– Weißt du noch? So haben wir dich immer genannt, Victor, der Sieger.

Ich hätte gehen sollen. Vielleicht wäre er mir hinterhergelaufen, ich hätte trotzdem gehen sollen, raus aus dem Pub und einfach weiterlaufen. Ich hätte mich damit nicht einmal verraten. Denn wie sich später rausstellen sollte, wusste er längst, wo ich wohnte.

2

Ich langweilte mich. Die Langeweile lastete auf mir wie Blei. Ich hätte heulen mögen oder tot umfallen. Gleichzeitig litt ich oft unter Ängsten, und ich lachte oft so sehr, dass ich nichts mehr sehen konnte. Ich besuchte fünf Jahre lang die St. Martin’s Christian Brothers School und hatte vier davon eine Erektion, sogar im Irischunterricht. Ich quälte mich durch die Autobiografie von Peig Sayers und die Kurzgeschichten von Patrick Pearse und dachte dabei nur an Beine und an Nippel und an die Showgirls in der Benny Hill Show und an die Mütter und die Schwestern meiner Freunde. Und an die halb nackten Models in der Sunday World. Und an die Bilder von den Fußballerfrauen, die manchmal in der Football Weekly abgedruckt waren. Und an Lynsey de Paul. Und an die Sängerinnen von Abba. Und die von Pan’s People. Ich trieb es mit meinem Pult, zumindest in Gedanken.

Moonshine saß in der Reihe hinter mir. Er trat mir mit seinen Doc Martens in den Rücken.

– Los jetzt, Vict’ry, wisperte er. – Mach schon. Das ist dein Auftritt.

– Verpiss dich, wisperte ich zurück.

– Mach schon.

– Leck mich.

– Ruhe dahinten, sagte Bruder Murphy.

Er stand vorne und schrieb die Hausaufgaben an die Tafel. Er war nicht ganz so brutal wie die meisten anderen Ordensbrüder und Laienlehrer. Aber manchmal drehte er durch. Es geschah ohne jede Vorwarnung. Einmal hatte er, als es im Klassenzimmer fast völlig still gewesen war, Cyril Toner einen Kopfstoß verpasst. Ich war in mein Französischbuch vertieft und hatte mir gerade vorgestellt, wie kleine Französinnen mit ihren Mündern an den Worten lutschten, als ich irgendwo im Raum ein dumpfes Krachen hörte, gefolgt von einem Stöhnen. Ich sah hoch. Murphy wankte rückwärts und hielt sich die Stirn. Toner stand einfach nur da. Er hielt sich wimmernd die Hände an die Nase. Blut rann durch seine Finger. Tropfte auf den Boden. Es war beängstigend, und gleichzeitig war es cool. Es war legendär. Ordensbruder verpasst Schüler Kopfstoß. Und – das war das Entscheidende – es hatte nicht mich erwischt. Erleichterung, Scham, Freude. Toner war ein Wichser.

Und – nichts passierte. Der Vorfall hatte keine Konsequenzen. Toner ging mit einer gebrochenen Nase nach Hause, nachdem Murphy ihn ins Büro des Schulleiters geschickt hatte. Und Toner hatte froh sein können, ohne weiteren Übergriff aus dem Büro wieder rausgekommen zu sein. Denn die Sache war die: Es war kein Übergriff. Damals nicht. Auch wenn die meisten von uns so was zu Hause nicht zu sehen bekamen und in der staatlichen Grundschule nie erlebt hatten. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, Zeuge von etwas Illegalem geworden zu sein. Sogar von einem Bruder begrapscht zu werden lief schlicht unter Pech oder schlechtem Timing. Toner hätte seinen Eltern nie was erzählt. Wahrscheinlich tischte er ihnen irgendein Märchen auf. Einen Fußball ins Gesicht bekommen, einen Hurleyschläger, eine zugeknallte Tür, einen Ellbogen. In der Schule wimmelte es vor handfesten, glaubwürdigen Möglichkeiten, sich das Nasenbein zu brechen. Wahrscheinlich hatten sie sich in der Küche der Toners darüber kaputtgelacht. Der Schulleiter hatte ihn weder nach Hause noch in die Notaufnahme gebracht. Toner wurde einfach weggeschickt. Die Ordensbrüder wussten, dass ihnen keine Gefahr drohte.

Aber drauf geschissen. Es war nicht meine Nase. Selbst schuld, Toner. Es gab Schlimmere als Murphy. Auch wenn er auf mich stand.

Deshalb hatte Moonshine nach mir getreten.

– Bring ihn zum Lächeln.

– Leck mich.

Bruder Murphy war vielleicht fünfundvierzig, auch wenn sich das Alter von Erwachsenen generell schwer schätzen ließ. In meinen Augen war keiner jünger oder älter als mein Vater. Die Männer schienen alle gleich alt zu sein. Aber das lag nicht am Alter, es lag an der Distanz. Sie schienen alle weit weg zu sein, in einem anderen Raum oder einem anderen Land. Männer – nicht nur die Ordensbrüder – hatten mit uns nichts zu tun. Ich verstand sie nicht. Und damit war ich nicht allein. Meine Kumpels sahen das genauso: Alle Männer waren Vollidioten.

Bruder Murphy war klein, kaum größer als die meisten Jungs in unserer Klasse. Aber dafür umso breiter. Er ging seitlich durch die Tür. Seine Haare waren schwarz wie im Comic. Vielleicht waren sie gefärbt, aber auf die Idee wären wir damals nicht gekommen. Sein Kopf und das Kinn sahen aus wie bei Desperate Dan. Aber er mochte sein Unterrichtsfach und liebte es, vorne an der Tafel auf Französisch vor sich hin zu reden. Wir, die Schüler, sprachen nie Französisch. Wir lasen und schrieben, aber Aussprache war nicht Bestandteil des Lehrplans. Eines Tages stand er vor der Klasse und las aus dem Textbuch vor. Ich kann mich nicht mehr an den Titel der Geschichte erinnern, jedenfalls ging es um einen dünnen Jungen namens Marcel – das Buch war illustriert –, der in einem Ort namens Saint-Cloud lebte. Ich weiß noch, wie ich Murphy beobachtete und dachte, »er wünschte, er wäre dort«. Er wäre so gern Franzose gewesen. Er wollte eine Baskenmütze und einen Renault und einen Sohn namens Marcel. Wenn er in seinem Buch versank, war er glücklich. Inzwischen bin ich älter als er damals, und ich glaube, ich weiß jetzt, was mit ihm los war: Er war unglücklich. Er war einsam.

Und dieser brutale Typ mit dem Quadratschädel eines Comic-Cowboys stand auf mich. Das wusste ich – das wussten alle aus meiner Klasse –, weil er zwei Jahre zuvor etwas Bestimmtes zu mir gesagt hatte.

– Deinem Lächeln kann ich einfach nicht widerstehen, Victor Forde.

Es klang wie ein Filmzitat, nur am völlig falschen Ort. Mir war im selben Augenblick klar, dass ich geliefert war.

Murphy war an dem Tag außergewöhnlich gut drauf gewesen, und wir beknieten ihn, uns fürs Wochenende die Hausaufgaben zu erlassen. Es war Freitagnachmittag, die Sonne heizte das Klassenzimmer auf und verstärkte den Mief. Die Schule lag direkt am Meer, und hinter der Mauer konnten wir die Brandung hören.

– Bitte, Bruder.

– S’il vous plaît, Bruder.

– Wir schließen Sie auch in unser Sonntagsgebet ein, Bruder.

Er ließ uns betteln und grinste. Es war ein Grinsen, kein Lächeln. Das Wort »unangemessen« tauchte erst viel später auf. Aber sein Grinsen war unangemessen. Es war absolut unangemessen. Er wurde von einer Klasse voller Jungs angebettelt und bedrängt, und er genoss es.

Und dann sagte er es.

– Deinem Lächeln kann ich einfach nicht widerstehen, Victor Forde.

Auf einen Schlag war es still.

Es war Ende September. Ich ging erst seit etwa drei oder vier Wochen auf die neue Schule. Ich hatte mich noch nicht eingewöhnt. Die vielen verschiedenen Lehrer, die großen Jungs aus den höheren Klassen, die Gewalttätigkeit und das permanente Gefühl von Gefahr. Die Schule selbst war für mich ein undurchdringliches Labyrinth. Sie bestand aus einer Ansammlung großer, roter Backsteinbauten. Auf dem Weg vom Geografieunterricht zu Naturwissenschaften musste man den einen Raum verlassen, einen anderen durchqueren, aber erst nachdem man an die Tür geklopft und die Hänseleien und Tritte der Oberstufler über sich hatte ergehen lassen. Von dort ging es raus auf den Hof und dann wieder durch eine Tür, die wahrscheinlich mal in die Küche geführt hatte, ins nächste Gebäude hinein, einen Flur entlang, und dann nach links in ein Labor mit einem großen offenen Kamin und einem Erkerfenster, das auf den Bahndamm hinaus ging. Und mit verdreckten Bunsenbrennern. Und einem durchgeknallten, kettenrauchenden Scheißkerl, der im weißen Kittel an seinem Pult lehnte. Jeder Tag war anstrengend. Aufregend und aufwühlend.

