Lacroix und die Frau in der letzten Metro - Alex Lépic - E-Book

Lacroix und die Frau in der letzten Metro E-Book

Alex Lépic

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Beschreibung

Während seine Frau im hochherrschaftlichen Hôtel de Ville ihr Amt als Pariser Bürgermeisterin antritt, wird Commissaire Lacroix zu einem Tatort gerufen: Céline Cantin – blond und außergewöhnlich schön – liegt tot in ihrer Wohnung. Sie ist zurechtgemacht und trägt ein elegantes Kleid, als hätte sie eine Abendveranstaltung besucht. Ist der Täter ihr bis nach Hause gefolgt? Würgemale weisen auf ein Gewaltverbrechen hin. Aber was war das Motiv?  Ein Raubüberfall kann es nicht gewesen sein: Die teure Uhr des Opfers hat der Mörder zurückgelassen. Nach der Obduktion wird ein Sexualdelikt ausgeschlossen, und auch das Leben der Frau, die in den Galeries Lafayette arbeitete, gibt Lacroix keinerlei Anhaltspunkte. Dem Commissaire schwant Böses: Wenn die Frau ein Zufallsopfer war, kann auch der Polizei nur der Zufall helfen. Dann wird eine zweite blonde Frau tot aufgefunden …  

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Alex Lépic

Lacroix und die Frau in der letzten Metro

Sein siebter Fall

Roman

Kampa

Die erste Frau im Staate

1

»Und? Bist du sehr aufgeregt?«

Lacroix hatte sich die Frage bis zum Schluss aufgehoben. Den ganzen Fußweg lang hatten Dominique und er nur über die schönen Dinge des Lebens gesprochen.

Über ihr gestriges Abendessen im Jeanne-Aimée, einem neuen Lokal bei der kleinen Kirche Notre-Dame-de-Lorette unweit der Metrostation Opéra, das sie sehr genossen hatten. Die Inhaber besaßen einen großen Gemüsegarten in den Yvelines südlich der Stadt, und das frische Gemüse, das sie dort ernteten, boten sie nun als herrliche Gerichte mit feinem Fisch, Fleisch und Meeresfrüchten in ihrem eigenen Restaurant an. Es war ein sehr schöner Abend gewesen.

Ungefähr auf Höhe des Musée d’Orsay hatten sie das Thema gewechselt. Lacroix war innerlich unruhig, denn im Kommissariat gab es derzeit so gut wie nichts zu tun – und das war immer ein schlechtes Zeichen. Es bedeutete, dass bald deutlich hektischere Zeiten auf ihn zukamen.

»Weißt du, immer wenn es so still ist, dann braut sich was zusammen«, hatte er zu seiner Frau gesagt, gerade als sie den Pont des Arts passiert hatten und auf die andere Seite des Flusses gewechselt waren.

»Ach, mon cher«, hatte Dominique geantwortet, »ich hoffe, du siehst nur Gespenster.«

Und dann hatten sie noch darüber geredet, wann sie nach Giverny fahren würden, um ihr Sommerhaus winterfest zu machen. Sicher in zwei oder drei Wochen, wenn Dominique sich eingearbeitet hätte.

Nun aber, auf dem Platz vor dem Hôtel de Ville, dem hochherrschaftlichen Rathaus der Stadt, kam Lacroix nicht mehr umhin, den großen rosafarbenen Elefanten anzusprechen, der schon den gesamten Vorabend im Raum gestanden hatte.

Dominique sah ihn freundlich an, und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Du kennst mich so gut, mon cher … Ja, ich bin sehr aufgeregt. Und ich habe auch wirklich nicht gut geschlafen heute Nacht, zum ersten Mal seit sehr langer Zeit. Ich frage mich: Werden mich die Angestellten mögen? Mein Vorgänger war Sozialist, ich bin Republikanerin, aber seine Beamten bleiben ja im Rathaus – vielleicht hassen mich alle. Andererseits bin ich echt gespannt, wie es da drinnen zugeht. Und ich freue mich richtig, jetzt anzupacken. Aber ja, ich bin aufgeregt wie ein kleines Kind. Jetzt geht’s los, kannst du das fassen?« Beim letzten Satz hatte sie seine beiden Hände genommen und hielt sie ganz fest.

»Nein«, gab er zu, »ich kann es auch noch nicht fassen. Seit du deine Kandidatur erklärt hast, ist die Zeit gerast, und nun hast du es tatsächlich geschafft – und fängst heute schon an. Ich … ich bin so stolz auf dich. Du wirst die beste Bürgermeisterin, die Paris je hatte.«

Er umarmte sie, weil er so gerührt war, und sie küsste ihn sanft auf die Wange. Als sie sich von ihm gelöst hatte, grinste sie.

»Am liebsten bin ich aber die beste Ehefrau, die du je hattest.«

»Na, da liegst du sehr gut im Rennen, wenn ich das sagen darf.«

»Das darfst du. