Lacraine - Julie Roth - E-Book

Lacraine E-Book

Julie Roth

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Beschreibung

"Ich hätte Krieg für dich geführt, Caya. Ich hätte die ganze Welt in ein Schlachtfeld verwandelt, wenn das bedeutet hätte, dass du in Sicherheit bist." Rean Alves ist 20, als er zum König von Lacraine gekrönt wird. Im Frankreich des 22. Jahrhunderts soll er gemeinsam mit dem Parlament regieren - eine Position, die er nie wollte. Seit seine Eltern vor fünf Jahren bei einem Anschlag ums Leben gekommen sind, hat er panische Angst davor, dass ihm das Gleiche passiert. Um sich und seine grosse Liebe zu schützen, führt er ein Gesetz ein, das DNA-Tests für alle Bürger des Landes obligatorisch macht. Anhand dieser soll die Wahrscheinlichkeit berechnet werden, dass jemand im Laufe seines Lebens ein Verbrechen begeht. Doch als der junge König sich selbst testen lässt, ist sein Ergebnis nicht so perfekt wie erwartet - im Gegenteil. Rean hat das genetische Profil eines Serienmörders. Und während er alles versucht, um dieses Resultat vor der Öffentlichkeit zu verstecken, stellt er sich zunehmend die Frage, ob es nicht doch der Wahrheit entspricht.

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Für die Leute vom Maggie&Beth’s, weil dieses Buch ohne euch noch nicht fertig wäre.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

TAGE

WOCHEN

MONATE

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

ERSTER BRIEF

ZWEITER BRIEF

DRITTER BRIEF

VIERTER BRIEF

FUENFTER BRIEF

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

EPILOG

1

»Ich kann das nicht, Caya. Ich kann nicht König sein.« Rean Alves sah seine Verlobte verzweifelt an.

»Natürlich kannst du König sein«, widersprach diese. »Du wurdest dein ganzes Leben lang darauf vorbereitet.«

Es war die Wahrheit; seit er fünf Minuten vor seiner Zwillingsschwester Bleu geboren worden war, war klar gewesen, dass Rean eines Tages den Thron von Lacraine übernehmen würde.

Nur hatte damals niemand gedacht, dass das so früh der Fall sein würde.

Caya strich den Umhang glatt, der mit einer goldenen Klemme auf Reans Schulter befestigt war. Sie hatte seinen Gesichtsausdruck sofort durchschaut, wusste wahrscheinlich genau, worüber er nachdachte. »Deine Eltern wären stolz auf dich.«

»Ich bezweifle es. Ich glaube eher, sie hätten Angst um mich.« Rean schaute Caya nicht an, starrte nur zur Tür, durch die er gleich würde treten müssen. »Diese Position ist lebensgefährlich. Ich verstehe immer noch nicht, warum du dir das antun willst.«

Caya drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Deinetwegen, du Dummkopf.«

»Es ist es nicht wert. Ich warte noch auf den Tag, an dem du das einsiehst.«

Bevor Caya etwas erwidern konnte, begann die Musik im Saal zu spielen. Es war ein feierlicher Marsch, eine simple elektronische Melodie. So traditionell für die Krönung in Lacraine wie der durchscheinende, mit winzigen Diamanten besetzte Umhang, der an einen Nachthimmel erinnerte. Eine ferne Galaxie, in der Rean sich jetzt gerne befunden hätte. Lieber als hier.

Caya verschränkte ihre Finger mit seinen. »Du wirst Geschichte schreiben, Rean. Und ich werde an deiner Seite sein.«

»Ich frage mich nur, wie ich Geschichte schreiben werde.«

Kurzerhand machte Reans Verlobte einige Schritte auf die schweren Flügeltüren zu, die zum Krönungssaal führten. Einen Moment lang zögerte sie, dann wischte sie mit den Händen zur Seite, um die Türen zu öffnen. Automatisch schwangen sie auf.

»Das ist deine Entscheidung«, sagte sie mit einem Blick zurück zu Rean.

Er atmete tief durch, bevor er nach draußen trat. Die wenigen Zuschauer, die zur Krönung zugelassen waren, die meisten davon Fernsehteams, applaudierten höflich, als er den Gang entlangschritt. Er bemühte sich um die Körperhaltung, die man ihm beigebracht hatte: das Kinn nach oben, die Brust raus, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Dabei hoffte er, dass die Kameras den Angstschweiß nicht einfingen, der sich auf seiner Stirn bildete. Die etwas zu fest zusammengepressten Lippen, die Schritte, die etwas zu lange dauerten. Rean war so langsam, dass die Musik verstummt war und von neuem eingesetzt hatte, bis er vorne ankam.

»Rean Alves.« Die tiefe Stimme von Vasco de Lima jagte Rean einen Schauer über den Rücken. Er mochte den Sprecher des Parlaments nicht. Und jetzt gerade erinnerte ihn dieser zusätzlich noch an das Amt, für das sich Rean nicht bereit fühlte, denn Vasco war beauftragt worden ihn zu krönen.

Seit dem Anschlag vor fünf Jahren, bei dem Reans Eltern ums Leben gekommen waren, hatte das Parlament regiert. In der Neuen Konstitutionellen Monarchie von Lacraine waren sie zuvor lediglich die Legislative gewesen – die Gruppe, die die Gesetze machte, während der König sie bestätigte und ausführte. Aber es war gesetzlich vorgeschrieben, dass die Verantwortung über die Krone einem König erst mit dem Eintritt in die Volljährigkeit mit zwanzig Jahren übertragen werden durfte. Und wenn der Nachfolger noch nicht alt genug war, übernahm das Parlament die Regierung.

Heute war Reans zwanzigster Geburtstag.

Und der Tag seiner Krönung.

»Wir sind heute hier versammelt, um die Macht über das Land Lacraine an die Person zu geben, für die sie bestimmt ist. Rean Alves, Prinz von Lacraine, ist heute volljährig geworden und übernimmt deswegen, wie gesetzlich vorgeschrieben, die Krone«, wandte sich Vasco de Lima an das Publikum. Seine Stimme verriet genauso wenige Emotionen wie sein Gesichtsausdruck, die Worte klangen eingeübt. Rean wusste genau, dass er ihn eigentlich nicht krönen wollte. Dass er die Macht eigentlich nicht mit ihm teilen wollte.

»Rean Alves, bitte sprecht nun den Schwur.«

Aber was Vasco – oder Rean – wollte, machte keinen Unterschied.

Reans Stimme zitterte leicht. »Ich, Rean Alves, erkläre mich bereit, die Krone des Landes Lacraine zu übernehmen. Ich erkläre mich bereit, immer für das Wohl meines Volkes zu stehen, und rationale Entscheidungen zu treffen. Beim Annehmen und Ausführen von Gesetzen verpflichte ich mich, mich an die Menschenrechte zu halten und für Gerechtigkeit zu sorgen. Falls ich gegen meine Verpflichtungen als König verstoßen sollte, akzeptiere ich meine Absetzung und, je nach Grad meines Verstoßes, meine Exekution.«

Vasco nahm die filigrane Krone von dem schwebenden Hoverkissen neben ihm. Er sah Rean in die Augen, während er sie ihm auf den Kopf setzte. »Ich kröne Euch hiermit zum neuen König von Lacraine.«

Das Publikum applaudierte erneut, das Geräusch hörte sich an, als würde es von weit weg kommen. Nur ein Rauschen als Hintergrundmusik, während Rean in die Kameras schaute, die auf ihn gerichtet waren, und ein falsches Lächeln aufsetzte. Lächeln, immer lächeln. Das hatte man ihm beigebracht. Lächeln, dann fanden die Leute einen sympathisch.

Bei seinen Eltern hatte das scheinbar weniger gut funktioniert.

Aber daran durfte er jetzt nicht denken. Stattdessen konzentrierte er sich auf sein Lächeln und auf seine bevorstehende Rede. Und auf Caya, die nun auch aus dem Hinterzimmer kam und den Flur entlangschritt. Ihr langes schwarzes Kleid umspielte die weichen Kurven ihres Körpers, während sie in den hohen Schuhen lief, als wäre sie damit geboren worden. Professionell lächelnd stellte sie sich neben Rean, wobei ihm der kurze Seitenblick nicht entging, den sie ihm zuwarf.

Vielleicht hätte die Geste beruhigend wirken sollen, doch bei ihm bewirkte sie das Gegenteil. Was, wenn Caya etwas zustieß? Könnte er noch weiterleben im Wissen, für den Tod der Liebe seines Lebens verantwortlich zu sein?

Aber er hatte sie gewarnt. Er hatte sie immer und immer wieder gewarnt und sie hatte ihm immer und immer wieder versichert, dass ihr die Risiken nichts ausmachten, die die Position als Königin mit sich brachte.

