Paddy Clarke Ha Ha Ha - Roddy Doyle - E-Book

Paddy Clarke Ha Ha Ha E-Book

Roddy Doyle

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Beschreibung

Dublin, 1968. Patrick »Paddy« Clarke ist zehn Jahre alt. Tagsüber langweilt er sich in der Schule oder vertreibt sich die Zeit mit seinen Freunden, zieht durch die Straßen, treibt Unfug. Abends sitzt er vor dem Fernseher und knabbert Chips. Lesen tut er am liebsten mit Taschenlampe unter der Bettdecke - so macht es einfach mehr Spaß. Seinen kleinen Bruder Francis, genannt Sinbad, ärgert er unablässig, oft gemeinsam mit Kevin, seinem besten Freund, mit dem er Fußball und Verbrechen spielt. Doch Paddys Welt ist alles andere als heil: Sein Vater trinkt zu viel und streitet immer häufiger mit seiner Mutter, wird sogar handgreiflich. Paddy versucht mehr und mehr, den Frieden zu Hause zu wahren, die Eskalation abzuwenden, doch es gelingt ihm nicht. Niemand schreibt so gut über Dublin wie Roddy Doyle! Ohne Psychologisierungen und nüchtern, in typischer Doyle-Manier, wird authentisch und mitreißend aus einem Jahr im Leben eines Jungen erzählt, der aus dem Paradies der Kindheit vertrieben wird. Unfug, Raufereien und Langeweile: Ein einfühlsames, stilsicheres Porträt eines Zehnjährigen und seiner Welt. Paddy Clarke Ha Ha Ha ist eine Wiederentdeckung eines großartigen Romans in fabelhafter Neuübersetzung und auch heute aktueller denn je. Ausgezeichnet mit dem Booker Prize!

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Seitenzahl: 401

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Roddy Doyle

Paddy Clarke Ha Ha Ha

Roman

Aus dem Englischen von Alexandra Rak

Dieses Buch ist Rory gewidmet.

Glossar der irischen Begriffe In der Reihenfolge ihrer Verwendung

Nach bhfuil sé go h’álainn – Ist das nicht schön?

Tá – Ja

bata – Stock

Seasaígí suas – Steht auf

Clé – deas – clé deas – clé – Links – rechts – links rechts – links

Suígí síos – Setzt euch

Sea – Ja

Dia duit – Hallo/Gott sei mit dir

leithreas – Toilette

Anois – Jetzt

Ciúnas – Ruhe

An bhfuil cead agam dul go dtí an leithreas? – Habe ich die Erlaubnis, auf die Toilette zu gehen?

Níl – Nein

gach maidin – Jeden Morgen

Leabhair Gaeilge – Irischbücher

A-h-aon – Eins

Sambo san Afraic – Sambo in Afrika

Maith thú – Dann ist gut

amadán – Idiot

Go maith – Gut

málas – Schultasche

Wir kamen unsere Straße entlang. Kevin blieb an einem Gartentor stehen und schlug mit seinem Stock dagegen. Es war das Tor von Missis Quigley, sie schaute immer aus dem Fenster, aber sie unternahm nie etwas.

– Quigley!

– Quigley!

– Quigley Quigley Quigley!

Liam und Aidan bogen zu sich in die Sackgasse. Wir sagten nichts, sie sagten nichts. Liam und Aidan hatten eine tote Mutter. Missis O’Connell.

– Das wäre großartig, oder?, sagte ich.

– Ja, sagte Kevin. – Cool.

Wir sprachen davon, eine tote Mutter zu haben. Sinbad, mein kleiner Bruder, fing an zu weinen. Liam ging in meine Klasse. Einmal hatte er sich in die Hosen gemacht – der Geruch schwappte über uns wie ein Hitzeschwall, wenn jemand plötzlich die Ofentür öffnete – aber der Lehrer machte nichts. Er schimpfte nicht und schlug auch nicht mit seinem Leder aufs Pult oder sonst irgendwas. Er befahl uns, die Arme zu verschränken und zu schlafen, und als wir das taten, trug er Liam aus der Klasse. Er kam ewig nicht zurück, Liam gar nicht mehr.

– Hätte ich mir in die Hose gemacht, hätte er mich umgebracht!, flüsterte James O’Keefe.

– Ja.

– Das ist ungerecht, sagte James O’Keefe. – Total ungerecht.

Der Lehrer, Mister Hennessey, hasste James O’Keefe. Es konnte zum Beispiel passieren, dass er mit dem Rücken zu uns stand, etwas an die Tafel schrieb und sagte: – O’Keefe, ich weiß, dass du da hinten etwas im Schilde führst. Lass dich besser nicht von mir erwischen. Einmal war James O’Keefe nicht mal da. Er lag zu Hause und hatte Mumps.

Henno brachte Liam auf die Lehrertoilette und machte ihn sauber, dann brachte er ihn ins Büro des Schulleiters, und der Schulleiter brachte ihn in seinem Auto zu seiner Tante, weil bei ihm zu Hause niemand war. Liams Tante wohnte in Raheny.

– Er hat zwei Rollen Klopapier verbraucht, erzählte uns Liam. – Und er hat mir einen Schilling geschenkt.

– Hat er nicht, zeig mal.

– Hier.

– Das ist nur ein Threepence.

– Den Rest habe ich ausgegeben, sagte Liam.

Er holte die Überreste einer Rolle Toffo aus seiner Tasche und zeigte sie uns.

– Hier.

– Wir wollen auch was.

– Es sind nur noch vier übrig, sagte Liam. Er steckte die Rolle zurück in seine Tasche.

– Aha, sagte Kevin.

Er schubste Liam. Liam ging nach Hause.

Heute kamen wir von der Baustelle. Wir hatten uns eine Ladung fünfzehn Zentimeter langer Nägel und ein paar Holzbretter besorgt, um Boote zu bauen, und wir hatten gerade Ziegelsteine in einen Graben mit nassem Zement geschoben, als Aidan auf einmal davonrannte. Wir hörten sein Asthma und rannten auch alle los. Wir wurden verfolgt. Ich musste auf Sinbad warten. Ich schaute nach hinten, es war niemand hinter uns her, aber ich sagte nichts. Ich packte Sinbads Hand und rannte und holte die anderen ein. Als wir die Straße erreichten, blieben wir stehen. Wir lachten. Wir stürmten durch die Lücke in der Hecke. Dann schauten wir durch die Lücke, ob uns jemand verfolgte. Sinbads Ärmel blieb an den Dornen hängen.

– Da kommt ein Mann!, rief Kevin und schlüpfte zurück.

Wir ließen Sinbad in der Hecke und taten so, als liefen wir davon. Wir hörten ihn schniefen. Wir kauerten uns hinter die Torpfosten des letzten Hauses, bevor die Straße an der Hecke endete, das von den O’Driscolls.

– Patrick, jammerte Sinbad.

– Sinn-baaaahd, sagte Kevin.

Aidan biss sich in die Faust. Liam warf einen Stein auf die Hecke.

– Das erzähle ich Mammy, sagte Sinbad.

Ich gab auf. Ich befreite Sinbad aus der Hecke und ließ ihn seine Nase an meinem Ärmel abwischen. Wir gingen zum Abendessen nach Hause; dienstags gab es Shepherd’s Pie.

Liams und Aidans Da heulte den Mond an. Spätnachts, in seinem Garten. Nicht jede Nacht, nur manchmal. Ich hatte ihn noch nie gehört, aber Kevin schon, behauptete er. Meine Ma sagte, dass er das mache, weil er seine Frau vermisse.

– Missis O’Connell?

– Genau.

Mein Da stimmte ihr zu.

– Er trauert, sagte meine Mutter. – Der arme Mann.

Kevins Vater glaubte, dass Mister O’Connell heulte, weil er betrunken war. Er nannte ihn den Kesselflicker.

