Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Nicht nur Touristen lieben die Bouquinistes, deren grüne Klappkästen voller Bücher die Pariser Seineufer schmücken. Auch Commissaire Lacroix nutzt das herrliche Frühlingswetter, um nach dem déjeuner an den Verkaufsständen entlangzuschlendern. Aber muss der alte Mann mit der dunklen Brille ihm ausgerechnet einen Maigret-Roman empfehlen - wo doch jeder weiß, dass Lacroix seinen Spitznamen nicht leiden kann? Erst später begreift der Commissaire: Das war der berühmte blinde Buchhändler Hugo, der die literarischen Vorlieben seiner Kunden allein am Geräusch ihrer Schritte erkennt. Er wollte Lacroix nicht provozieren, sondern ihm lediglich ein gutes Buch empfehlen. Ein wenig beschämt kehrt Lacroix ins Kommissariat zurück, wo ihn der Chef der Pariser Kriminalpolizei erwartet: Ein junger Mann - auch er ein Bouquiniste - wurde tot aus der Seine geborgen, und seine Freun- din ist von einem Verbrechen überzeugt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 204
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Alex Lépic
Lacroix und der blinde Buchhändler von Notre-Dame
Sein fünfter Fall
Kampa
Lacroix liebte das Rascheln der Platanen, das nur zu hören war, wenn die Ampel am Quai de Montebello gerade auf Rot stand, die Taxis und Motorroller und die grün-weißen Busse nicht mit ihren Dieselmotoren vorbeirasten und der Lärm das feine Rauschen verschluckte.
Der Commissaire trank seinen kleinen café heute im Le Montebello, weil Yvonne, die Wirtin seines Stammlokals Chai de l’Abbaye, die Maler dahatte. Eine Woche ohne ihren chou farci, die gefüllte Wirsingkohlroulade, die er brauchte wie die Pariser Luft zum Atmen – na, das könnte ja was werden.
Doch er musste zugeben: Der neue Platz im Schatten eines grünen Sonnenschirms hatte auch etwas. Die Türme der alten Dame der Stadt standen am anderen Ufer, als wäre nichts gewesen. Nur die Gerüste, all die hölzernen Balken und die Kräne wiesen darauf hin, dass es lange dauern würde, bis das Antlitz von Notre-Dame wieder vollkommen war. Ihm war, als könnte er die Seine riechen, gar nicht unangenehm, nein, es war ein Hauch von Frische, der in diesen heißen Tagen ein wenig an Abkühlung denken ließ.
Es war unglaublich, wie in diesem Jahr nach dem Winter der Frühling einfach übersprungen wurde. Schon Anfang April hatte sich der Sommer in der Hauptstadt breitgemacht. Die Bäume und Blumen konnten gar nicht so schnell erblühen, wie es die Wärme zuließ, und nun, kurz vor Ostern, liefen die Touristen schon in diesen schrecklichen Unterhemden und mit Badelatschen an den Quais entlang.
Gegenüber am Ufer der Seine schlossen die ersten Bouquinistes gerade ihre grünen Verschläge auf, und hinter den unscheinbaren Blechplatten kamen wahre Schätze zum Vorschein: alte Bücher, zu Tausenden, die in den Verschlägen standen, so viele Jahre ungelesen, darauf erpicht, dass sich irgendwann ein besonders ehrgeiziger Sammler ihrer erbarmte. Gesamtausgaben berühmter Autoren in vergoldeten Einbänden standen dort, unzählige Romane in mannigfaltigen Sprachen, in Deutsch, Englisch; ein Buchhändler hatte sich auf skandinavische Sprachen spezialisiert. Genauso gab es aber auch achtzig Jahre alte Comichefte, zarte Aquarelle von Notre-Dame, natürlich ohne die Brandfolgen.
Lacroix legte einen Euro in das kleine rote Schälchen und nickte dem Kellner zu, der den berühmten neuen Stammgast mit einem Winken verabschiedete. Einer inneren Eingebung folgend überquerte der Commissaire den Quai Montebello und schlenderte an den grünen Buchständen entlang.