Trotzdem. Er würde sich trotzdem für den Rest seines Lebens die Schuld daran geben, wenn sie starb oder verletzt wurde.

Caya stieß ihn kaum merklich in die Seite und erst da merkte Rean, dass er schon viel zu lange nichts mehr gesagt hatte. Schnell lehnte er sich zum Mikrofon seines Rednerpultes vor und räusperte sich. »Volk von Lacraine«, sagte er ins Mikrofon. Seine Stimme schallte aus den Lautsprechern neben ihm. Es war seltsam, sich selbst zu hören; er klang sicherer, als er erwartet hätte. »Während der letzten fünf Jahre lagen sämtliche Augen der Öffentlichkeit auf mir, und seit einiger Zeit auch an der wunderschönen Frau an meiner Seite – meiner Verlobten Caya Lynx.«

Es war eine Liebesgeschichte, die die Medien geliebt hatten: der Prinz, der sich in ein armes Mädchen verliebte. Das war aber nicht der Grund, warum sie sich vor einem Jahr verlobt hatten. Nein, wann immer Rean Caya ansah, war er sich sicher, dass er den Rest seines Lebens mit ihr verbringen wollte.

»Ich möchte nach dem Schwur leben«, fuhr Rean fort. »Immer das zu tun, was das Beste für das Land und seine Bevölkerung ist, ist eine Herausforderung – wahrscheinlich eine, der niemand zu hundert Prozent gerecht werden kann. Aber ich hoffe, dass Lacraine unter meiner Regierung zu einem noch besseren Ort wird, als es bereits ist. Einem Ort, an dem Armut und Arbeitslosigkeit immer weniger werden und in dem Wirtschaft und Innovation vorangetrieben werden. Lacraine ist ein besonderes Land: eine Nation, die aus Kriegen entstand und trotzdem selbst immer den Frieden wahrte. Eine Nation voller Wachstum, Diversität und Sicherheit.« Er machte eine Pause. »Danke, dass Sie mir ihr Vertrauen schenken. Gerade als junger König bedeutet mir das viel. Doch ich kann Ihnen versichern, dass ich mehr als fähig bin, die mir zugewiesene Verantwortung zu übernehmen.«

Lügen. Er war sich alles andere als sicher, ob er dazu fähig war, das Beste für dieses Land zu tun, dazu, auch nur eine einzige gute Entscheidung zu treffen. Aber das war es, was die Leute hören wollten; von seiner Angst, dieses Amt zu übernehmen, konnte er ihnen nicht erzählen. Die einzige Person, die davon wusste, war Caya. Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er vor ihr nichts geheim halten können.

Caya beugte sich zum Rednerpult vor, wollte ebenfalls etwas sagen, doch in diesem Moment kamen zwei Bedienstete und trugen es weg.

Rean sah die Frustration unter dem aufgesetzten Lächeln seiner Verlobten, Frustration darüber, dass man sie noch immer nicht für gut genug hielt, obwohl sie bald Königin sein würde. Schnell nahm er ihre Hand und zog sie den Flur entlang, zurück zu den Türen. Eine Handbewegung später waren sie vor den neugierigen Augen der Kameras verborgen.

Rean wusste, dass dieser hastige Abgang später in allen eTabloids stehen würde, doch in diesem Augenblick war ihm das egal.

»Du musst mich nicht beschützen!«, fuhr Caya ihn an, kaum waren die Türen hinter ihnen zugefallen.

»Wer sagt, dass ich dich beschützen wollte? Vielleicht wollte ich nur selbst von ihnen weg«, gab Rean zurück.

»Ich habe deinen Blick gesehen.« Sie verdrehte die Augen. »Ich hatte nicht vor, dort vorne einen Wutanfall zu bekommen.«

»Ich weiß. Ich wollte nur nicht, dass du öffentlich gedemütigt wirst.«

»Du wirst mich nicht ewig beschützen können.« Ihre Stimme klang nicht einmal wütend, nur als würde sie Fakten darlegen, und genau das war es, was dafür sorgte, dass Reans Magen sich zusammenzog.

Er nahm die Krone ab und drehte sie in seinen Händen. »Das fürchte ich auch.«

2

»Kannst du auch nicht schlafen?«

Rean schüttelte den Kopf. Er lag mit weit geöffneten Augen da, starrte die Decke an. Obwohl bereits nach Mitternacht war, war er hellwach. »Ich kann die Bomben förmlich explodieren hören.«

Caya drehte sich auf die Seite, um ihm über die Brust zu streichen. »Ich bin auch nervös. Aber noch hat niemand versucht, uns wehzutun.«

»Ich weiß nicht, wie du immer so ruhig bleiben kannst.«

»Na ja.« Er konnte Cayas Grinsen in ihrer Stimme hören. »Wenn ich die Wahl habe, mich auf der Straße um mein Leben zu fürchten oder in einem Palast, dann ist mir dieses wahnsinnig bequeme Doppelbett hier doch lieber.«

Trotz der Situation musste Rean lachen. »Du hattest Glück, dass ich es in genau dieser Nacht in den leeren Fluren des Palasts nicht mehr ausgehalten habe.«

»Ich glaube eher, du hattest Glück, dass ich genau in dieser Nacht auf der Suche nach einer Bleibe für die Nacht war. Du Prinz, der eine Heldin brauchte.«

»Die brauche ich immer noch.« Rean griff nach Cayas Hand, die immer noch auf seiner Brust lag, und verschränkte seine Finger mit ihren. Es entsprach der Wahrheit. Er brauchte Caya. Er brauchte sie mehr, als er dieses ganze Königreich brauchte. »Ich weiß, dass du auf der Straße geschlafen hättest, wenn ich dir keinen Schlafplatz vermittelt hätte. Und dass es nicht das erste Mal gewesen wäre. Aber ich wäre wahrscheinlich wahnsinnig geworden ohne dich.«

Seine ganze Kindheit und Jugend hatten daraus bestanden, dass die Augen der Öffentlichkeit auf ihm lagen. Als Prinz von Lacraine war immer von ihm erwartet worden, dass er das Richtige tat. Das Richtige sagte. Das Richtige fühlte. Und so hatte er sich nachts manchmal rausgeschlichen und war durch die Straßen von Aera gewandert, wenn sonst kaum jemand mehr unterwegs war.

Niemand – außer Caya.

»Na ja, es wäre nicht das erste Mal gewesen. Aber es wäre kalt gewesen«, sagte seine Verlobte. Dann gähnte sie und ihre Augen fielen langsam zu.

Rean wollte nicht, dass sie einschlief. Wenn sie einschlief, war er allein. Allein in dem dunklen Zimmer, allein mit seinen Erinnerungen und Ängsten, die in den Ecken lauerten und nur darauf warteten, ihn anzugreifen.

»Mein Lieblingsmoment in der Geschichte ist ja immer noch der, als du erfahren hast, dass ich der Kronprinz von Lacraine bin«, sagte er deshalb.

Das riss Caya zumindest kurzfristig aus ihrem Halbschlaf und brachte sie zum Lachen. »Meiner nicht. Ich bin so was von erschrocken. Dabei habe ich gemerkt, dass du etwas vor mir verborgen hältst, aber ich dachte an Spielschulden, ein Drogenproblem, eine Affäre … das normale Zeug halt.«

»Das normale Zeug«, wiederholte Rean trocken.

»Normaler, als die Krone eines Landes zu bekommen!«, verteidigte sie sich. »Und zu meiner Verteidigung, wenn ich den Nachrichtenscreens auf den Straßen nur ein bisschen mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte, wäre ich garantiert früher darauf gekommen. Schließlich wurde die ganze Zeit über dich berichtet.«

»Rean Alves, der gutaussehende baldige Herrscher des Landes Lacraine …«, imitierte Rean die Stimme eines Nachrichtensprechers.

»Wohl eher der schrecklich eingebildete baldige Herrscher«, gab sie zurück.

»Aua.«

»Sei still. Du weißt, wie umwerfend du bist.«

»Nicht so umwerfend wie du.«

»Was für ein Charmebolzen.« Sie gähnte erneut und rollte sich auf die andere Seite. Caya war kein Fan der Löffelchenstellung; sie schlief lieber alleine auf ihrer Seite des Betts. Und prompt antwortete sie nicht mehr, als Rean versuchte, die Geschichte ihres Kennenlernens weiterzuerzählen. Er wusste, dass bereits nach Mitternacht war, aber er frage sich trotzdem, wie sie so leicht einschlafen konnte. Wie es ihr so leicht fallen konnte, die Gefahr auszublenden.

Er drehte sich auf die Seite und schloss die Augen, aber es hatte keinen Zweck.

Das würde eine lange Nacht werden.

Vorsichtig, um Caya nicht zu wecken, schob er die Decke zur Seite und stand auf. Als seine nackten Füße auf den kalten Boden trafen, sog er scharf die Luft ein. Eine seiner ersten Amtshandlungen würde das Einbauen einer Bodenheizung sein.

Er verließ den Raum, schlich ziellos im Palast herum. Betrachtete die Sterne durch die Fenster und tat so, als könne er sich in dem Labyrinth aus Fluren und Treppen verirren, obwohl er jeden Winkel davon kannte. Es war ein großes Gebäude, gebaut, als käme es aus einer anderen Zeit. Nur technische Neuerungen wie die Böden einiger Flure, die beim Betreten die Farbe wechselte, oder Wände, die aus Screens bestanden, verrieten, dass sie sich im 22. Jahrhundert befanden.

Rean mochte den Palast nicht. Er war hier aufgewachsen, aber es fühlte sich dennoch nicht wie sein Zuhause an, so imposant das Gebäude mit seinem vielen weißen Marmor und seinen komplexen Verzierungen auch war. Er fragte sich, wie es sein musste, woanders zu leben. Jemand anderes zu sein.

Er hatte nie König werden wollen.

Aber jetzt stand er vor einem der deckenhohen Fenster im Speisesaal des Palasts und schaute auf die Stadt hinaus, die ihm seit gestern offiziell gehörte. Aera. Die wohl größte Stadt des Landes – seines Landes.

All die Menschen dort draußen verließen sich auf ihn.

Ein Fehlentscheid und er würde ganz Lacraine in den Abgrund stürzen.

Und trotzdem, trotz all dem, fürchtete er sich um Caya am meisten.

3

Grummelnd setzte Rean sich im Bett auf. »Man bringe mir Kaffee. Sonst exekutiere ich jemanden.«

»Schlecht geschlafen?« Belustigung schwang in Cayas Stimme mit. Sie selbst stand bereits vor dem deckenhohen Spiegel an der Wand und richtete ihre Frisur. Ihre Haare waren von einer Angestellten hochgesteckt worden, aber Reans Verlobte legte noch mal selbst Hand an und zupfte einige dunkelbraune Strähnen heraus, damit sie ihr Gesicht einrahmten.

»Na ja, die zwei Stunden, die ich geschlafen habe, waren eigentlich ganz gut«, murmelte er. Er war erst in den frühen Morgenstunden zurück ins Bett gekrochen. »Warum muss der Morgen so früh beginnen?«

»Du kannst ja ein Gesetz dagegen erlassen. Aufstehen vor zehn Uhr verboten.« Caya riss ihm die Decke weg. »Aber das kannst du nicht vom Bett aus machen.«

»Ich hasse dich.«

»Du liebst mich.« Sie beugte sich zu ihm hinunter und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. »Und jetzt steh auf. Ich hab Hunger.«

Widerwillig kroch Rean aus dem Bett, schlüpfte in seinen Morgenmantel und folgte seiner Verlobten die Treppe hinunter in den Speisesaal. Der Tisch war bereits gedeckt; eifrige Angestellte huschten um sie herum, um alles perfekt zu machen. Aber Rean war nur eines wichtig: der Geruch vom frisch aufgebrühten Kaffee.

Die Augen noch halb geschlossen ließ er sich auf einen Stuhl fallen und griff nach der Kaffeekanne auf dem Tisch. »Scheiße, Caya, wie soll ich ein Land regieren, wenn ich nicht einmal genug Schlaf kriegen kann?«

»Du gewöhnst dich sicher daran.« Caya fischte ein Brötchen aus dem Korb zwischen ihnen. »Die Könige vor dir haben sich auch alle dran gewöhnt.«

»Bevor sie umgebracht wurden, ja.« Rean trank die Kaffeetasse in einem Zug leer und stellte sie energisch auf dem Tisch ab.

»Mann, bin ich froh, dass du tagsüber nicht so schlecht drauf bist wie morgens«, kommentierte Caya trocken.

Trotz seiner schlechten Laune ließ er sich zu einem Lächeln hinreißen. »Tut mir leid. Ich bin kein Morgenmensch. Besonders nicht, wenn ich so wenig geschlafen habe.«

Sie lachte. »Darauf wäre ich in all den Jahren nie gekommen.«

Er setzte zu einer Antwort an, wurde aber von einem Boten unterbrochen, der in diesem Moment den Raum betrat, vor Rean stehenblieb und sich leicht verbeugte. »Votre Majesté? Verzeiht mir die Unterbrechung. Empfangt Ihr bereits Anfragen für Besprechungen mit dem Parlament?«

Der junge König griff erneut nach der Kaffeekanne. »Ich habe einen ziemlich vollen Terminplan. Aber wenn es etwas Wichtiges ist, hätte ich ein paar Minuten«, antwortete er ein wenig überrumpelt.

»Vasco de Lima hat gesagt, es sei ziemlich wichtig«, sagte der Bote.

Rean leerte die zweite Tasse Kaffee, obwohl dieser noch brühend heiß war, und stand mit einem Seufzen auf. »Also gut. Sagen Sie ihnen, ich werde gleich da sein.«

Als der Angestellte wieder verschwunden war, wandte sich Rean an Caya. »Tut mir leid.«

»Ist das der einzige Rean, den ich von jetzt an zu Gesicht bekomme?«, schmollte sie gespielt. »Der mufflige Morgen-Rean, der seinem Kaffee mehr Aufmerksamkeit schenkt als mir?«

»Natürlich nicht!« Schnell beugte er sich zu ihr hinunter, um ihr einen Kuss auf die Lippen zu drücken. »Heute Abend essen wir zusammen. Ein romantisches Dinner. Aber jetzt …«

»Ich mach nur Spaß«, unterbrach sie ihn lachend. »Deine Pflichten als König gehen vor. Ich wusste, worauf ich mich einlasse, als ich mich mit einem Prinzen verlobt habe.«

»Aber mein Heiratsantrag war doch ziemlich gelungen.«

»Angeber.« Sie grinste. »Jetzt verschwinde. Ich will ja nicht schuld daran sein, wenn du das Parlament gleich an deinem ersten Tag als König warten lässt.«

»Das Parlament hasst mich sowieso. Die wollten selbst weiter regieren.« Er verdrehte die Augen, setzte sich aber dennoch in Bewegung. »Kannst du der Köchin sagen, sie soll noch einmal Kaffee für mich aufsetzen?«

»Höre ich da den Beginn einer Koffeinsucht?«

»Beginn? Die ist im Endstadium.« Mit übertriebener Dramatik machte er eine Geste, um die Flügeltüren zur Treppe zu seinem Zimmer aufschwingen zu lassen.

Im Eiltempo zog er sich um, putzte sich die Zähne und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um zumindest ansatzweise wach auszusehen. Im Gegensatz zu Caya verzichtete er auf Hilfe dabei; mit je weniger Menschen er morgens reden musste, desto besser. Ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen, ging er die Treppe wieder nach unten.

Seine Leibgarde wartete bereits vor dem Palast auf ihn. Es waren ein paar neue Gardiens hinzugekommen, weil es das Protokoll nach der Krönung so vorschrieb, aber er nahm sich nicht die Zeit, nach ihren Namen zu fragen. Das konnte er ein anderes Mal tun.

Bereits während des kurzen Wegs zum Konferenzzentrum sammelten sich Schweißtropfen auf seiner Stirn, aber nicht nur wegen der Spätfrühlingssonne, sondern auch wegen der Angst vor dem Treffen mit dem Parlament.

Rean kannte das Parlament schon seit seiner Kindheit und nur die wenigsten der Parlamentarier waren seither ausgewechselt worden, da es keine vorgeschriebene maximale Amtsperiode gab, solange jemand bei den Wahlen alle vier Jahre wiedergewählt wurde. Über die Jahre hinweg hatte er mit vielen von ihnen Gespräche geführt, mit manchen sogar im großen Palastgarten gespielt, wenn sie gerade Pause von der Arbeit gemacht hatten.

Aber dennoch. Das hier war seine erste Sitzung mit ihnen, bei der er nicht mehr Prinz, sondern König war.

Vor der Tür zum Konferenzzentrum zögerte er kurz, dann hob er die Hände und wischte damit von innen nach außen. Die Bewegungssensoren erfassten die Bewegung, die Gesichtserkennung scannte sein Gesicht und innerhalb von Sekundenbruchteilen schwangen die Flügeltüren auf.

Kaum hatte Rean den Marmorflur durchquert und den Raum betreten, in dem die heutige Versammlung abgehalten wurde, stand das Parlament kollektiv auf und deutete eine Verbeugung an.

»Votre Majesté.« Vasco de Lima machte einige Schritte auf Rean zu, während seine Kollegen sich wieder setzten. »Schön, dass Ihr so spontan kommen konntet.«

»Was gibt es denn so Dringendes?«, wollte Rean wissen.