– Das sagt der Richtige, meinte meine Mutter, als ich ihr das erzählte. Und dann sagte sie: – Hör nicht auf ihn, Patrick, er veräppelt dich. Wo sollte er sich auch betrinken? In Barrytown gibt es keine Pubs.

– In Raheny gibt es drei, sagte ich.

– Das ist kilometerweit weg. Armer Mister O’Connell. Und jetzt Schluss damit.

Kevin erzählte Liam, dass er gesehen hatte, wie dessen Vater zum Mond hochschaute und wie ein Werwolf heulte.

Liam sagte, dass er ein Lügner war.

Kevin forderte ihn auf, das noch einmal zu sagen, aber er machte es nicht.

Unser Abendessen war noch nicht fertig, und Sinbad hatte einen seiner Schuhe auf der Baustelle vergessen. Uns war verboten worden, jemals dort zu spielen, daher erzählte er unserer Ma, dass er nicht wüsste, wo sein Schuh steckte. Sie schlug ihn auf die Rückseite seiner Beine. Sie hielt seinen Arm fest, aber er versuchte zu entkommen, sodass sie ihn nicht richtig erwischte. Er weinte trotzdem, und sie hörte auf.

Sinbad weinte viel.

– Du kostest mich ein verdammtes Vermögen, sagte sie zu Sinbad.

Sie weinte auch fast.

Nach dem Abendessen sollten wir noch einmal raus und den Schuh suchen, und zwar wir beide, weil ich schließlich auf ihn aufpassen sollte.

Wir würden im Dunkeln rausmüssen, durch die Lücke, über die Felder, durch den Dreck und die Gräben und an den Wachleuten vorbei. Sie wollte, dass wir uns die Hände wuschen. Ich schloss die Badezimmertür und zahlte es Sinbad heim, ich verpasste ihm einen Pferdekuss.

Ich musste auf Deirdre im Kinderwagen aufpassen, während unsere Ma Sinbad saubere Socken anzog. Sie putzte ihm die Nase, schaute ihm ewig lange in die Augen und wischte mit dem Fingerknöchel die Tränen weg.

– Na, na, ist schon gut.

Ich hatte Angst, dass sie ihn fragen würde, was mit ihm los war, und er es ihr verraten würde. Ich schaukelte den Kinderwagen so, wie sie das immer machte.

 

Wir machten ein Feuer. Wir machten immer irgendwelche Feuer.

Ich zog meinen Pullover aus, damit er nicht nach Rauch stank. Es war kalt, aber der Rauchgeruch war schlimmer. Ich schaute, wo ich meinen Pullover hinlegen konnte, nach einem sauberen Fleck. Wir waren bei der Baustelle. Die Baustelle änderte sich ständig. Im eingezäunten Bereich bewachten sie die Bagger und die Ziegelsteine und den Schuppen, in dem die Bauarbeiter saßen und Tee tranken. Vor der Tür lag immer ein Haufen Brotkrusten, riesige Stapel voller Krusten mit Marmeladespuren an den Rändern. Wir beobachteten durch den Maschendrahtzaun, wie eine Möwe versuchte, eine dieser Krusten aufzupicken – sie war für den Möwenschnabel zu lang, sie hätte die Kruste in der Mitte schnappen sollen –, als eine weitere Kruste aus der Schuppentür flog und die Möwe seitlich am Kopf traf. Die Männer im Schuppen lachten schallend.

Manchmal gingen wir zu einer Baustelle, und sie war nicht mehr da, nur noch ein quadratischer, matschiger Platz und zerbrochene Ziegelsteine und Reifenspuren. Dort, wo das letzte Mal noch der nasse Beton war, begann jetzt eine neue Straße, und die neue Baustelle lag am Ende der Straße. Wir gingen zu der Stelle, an der wir mit Stöcken unsere Namen in den Beton geschrieben hatten, aber sie wurden von einer neuen Schicht verdeckt, sie waren verschwunden.

– Ach Mist, sagte Kevin.

Unsere Namen fanden sich in ganz Barrytown auf Straßen und Wegen. Am besten machte man das abends, wenn alle außer dem Wachmann nach Hause gegangen waren. Wenn sie dann am Morgen die Namen entdeckten, war es zu spät, der Beton war ausgehärtet. Wir nahmen nur unsere Vornamen, falls die Bauarbeiter jemals in der Barrytown Road von Tür zu Tür gingen und nach den Jungen suchten, die ihren Namen in den feuchten Beton schrieben.

Es gab nicht nur eine Baustelle, sondern eine ganze Menge davon, mit verschiedenen Häusern.

Wir schrieben Liams Namen und Adresse mit schwarzem Filzstift auf eine frisch verputzte Wand in einem der Häuser. Nichts passierte.

Einmal roch meine Ma den Rauch an mir. Zuerst fielen ihr meine Hände auf. Sie packte eine.

– Schau dir deine Hände an, sagte sie. – Deine Fingernägel! Mein Gott, Patrick, das sind ja richtige Trauerränder.

Dann roch sie an mir.

– Was hast du angestellt?

– Ein Feuer gelöscht.

Sie drehte mir den Hals um. Am schlimmsten war das Abwarten, ob sie meinem Da davon erzählen würde, wenn er nach Hause kam.

Kevin hatte Streichhölzer, eine Schachtel Swan. Ich liebte diese Schachteln. Wir hatten aus Brettern und Stöcken einen kleinen Wigwam gebaut und von der Rückseite der Läden zwei Pappkartons mitgebracht. Die Kartons lagen zerrissen unter dem Holz. Holz allein brauchte zu lange, um in Gang zu kommen. Es war noch immer hell. Kevin zündete ein Streichholz an. Liam und ich schauten uns um, ob irgendjemand kam. Sonst war keiner bei uns. Aidan übernachtete bei seiner Tante. Sinbad war im Krankenhaus, weil er seine Mandeln rausbekommen sollte. Kevin hielt das Streichholz unter die Pappe, wartete, bis sie Feuer fing, und ließ das Streichholz dann los. Wir beobachteten, wie die Flammen die Pappe fraßen. Dann rannten wir in Deckung.

Ich kam mit Streichhölzern nicht gut zurecht. Die Streichhölzer brachen ab oder wollten nicht brennen, oder ich zog sie mit der falschen Seite über die Schachtel, oder aber sie brannten und ich ließ sie zu schnell los.

Wir warteten hinter einem der Häuser. Falls der Wachmann kam, würden wir fliehen. Wir waren bei der Hecke, unserem Fluchtweg. Kevin sagte, dass sie einem nichts machen durften, solange sie einen nicht auf der Baustelle erwischten. Und falls sie uns draußen auf der Straße schnappten und schlugen, könnten wir sie vor Gericht bringen. Wir konnten das Feuer nicht richtig sehen. Wir warteten. Das war noch kein Haus, nur ein paar Wände. Hier entstand eine Reihe von sechs aneinandergrenzenden Häusern. Die Stadtverwaltung baute die Häuser. Wir warteten eine Weile. Ich hatte meinen Pullover vergessen.

– Oh, oh.

– Was?

– Oje.

– Was?

– Notfall, Notfall.

Wir krochen am Haus entlang, aber nicht die ganze Strecke, weil das zu lange dauerte. Da war ein Fass in der Nähe, wo ich meinen Pullover hingelegt hatte. Ich rannte in Deckung. Ich kauerte mich hinters Fass und atmete richtig tief ein und aus, damit ich gleich lossprinten konnte. Ich schaute nach hinten, Kevin hatte sich aufgerichtet, sah sich um und kniete sich wieder hin.

– Okay, zischte er.

Ich atmete ein letztes Mal ein, kam hinterm Fass hervor und stürzte mich auf den Pullover. Niemand schrie. Als ich den Pullover von den Ziegelsteinen an mich riss, machte ich ein Geräusch, als würden Bomben explodieren. Ich schlitterte hinters Fass.

Das Feuer brannte gut, jede Menge Rauch. Ich nahm einen Stein und warf ihn ins Feuer. Kevin richtete sich wieder auf und hielt nach dem Wachmann Ausschau. Die Luft war rein, er winkte mich rüber. Ich spurtete gebückt los und schaffte es zur Hausseite. Kevin klopfte mir auf den Rücken. Liam auch.

Ich band mir den Pullover um die Hüfte. Machte einen Doppelknoten mit den Ärmeln.

– Kommt schon, Männer.

Kevin rannte aus unserer Deckung, wir folgten ihm und tanzten ums Feuer.

– Wuh wuh wuh wuh wuh

Wir legten die Hände an den Mund und machten es wie die Indianer.

– Hii-jaa-jaa-jaa-jaa-jaa-jaa

Kevin trat das Feuer in meine Richtung, aber der Stapel fiel nur um. Vom Feuer war nicht mehr viel übrig. Ich tanzte nicht weiter. Kevin und Liam auch nicht. Kevin zerrte Liam zum Feuer.

– Hör auf!

Ich half Kevin. Liam wurde ernst, also hörten wir auf. Wir schwitzten. Ich hatte eine Idee.

– Der Wachmann ist ein Bas-tard!

Wir rannten zurück hinters Haus und lachten. Und dann riefen wir im Chor.

– Der Wachmann ist ein Bas-tard! Der Wachmann ist ein Bas-tard!

Wir hörten etwas, also Kevin zumindest.

Wir flüchteten, rasten über die Reste des Feldes. Ich lief im Zickzack, mit eingezogenem Kopf, damit mich keine Kugel erwischte. Ich stürzte durch die Lücke in den Graben. Wir kämpften, schubsten aber nur. Liam verfehlte meine Schulter und erwischte mich am Ohr, und das brannte, also durfte ich ihn auch aufs Ohr hauen. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen, damit er nicht versuchte, mich aufzuhalten.

Wir kletterten aus dem Graben, weil Mücken auf unseren Gesichtern landeten.

 

Sinbad wollte das Feuerzeugbenzin nicht in den Mund nehmen.

– Es ist Heilbuttöl, erklärte ich ihm.

– Ist es nicht, sagte er.

Er wand sich, aber ich hielt ihn fest. Wir waren auf dem Schulhof, im Schuppen.

Ich mochte Heilbuttöl. Wenn man mit den Zähnen die Kapsel durchbiss, verteilte sich das Öl wie Tinte durch Löschpapier im Mund. Es war warm, ich mochte das. Die Hülle war auch gut.

Es war Montag, Henno hatte Hofaufsicht, aber er blieb immer auf der anderen Seite und beobachtete die anderen beim Handballspielen. Er war verrückt. Wenn er auf unserer Seite gekommen wäre, zum Schuppen, hätte er viele von uns auf frischer Tat ertappt. Wenn ein Lehrer fünf Jungen beim Rauchen erwischte oder bei anderem üblen Kram, bekam er einen Bonus , das behauptete zumindest Fluke Cassidy, und dessen Onkel war Lehrer. Henno hatte aber nur die Handballer im Blick, manchmal zog er sogar seine Jacke und seinen Pullover aus und spielte mit. Er war großartig. Wenn er den Ball warf, dann sah man den erst, wenn er so schnell wie eine Pistolenkugel gegen die Wand prallte. Henno hatte einen Aufkleber auf seinem Auto: Wer Handball spielt, lebt länger.

Sinbad presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie verschwanden. Wir bekamen seinen Mund nicht auf. Kevin drückte die Benzinkapsel dagegen, aber sie ging nicht hinein. Ich kniff Sinbad in den Arm, keine Wirkung. Das war schrecklich, vor den anderen, ich bekam meinen kleinen Bruder nicht unter Kontrolle. Ich ergriff seine Haare, direkt über den Ohren, und zog sie hoch, ich hob ihn hoch: Ich wollte ihm einfach nur wehtun. Seine Augen hatte er jetzt auch geschlossen, aber Tränen quollen hervor. Ich hielt seine Nase zu. Er schnappte nach Luft, und Kevin schob die Kapsel zur Hälfte in seinen Mund. Dann zündete Liam sie mit einem Streichholz an.

Wir hatten gesagt, dass Liam sie anzünden sollte, Kevin und ich, für den Fall, dass wir erwischt wurden.

Er sah aus wie ein Drache.

 

Mir waren Lupen lieber als Streichhölzer. Wir verbrachten ganze Nachmittage damit, kleine Haufen aus gemähtem Gras zu verbrennen. Ich mochte es, wie das Gras seine Farbe veränderte. Ich mochte, wenn die Flamme auf einmal durch das Gras raste. Mit einer Lupe hatte man eine bessere Kontrolle. Es war einfacher, brauchte aber trotzdem mehr Übung. Wenn die Sonne lange genug schien, konnte man durch ein Blatt Papier sengen und musste es nicht einmal anfassen, sondern nur Steine auf die Ecken legen, damit es nicht wegwehte. Wir machten einen Wettkampf. Brennen, ausblasen, brennen, ausblasen. Der Letzte, der sein Papier ganz durchtrennte, musste sich vom anderen Jungen die Hand verbrennen lassen. Wir malten einen Mann auf das Blatt und brannten Löcher in ihn, in seine Hände und seine Füße, wie Jesus. Wir malten ihm lange Haare. Seinen Pimmel hoben wir bis zum Schluss auf.

Wir schlugen Wege durch die Brennnesseln. Meine Ma wollte wissen, warum ich an einem schönen, warmen Tag meinen Dufflecoat und meine Handschuhe anzog.

– Wir kümmern uns um die Brennnesseln, erklärte ich ihr.

Die Brennnesseln waren riesig, gigantisch. Die Quaddeln wurden gewaltig und juckten noch ewig, auch wenn sie nicht mehr brannten. Die Brennnesseln bedeckten einen großen Teil des Feldes hinter den Läden. Nichts anderes wuchs dort, nur die Brennnesseln. Nachdem wir sie mit unseren Stöcken und Hurlingschlägern umgehackt hatten, zertrampelten wir sie. Der Saft der Brennnesseln spritzte. Wir bauten mitten durch die Brennnesseln Straßen, jeder eine, wegen der Äste und Hurlingschläger, damit wir Platz hatten. Wenn wir nach Hause gingen, trafen die Straßen aufeinander, und es gab keine Brennnesseln mehr. Die Hurlingschläger glänzten grün, und ich hatte zwei Quaddeln auf dem Gesicht. Meine Sturmhaube hatte ich ausgezogen, weil sie an meinem Kopf kratzte.

 

Ich betrachtete Krümel. Mein Da streckte seine Hand nach der Lupe aus, und ich gab sie ihm. Er begutachtete die Haare auf seiner Hand.

– Von wem hast du die?, wollte er wissen.

– Von dir.

– Oh, stimmt, ich habe sie dir geschenkt.

Er gab sie mir zurück.

– Guter Junge.

Er drückte seinen Daumen fest auf den Küchentisch.

– Schau nach, ob du einen Abdruck siehst, sagte er.

Ich war unsicher.

– Den Fingerabdruck, sagte er. – Vom Daumen.

Ich schob meinen Stuhl näher zu ihm und hielt die Lupe über die Stelle, wo der Daumen gewesen war. Wir schauten beide durchs Glas. Ich sah bloß die gelben und roten Punkte der Tischplatte, nur größer.

– Siehst du was?, fragte er.

– Nein.

– Komm mit.

Ich folgte ihm ins Wohnzimmer.

– Wo wollt ihr zwei so kurz vor dem Abendessen hin?, fragte meine Ma.

– Sind gleich wieder da, sagte mein Da.

Er legte seine Hand auf meine Schulter. Wir gingen ans Fenster.

– Rauf mit dir, bis wir etwas finden.

Er schleppte mir den Sessel rüber.

– So.

Er zog die Jalousien hoch. Er sprach mit ihnen.

– Aus dem Weg, damit ich sehe, was wir machen.

Er sicherte die Kordel und hielt sie eine Weile, damit beide Seiten der Jalousien auch bestimmt oben blieben.

Er drückte seinen Daumen auf die Scheibe.

– Jetzt aber, guck.

Aus dem Fleck wurden Linien und gekrümmte Spuren.

– Und jetzt du, sagte er.

Ich drückte meinen Daumen fest auf die Scheibe. Er hielt mich, damit ich nicht vom Sessel fiel.

Ich schaute.

– Sind sie gleich?, fragte er.

– Deiner ist größer.

– Davon abgesehen.

Ich sagte nichts, ich war mir nicht sicher.

– Sie sind alle unterschiedlich, sagte er. – Kein Fingerabdruck gleicht dem eines anderen. Wusstest du das?

– Nein.

– Na, jetzt weißt du es.

Ein paar Tage später fand Napoleon Solo in der Fernsehserie Fingerabdrücke auf seiner Aktentasche.

Ich schaute zu meinem Vater.

– Habe ich dir doch gesagt, meinte er.

 

Wir waren nicht schuld an der Scheune. Wir hatten sie nicht in Brand gesteckt.

Die Scheune wurde zurückgelassen. Als die Stadtverwaltung Donnellys Bauernhof kaufte, kaufte er sich in der Nähe von Swords einen neuen. Er brachte alles dorthin, außer seinem Haus und seiner Scheune und dem Gestank. An nassen Tagen war der Gestank richtig übel. Der Regen frischte die Schweinescheiße auf, die dort seit Jahren lag. Die Scheune war riesig und grün und, wenn sie voller Heu war, großartig. Bevor die neuen Häuser gebaut wurden, schlichen wir uns von hinten hinein. Es war gefährlich. Donnelly hatte ein Gewehr und einen einäugigen Hund. Cecil, so hieß der Hund. Außerdem hatte Donnelly einen verrückten Bruder, Onkel Eddie. Er kümmerte sich um die Hühner und die Schweine. Er harkte die Steine und Kiesel in der Einfahrt vor dem Haus, sobald ein Auto oder Traktor darüberfuhr und sie durcheinanderbrachte. Einmal lief Onkel Eddie an unserem Haus vorbei, als meine Ma das Tor strich.

– Gott behüte ihn, murmelte sie vor sich hin, aber laut genug, damit ich sie hörte.

Eines Tages erwähnte meine Mutter Onkel Eddie beim Essen.

– Gott behüte ihn, sagte ich und mein Vater schlug mir auf die Schulter.

Onkel Eddie hatte zwei Augen, aber er sah ein bisschen aus wie Cecil, weil eins davon zu war. Mein Vater sagte, dass das passiert war, als Onkel Eddie durchs Schlüsselloch geguckt und Zugluft abbekommen hatte.

Wenn man Grimassen zog oder so tat, als würde man stottern, und der Wind änderte sich oder jemand schlug einem in dem Moment auf den Rücken, blieb man für immer und ewig so. Declan Fanning – er war vierzehn, und seine Eltern überlegten, ob sie ihn auf ein Internat schicken sollten, weil er rauchte – stotterte, und zwar seit dem Moment, als er sich über jemanden mit einem Stottern lustig machte und jemand anders ihn auf den Rücken schlug.

Onkel Eddie stotterte nicht, aber er konnte bloß zwei Wörter sagen: Gut, gut.

Wir gingen zum Gottesdienst, und die Donnellys waren hinter uns, und Pater Moloney sagte: – Nehmen Sie bitte Platz.

Wir standen vom Knien auf, und von Onkel Eddie kam ein: – Gut, gut.

Sinbad prustete los. Ich schaute zu meinem Da, um sicherzugehen, dass er nicht dachte, ich wäre das gewesen.

Man konnte auf den Heuballen bis ganz nach oben in die Scheune klettern. Wir hechteten von einer Lage Heuballen zur nächsten. Wir taten uns nie weh, es war großartig. Liam und Aidan sagten, dass ihr Onkel Mick, der Bruder ihrer Mutter, so eine Scheune wie die Scheune der Donnellys hatte.

– Wo?, fragte ich.

Das wussten sie nicht.

– Wo steht die?

– Auf dem Land.

Es gab dort Mäuse. Ich habe nie welche gesehen, aber sie gehört. Trotzdem sagte ich, dass ich welche gesehen hätte. Kevin hatte Dutzende gesehen. Ich hab mal eine zerquetschte Ratte gefunden. Mit Reifenabdruck. Wir versuchten, sie anzuzünden, aber das klappte nicht.

Wir waren ganz oben in der Scheune. Onkel Eddie kam herein. Er wusste nicht, dass wir hier waren. Wir hielten die Luft an. Onkel Eddie drehte zwei Runden und ging wieder raus. Durch die Tür fiel ein Rechteck aus Sonnenlicht. Es war eine von diesen großen Wellblechschiebetüren. Die ganze Scheune bestand aus Wellblech. Wir waren so hoch oben, dass wir das Dach berühren konnten.

Um die Scheune entstanden Rohbauten. Die Straße war verbreitert worden, und jetzt lagen am Ende der Straße, hinten beim Strand, Pyramidenstapel aus Riesenrohren. Die Straße sollte die Zufahrtsstraße zum Flughafen werden. Kevins Schwester, Philomena, fand, dass die Scheune wie eine Mutter aussah, die über die Häuser wachte. Wir sagten, sie sei ein Spast, aber sie hatte recht, die Scheune sah aus wie ein Mutterhaus.

Aus der Stadt kamen drei Feuerwehrautos, um das Feuer zu löschen, aber es gelang ihnen nicht. Die ganze Straße stand unter Wasser. Es passierte nachts. Als wir am nächsten Morgen aufstanden, brannte es nicht mehr, und unsere Ma verbot uns, in die Nähe der Scheune zu gehen, und behielt uns im Auge, damit wir uns daran hielten. Ich kletterte in den Apfelbaum, doch ich konnte nichts erkennen. Er war nicht besonders groß und voller Blätter. Es wuchsen immer nur mickrige Äpfel.

Neben der Scheune fanden sie eine Streichholzschachtel, so hörten wir es zumindest. Das erzählte Missis Parker aus einem der Cottages unserer Ma. Mister Parker arbeitete für Donnelly, er fuhr den Traktor und ging jeden Samstagnachmittag mit Onkel Eddie ins Kino.

– Sie werden sie auf Fingerabdrücke untersuchen, sagte ich meiner Ma.

– Ja. Bestimmt.

– Sie werden sie auf Fingerabdrücke untersuchen, erzählte ich Sinbad. – Und wenn sie deine Fingerabdrücke auf den Streichhölzern finden, kommen sie und nehmen dich fest und stecken dich in die Artane Boys Band.

Sinbad glaubte mir nicht, aber dann wieder doch.

– Dann musst du wegen deiner Lippen die Triangel spielen, sagte ich ihm.

Er bekam ganz feuchte Augen, ich hasste ihn.

Außerdem hörten wir, dass Onkel Eddie im Feuer umgekommen war. Das erzählte Missis Byrne, die zwei Häuser weiter wohnte, meiner Mutter. Sie flüsterte, und beide bekreuzigten sich.

– Vielleicht ist es besser so, sagte Missis Byrne.

– Ja, sagte meine Ma.

Ich wollte unbedingt zur Scheune, um Onkel Eddie zu sehen, falls sie ihn noch nicht weggebracht hatten. Meine Ma machte für uns ein Picknick im Garten. Mein Da kam von der Arbeit. Er fuhr mit dem Zug dorthin. Meine Ma stand vom Picknick auf und ging rein, damit sie ungestört mit ihm reden konnte. Ich wusste, was sie ihm erzählte, das von Onkel Eddie.

– Wirklich?, fragte mein Da.

Meine Ma nickte.

– Das hat er mir gar nicht erzählt, als er gerade mit mir die Straße hochgelaufen ist. Er sagte nur: Gut, gut.

Es entstand eine Pause, und dann prusteten die beiden los.

Er war überhaupt nicht tot. Er war nicht einmal verletzt.

Die Scheune wurde nie wieder grün. Sie war verbeult und verbogen. Das Dach hing so schief wie der Deckel einer Dose. Es schaukelte und quietschte. Die große Tür war gegen die Hofwand gelehnt worden. Sie war ganz schwarz. Eine Wand war komplett verschwunden. Die Schwärze an den Wänden blätterte ab, und das ganze Teil wurde rostig und braun.

Alle sagten, das hätte einer aus den neuen Sozialbauten gemacht. Etwa ein Jahr später behauptete Kevin, er sei das gewesen. Aber das stimmte nicht. Er war in einem Wohnwagen in Courtown im Urlaub, als es brannte. Ich sagte nichts.

An einem schönen Tag konnten wir unterm Dach die Staubpartikel in der Luft sehen. Manchmal hingen sie noch in meinen Haaren, wenn ich nach Hause kam. An windigen Tagen fielen große, kaputte Stücke runter. Der Boden unterm Dach war rot.

Die Scheune löste sich auf.

 

Sinbad versprach es.

Meine Ma schob ihm das Haar aus der Stirn und kämmte es mit ihren Fingern durch, damit es oben blieb. Sie weinte auch fast.

– Ich habe alles probiert, erklärte sie ihm. – Also versprich es noch einmal.

– Ich verspreche es, sagte Sinbad.

Meine Ma band seine Hände los. Ich weinte auch.

Sie hatte seine Hände an den Stuhl festgebunden, damit er nicht an seinen Lippen pulte. Er hatte geschrien. Sein Gesicht war rot geworden, dann violett, und einer seiner Schreie hörte gar nicht mehr auf, er atmete nicht ein. Sinbads Lippen waren wegen des Feuerzeugbenzins voller Schorf. Zwei Wochen lang sah er aus, als hätte er überhaupt keine Lippen.

Sie hielt seine Hände an den Seiten fest, aber er durfte aufstehen.

– Zeig mir deine Zunge, sagte sie.

Sie überprüfte, ob er auch nicht log.

– Na gut, Francis, sagte sie. – Keine Punkte.

Francis war Sinbad. Er schloss den Mund wieder.

Sie ließ seine Hände los, doch er blieb stehen. Ich ging zu ihnen rüber.

 

Man musste die Mole entlangrennen und springen und Reise zum tiefsten Punkt des Meeres rufen, wer die meisten Wörter herausbrachte, bevor er das Wasser berührte, hatte gewonnen. Ganz schaffte das nie jemand. Einmal hatte ich es bis zu dem Des geschafft, aber Kevin, unser Schiri, behauptete, dass mein Hintern schon das Wasser berührt hätte, bevor ich bei Punkt angekommen war. Wir bewarfen uns gegenseitig mit Steinen, aber daneben.

Als die Seaview in der Fernsehserie von einer riesigen Qualle verschluckt wurde, versteckte ich mich hinter der Kommode, es war schrecklich. Zuerst machte es mir nichts aus, und als mein Vater meimeiner Mutter erzählte, wie lächerlich das war, hielt ich mir die Ohren zu. Aber als die Qualle das U-Boot quasi verschlang, kroch ich zur Kommode. Ich hatte auf dem Bauch vor dem Fernseher gelegen. Ich weinte nicht. Meine Ma sagte, dass die Qualle weg war, aber ich kam erst wieder raus, als ich die Werbung hörte. Danach brachte sie mich ins Bett und blieb noch eine Weile bei mir. Sinbad schlief. Ich stand auf, um etwas Wasser zu trinken. Sie sagte, dass ich das nächste Woche nicht mehr schauen durfte, aber sie vergaß es. In der nächsten Woche war es ohnehin wieder so wie immer, es ging um einen verrückten Wissenschaftler, der einen neuen Torpedo erfunden hatte. Admiral Nelson verpasste ihm einen Schlag, dass er gegen das Periskop knallte.

– Richtig so, sagte mein Da.

Er hatte nicht hingeschaut, er hörte bloß zu. Er sah nicht von seinem Buch auf. Ich mochte das nicht, er machte sich über mich lustig. Meine Ma strickte. Ich durfte als Einziger aufbleiben, um die Serie anzuschauen. Ich erzählte Sinbad, wie großartig sie war, verriet ihm aber nicht, warum.

Ich war mit Edward Swanwick unten an dem Strand im Wasser. Er ging nicht auf dieselbe Schule wie die meisten anderen. Er ging aufs Belvedere in der Stadt.

– Nur das Beste für die Swanwicks, sagte mein Da, als meine Ma ihm erzählte, dass sie gesehen hatte, wie Missis Swanwick Margarine statt Butter kaufte.

Sie lachte.

Edward Swanwick musste einen Blazer und eine Krawatte anziehen und Rugby spielen. Er sagte, er hasse das, aber er fuhr jeden Tag allein mit dem Zug nach Hause, daher war es nicht ganz so schlimm.

Wir spritzten uns gegenseitig nass. Mit dem Lachen hatten wir aufgehört, weil wir uns schon ewig nass spritzten. Das Wasser zog sich zurück, also würden wir gleich rausgehen. Edward Swanwick stieß seine Hände nach vorn und schob eine Welle zu mir, und darin schwamm eine Qualle. Ein riesiges durchsichtiges Teil mit rosafarbenen Adern und einem violetten Inneren. Ich streckte meine Arme weit nach oben und ging aus dem Weg, aber sie erwischte mich trotzdem noch an der Seite. Ich schrie. Ich kämpfte mich durchs Wasser zur Treppe. Ich spürte, wie die Qualle mich am Rücken erwischte, zumindest dachte ich das. Ich schrie wieder, obwohl ich das gar nicht wollte. An unserem Strand war es felsig und uneben, ganz anders als an einem richtigen Strand. Ich erreichte die Treppe und umklammerte das Geländer.

– Das war eine Portugiesische Galeere, sagte Edward Swanwick.

Er lief in einem großen Bogen zur Treppe, weit um die Qualle herum.

Ich trat auf die zweite Stufe. Und schaute nach Spuren. Quallenstiche taten nicht weh, bis man aus dem Wasser kam. An der Seite von meinem Bauch war ein rosafarbener Striemen, ich sah ihn genau. Ich war aus dem Wasser raus.

– Das zahle ich dir heim, sagte ich zu Edward Swanwick.

– Das war eine Portugiesische Galeere, wiederholte Edward Swanwick.

– Schau dir das an.

Ich zeigte ihm meine Wunde.

Er stand jetzt auf dem Treppenabsatz und sah über die Brüstung zur Qualle.

Ich zog meine Badehose aus, ohne mich mit einem Handtuch abzumühen. Außer uns war niemand da. Die Qualle trieb noch immer im Meer, wie ein wässriger Regenschirm. Edward Swanwick sammelte Steine. Er ging ein paar Stufen runter, um an welche ranzukommen, aber ins Wasser wollte er nicht mehr. Ich bekam mein T-Shirt nicht über Brust und Rücken, weil meine Haut ganz nass war. Es klebte an meinen Schultern.

– Ihre Nesseln sind giftig, sagte Edward Swanwick.

Inzwischen hatte ich mein T-Shirt angezogen. Ich hob es hoch und vergewisserte mich, dass der Fleck noch da war. Ich fand, er tat langsam weh. Ich wrang meine Badehose über der Brüstung aus. Edward Swanwick warf Steine in Richtung Qualle.