Eigentlich hätte er ins Büro zurückkehren müssen, weil sich sein alter Freund Arnaud Mercier angekündigt hatte, der Einsatzleiter der Pariser Polizei. Doch der Weg entlang der Quais würde ja nur unwesentlich länger dauern. So verschränkte er die Hände hinter dem Rücken und ging langsamen Schrittes an den Ständen entlang, blieb einige Male stehen und griff hier nach einem Buch und dort nach einem historischen Plan der Stadt. Besonders gern betrachtete er aber die Bouquinistes selbst, die sich aus Schutz vor der Sonne in den Schatten ihrer grünen Metallklappen verzogen hatten. So saßen sie ganz nah an ihren Ständen auf kleinen Hockern oder in Anglersesseln und lasen die eigenen Bücher. Eine Händlerin war so in die Lektüre eines alten Rimbaud-Bandes versunken, dass sie aussah, als würde sie gar nicht auf Kunden warten, sondern wäre sich selbst genug.
»Für Sie habe ich was.«
Lacroix wandte sich um, weil er im ersten Augenblick nicht wusste, woher die Stimme kam. Es war eine wohlklingende und tiefe Stimme. Der Händlerin dort gehörte sie nicht, sie las immer noch, nein, es war tatsächlich der Mann mit der dunklen Brille, der aber ganz woandershin sah, zu Boden nämlich, genauer: auf die Füße des Commissaires.
»Ja, kommen Sie, Monsieur.«
Lacroix hatte eigentlich keine Lust auf ein Verkaufsgespräch, aber er hielt dennoch inne. Irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Der Mann stand mit dem Rücken zu ihm und suchte etwas in seinen Kästen, dann, nach einer halben Minute, drehte er sich wieder um. In der Hand hielt er ein Buch und streckte es Lacroix entgegen. Der Commissaire warf einen Blick darauf und musste kurz auflachen.
»Wirklich«, murmelte er, »muss das denn sein?«
Es war – wie konnte es anders sein – ein Kriminalroman, aber nicht nur das: Es war Maigret bei den Flamen von Georges Simenon. Konnte er es gerade noch so akzeptieren, dass sein korsischer Brigadier Paganelli ihn »Maigret« nannte, so war es dann doch der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, als auch die Zeitungen der Hauptstadt seinen Spitznamen auf den Titelseiten brachten – sollten nun auch noch die Pariser, die ihn erkannten, damit beginnen? Doch der alte Mann mit der dunklen Brille fragte leise:
»Was ist denn? Ist etwas nicht in Ordnung? Es sollte das richtige Buch für Sie sein, ich habe mir gedacht …«
»Hören Sie, Monsieur«, sagte Lacroix und war selbst überrascht, dass er so ärgerlich war, »ich habe den ganzen Tag mit allerlei Räuberpistolen zu tun, und da wollen Sie mir, nun, nachdem Sie glauben, mich erkannt zu haben …«
Der alte Mann hob die Hände, und im selben Moment verstand der Commissaire, und es hätte ihm nicht unangenehmer sein können.
»Es tut mir leid, Monsieur«, stammelte der Buchhändler, »ich habe Sie gar nicht erkannt, wie könnte ich denn?«
Er nahm die Brille ab, und Lacroix sah in seine ausdruckslosen und glasigen Augen, die an ihm vorbei in Richtung Boulevard blickten.
»Ich kann nicht sehen – und es ist mir eine Aufgabe geworden, die Menschen an ihrem Schritt zu ermessen, an ihrer Forschheit oder Zartheit, ja, sogar an ihrem Geruch. Und bei Ihnen, da habe ich ein angenehmes Gefühl gehabt. Ich will Ihnen sagen, ich war mir sicher, dass Sie ein Pariser sind, kein Tourist, nein, in keinem Fall, Sie liefen zwar nicht schnell, aber sehr bewusst, Sie machten große Schritte. Sie müssen ein großer Mann sein, weil Sie mir ein wenig Licht rauben, das zumindest kann ich erkennen. Und Sie verströmen den sehr angenehmen Duft einer Pfeife, und ich rieche auch, dass Sie viel mit Papier zu tun haben, wenn nicht mit Büchern, dann doch mit Akten. Ja, ich hatte sogar das Gefühl, dass Sie sich mit dem Wesen von Menschen auskennen, auch das lag an Ihrem Schritt und an Ihrem Stehenbleiben. Sie haben meine Nachbarin, die liebe Agathe, eine Weile beobachtet, so habe ich es zumindest gespürt. Und deshalb dachte ich, dass unser lieber Maigret genau das Richtige für Sie ist. Verzeihen Sie, ich wollte Sie damit nicht kränken. Möchten Sie mir sagen, wer Sie sind?«
Lacroix war immer noch konsterniert, dass er diesen Mann so angefahren hatte. Die Erklärung war so einfach wie kompliziert: Der Buchhändler war blind. Und so gerne der Commissaire sich nun vorgestellt hätte, so schwer fiel es ihm, weil die nächste Frage einfach seinem Mund entwich, sie ließ sich nicht aufhalten:
»Wie viele Bücher haben Sie in diesen Kästen?«
»Es waren dreitausendzweihundertundsieben, Stand heute Morgen. Ich habe aber vorhin einen Band von Flaubert verkauft, also müssen Sie eines abziehen.«
»Aber wie um alles in der Welt ist das möglich, dass Sie ausgerechnet dieses Buch herausgreifen, in dieser kurzen Zeit?«
»Ach«, sagte der Mann leise und setzte sich seine Brille wieder auf. »Ich …«
Die Händlerin nebenan, die also Agathe hieß, ließ ihr Buch sinken und blickte herüber. »Also, Commissaire Lacroix, dass Sie wirklich Monsieur Hugo nicht kennen – er ist doch der blinde Bouquiniste. Der Mann, der alle Bücher kennt. Er steht sogar in einem dieser modernen Reiseführer – die Leute kommen aus Japan, um ihn zu fotografieren. Und ausgerechnet Sie haben noch nie von ihm gehört?« Sie sprach es leise lächelnd, und Lacroix musste sich eingestehen, dass er gern im Boden versunken wäre. Natürlich hatte er schon von Hugo gehört, aber er hatte die Geschichte um den blinden Buchhändler immer für eine urbane Legende gehalten. Und nun begegnete er ihm auf seiner neuen Spazierroute tatsächlich persönlich. Doch die Ehre schien beiderseitig zu sein.
»Wirklich? Sie sind wirklich Commissaire Lacroix? Ich war mir bei Ihrem Schritt ja fast sicher, dass Sie ein bedeutender Mann sind – aber das? Es tut mir leid, dass ich ausgerechnet Ihnen dieses Buch rausgesucht habe. Maigret … Ich kann mir vorstellen, dass diese ständige Heroisierung, diese Vergleiche mit einer literarischen Figur Ihnen gänzlich falsch erscheinen, aber …«
»Monsieur Hugo«, sagte Lacroix, der allmählich seine Ruhe wiederfand, »es ist an mir, Sie um Entschuldigung zu bitten, ich habe Sie nicht gut behandelt. Und nun stelle ich mich endlich vor, in der Tat, Commissaire Lacroix – und es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.«
»Die Ehre ist ganz meinerseits«, sagte Monsieur Hugo, und die beiden Männer gaben sich die Hand. »Haben Sie dieses Buch bereits gelesen?«