»Hat man Euch gesagt, es sei dringend?«

Er runzelte die Stirn. »Ja. Ziemlich wichtig, wurde mir gesagt.«

»Ach so. Wichtig, ja. Aber nicht dringend.« Der Sprecher des Parlaments schnipste ein paar Mal mit den Fingern, um die Klimaanlage zu bedienen und die Temperatur im Raum um einige Grad sinken zu lassen. »Aber nun, da Ihr ohnehin schon hier seid, kann ich Euch den Vorschlag ja gleich unterbreiten.«

Rean schnaubte. Das Parlament wusste genau, was sie tun mussten, damit er nach ihrer Pfeife tanzte. Nun hatten sie ihn hierher kommandiert, einfach nur, um ihm zu zeigen, dass sie es konnten. Dass er ihren Worten glaubte und sie interpretierte, ohne dass sie etwas so konkret sagen mussten, dass sie es nachher nicht wieder abstreiten konnten.

»Meinetwegen«, sagte er dennoch. Er spürte die Blicke des Parlaments auf sich, Blicke, die jede seiner Bewegungen beobachteten. Blicke, die nur darauf warteten, dass er einen Fehler machte. Zumindest kam es ihm in diesem Moment so vor.

Vasco klatschte in die Hände. »Sehr schön. Es wird Euch gefallen. Wir wollen Euch einen Vorschlag für ein neues Gesetz unterbreiten.«

»Worum handelt es sich?«

»Habt Ihr von den Nachforschungen unserer Wissenschaftler zum Thema Genetik und Kriminalität gehört?«

»Die Versuche, potenziell kriminelle Individuen mithilfe von genetischen Tests frühzeitig ausfindig zu machen? Natürlich. Waren sie erfolgreich?«, fragte Rean und hasste sich selbst dafür, dass man ihm seine Neugierde anhörte.

»Ja. Unsere Forscher haben ein Verfahren entwickelt, mit dem man herausfinden kann, ob jemand dazu neigt, ein Verbrechen zu begehen oder nicht«, antwortete Vasco. »Wir wollen nun ein Gesetz einführen, das die Durchführung eines solchen Tests obligatorisch macht.«

Rean ließ den Blick über das Parlament schweifen, suchte nach einem Anzeichen, dass das hier eine Farce war, ein Trick, der ihn dazu bringen sollte, eine falsche Entscheidung zu treffen. Aber die Gesichter der Parlamentarier waren ausdruckslos, verrieten keinerlei Emotionen.

»Klingt nach einer guten Idee«, sagte er nach ein paar Atemzügen. Auch wenn er Vasco grundsätzlich misstraute, fand er bei dieser Sache keinen Haken. Weniger Kriminalität würde nicht nur eine geringere Gefahr für das Volk, sondern auch eine geringere Gefahr für ihn selbst bedeuten. Eine geringere Gefahr, dass ein Anschlag auf ihn verübt wurde; dass er hinterrücks erschossen wurde oder einer Bombe zu Opfer fiel, genau wie seine Eltern und viele andere Könige vor ihnen.

»Danke.« Vasco nahm einen Stapel Papiere vom Tisch hinter ihm und reichte sie Rean. »Falls Ihr Euch die Details zum Gesetz und den Tests anschauen möchten, hier steht alles drin, was Ihr wissen müsst. Ansonsten warten wir auf Eure Unterschrift.« Er legte ein weiteres Blatt auf den Stapel – das obligatorische Dokument, das der König bei der Einführung eines neuen Gesetzes unterzeichnen musste. »Die technologischen Voraussetzungen sind gegeben, damit wir bereits in ein paar Wochen mit den Tests anfangen könnten.«

»In ein paar Wochen?« Rean blinzelte. Ein solches beschleunigtes Verfahren war ungewöhnlich. Aber als er das Papier überflog, das zuoberst auf dem Stapel in seinen Händen lag, passte es zu Vascos Worten.

»Nun, das Verbrechen muss gestoppt werden, und zwar so bald wie möglich«, sagte dieser.

»Danke«, murmelte Rean. »Ich werde es mir durchlesen, sobald ich Zeit dafür finde.«

»Natürlich.« Vasco klopfte auf seine Uhr. »Aber vergesst nicht, Votre Majesté, jede Minute fordert mehr Opfer.«

Rean brauchte einige Sekunden, um sich eine Antwort einfallen zu lassen. »Ich habe gesagt, ich werde es mir durchlesen, sobald ich Zeit dafür finde. Jede meiner Entscheidungen ist wichtig. Jede meiner Entscheidungen hat Priorität. Wenn Sie mich nun entschuldigen«, sagte er dann.

Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um und verließ den Raum. Wenn er musste, konnte er genauso respektlos sein wie Vasco.

Dennoch dachte er bereits auf dem Weg zurück zum Palast über den Gesetzesvorschlag nach, überflog einige der Blätter im Gehen. Vasco hatte recht gehabt; das hier war wichtig. Sehr wichtig sogar. Es war das, worauf er die ganze Zeit gehofft hatte – eine Möglichkeit, das Verbrechen einzudämmen und sein eigenes Überleben zu sichern.

In Gedanken versunken brachte Rean sämtliche Termine dieses Tages hinter sich: eine Rede für einen lokalen Fernsehsender, Sitzungen mit Untergebenen, Handelsgespräche mit den Regierungen anderer Länder. Er schaffte es, ein Handelsabkommen mit Helvetien auszuhandeln, das für Lacraine von großem Vorteil sein würde, aber auch das konnte ihn nur für kurze Zeit von den Papieren ablenken, die in seinem Schlafzimmer auf dem Schreibtisch lagen. Während der ganzen Zeit hallten Vascos Worte in seinem Kopf wider. Jede Minute kostete mehr Leben. Jede Minute brachte ihn und Lacraine in größere Gefahr. Und Caya. Vor allem Caya.

Das Abendessen mit Caya hatte er ganz vergessen, bis diese in einem atemberaubenden türkisfarbenen Kleid das Schlafzimmer betrat und Rean skeptisch ansah. »Was liest du da, das wichtiger ist als unsere Verabredung?«

»Ach, nichts.« Hastig legte er die Papiere beiseite und stand von seinem Schreibtischstuhl auf. »Ich bin ohnehin gleich fertig. Gib mir ein paar Minuten zum Umziehen, dann können wir gehen.«

Sie drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Ich habe von dem Abkommen mit Helvetien gehört. Glückwunsch.«

»Nebensache«, murmelte Rean. Sein Blick hing noch immer an den Dokumenten, vor allem an dem, das er unterzeichnen musste. Es lag ganz oben auf dem Stapel. Sollte er jetzt gleich unterschreiben? Er suchte nach dem Fehler in dieser ganzen Sache, nach der Intrige, aber bis jetzt schien das Gesetz einwandfrei zu sein, von Vorteil für alle. Abgesehen von den Leuten vielleicht, deren DNA als potenziell gefährlich eingestuft wurde, aber diese waren irrelevant.

Aber es war beinahe zu einfach. Ein Gesetzesentwurf, der nur Vorteile hatte und seine persönlichen Probleme ganz nebenbei auch löste. Gleich an seinem ersten Tag als König.

»Caya, ich brauche deinen Rat«, sagte er zu seiner Verlobten.

»Wobei?«

»Ein neues Gesetz. Eine Gruppe von Wissenschaftlern hat eine Möglichkeit gefunden, mithilfe der DNA Menschen aufzudecken, die kriminell werden könnten.«

»Das sieht man an der DNA?«, hakte sie überrascht nach. »Dass jemand zum Verbrecher wird?«

»Nicht ganz. Es gibt gewisse Tendenzen zu Charakterzügen, die man in der DNA sieht. Daraus lässt sich die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass jemand eine kriminelle Tat begeht. Das Gesetz sieht vor, dass man diese Leute unter erhöhte Überwachung stellt und ihnen verbietet, Kinder zu bekommen.«

»Also eine genetische Optimierung der Gesellschaft?« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Kann so etwas gutgehen?«

»Wahrscheinlich schon. Wahrscheinlich wird es zu Aufständen kommen, aber die Mehrheit der Bevölkerung wird auf unserer Seite sein. Schließlich werden sie damit auch geschützt«, argumentierte Rean.

»Sie werden ihrer Privatsphäre beraubt. Glaubst du wirklich, dass du damit einfach so durchkommst?«

Rean zögerte. »Eigentlich schon«, sagte er dann. »Man muss den Leuten einfach erklären, dass es das Beste für die ganze Gesellschaft ist.«

»Das Beste für die ganze Gesellschaft.« Die Emotionen in Cayas Stimme überraschten Rean.

»Ja«, sagte er vorsichtig. »Wenn die Kriminalitätsrate sinkt …«

»Nicht wegen der Kriminalitätsrate«, unterbrach sie ihn. »Hast du auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet, was das für die Leute bedeutet, die schlechte Werte beim Test haben?«

»Natürlich. Aber diese Leute sind nicht wichtig. Sie sind nur eine Gefährdung für den Rest der Bevölkerung«, versuchte Rean, sie zu beschwichtigen.

Caya wandte sich von ihm ab, ging ein paar Schritte von ihm weg. Fuhr sich mit den Händen durch die Haare, sodass sich einige dunkle Strähnen aus ihrer Hochsteckfrisur lösten. »Es ist klar, dass du das sagst«, sagte sie. »Du weißt nicht, wie es sich anfühlt, als minderwertiger Mensch betitelt zu werden, Rean Alves. Wie solltest du auch? Du bist in einem Palast aufgewachsen.«

Rean wollte kontern, aber er konnte nicht. In seinem Kopf drehten sich die Gedanken, während sein Blick von seiner Verlobten zu den Papieren auf seinem Schreibtisch und wieder zurück wanderte. Er hatte sich nie wirklich als privilegiert gesehen, vielleicht weil er die Position als König nie gewollt hatte, aber Caya hatte recht. Er wusste wirklich nicht, wie es sich anfühlte, am Rand der Gesellschaft zu stehen. Sein ganzes Leben lang waren Bedienstete um ihn herumgekreist wie Planeten um eine Sonne. Man hatte ihm jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Nach dem Tod seiner Eltern war er die wichtigste Person in Lacraine gewesen.

»Rean, bitte.« Seine Verlobte drehte sich zu ihm um. Durchquerte die Distanz zwischen ihnen und griff nach seinen Händen. Rean konnte den Schmerz in ihren Augen sehen – und wie ernst es ihr war.

»Ich muss das tun«, sagte er mit gepresster Stimme. Er musste diese Entscheidung als König treffen, nicht als Cayas Verlobter. Nicht als Mensch, der diese Frau so sehr liebte, dass er ohne nachzudenken für sie gestorben wäre.

»Nein, musst du nicht. Du bist paranoid.« Ihre Stimme bebte, der Griff ihrer schmalen Hände war fest. »Klar hast du als König eine gefährliche Position, aber es gibt viele Regenten vor dir, die weit über achtzig geworden sind. Die ihren Posten irgendwann friedlich abgegeben haben, ohne dass ein Anschlag auf ihr Leben erfolgreich war. Tu mir das nicht an. Tu das den Menschen nicht an, denen es danach so gehen wird, wie es mir jahrelang gegangen ist.«

»Niemand von ihnen wird auf der Straße landen«, widersprach Rean, aber seine Sturheit bröckelte.

»Doch. Doch, das werden sie. Weil niemand einen Kriminellen einstellen will. Sobald ein Arbeitgeber erfährt, dass einer seiner Angestellten eine kriminelle DNA hat, wird er ihn entlassen. Dieses Gesetz wird hunderte, wenn nicht tausende Existenzen zerstören. Und egal, was du sagst, einige von ihnen werden danach obdachlos sein«, argumentierte sie. In ihren großen braunen Augen sammelten sich Tränen und für einen Moment fühlte Rean sich ihr fremd. Als wäre er schuld daran, dass sie auf der Straße gelebt hatte.

Er konnte ihr das nicht antun. Er wusste genau, wie sehr er ihr wehtun würde, wenn er das Dokument unterzeichnete.

Einige Atemzüge lang sah er sie an, dann seufzte er tief. »Du hast recht«, sagte er. »Ich habe mir das nicht überlegt. Ich werde mich nach anderen Sicherheitsmaßnahmen umsehen, die nicht diese Konsequenzen haben.«

Caya küsste ihn so stürmisch, dass er nach hinten aufs Bett fiel – und sie auf ihn. Trotz seiner Angst musste Rean lachen.

»Danke«, murmelte sie an seinen Lippen.

»Ist doch klar«, erwiderte er, während es ihm eigentlich gar nicht klar war. Was, wenn es ihn das Leben kosten würde, das Gesetz nicht einzuführen?

Oder, noch schlimmer, was, wenn es Caya das Leben kosten würde?

Aber er durfte jetzt nicht darüber nachdenken. Er hatte es ihr versprochen und dieses Versprechen würde er halten, auch wenn es bedeutete, dass er nachts weiterhin nicht würde schlafen können.

»Also, gehen wir essen«, sagte er schnell, bevor er es sich anders überlegen konnte. »Ich habe die Köchin gebeten, dein Lieblingsessen zu kochen.«

Caya grinste ihn an. »Burger?«

»Burger.«

4

»Und? Hast du dich schon an deinen neuen Posten gewöhnt?«

Caya lachte. »Das sollte ich wohl eher dich fragen.«

Sie saßen beim versprochenen Abendessen, einem Dinner bei Kerzenlicht im Speisesaal des Palasts, der wie immer ein wenig zu groß für sie beide wirkte. Er war für viel mehr Gäste ausgelegt, aber auf Reans Wunsch hin hatte man die anderen Tische hinausgetragen, sodass jetzt nur noch ihrer in der Mitte des Raumes stand. Rean wäre es lieber gewesen, hätten sie auswärts essen können – oder sich mit Fastfood in Cayas Wohnung vor den Fernseher setzen, wie damals. Aber das war nicht mehr möglich.

»Na ja«, nahm er das Gespräch wieder auf. »Nicht wirklich. Ich denke nicht, dass ich mich je daran gewöhnen werde.«

Seine Verlobte schnitt das Fleisch ihres Hamburgers klein. Sie hielt nicht viel von ausgefallenem Essen, aber der Etikette Willen aß sie stets mit Messer und Gabel. Unter anderen Umständen hätte der Anblick Rean wahrscheinlich zum Lachen gebracht. »Komm schon. Ein paar Tage, dann wirst du auch wieder schlafen können. Und wenn nicht, dann geh eben endlich mal zum Palastarzt und verlang Schlaftabletten!«, sagte sie.

Rean seufzte. Er wollte diese Diskussion nicht schon wieder führen, nicht während ihres romantischen gemeinsamen Abends. Nicht jetzt, wo sich seine Gedanken immer noch um das neue Gesetz drehten, obwohl er Caya versprochen hatte, das Dokument nicht zu unterzeichnen. »Du kennst meine Einstellung dazu«, sagte er deshalb nur.

»Ich weiß, ich weiß. Schlaftabletten machen abhängig, du willst die Kontrolle nicht verlieren, bla bla bla. Du bist paranoid, Rean Alves, das sage ich dir. Paranoid.« Sie gestikulierte mit ihrer Gabel, während sie sprach, und einige kleine Tropfen Ketchup spritzten auf die weiße Tischdecke.

Er musste bei dem Anblick grinsen. »Das Wort verwendest du heute ganz schön oft.«

»Weil es stimmt.«

Kopfschüttelnd trank Rean einen Schluck von seinem Wein. »Reden wir nicht mehr darüber«, wechselte er das Thema. »Erzähl lieber etwas von dir. Wie war dein Tag?«

Sie lächelte. »Nicht schlecht. Mit drei Bodyguards zusammen durfte ich sogar shoppen gehen.«

»Wie viele Leute haben dich erkannt?«

»Ich weiß es nicht. Keiner hat es gewagt, mich auch nur eine Sekunde zu lang anzusehen.« Sie tunkte eine Gurke in Mayonnaise und steckte sie sich in den Mund. »Also an was ich mich sicher schnell gewöhnen kann, ist das Essen.«

»Das Essen ist genau gleich, wie es vorher schon war.« Rean selbst hatte keinen Hunger, schob das Brot und das Fleisch auf seinem Teller nur von Seite zu Seite.

»Dann habe ich mich sogar schon daran gewöhnt. Umso besser.«

Er schwieg.

»Jetzt hör doch mal auf mit der Melancholie! Du hast mir diesen Abend versprochen und jetzt sitzt du nur hier rum und siehst aus, als müsstest du mich begraben, statt mit mir zu essen.«

Rean biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte recht; er war schlecht drauf und vor allem viel zu sehr in Gedanken versunken. Gedanken über ein Gesetz, über das er nicht mehr nachdenken durfte.

Aber die Vorstellung ließ ihn nicht los. Die Vorstellung einer besseren, weniger kriminellen Welt. Einer Welt, in der er sich nicht um sein Leben fürchten musste, wann immer er den Palast verließ.

Doch das konnte er Caya nicht sagen. Sie war so glücklich gewesen, als er nachgegeben hatte.

»Ich frage mich nur nach wie vor, ob ich den Pflichten eines Königs gewachsen bin«, sagte er deshalb nur.

Caya lächelte. »Du rutschst da schon noch rein. Und jetzt lass uns über etwas anderes reden als über Politik. Ich habe heute die neue Folge von Of Death and Drama geschaut.«

Rean ließ sich nur zu gern ablenken. »Ohne mich?«, fragte er schockiert. Of Death and Drama, oder ODAD, wie sie es nannten, war ihre gemeinsame Lieblingsserie, eine leicht abstruse, aber doch relativ unterhaltsame Mischung aus Schnulze und Krimi.

»Du warst ja nicht da.« Caya reckte gespielt provokativ das Kinn.

»Weil ich dieses Land regiere!«

Sie grinste. »Tja.«

»Wehe, du spoilerst mich …«

»Wie willst du mich davon abhalten?«

In einer fließenden Bewegung stand er auf, beugte sich über den Tisch und küsste sie auf den Mund, um sie am Sprechen zu hindern. Ein Weinglas kippte um und der rote Fleck breitete sich auf der weißen Tischdecke aus wie Blut, aber es war ihnen egal.

»Rean, ich würde gerne fertig essen«, nuschelte Caya lachend zwischen zwei Küssen.

»Nur wenn du mich nicht spoilerst.«

»Mach ich nicht. Versprochen.«

Er lehnte seine Stirn an ihre. »Ich habe dich vermisst.«

»Ich dich auch«, erwiderte sie leise und er spürte ihren Atem auf seiner Haut. Einen Moment lang verharrten sie in dieser Position, bevor Caya sich langsam zurückzog. Sofort stürmten Angestellte herbei, um das Tischtuch auszuwechseln, aber Rean schickte sie mit einer Handbewegung weg. Diese paar Momente, die ihnen blieben – diese paar Momente, in denen er einfach nur Rean war und nicht der König von Lacraine – wollte er mit Caya allein verbringen.

Sie redeten über Belanglosigkeiten, während sie aufaßen, und zogen sich dann ins Schlafzimmer zurück. Und kaum war die Tür hinter ihnen zugefallen, vergaß Rean endgültig, dass das Schicksal des Landes in seinen Händen lag. Das Einzige, was in diesem Moment noch zählte, waren Cayas Lippen auf seinen, ihre Hände in seinem Haar. Ihre Kurven unter seinen Händen, ihre weiche Haut auf seiner. Sie fühlte sich an wie eine ganze Welt, aber nicht eine, von der er Angst hatte, sie zu zerstören. Im Gegenteil – Caya machte ihn ganz.

***

»Du bist so schön«, flüsterte Rean, als sie einige Zeit später nebeneinanderlagen. Obwohl es dunkel im Zimmer war, konnte er nicht aufhören, in ihre Richtung zu sehen. Immer wieder ihren Blick zu suchen.

Caya strich mit der Hand seinen Arm entlang. Sie schwieg, weswegen Rean die Stille füllte. »Bitte versprich mir, dass du mich nie verlässt.«

Sie lachte leise. »Warum sollte ich dich verlassen?«

»Ich weiß es nicht. Versprich mir einfach, dass du es nicht tust.« Die Worte wogen schwer in der Dunkelheit des Zimmers, aber die Antwort darauf schien Caya leichtzufallen.

»Versprochen«, sagte sie mit einem leisen Lächeln, bevor sie sich mit einem kurzen Kuss von ihm wegdrehte. Wenig später war sie eingeschlafen.

Rean hingegen lag wach. Wahrscheinlich für Stunden, aber die Zeit schien nicht mehr zu existieren. Selbst im Dunkeln des Zimmers konnte er den Schreibtisch in der Ecke sehen. Und den Stapel Papiere, der immer noch darauf lag.

Jetzt wo Caya schlief, hinterfragte er seine Entscheidung erneut. Und dann noch einmal und noch einmal. So lange, bis er sich nicht mehr sicher war, was Realität war und was Illusion. So lange, bis alles nur noch eine Geschichte zu sein schien, die er sich selbst erzählte.

Was, wenn er einen schrecklichen Fehler machte?

Und da waren sie wieder, die Explosionen der Bomben. In seinen Erinnerungen, in seinen Ängsten.

Er war ein König. Er musste Entscheidungen treffen können.

Aber bereits bei dieser – bereits bei seiner ersten Entscheidung im Amt – war er sich nicht sicher.

Seufzend sah er zu Caya hinüber. Caya, die friedlich schlief. Die ihm vertraute.

Er konnte ihr das nicht antun. Sie würde ihn hassen, wenn er sein Versprechen brach.

Aber dann stellte er sich ihre Beerdigung vor. Wie er an ihrem Grab stand, in einem schwarzen Anzug, der Himmel bewölkt, denn wenn jemand wie Caya starb, konnte das Wetter gar nicht sonnig sein.

Wie er an ihrem Grab stand und wusste, dass er versagt hatte. Dass er sie nicht beschützt hatte, obwohl er es ihr immer und immer wieder versprochen hatte.

Rean warf seiner Verlobten einen letzten Blick zu, schlug die Decke beiseite und stand auf.

»Tut mir leid, Caya«, flüsterte er.

Dann ging er zum Schreibtisch, nahm seinen Kugelschreiber und setzte seine schwungvolle Unterschrift unter das Dokument.

5

»... und deswegen wird schon bald ein neues Gesetz in Kraft treten, das die Kriminalität in Lacraine entscheidend senken wird.« Rean machte eine kurze Pause, ließ den Blick über die Zuschauer schweifen. Zuschauer, deren Leben er zerstören würde, wenn man Cayas Worten Glauben schenken wollte.

Seine Verlobte stand neben ihm. Ihr Lächeln war falsch; eigentlich redete sie nicht mehr mit Rean, seit sie von seiner Entscheidung erfahren hatte, sein Versprechen zu brechen. Er hatte versucht sich zu verteidigen, aber sie hatte ihm nicht zugehört.

Kurz geriet der junge König bei ihrem Anblick aus dem Konzept, doch dann fing er sich wieder und sprach weiter: »Bereits in wenigen Wochen werden DNA-Tests für alle Bewohner des Landes obligatorisch sein. Diese sind kurz, schmerzlos und für Sie vollständig gratis. Vielleicht mag einigen von Ihnen dieses Verfahren ungerechtfertigt oder übertrieben erscheinen, aber laut unseren Wissenschaftlern werden diese Tests zu einer drastischen Senkung der Kriminalitätsrate im Land führen. Wenn Sie also sich und Ihre Liebsten in Sicherheit wissen wollen, dann registrieren Sie sich noch heute für Ihren Test, um in einigen Wochen eine der ersten Personen zu sein, die mit uns den Schritt in eine sicherere Welt gehen.«

Mit diesen Worten beendete Rean seine Rede, bevor er unter dem tosenden Applaus seines Publikums vom Podest schritt. In diesem Moment wurde das Video, das von ihm aufgenommen worden war, an alle relevanten Nachrichtensender der Stadt gesendet, sodass bald die ganze Bevölkerung Bescheid wissen würde. Bald würden sie mit den ersten Tests beginnen können.

Auf einmal ging alles so schnell. Bereits an seinem zweiten Tag als König hatte er ein Dokument beim Parlament abgeliefert, das das Leben von Millionen Menschen einschneidend verändern würde, und jetzt stand er nur wenige Tage später vor ebendiesen Menschen und teilte es ihnen mit. Die letzten paar Nächte hatte er kaum geschlafen, aber dieses Mal nicht aus Angst vor einem Anschlag, sondern aus Angst vor der Reaktion des Volkes.

Und weil die andere Seite des Betts kalt und leer gewesen war, nachdem Caya in eines der Gästezimmer umgezogen war. Rean hatte gewusst, dass er sie mit dem Bruch seines Versprechens wütend machen würde, aber er hatte unterschätzt, wie wütend. Dabei hätte er sie mittlerweile eigentlich gut genug kennen sollen, um zu wissen, dass sie einem eine Sache wie diese wochenlang nachtragen konnte.

Aber er würde das später in Ordnung bringen. Jetzt gerade musste er sich darauf konzentrieren, nicht die Kontrolle über die Situation zu verlieren.

»Eine formidable Rede, Votre Majesté.« Immer noch applaudierend kam Vasco de Lima auf Rean zu und verbeugte sich formvollendet. Eine gewisse Ironie lag in der Bewegung, aber Rean ignorierte es. Er war daran gewöhnt, dass der Sprecher des Parlaments in ihm einen Konkurrenten sah.

»Vielen Dank«, sagte er.

»Keine Ursache.« Vasco rieb sich die Hände. »Seid Ihr schon bereit, den Test durchzuführen?«

»Den Test durchführen? Jetzt gleich?« Rean blinzelte, aus dem Konzept gebracht. Eigentlich war für heute nur die Rede angesetzt gewesen.