Irgendwann würde die Schockstarre nach Murphys Verkündung ein Ende haben. Trotzdem hoffte ich das Gegenteil. Solange das Schweigen anhielt, bestand noch immer die Möglichkeit, dass er die Worte nie gesagt hatte. Aber das Schweigen ging vorbei.

Jemand atmete aus.

Alle atmeten aus. Murphy hatte uns den Rücken zugekehrt. Er hielt den Tafellappen in der Hand und wischte die Hausaufgabe weg.

– Ihr habt gewonnen, Jungs, sagte er. – Keine Hausaufgaben heute.

– Scheiße! Er steht auf ihn, flüsterte Derek Muldowney, der neben mir saß.

Auf ihn, nicht dich. Muldowney distanzierte sich bereits von mir. Ich wollte ihn zu mir zurückholen. Ich kann nichts dafür!

– Er ist ’ne Schwuchtel.

– Du bist ’ne Schwuchtel.

– Murphy weiß, dass du ’ne Schwuchtel bist.

– Ich habe nicht gelächelt, sagte ich zu den anderen. – Echt nicht.

Er hatte mich von Anfang an beobachtet – Murphy –, es konnte gar nicht anders sein. Deinem Lächeln kann ich einfach nicht widerstehen, hatte er gesagt. Er hatte mich beobachtet, als ich an meinem ersten Tag durchs Schultor gekommen war. Das Wohnheim der Ordensbrüder lag direkt neben der Schule. Alle Brüder lebten dort. Murphy musste zum Fenster seines Zimmers rausgeschaut haben, musste beobachtet haben, wie die ganzen neuen jungen Schüler ankamen. Und er hatte mich rausgepickt. In unserer Klasse gab es Jungen, die immer noch aussahen wie Mädchen. Und solche wie Willo Gaffney, der behauptete, er müsste sich schon zweimal in der Woche rasieren. Da war Kenny Peters, ein übler Kerl mit Narbe auf der Stirn, der jedes Mal fehlte, wenn im Vereinsheim das Bezirksgericht tagte. Ich verstand nicht, warum Bruder Murphy es ausgerechnet auf mich abgesehen hatte. Ich sah nicht aus wie ein Mädchen und auch nicht wie ein Mann. Ich hatte keine großen Brüder, niemanden, der mich vor ihm gewarnt hätte. Du darfst nie zurücklächeln. Nie zehn von zehn Punkten erreichen. Und nie weniger als fünf. Gib ihm nie die Gelegenheit, dich nach dem Klingeln noch dazubehalten.

Ich war in einer Schule gelandet, die aus mehreren riesengroßen, einzeln stehenden Gebäuden bestand, mit einem schwarzen Schultor, einer getrimmten Hecke und Bäumen, die aussahen, als wären sie vor Hunderten Jahren gepflanzt worden. Ich war von unserer Siedlung zu Fuß dorthin gelaufen – wir waren gemeinsam gekommen, fünf oder sechs von uns –, aus einer Gegend, wo so gut wie kein Baum mehr stand, wo manche Gehwege nie fertig gebaut worden waren. Ich war noch keine halbe Stunde in der neuen Schule gewesen, als ich zum ersten Mal geschlagen, am Ohr hochgezerrt und wieder fallen gelassen und von dem Scheißkerl im Chemielabor als Vollidiot beschimpft worden war, weil ich gedacht hatte, er hätte auf einen anderen Jungen gezeigt. Ich hatte mich verlaufen und war im Schulhof der Oberstufler gelandet und von einer Horde Typen mit Tritten traktiert worden, die mich außerhalb der Schule niemals bemerkt, geschweige denn angefasst hätten. Doch damit war ich nicht allein. Wir alle, die wir neu waren, wurden rumgeschubst und fertiggemacht. Wir litten gemeinsam, und es war großartig. Und dann, an meinem allerersten Tag, in der letzten Schulstunde, kurz bevor ich nach Hause gehen wollte, zu meiner Mutter und ihren Fragen, hatte mich der Französischlehrer, Bruder Murphy, angelächelt. Er war an jenem Tag der erste Erwachsene, der überhaupt gelächelt hatte, und ich hatte zurückgelächelt.