Lacroix schüttelte den Kopf. »Ich bevorzuge die Non-Maigrets«, sagte er, »Das blaue Zimmer ist mein Favorit unter Simenons Werken.«
»Oh Commissaire, diese Leidenschaft verstehe ich gut. Ich bitte Sie aber, nehmen Sie dieses Buch, betrachten Sie es als Geschenk von mir. Ich spüre, dass Sie auf dem Weg an ein Ziel sind, Sie haben es eilig, ohne sich wirklich zu beeilen, das ist mir angenehm, ich möchte Sie aber wirklich nicht aufhalten. Versprechen Sie, dass Sie in den nächsten Tagen einmal vorbeischauen? Dann könnten wir uns miteinander unterhalten.«
»Einverstanden«, erwiderte Lacroix. »Meine Frau hat heute Abend wichtige Sitzungen, und mein Lieblingsbistro ist geschlossen, also werde ich Zeit haben, das Buch zu lesen, und werde Sie in den nächsten Tagen wieder aufsuchen. Ich danke Ihnen, Monsieur.«
Sie gaben sich noch einmal die Hand, und Lacroix entfernte sich über den Quai de Montebello. Von hier bräuchte er immer nur leicht bergan zu gehen, und schon wäre er am Kommissariat des fünften Arrondissements, seinem Arbeitsplatz. Doch auf der anderen Straßenseite des Quais hielt er noch einmal inne und sah sich um. Da stand Monsieur Hugo und durchsuchte seine Bücher, fand, wonach er gesucht hatte, griff nach dem Buch und hielt es ganz nah vor sich, als wollte er es lesen. Dieser Mann war faszinierend. Mehr als das. Lacroix beobachtete ihn eine Weile, dann zündete er sich seine Pfeife an und nahm seinen Gang in Richtung Boulevard Saint-Germain wieder auf.
Er wartet schon in Ihrem Büro auf Sie, Commis- saire«, sagte Rio und wies mit einem Kopfnicken in den kleinen fensterlosen Raum, der nur durch eine dicke Glasscheibe von dem größeren getrennt war, in dem die Capitaine und ihr Kollege Paganelli an ihren Schreibtischen saßen. »Er wollte nicht plaudern, merkwürdig, er ist doch sonst so unterhaltsam.«
Das war in der Tat merkwürdig, dachte Lacroix, denn Arnaud Mercier war trotz seines fortgeschrittenen Alters ein Pariser durch und durch, der keine Gelegenheit ausließ, eine Unterhaltung zu beginnen, sogar zu flirten, wenn eine Kollegin anwesend war.
Doch nun sah Lacroix seinen direkten Vorgesetzten, wie er in dem Büro auf und ab ging und immer wieder Blicke auf die Glasscheibe warf, an der die Fotos von Opfern, Verdächtigen und Zeugen hingen. Gerade war die Scheibe leer, der April hatte ruhig begonnen, sodass die Beamten sich damit beschäftigten, ältere ungelöste Fälle zu bearbeiten, Hinweise zu sichten, Zeugen noch mal einzuladen.
»Danke Ihnen, ich gehe mal hinein«, sagte Lacroix und sah, wie sich Rio gleich wieder einer Akte zuwandte. Als sie die Lasche öffnete, kam ihr erst mal eine Staubwolke entgegen. Sie fluchte, doch Lacroix freute sich. Er liebte die Arbeit mit alten Akten. Am liebsten hätte er sein Büro ins Archiv verlegt, das im Keller des Gebäudes untergebracht war, gleich neben den Verhörräumen des Kommissariats rive gauche. Kurz dachte er an Monsieur Hugo, der tatsächlich gerochen hatte, dass Lacroix sich gerade mit alten Papieren beschäftigte. Es war wirklich bemerkenswert.
»Mein lieber Arnaud«, sagte Lacroix und blieb in der Tür stehen. Der Mann im anthrazitfarbenen Anzug fuhr herum. »Oh, mon cher, ich habe dich gar nicht kommen hören.«
»Mir scheint, du bist sehr in Gedanken«, antwortete Lacroix. Sie gingen aufeinander zu und umarmten sich, dann gaben sie sich die zwei bises, die auch unter befreundeten Männern üblich waren.
»Bist du noch gar nicht in den Osterurlaub entschwunden?«, fragte Lacroix, der Merciers Ferienwohnung an der Stadtmauer in Antibes an der Côte d’Azur kannte und wusste, dass der alleinstehende Polizeidirektor keine Gelegenheit ausließ, Wochenenden und Feiertage am blauen Mittelmeer zu verbringen. Auch er selbst plante, mit Dominique die Feiertage in Giverny zu verbringen, dem Heimatdorf von Madame Lacroix in der Normandie, in dessen berühmten Monet-Gärten sich das Ehepaar einst kennengelernt hatte. Doch noch waren es drei Tage, bis die Pariser an Gründonnerstag, spätestens aber an Karfreitag in Scharen die Stadt verlassen würden.
»Ich war tatsächlich schon auf dem Weg«, sagte Arnaud, »aber dann war da etwas, das mir keine Ruhe gelassen hat. Und nun bin ich hier, um dich um Rat zu bitten, damit ich beruhigt in den Zug steigen kann, der in drei Stunden vom Gare de Lyon abfährt.«
»Möchtest du dich setzen? Magst du einen Tee? Du weißt, der café hier drinnen ist nicht trinkbar, aber ich sehe, dass du es nicht mehr aushältst, die Geschichte für dich zu behalten, bis wir auf eine Tasse ins Café hinausgegangen sind.«
Mercier nahm Platz und sah Lacroix überrascht an. »Warum meinst du, ich hielte es nicht mehr aus?«
»Nun, dein einer Hemdärmel schaut aus dem Sakko heraus, während der andere verknautscht in der Jacke steckt. Und dein Einstecktuch hast du auch vergessen. Das ist nicht der Arnaud, der sonst wie aus dem Ei gepellt bei Capitaine Rio auf der Schreibtischkante sitzt. Also, was ist los?«
»Wenn ich dich doch nur bewegen könnte, bei mir drüben am Quai des Orfèvres zu arbeiten – dann könnte ich drei andere Kollegen einsparen, die nicht deine Beobachtungsgabe haben. Aber gut, du bist eben un homme de rive gauche – ich verstehe es ja. Also, hör zu. Wir haben vorgestern einen Toten aus der Seine gefischt, auf Höhe des Pont des Arts. Er ist in die Schraube eines bateau-mouche gekommen.« Lacroix zog eine Augenbraue hoch, und Mercier nickte. »Ja, ich erspare dir die Details. Nun gut, wir haben das ja manchmal, wie du weißt: ein junger Mensch in wirtschaftlicher Not oder mit Liebeskummer. Er hatte viel Alkohol im Blut.«
»Ich habe in den Tagesberichten davon gelesen. Ihr geht von einer Selbsttötung aus.«
Mercier nickte. »Ja, so haben die Kollegen es eingeschätzt.« Er kratzte sich am Kopf. »Aber vorhin war diese junge Frau bei mir. Seine Freundin. Ich kann dir sagen, sie ist eine faszinierende junge Dame. Sie hat sich von Mademoiselle Rollinger nicht aufhalten lassen und ist einfach zu mir ins Büro gestürmt.«
Lacroix sah die Besorgnis in Arnauds Augen, aber auch das Funkeln. Beeindruckend, dachte der Commissaire. Der abgebrühte Mercier hatte nicht viele Schwächen, die ihn persönlich zu Lacroix führen würden, aber eine offensichtlich hübsche junge Frau ließ ihn sofort erweichen – es war wie ein Naturgesetz.
»Kann ich mit ihr sprechen?«
»Ich wusste, dass du das fragen würdest. Ich habe sie gebeten, am Quai des Orfèvres zu warten. Wollen wir?«
»Das Wetter ist herrlich, und ich habe gerade nichts anderes vor, also: On y va.«
Ja, sie waren schon eindrucksvoll: die hohen Mauern aus altem Stein, die Sprossenfenster vor allen Büros und ganz gewiss auch der Blick auf die Seine, die unten am Quai des Orfèvres vorbeifloss – all das war sehr viel mondäner als der profane Zweckbau, in dem Lacroix seinen Dienst tat.