– Auf sie drauf.

Daneben.

– Du bist so ein Spast!, sagte ich.

Ich wickelte meine Badehose ins Handtuch. Es war eins von den großen, weichen Badetüchern. Das hätte ich gar nicht nehmen dürfen.

Ich rannte den ganzen Weg. Den ganzen Weg die Barrytown Road entlang und an den Cottages vorbei, wo ein Geist lebte und eine alte Frau, die müffelte und keine Zähne hatte, und schließlich auch vorbei an den Läden. Drei Tore vor unserem Haus fing ich an zu weinen, dann schnell nach hinten und zur Küchentür hinein.

Ma fütterte das Baby.

– Was ist denn mit dir los, Patrick?

Sie schaute runter, suchte an meinen Beinen nach einer Wunde. Ich zog mein T-Shirt hoch, um ihr die Verletzung zu zeigen. Jetzt weinte ich richtig. Ich wollte eine Umarmung und eine Salbe und einen Verband.

– Eine Qualle – mich hat eine Portugiesische Galeere erwischt, sagte ich ihr.

Sie berührte meine Taille.

– Hier?

– Aua! Nein, da, der lange Streifen. Die sind hochgiftig.

– Ich sehe nichts – Oh, jetzt schon.

Ich zog mein T-Shirt runter und steckte es in meine Hose.

– Was machen wir jetzt am besten?, fragte sie mich. – Soll ich nach nebenan gehen und einen Krankenwagen rufen?

– Nein, Salbe …

– Einverstanden. Das wird helfen. Kann ich erst noch Deirdre und Cathy zu Ende füttern?

– Ja.

– Prima.

Ich drückte meine Hand fest in die Seite, damit der Fleck nicht wegging.

Der Strand war eigentlich nur ein Pumpwerk. Dahinter stand eine Plattform, zu der man viele Stufen gehen musste. Bei einer Springflut schwappte das Wasser über die Plattform. Weitere Stufen führten direkt zum Wasser. Auf der anderen Seite der Pumpstation gab es auch Stufen, aber dort war es immer kalt und die Felsen waren größer und scharfkantiger. Es war schwierig, von da ins Wasser zu gelangen. Die Mole war gar keine richtige Mole. Es war ein zementverkleidetes Rohr. Der Zement war nicht glatt. Stein- und Felsstückchen stachen heraus. Man konnte nicht einfach bis zum Ende durchrennen. Man musste aufpassen, wo und wie fest man auftrat. Man konnte nicht gut am Meer spielen. Es gab zu viel Seegras, Schlamm und Felsen, man musste immer nach unten schauen und das Wasser absuchen. Eigentlich konnte man nur schwimmen.

Ich war ein guter Schwimmer.

Sinbad ging bloß ins Wasser, wenn unsere Ma dabei war.

Kevin hat sich beim Sprung von der Mole einmal den Kopf aufgeschlagen. Er musste zum Nähen ins Jervis-Street-Krankenhaus. Er fuhr mit seiner Ma und seiner Schwester in einem Taxi.

Ein paar von uns durften dort unten am Strand nicht schwimmen. Wenn man sich den Zeh an einem Felsen aufschnitt, bekam man Kinderlähmung. Ein Junge aus dem Barrytown Drive, Seán Rickard, starb, und zwar angeblich, weil er eine Ladung Wasser von dort geschluckt hatte. Jemand anders erzählte, dass er einen Wunderball verschluckt hatte, der in seiner Luftröhre stecken geblieben war.

– Er war ganz allein in seinem Zimmer, sagte Aidan. – Und er konnte sich nicht selbst auf den Rücken klopfen, um ihn rauszukriegen.

– Warum ist er nicht in die Küche gegangen?

– Er hat keine Luft bekommen.

– Ich kann mir auf den Rücken klopfen, guckt mal.

Wir schauten, wie Kevin sich auf den Rücken klopfte.

– Nicht fest genug, sagte Aidan.

Wir versuchten es auch.

– Das ist völliger Quatsch, sagte meine Ma. – Hör nicht auf die.

Sie sprach leiser.

– Der arme kleine Kerl hatte Leukämie.

– Was ist Leukämie?

– Eine Krankheit.

– Kann man die bekommen, wenn man Wasser schluckt?

– Nein.

– Wie dann?

– Nicht vom Wasser.

– Von Meerwasser?

– Von gar keinem Wasser.

Das Wasser am Strand war ausgezeichnet, sagte mein Da. Fachleute der Stadtverwaltung hatten es getestet, und es war einwandfrei.

– Da hast du’s, sagte meine Ma.

Mein Opa Finnegan, ihr Vater, arbeitete für die Stadtverwaltung.

 

Vor Henno hatten wir Miss Watkins als Lehrerin, und die brachte ein Geschirrhandtuch mit der Unabhängigkeitserklärung mit, denn seit 1916 waren fünfzig Jahre vergangen. Der Text stand in der Mitte, und sieben Männer hatten darum herum unterschrieben. Sie hängte es über die Tafel, und wir durften es einer nach dem anderen anschauen. Einige Jungen bekreuzigten sich davor.

– Nach bhfuil sé go h’álainn, Jungs?, sagte sie ein ums andere Mal, wenn zwei Jungen daran vorbeigingen.

– Tá, antworteten wir.

Ich betrachtete die Namen am unteren Ende. Thomas J. Clarke war der erste. Clarke, wie mein Name.

Miss Watkins nahm ihren bata, las uns die Erklärung vor und zeigte auf jedes Wort.

– In dieser großen Stunde muss sich die Irische Nation durch ihre Tapferkeit und Disziplin und durch die Bereitschaft ihrer Kinder, sich für das Gemeinwohl zu opfern, der hehren Bestimmung als würdig erweisen, zu der sie berufen ist. Unterzeichnet im Namen der Provisorischen Regierung, Thomas J. Clarke, Seán MacDiarmada, Thomas MacDonagh, P. H. Pearse, Eamonn Ceannt, James Connolly, Joseph Plunkett

Miss Watkins klatschte, also machten wir das auch. Wir fingen an zu lachen. Sie schaute uns streng an, und wir hörten auf, klatschten aber weiter.

Ich drehte mich zu James O’Keefe.

– Thomas Clarke ist mein Opa. Sag das weiter.

Miss Watkins schlug mit dem bata auf die Tafel.

– Seasaígí suas.

Sie ließ uns im Gleichschritt neben unseren Tischen marschieren.

– Clé – deas – clé deas – clé –

Die Wände des Fertigbaus wackelten. Die Fertighäuser standen hinter der Schule. Man konnte unter sie kriechen. Der Anstrich nach vorne raus war durch die Sonne ganz rissig geworden, er ließ sich abziehen. In der richtigen Schule, der aus Beton, bekamen wir erst ein Jahr später einen Raum, als wir zu Henno wechselten. Wir gingen gerne im Gleichschritt. Dann spürten wir, wie unter uns die Dielen wackelten. Wir stampften so stark auf, dass wir nicht im Takt blieben. Sie ließ uns ein paarmal am Tag marschieren, wenn sie fand, dass wir faul aussahen.

Dieses Mal las Miss Watkins uns die Unabhängigkeitserklärung dabei vor.

– Männer und Frauen aus Irland: Im Namen Gottes und vorangegangener Generationen, von denen unser Land seine alte Tradition nationaler Identität erhält, ruft Irland durch uns seine Kinder zu den Fahnen und strebt nach seiner Freiheit.

Sie musste unterbrechen. Wir marschierten nicht mehr ordentlich im Gleichschritt. Sie schlug auf die Tafel.

– Suígí síos.

Sie wirkte verärgert und enttäuscht.

Kevin meldete sich.

– Miss?

– Sea?

– Paddy Clarke hat gesagt, dass sein Großvater der Thomas Clarke auf dem Geschirrtuch ist, Miss.