Vasco wischte imaginäre Staubfliesen von seinem Anzug. »Wir dachten, wahrscheinlich wäre es das Beste, wenn die Leute gleich nach der Rede sehen, dass es ungefährlich ist und dass sie Euch vertrauen können. Und solange das Kamerateam noch hier ist ...«

»Natürlich«, unterbrach Rean ihn. »Führen wir den Test durch.« Er wusste nicht, warum er nervös war; er war kein Krimineller. Und eigentlich hatte Vasco ja recht – er durfte jetzt kein Misstrauen aufkommen lassen. Kein Misstrauen am neuen Gesetz und vor allem kein Misstrauen an seiner Person.

»Seid Ihr bereit, Votre Majesté?«, fragte der junge Arzt mit einer Verbeugung.

Rean hätte am liebsten verneint. Er saß auf dem Untersuchungsstuhl im Medizinsektor des Palasts und sein Herz klopfte irrational schnell. Ein falsches Testergebnis und er konnte alles verlieren, innerhalb von wenigen Minuten. Würde Caya ihr Versprechen brechen, falls der Test ergab, dass er ein Verbrechen war? Würde sie ihn verlassen?

»Natürlich«, sagte er in die Kamera, die auf ihn gerichtet war. »Dass ich kriminelle Veranlagungen haben sollte, scheint mir schwer zu glauben. Schließlich bin ich König des Landes. Die Geschichte meiner Familie ist einwandfrei.«

Die beiden Kamerafrauen warfen sich einen Blick zu, den Rean nicht ganz deuten konnte. Mit ihren hochgesteckten schwarzen Haaren, den blauen Augen und der schlichten Kleidung sahen sie beinahe identisch aus. Vielleicht waren sie Schwestern, Zwillinge. Wie wohl ihre Testergebnisse aussehen würden? Rean wollte es lieber wissen als bei seinen eigenen.

»Einwandfrei?«, wiederholte die linke. Sie wollte noch mehr sagen, doch in diesem Moment trat der Arzt an Rean heran und desinfizierte Reans Arm. Er hatte sein Jackett ausgezogen und den Ärmel seines weißen Hemds hochgekrempelt. Nun fühlte er sich nackt, ausgeliefert.

»Es wird ganz schnell gehen«, versprach der Arzt, während er ihm mit routinierten Bewegungen Blut abnahm, es in ein Röhrchen füllte und dieses in einen kleinen Kasten steckte, der an den Computer neben ihnen angeschlossen war. Er tippte auf einige Tasten der Tastatur und ein leises Surren erklang. »Wie Sie sehen, ist die Prozedur ganz einfach«, sagte er zum Kamerateam, aber dieses interessierte sich nur für Rean.

»Was würde es für Euch bedeuten, falls der Test ergibt, dass Ihr eine Veranlagung zur Kriminalität habt?«, fragte die rechte Kamerafrau ihn.

»Was das für mich bedeuten würde?«, wiederholte er, um sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. »Ich müsste meine Position als König aufgeben. Ein Krimineller kann kein Land regieren. Da ich noch keine Nachkommen habe und auch keine haben dürfte, würde ein neuer König vermutlich per Wahl bestimmt. Bis dahin würde das Parlament die Regierung übernehmen.« Bestimmt war das genau das, was diese Bastarde wollten. Hatten sie das Gesetz nur deswegen vorgeschlagen? Weil sie so eine Chance hatten, dass Rean abgesetzt wurde? Hoffte Vasco, dass danach er zum König gewählt werden würde?

Aber diese Chance war so verschwindend gering, dass Rean den Gedanken sofort wieder verwarf.

»Aber dazu wird es nicht kommen«, beendete er seine Ausführungen schnell. »Meine Testergebnisse sind bestimmt unbedenklich.«

»Ich glaube, das Rätsel wird gleich gelüftet werden«, erwiderte die Kamerafrau mit geheimnisvoller Stimme. »Doktor, wie weit sind Sie?«

Der Arzt drehte sich abrupt um, als die Kamera auf ihn geschwenkt wurde. »Fertig«, sagte er mit hohler Stimme. Sämtliche Emotionen waren aus seinem Gesicht verschwunden. »Die Testergebnisse … sind fertig.«

Rean hielt die Luft an. Er wollte nicht auf den Bildschirm schauen, tat es aber dennoch.

Das Resultat sagte ihm ohnehin nichts. Es war nur eine Zahl: 322. Doch der Arzt war so blass geworden, dass er aussah, als würde er gleich in Ohnmacht fallen.

»Was bedeutet das?«, fragte Rean vorsichtig.

Einen Moment lang zögerte der Arzt, dann setzte er ein Lächeln auf und sah direkt in die Kameras. »Ein ausgezeichnetes Resultat. Ihr seid voll und ganz vertrauenswürdig, Votre Majesté.«

Die Kamerafrauen aktivierten die Schwebefunktion ihrer Kamera, um höflich applaudieren zu können.

Reans Beine drohten unter ihm nachzugeben, als er vom Untersuchungsstuhl aufstand, um dem jungen Arzt die Hand zu schütteln. »Vielen Dank. Und auch Ihnen vielen Dank für das Vertrauen, das Sie mir entgegengebracht haben«, wandte er sich an die Leute, die das Video wenig später sehen würden. Es wäre eine Lüge gewesen, zu sagen, dass er nicht erleichtert war. Schließlich hing seine gesamte Karriere, wenn nicht sogar sein Leben, an diesem Test.

Das Kamerateam verließ den Raum und Rean wollte ihnen folgen, doch der Arzt hielt ihn am Arm zurück. Die Blässe war noch immer nicht aus seinem Gesicht verschwunden. »Votre Majesté«, sagte er leise. »Bleibt hier. Ich muss etwas mit Euch besprechen.«

»Was ist?«

»Die Testergebnisse ...« Er zögerte. »Ich habe gelogen.«

Rean starrte ihn an. »Wie, Sie haben gelogen? Warum?«

»Um Euch zu schützen. Ich wollte nicht, dass die Öffentlichkeit erfährt ...« Er brach ab.

Rean machte einige Schritte auf ihn zu und der Arzt wich mit großen Augen vor ihm zurück.

Er hatte Angst vor ihm.

Der junge König sah zum Bildschirm, auf dem immer noch die Zahl stand, und bemühte sich die Panik zu kontrollieren, die in ihm aufstieg. Es gelang ihm nicht.

»Was besagen die Testergebnisse?« Seine Stimme überschlug sich.

»Ich glaube, das wollt Ihr nicht wissen.«

»Es ist mein Recht, es zu wissen!«

»Also gut ... Euer genetisches Profil ist nicht so einwandfrei, wie ich behauptet habe.« Der Arzt atmete tief durch. »Das Zahlensystem stuft den Grad der Gefahr ein, die von einer Person ausgeht. Alles im Bereich von null bis hundertsiebzig ist nicht bedrohlich und die Person bedarf keiner weiteren Überwachung. Alles über hundertsiebzig weist auf eine Tendenz zur Kriminalität hin. Je höher die Zahl ist, desto gefährlicher ist die Person.«

»Das heißt ...« Rean brach ab, aber der Arzt verstand trotzdem, was er ihn hatte fragen wollen.

Er wich seinem Blick aus. »Sagen wir es so ... Das Maximum ist dreihundertfünfzig.«

»Dreihundertfünfzig?«, wiederholte Rean schockiert. »Dann wollen Sie mir sagen ...«

»Es tut mir leid, Votre Majesté«, sagte der Arzt. »Aber Ihr habt das genetische Profil eines Serienmörders.«

Ruckartig wurde der Boden unter Reans Füßen weggezogen; zumindest fühlte es sich so an. Vergeblich schnappte der junge König nach Luft. »Was?«, würgte er hervor. »Das kann nicht sein. Sie müssen erneut testen. Sie müssen! Ich befehle es Ihnen!«

»Votre Majesté, die Tests irren sich nie ...«

»Aber sie müssen sich irren! Das kann nicht sein!« Seine Gedanken rasten, suchten nach möglichen Fehlerquellen. »Vielleicht war es die Anspannung ... oder die Kameras haben die Frequenz des Gerätes gestört ...«

»Diese Möglichkeit besteht nicht«, unterbrach der Arzt ihn. »Der Test funktioniert einwandfrei. Immer.«

Rean ballte die Hände zu Fäusten. Fixierte ihn. »Dieses Mal nicht. Dieses Mal hat der Test einen Fehler gemacht. Mein Ergebnis liegt unter hundertsiebzig. Es gibt keine andere Möglichkeit.«

Er wusste, dass das nicht stimmte. Da war kein Fehler im Test; der Fehler lag bei ihm, in seiner DNA. Was würde Caya sagen? Nichts. Sie würde nichts sagen, weil er es ihr nicht erzählen würde. Er durfte es ihr nicht erzählen. Wer wollte schon mit einem Serienmörder zusammen sein?