Und doch würde er nicht tauschen wollen – jetzt nicht mehr. Denn die Stadt Paris hatte vor wenigen Jahren das Sakrileg begangen, der Kriminalpolizei ihren legendären Dienstort zu rauben, größtenteils zumindest. Nun taten die Beamten nicht mehr auf der Île de la Cité Dienst, sondern in einem gläsernen Monstrum von Neubau am nordwestlichen Stadtrand im siebzehnten Arrondissement. Dort war alles modern, groß und licht, sogar die Klimaanlage funktionierte. Und doch, war sich Lacroix sicher, sehnten sich die Polizisten nach der Patina, nach dem verstaubten Charme, nach der Legendenbildung der Adresse 36, Quai des Orfèvres, die spätestens seit Simenons Maigret ein Sehnsuchtsort für Kriminalbeamte aus aller Welt war, ähnlich der Baker Street in London.
Wenigstens durften noch einige Einheiten hier Dienst tun, die BRI zum Beispiel, eine Brigade, die zur Terrorismusbekämpfung eingesetzt wurde, und vermutlich hatte Arnaud Mercier seinen guten Draht zur Bürgermeisterin genutzt, denn auch er hatte sein altes Büro behalten.
Der Uniformierte an der Schranke salutierte, als die beiden Männer in Zivil vorbeigingen. Dann nahmen sie die Treppen in die dritte Etage. Lacroix sah die Frau schon von Weitem. Sie saß auf der hölzernen Bank vor Merciers Büro und trat nervös von einem Fuß auf den anderen.
»Darf ich vorstellen? Das ist Commissaire Lacroix, unser bester Ermittler.« Merciers Stimme war ganz weich geworden. »Ich würde Sie bitten, Mademoiselle, dass Sie ihm alles noch mal sagen, was Sie mir vorhin erzählt haben. Kommen Sie doch, bitte.«
Die junge Frau stand auf und gab Lacroix schüchtern die Hand. Sie war von schlanker Gestalt, hatte langes dunkelbraunes Haar und freundliche Augen, die aber von einer langen, durchweinten Nacht gerötet waren.
Sie betraten das großzügige Büro des Leiters der Kriminalpolizei und nahmen Platz.
Die Frau rutschte auf dem Leder des Stuhls herum, ein stilles Beben ging von ihr aus. Lacroix sagte kein Wort.
»Er hatte keine Probleme.« Ihre Stimme war viel tiefer, als der Commissaire vermutet hatte, aber die Trauer hatte das Timbre ausgelöscht. »Gar keine Probleme. Na ja, die üblichen kleinen Nöte, klar. Die hat doch jeder in Paris, wenn kurz vor Monatsanfang das Geld für die Miete noch nicht ganz beisammen ist – solche Dinge … Aber er hat doch nicht gelitten. Wir haben Pläne gemacht für den Sommerurlaub, wir wollten ans Cap Ferret mit ein paar Freunden, die haben ein Haus ganz an der Spitze, kurz hinterm Leuchtturm. Er wollte für zwei oder drei Wochen seinen Laden zusperren. Das hätte er letztes Jahr nicht gemacht, weil im Sommer die Touristen kommen und für richtig Gewusel an den Quais sorgen. Aber dieses Jahr hatte er es vor, damit wir endlich mal Zeit miteinander haben. Und …« Sie sah die beiden Männer nacheinander an und wischte sich übers Gesicht. »Und bevor Sie fragen: Wir hatten auch keine privaten Probleme. Wir lassen uns unsere Freiheiten, ich bin keine Teufelin oder irgend so etwas, was Männer immer über Frauen denken. Ich hab ihn sehr geliebt, wirklich – und er hat mich auch geliebt, und deshalb will ich …«, sie begann leise zu weinen, mit derselben Würde, die ihr ganzes Auftreten ausstrahlte, »… ich will, dass Sie ermitteln. Ich muss wissen, was geschehen ist in dieser Nacht.«
»Waren Sie verabredet an jenem Abend?« Es waren Lacroix’ erste Worte in dem großen Raum. Er mochte Merciers Büro, die Aussicht, die Großzügigkeit – natürlich. Aber als Verhörraum war es gänzlich ungeeignet. Es gab viel zu viel Platz hier für ausweichende Blicke und Gedanken, sogar ihm fiel es schwer, in diesem Palast sein Gehirn auf das Gespräch zu konzentrieren. Der kleine fensterlose Raum im Keller seines Kommissariats war ihm für Verhöre mit Zeugen und Verdächtigen tausendmal lieber.