– Hat er das?

– Ja, Miss.

– Patrick Clarke.

– Ja, Miss.

– Steh auf, damit wir dich sehen.

Ich brauchte ewig, um neben meinen Tisch zu treten.

– Dein Großvater ist Thomas Clarke?

Ich lächelte.

– Stimmt das?

– Ja, Miss.

– Dieser Mann hier?

Sie zeigte auf den Thomas Clarke in einer der Ecken des Geschirrtuchs. Er sah aus wie ein Großvater.

– Ja, Miss.

– Dann erzähl uns mal, wo er wohnt.

– Clontarf, Miss.

– Wo?

– Clontarf, Miss.

– Komm nach vorne, Patrick Clarke.

Außer meinen Schritten auf den Dielen war es mucksmäuschenstill.

Sie zeigte auf den Schriftzug unter Thomas Clarkes Kopf.

– Lies das vor, Patrick Clarke.

– Ex… äh … exekutiert am 3. Mai 1916 von den Briten.

– Was bedeutet exekutiert, Dermot Grimes, der in der Nase bohrt und glaubt, ich würde ihn nicht sehen?

– Umgebracht, Miss.

– Richtig. Und das ist dein Großvater, der in Clontarf lebt, Patrick Clarke?

– Ja, Miss.

Ich tat so, als würde ich erneut das Bild anschauen.

– Ich frage dich noch einmal, Patrick Clarke. Ist dieser Mann dein Großvater?

– Nein, Miss.

Sie schlug mir dreimal auf jede Hand.

Als ich zurück an meinen Platz ging, konnte ich den Sitz nicht herunterklappen, meine Hände waren zu nichts mehr zu gebrauchen. James O’Keefe klappte den Sitz mit seinem Fuß für mich herunter. Es knallte. Ich dachte, ich würde noch einmal geschlagen. Ich schob meine Hände unter die Beine. Ich krümmte mich nicht: Das ließ sie nicht zu. Es fühlte sich an, als wären meine Hände abgefallen, schon bald würde der Schmerz eher zu einem leichten Brennen werden. Meine Handflächen fingen wie verrückt an zu schwitzen. Es war immer noch still. Ich schaute zu Kevin. Ich grinste, aber meine Zähne klapperten. Ich sah, wie Liam sich am Anfang der Reihe umdrehte und darauf wartete, dass Kevin zu ihm schaute, wartete, dass er grinste.

Ich mochte meinen Opa Clarke viel lieber als Opa Finnegan. Opa Clarkes Frau, meine Oma, lebte nicht mehr.

– Sie ist im Himmel, sagte er, – und hat eine tolle Zeit.

Wenn wir ihn besuchten oder wenn er uns besuchte, schenkte er mir eine Halfcrown. Einmal kam er mit dem Fahrrad.

Eines Abends, es lief gerade Mart und Market im Fernsehen, wühlte ich mich durch die Schubladen der Kommode. In der untersten Schublade lagen so viele Fotografien, dass beim Zuschieben ein paar vom Stapel nach hinten und unter die Kommode rutschten. Auf einem waren Oma und Opa Clarke. Wir hatten ihn schon ewig nicht mehr besucht.

– Dad?

– Ja, Junge?

– Wann besuchen wir Opa Clarke mal wieder?

Mein Da sah aus, als hätte er etwas verloren und wiedergefunden, aber nicht das, was er wollte.

Er richtete sich auf und schaute mich eine Weile an.

– Opa Clarke ist tot, sagte er. – Erinnerst du dich nicht?

– Nein.

Tat ich nicht.

Er hob mich hoch.

 

Mein Da hatte große Hände. Seine Finger waren lang. Aber nicht dick. Ich konnte die Knochen unter der Haut und dem Fleisch ausmachen. Eine seiner Hände baumelte über den Sessel. Mit der anderen hielt er sein Buch. Seine Nägel waren sauber – außer einem –, und die weißen Stücke am Ende waren länger als bei mir. Die Falten um die Knöchel ähnelten ein bisschen dem Muster einer Wand, dem Mörtel zwischen den Ziegelsteinen. Sonst hatte er kaum Falten, aber die Poren waren wie Löcher, mit einem Haar in jede Pore. Dunkle Haare. Unter seinem Ärmel schauten Haare hervor.

Die Nackten und die Toten. So hieß das Buch. Auf dem Buchdeckel war ein Soldat in Uniform. Sein Gesicht war schmutzig. Er war Amerikaner.

– Worum geht es?

Er schaute auf den Buchdeckel.

– Krieg, sagte er.

– Taugt das was?, fragte ich.

– Ja, tut es, sagte er. – Es ist sehr gut.

Ich nickte Richtung Buch.

– Spielt er auch mit?

– Ja.

– Wie ist er?

– Bei ihm bin ich noch nicht. Ich gebe dir Bescheid.

*

Der Dritte Weltkrieg bahnt sich an.

Ich holte meinem Da jeden Tag die Zeitung, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, und samstags auch, zur gleichen Zeit. Die Evening Press, Ma gab mir das Geld.

Der Dritte Weltkrieg bahnt sich an.

– Heißt anbahnen kommen?, fragte ich meine Ma.

– Ich glaube schon, sagte sie. – Warum?

– Der Dritte Weltkrieg bahnt sich an, sagte ich zu ihr. – Schau mal.

Sie sah auf die Überschrift.

– Oje, sagte sie. – Das ist bloß die Zeitung. Die übertreiben gern.

– Werden wir in dem Krieg kämpfen?, fragte ich sie.

– Nein, sagte sie.

– Warum nicht?

– Weil es keinen geben wird, sagte sie.

– Hast du im Zweiten Weltkrieg schon gelebt?, fragte ich sie.

– Ja, sagte sie. – Allerdings!

Sie kochte gerade unser Abendessen und setzte ihre beschäftigte Miene auf.

– Wie war das?

– Gar nicht so schlimm, sagte sie. – Du wärst enttäuscht gewesen, Patrick. Irland war nicht richtig im Krieg.

– Warum nicht?

– Oh, das ist kompliziert, wir waren es einfach nicht. Das kann dir dein Daddy erklären.

Ich wartete auf ihn. Er kam zur Hintertür herein.

– Schau mal.

Der Dritte Weltkrieg bahnt sich an.

Er las es.

– Der Dritte Weltkrieg bahnt sich an, sagte er. – Anbahnen, mehr nicht.

Ihn schien das nicht zu beunruhigen.

– Hast du dein Gewehr griffbereit, Patrick?, fragte er.

– Ma sagt, es wird keinen Krieg geben, meinte ich.

– Sie hat recht.

– Warum?

Manchmal mochte er solche Fragen, manchmal aber auch nicht. Wenn er sie mochte, schlug er die Beine übereinander, als wollte er es sich gemütlich machen, und lehnte sich ein wenig in seinem Sessel zur Seite. Das tat er jetzt auch, er lehnte sich näher zu mir. Den Anfang bekam ich nicht mit, weil ich gehofft hatte, dass er das machte – seine Beine übereinanderschlagen und sich zu mir lehnen –, und es genauso passiert war, wie ich es mir gewünscht hatte.

– … zwischen den Israelis und den Arabern, hörte ich.

– Warum?

– Sie mögen sich nicht, erklärte er, – verkürzt gesagt. Leider dieselbe alte Geschichte.

– Warum schreibt die Zeitung das über den Dritten Weltkrieg?, fragte ich ihn.

– In erster Linie, um Zeitungen zu verkaufen, sagte er. – Mit so einer Überschrift verkauft man Zeitungen. Aber auch, weil die Amerikaner die Juden unterstützen und die Russen die Araber.

– Die Juden sind die Israelis.

– Ja, genau.

– Wer sind die Araber?

– Alle anderen. Ihre ganzen Nachbarn. Jordanien, Syrien –

– Ägypten.