– Und wie heißt du?

– Victor Forde.

– Victor Forde, Bruder.

– Entschuldigung, Bruder.

– Hatte ich bereits das Vergnügen, irgendwelche älteren Fordes zu unterrichten? Irgendwelche Niederlagen oder Waffenstillstände?

– Nein, Bruder.

Ich war stolz. Ich hatte daran gedacht, ihn Bruder zu nennen. Er lächelte wieder.

– Gut, sagte er.

Er berührte mit einem Finger meine Schulter – es war ein winziger, seltsamer, freundlicher, komischer Stups – und deutete auf ein Pult etwa in der Mitte des Raums am Fenster.

– Du sitzt dort.

– Danke, Bruder.

Er lächelte. Doch sein Lächeln hatte uns allen gegolten.

– Hatte ich bereits das Vergnügen, irgendwelche älteren Kellys zu unterrichten?, fragte er Moonshine.

– Ja, Bruder.

– O Gott. Der Herr steh uns bei.

Es störte ihn nicht, dass wir lachten.

– Und?, fragte meine Mutter, als ich nach Hause kam.

Sie war aufgeregt, sie war jung, sie hatte nie eine höhere Schule besucht.

– Wie war es in der Schule?

– Super, sagte ich.

Und meinte es auch so.

Sie bekam feuchte Augen.

– Victor, ich bin so stolz auf dich.

Sie hob meine Schwester hoch, damit sie mir einen Kuss geben konnte, und dann gab es zur Feier des Tages Spiegeleier mit Pommes frites. Ich konnte es kaum erwarten, am nächsten Morgen wieder in die Schule zu gehen.

Aber dann pickte sich Murphy ausgerechnet mich heraus. Er hatte uns alle angelächelt und dann verkündet, mein Lächeln sei dasjenige, dem er nicht widerstehen könne. Mir war klar, dass die anderen mich killen würden. Das war mir in dem Augenblick klar, als ich kapierte, was Murphy da gesagt hatte und was es zu bedeuten hatte. Mir war klar, dass die Jungs mich fertigmachen würden, sobald das Klingeln ertönte und wir draußen waren. Und so kam es auch. Sie mussten damit nicht mal warten, bis wir das Schulgelände verlassen hatten. Die Ordensbrüder hatten nichts gegen Gewalt. Der Versuch, Gewalt verhindern zu wollen, war sinnlos. Ich wurde eingekreist. Sie schubsten mich.

– Scheißschwuchtel.

– Ich hab nicht gelächelt.

Eine Schultasche wurde geschwungen – ein Leeds-United-Zugbeutel – und landete mit Wucht in meinem Rücken. Ich lachte, obwohl es wehtat. Aus Klapsen wurden Faustschläge. Dann fielen sie über mich her. Aber es würde nicht ewig dauern. Auch das war mir klar. Ich wurde getreten, geboxt, bespuckt. Es dauerte nur eine Minute. Nur ein paar Tritte taten wirklich weh, und die Boxhiebe waren nur auf Arme und Brust gerichtet. Niemand boxte oder trat mich ins Gesicht. Und was das Spucken betraf – wir bespuckten uns ständig.

Dann war es vorbei. Ich hatte wieder Platz. Sie zerstreuten sich. Nur meine richtigen Freunde blieben in der Nähe. Sie lachten. Und ich lachte mit. Ich konnte aufatmen. Es war vorbei. Moonshine gab mir meinen Ranzen zurück. Doc hob meinen Pullover auf und klopfte den Dreck raus.

Als ich nach Hause kam, war mir schlecht. Ich hielt den Mund direkt über die Schüssel, damit es nicht zu sehr spritzte. Ich blieb im Bad, bis meine Augen wieder normal aussahen. Ich zog den langärmligen Pullover über, damit meine Mutter die blauen Flecken nicht sah.

Nichts war vorbei. Es blieb an mir hängen, das, was Murphy gesagt hatte. Ich wurde die Schwuchtel.

– Murphy hat schlechte Laune.

– Die Schwuchtel soll lächeln.

– Los, mach schon.

– Leck mich.