»Das ist es ja. Ich saß in unserer liebsten Bar, in der Nähe von République. Wir waren dort für elf verabredet. Ich hatte noch lange im Büro zu tun. Vor den Osterferien müssen wir die Jahresabschlüsse machen – ich bin Steuerberaterin, wissen Sie? Und deshalb haben wir uns erst spät auf ein Glas verabredet, danach wollten wir zusammen zu mir gehen, ich wohne in der Rue Tesson. Aber er kam nicht. Und da … da hatte ich schon ein ganz schlechtes Gefühl. Na, habe ich mir gesagt, es wird schon alles gut sein. Was sollte einem so kräftigen jungen Mann denn passieren? Gabin, er ist … er war absolut zuverlässig, er war immer pünktlich, besonders, wenn es um mich ging, er hätte mich niemals dort warten lassen – oder noch schlimmer: mich versetzt oder vergessen. Niemals. Wir hatten noch um sieben telefoniert, da wollte er noch eine Stunde arbeiten und dann einen Apéro nehmen.«
»Allein?«
»Nein.« Sie lächelte sanft. »Gabin arbeitete viel allein, aber er trank nicht gern allein. Er war sehr gesellig, in seinen Stammcafés und -bars hatte er immer Freunde und Bekannte, die er traf und mit denen er bei einem Glas philosophierte.«
Lacroix spürte einen Stich in der Brust. Sicher hätte Dominique auch ihn so beschrieben. Er und seine Freunde, sein Bruder, am Tresen des Chai de l’Abbaye, wo sie sich alle mehrmals am Tag trafen, um einen café, ein Glas kaltes Bier, ein Gläschen Weißwein zu trinken. Er hoffte, dass sich die Maler beeilen würden. Er vermisste Yvonne, die Wirtin des Chai. Erst recht jetzt, wo er einen Fall hatte.
»Aber Sie wissen nicht, mit wem er an diesem Abend zum Apéro verabredet war?«
»Er trennte strikt seine Arbeit und unser Leben, wir gingen nicht in dieselben Bars, in die er mit seinen Kollegen ging. Deshalb kann ich das leider nicht sagen.«
»Sie wissen aber, um welche Bars es geht?«
»Ja, natürlich, ich kann Ihnen das aufschreiben.«
Arnaud Mercier war schnell zur Stelle, reichte ihr Zettel und Stift und lächelte sie freundlich an.
»Das wäre nett, Mademoiselle, vielen Dank.«
»Was war Gabin denn von Beruf?«, fragte Lacroix. »Sie sagten, er hat einen Laden? An den Quais?«
Sie lächelte, als kämen die Bilder aus weiter Ferne.
»Ich sage das immer so, weil es so schön klingt – aber auch, weil es immer so wirkt, wenn Gabin davon erzählt – als hätte er einen richtigen Laden. Er ist so stolz. Wissen Sie, Gabin, er hat nur einen von diesen grünen Holzverschlägen am Fluss – er ist … nun ja, er ist Buchhändler, ein Bouquiniste.«
Vertrackt ist das, mon cher Arnaud, vertrackt«, sagte Lacroix, und ihm war, als schwebten seine Worte durch den sonnenbeschienenen Raum.