– Guter Junge, du kennst dich aus.

– Die heilige Familie ging nach Ägypten, als Herodes sie verfolgte.

– Richtig. Für einen Zimmermann gibt es immer Arbeit.

Ich verstand nicht ganz, was er damit meinte, aber das war die Art von Dingen, die meine Mutter nicht von ihm hören wollte. Allerdings war sie nicht da, also lachte ich.

– Und die Juden gewinnen, sagte mein Da. – Allen Widrigkeiten zum Trotz. Viel Glück.

– Juden gehen samstags zum Gottesdienst, sagte ich meinem Da.

– Stimmt, sagte er. – In Synagogen.

– Sie glauben nicht an Jesus.

– Stimmt.

– Warum nicht?

– Nun ja.

Ich wartete.

– Menschen glauben unterschiedliche Dinge.

Das reichte mir nicht.

– Manche glauben an Gott, andere nicht.

– Kommunisten nicht, sagte ich.

– Stimmt, sagte er. – Von wem weißt du das?

– Mister Hennessey.

– Guter Mann, Mister Hennessey, sagte er.

Die Art und Weise, wie er das Nächste sagte, verriet mir, dass es aus einem Gedicht stammte, manchmal machte er das.

– Und sie starrten und sie staunten gar noch mehr, so ein kleiner Kopf und er wurde vom Wissen nicht schwer. Einige glauben, dass Jesus der Sohn Gottes war, und andere nicht.

– Du schon, oder?

– Ja, sagte er. – Das tue ich. Warum? Hat Mister Hennessey euch gefragt?

– Nein, sagte ich.

Seine Miene veränderte sich.

– Die Israelis sind ein großartiges Volk, sagte er. – Hitler wollte sie auslöschen, viel hat nicht mehr gefehlt, und sieh sie dir jetzt an. Zahlenmäßig unterlegen, waffenmäßig unterlegen, in so ziemlich allem unterlegen, und trotzdem gewinnen sie. Manchmal denke ich, wir sollten dorthin ziehen, nach Israel. Würde dir das gefallen, Patrick?

– Ich weiß nicht. Ja, vielleicht.

Ich wusste, wo Israel lag. Es sah aus wie ein Pfeil.

– Es ist heiß dort, sagte ich.

– Hmmm.

– Aber im Winter schneit es trotzdem.

– Jep. Eine schöne Mischung. Nicht wie hier, nur Regen.

– Sie ziehen keine Schuhe an, sagte ich.

– Machen sie nicht?

– Sandalen.

– So wie … wie heißt er noch gleich?

– Terence Long.

– Stimmt. Terence Long.

Wir lachten beide.

– TERENCE LONG

TERENCE LONG

WENN ER OHNE SOCKEN LIEF

UMWEHTE IHN EIN ÜBLER MIEF.

– Armer alter Terence, sagte mein Da. – Aber die Israelis sind klasse.

– Wie war der Zweite Weltkrieg?, fragte ich ihn.

– Lang, sagte er.

Ich kannte die Daten.

– Ich war noch ein Kind, als er losging, sagte er. – Und als er vorbei war, war ich fast mit der Schule fertig.

– Sechs Jahre.

– Jep. Sechs lange Jahre.

– Mister Hennessey sagte, dass er erst mit achtzehn seine erste Banane gesehen hat.

– Das ist durchaus möglich.

– Luke Cassidy hat Ärger bekommen. Er wollte wissen, was die Affen während des Krieges gegessen haben.

– Was ist passiert?, fragte Da, nachdem er mit Lachen fertig war.

– Er hat ihn geschlagen.

Er sagte nichts.

– Sechsmal.

– Uff.

– Dabei hat Luke sich das nicht einmal selbst ausgedacht. Kevin Conroy hat gesagt, dass er das fragen soll.

– Dann geschieht es ihm recht.

– Er hat geweint.

– Und das nur wegen Bananen.

– Kevins Bruder geht in die F.C.A, zu den Reservisten, sagte ich.

– Ach ja? Da werden sie ihn ordentlich Mores lehren.

Das verstand ich nicht. Wer war dieser Mores?

– Warst du da?

– In der F.C.A.?

– Ja.

– Nein.

– Während des …

– Mein Vater war in der L.D.F.

– Was ist das?

– Local Defence Force, die örtlichen Schutztruppen.

– Hatte er ein Gewehr?

– Davon gehe ich aus. Aber nicht zu Hause, glaube ich zumindest.

– Wenn ich alt genug bin, werde ich mich denen auch anschließen. Darf ich?

– Der F.C.A.?

– Ja, darf ich?

– Sicher.

– War Irland jemals in einem Krieg?

– Nein.

– Was ist mit der Schlacht von Clontarf?

Er lachte, ich wartete.

– Das war kein richtiger Krieg, sagte er.

– Was war’s dann?

– Eine Schlacht.

– Was ist der Unterschied?

– Na ja, sagen wir es … Kriege sind lang –

– Und Schlachten sind kurz.

– Ja.

– Warum war Brian Boru in einem Zelt?

– Er hat gebetet.

– Aber in einem Zelt? In Zelten betet man nicht.

– Ich habe Hunger, sagte er. – Wie steht’s mit dir?

– Schon.

– Was gibt es wohl, irgendeine Idee?

– Hackbraten.

– Richtig.

– Wie kann Gas einen umbringen?

– Es vergiftet dich.

– Wie?

– Man sollte es nicht einatmen. Deine Lunge verkraftet das nicht. Warum?

– Die Juden, sagte ich.

– Oh, sagte er. – Ja.

– Wenn Irland im Krieg wäre, würdest du zur Armee gehen?

– Wird nicht passieren.

– Vielleicht schon, sagte ich.

– Nein, sagte er. – Das glaube ich nicht.

– Der Dritte Weltkrieg bahnt sich an, sagte ich.

– Vergiss das, sagte er.

– Würdest du?

– Ja, sagte er.

– Ich auch.

– Gut. Und Francis.

– Er ist zu jung, sagte ich. – Sie würden ihn nicht lassen.

– Es wird keinen Krieg geben, sagte er. – Mach dir keine Sorgen.

– Mache ich nicht, sagte ich.

– Gut.

– Wir waren gegen die Engländer im Krieg, oder?

– Ja.

– Das war ein Krieg, sagte ich.

– Also, das war nicht wirklich – vermutlich schon.

– Wir haben gewonnen.

– Ja. Wir haben sie umgebracht. Wir haben ihnen eine Abreibung verpasst, die sie nie vergessen werden.

Wir lachten.

Wir aßen zu Abend. Es war köstlich. Der Braten war nicht zu bröselig. Ich saß auf dem Stuhl neben Da, auf Sinbads Platz. Sinbad sagte nichts.

 

– Das heißt nicht Ädeidas. Das heißt Adiiidas.

– Stimmt gar nicht. Es heißt Ädeidas.

– Stimmt doch. In der Mitte heißt es iii.

– Ei.

– Iii.

– Ei.

– Spast, es heißt iiiiiiiii.

– Eiiiiii.

Keiner von uns hatte Adidasfußballschuhe. Wir bekamen sie alle zu Weihnachten. Ich wollte die mit den Schraubstollen. Das schrieb ich auch in meinen Brief an den Weihnachtsmann, obwohl ich nicht an ihn glaubte. Ich schrieb nur an ihn, weil meine Ma es mir gesagt hatte, weil Sinbad an ihn schrieb. Sinbad wünschte sich einen Schlitten. Ma half ihm beim Schreiben. Ich war schon fertig. Mein Brief steckte im Umschlag, aber ich durfte nicht die Klappe anlecken, weil Sinbads Brief auch noch dazusollte. Das war ungerecht. Ich wollte einen eigenen Umschlag.

– Jetzt jammere nicht so, sagte sie.

– Ich jammere nicht.

– Doch, tust du, hör auf.