»Sie dürfen niemandem davon erzählen. Niemandem. Bestechen Sie die anderen Forscher, die an dem Projekt beteiligt waren. Ich gebe Ihnen das Geld dafür. Programmieren Sie die Automaten um, sodass dreihundertfünfzig das beste und nicht mehr das schlechteste Resultat ist. Sonst sorge ich dafür, dass Sie in der Mitte der Nacht verschwinden und niemand je erfährt, dass Sie überhaupt existiert haben.« Seine Stimme zitterte, als er versuchte dem Arzt zu drohen.

Dieser hob beschwichtigend die Hände. »Ich habe bereits für Euch gelogen, Votre Majesté. Niemand wird je davon erfahren«, erwiderte er. Die Angst war nun deutlich zu sehen – Angst, dass Rean ihn umbringen würde, wenn er die Wahrheit erzählte. Bestimmt hatte er deswegen gelogen und den Kameras erzählt, das Resultat wäre einwandfrei.

Dabei fühlte Rean nicht einmal Hass auf ihn. Er hätte ihn nicht umgebracht.

Oder doch? Hatte er ihm nicht gerade genau damit gedroht?

Schnell lockerte er seine Hände. »Gut so«, sagte er etwas ruhiger. Es kostete ihn all seine Selbstkontrolle, nicht an Ort und Stelle zusammenzubrechen. »Wenn Sie das für mich tun, dann werde ich Sie als meinen Privatarzt anstellen. Sie bekommen eine Stelle im Palast mit einem doppelt so hohen Gehalt, wie Sie jetzt verdienen.«

»Danke, Votre Majesté.« Der junge Arzt verbeugte sich, aber selbst in dieser Bewegung spiegelte sich die Furcht wider. Rean wusste nicht, ob er ihm mit der Anstellung wirklich einen Gefallen tat, aber er musste den Mann im Blick haben. Vielleicht sollte er das ganze Team einstellen, das daran geforscht hatte.

»Der Test muss nicht bedeuten, dass Ihr wirklich jemanden umbringen würdet. Es ist lediglich eine genetische Tendenz«, versuchte der Arzt das Ganze hinunterzuspielen.

»Jaja.« Rean drehte sich um, stapfte aus dem Raum und nahm den direkten Weg hoch aufs Palastdach. Hier war er allein. Kaum jemand wusste, dass dieser Ort überhaupt existierte, und genau deswegen kam Rean so gerne hierher.

Er stützte sich auf die Brüstung, fuhr mit den Händen darüber. Wie sollte er Caya gegenüber so tun, als wäre alles in Ordnung? Die Wände seiner Welt bröckelten und er glaubte nicht, dass er es schaffen würde, sie daran zu hindern, eines Tages in sich zusammenzustürzen. Laut seiner DNA konnte er schließlich nichts intakt halten, geschweige denn wieder aufbauen. Laut seiner DNA konnte er nur zerstören. Dieses Land, seine Beziehung, sich selbst.

Die Leute würden in Panik ausbrechen, falls diese Sache an die Öffentlichkeit geriet. Er würde sterben. Früher oder später würde eine Kugel ihn treffen, eine Bombe hochgehen, Hände in einer dunklen Gasse sich um seinen Hals legen. Und Caya, Caya würde wegrennen. Weg aus diesem Land, weg von ihm. So weit weg, wie es ihr irgendwie möglich war.

Er konnte es ihr nicht verdenken. Hätte er es gekonnt, wäre er selbst vor sich weggerannt. Hätte die Häuser und Straßen und Verpflichtungen dieser Stadt hinter sich gelassen und nie wieder daran gedacht. Aber nun konnte er weder sich selbst noch irgendjemanden sonst retten.

An diesem Tag vernachlässigte er all seine Verpflichtungen, blieb auf dem Dach, so lange, bis Caya die Tür aufstieß und sich neben ihn an die Brüstung stellte.

»Ach hier bist du«, sagte sie leise, als wäre es das Normalste der Welt. Die Sonne war inzwischen untergegangen und der junge König konnte die lauernden Gefahren in der heranbrechenden Dunkelheit spüren, aber in diesem Moment war ihm selbst das egal.

»Du bist knallrot.« Caya strich ihm über die Wange. »Wie lange bist du schon hier oben?«

»Ein paar Stunden«, antwortete Rean ausweichend. Er wusste nicht, warum sie plötzlich wieder mit ihm redete. Warum sie auf die Stadt hinaussah und ihre Hand auf seine legte, während sie so leise sprach, als könnte die Situation an zu lauten Worten zerbrechen.

»Hör mal, es tut mir leid«, flüsterte er irgendwann, als sie nichts mehr sagte. »Du hattest recht. Ich hätte das Gesetz nie einführen sollen. Ich habe es nur getan, um dich zu schützen. Wenn dir etwas zustößt …« Er brach ab.

»Ich weiß doch.« Caya biss sich auf die Unterlippe. »Manchmal treffen wir falsche Entscheidungen, um die Menschen zu schützen, die wir lieben. Aber … du hättest zumindest mit mir reden sollen, bevor du das Dokument unterschreibst.« Da waren keine Vorwürfe in ihrer Stimme, nur Fakten. Sie hatte recht und das wussten sie beide.

»Ja. Hätte ich. Aber jetzt ist es dafür zu spät.« Vorsichtig rückte Rean näher an sie heran, verschränkte seine Finger mit ihren. Sie war das letzte Stück Normalität in dieser Welt, die gerade aus den Angeln gerissen worden war, auch wenn selbst diese Normalität auf einer Lüge basierte.

»Kannst du bitte wenigstens dafür sorgen, dass die Leute mit negativen Testergebnissen angemessen entschädigt werden?«, fragte sie.

»Natürlich. Ich tue, was ich kann.« Einen kurzen Moment lang schwiegen sie beide. »Verzeihst du mir?«, fragte Rean dann vorsichtig.

Caya beugte sich zu ihm und küsste ihn sanft. »Ich könnte dir nie nicht verzeihen«, flüsterte sie leise. Und so lange, wie sie angedauert hatte, so schnell war ihre Wut auch wieder verschwunden. Rean wusste nicht, ob sie Frieden mit seiner Entscheidung geschlossen hatte; wahrscheinlich würde sie in den kommenden Wochen dauernd versuchen, ihn zu Änderungen am System zu überreden. Aber sie hatte ihm verziehen und das war für den Moment genug.

Er schlang seinen Arm um ihre Taille und dann standen sie da, auf dem Dach des Palasts, während der Mond auf sie hinunterschien und die Lichter der Stadt um sie herum heller leuchteten als die Sterne. Rean wusste nicht, ob Minuten oder Stunden vergangen waren, als Caya die Stille mit ihren Worten zerbrechen ließ und ihn zurück in die Wirklichkeit riss. »Ich muss den Test auch bald machen«, sagte sie mit gemischten Emotionen in der Stimme. »Alle erwarten schon, dass er negativ ausfällt, weil ich von der Straße komme. Ich habe sie reden hören.«

»Bestimmt nicht«, murmelte er. Wenn die Leute wüssten, dass eigentlich er der Verbrecher von ihnen beiden war.

Beinahe wünschte er sich, dass Cayas Ergebnisse genauso schlecht ausfielen wie seine eigenen. Dann konnte er es ihr gestehen. Dann würde sie ihn nicht verlassen.

»Du bist nicht sonderlich hilfreich gerade. Was ist los? Ich merke doch, dass du nicht gut drauf bist.«

»Nein, nein, nichts«, winkte er ab. »Nur müde.«

»Dann lass uns schlafen gehen.«

»Gleich.« Er schaute seine Verlobte nicht an, hatte den Blick geradeaus auf die Stadt gerichtet. »Ich möchte einen Moment allein sein, Caya.«

»Warum? Meine Gesellschaft ist doch immer eine Bereicherung«, versuchte sie einen Witz zu machen, aber keiner der beiden lachte. »Aber gut, wenn du willst, dann gehe ich schon mal nach unten.«

Als er nichts mehr erwiderte, ließ sie ihn alleine. Rean blieb auf dem Dach zurück, in der Kälte der Nacht. Bestimmt hatte er sie bereits misstrauisch gemacht. Er würde diese Lüge nicht mal eine Woche aufrechterhalten können.

6

Entgegen Reans Befürchtungen wurden aus einer Woche zwei. Und aus zwei Wochen drei. Drei Wochen, in denen er Caya anlog und ihr vorspielte eine einwandfreie DNA zu haben. Genau wie dem Rest von Lacraine.

Gegen Ende der dritten Woche wurden die Tests obligatorisch für alle. Caya sollte das System einweihen und ihre DNA als Erste testen lassen – sehr zur Genugtuung der Bevölkerung. Sie hatte recht gehabt; alle warteten darauf, dass ihr Testergebnis auf Kriminalität hinwies.