»Findest du sie etwa nicht glaubwürdig?«, fragte Arnaud Mercier, der hinter seinem Schreibtisch saß, welcher wie ein hölzernes Bollwerk wirkte gegen all die Beamten, die mehr Geld, weniger Arbeit und mehr Sterne auf den Schulterklappen wollten.
»Ich hätte nicht eine Sekunde gezögert, genauso zu handeln, wie du es getan hast«, antwortete Lacroix. Mercier hob den Blick, und zum ersten Mal waren seine Augen wieder so offen und zugewandt, wie Lacroix es von ihm gewohnt war. Sein Chef schien erleichtert, offenbar hatte er an seinem eigenen Urteilsvermögen gezweifelt.
»Was wirst du jetzt tun?«
»Wer hat die Obduktion durchgeführt?«
»Ein Arzt im Hôtel-Dieu. Aber wenn du den Fall übernimmst …«
Lacroix nickte. »Ja. Dann sollte Docteur Obert noch mal eine zweite Meinung über den unseligen Gabin kundtun.«
Docteur Obert. Der unangefochtene Patron der Pariser Gerichtsmedizin. Er war so alt wie Commissaire Lacroix, zusammen hatten sie schon so viele Fälle gelöst, dass sie einen eigenen Flügel im Pariser Polizeimuseum hätten beanspruchen können. Wenn Docteur Obert bei einer Leiche keine Todesursache feststellen konnte, war es gut möglich, dass der Mensch noch lebte.
»Ich werde mir zusammen mit der jungen Frau die Wohnung des Toten ansehen. Und ich werde die Quais besuchen.«
»Also heißt das, dass ich beruhigt in Richtung Süden fahren kann?«
»Joyeuses Pâques, Arnaud.«
»Genieß die Ostertage in Paris, trotz Arbeit, mon cher. Andererseits: So ganz ohne Arbeit kannst du ja ohnehin nicht.«
»Sich am Strand zu aalen steht dir eben besser als mir.«
Arnaud Mercier stand auf und schloss den Knopf seines Sakkos.
Lacroix wies auf den Schreibtisch. »Darf ich?«
Der Chef der Pariser Kriminalpolizei rollte scherzhaft mit den Augen. »Mon cher Commissaire, ich zahle dir jedes Modell, wirklich jedes, selbst eines mit großen Tasten für Senioren … – aber bitte, schaff dir ein Handy an!«
»Das werde ich frühestens im Rentenalter, und das weißt du.«
Er griff zum Hörer des Schreibtischtelefons. Paganelli nahm erstaunlich schnell ab.
»Kommissariat des fünften Arrondissements?«
»Ich bin es.«
»Oh, Commissaire.«
»Können Sie alles über einen gewissen Gabin …«, Lacroix warf einen Blick auf die Akte auf dem Schreibtisch, aber es war mehr ein Reflex, er hatte sich den Namen, das Geburtsdatum, die Herkunft des Toten längst eingeprägt, »… Belleroix herausfinden? Er ist gestern tot aufgefunden worden, er trieb in der Seine. Es scheint, er ist ein Bouquiniste. Er wohnte zuletzt am Canal Saint-Martin.«
»Gibt es einen Verdacht auf einen unnatürlichen Tod?«
»Ich gehe davon aus. Können Sie seine finanzielle Situation überprüfen? Außerdem Vorstrafen, Ehen, Scheidungen, verborgene Kinder?«
»Ich werde sogar rausfinden, welche Nummer er beim Asiaten immer bestellt.«
»Na, da wünsche ich bon appétit.«
»Kommen Sie zu uns, Commissaire?«
»Ich werde mich erst mal in der Wohnung des jungen Mannes umsehen. Wir sehen uns am Nachmittag im Kommissariat.«
»So sei es, Maigret.«
Bevor Lacroix etwas erwidern konnte, hatte der Korse lachend aufgelegt.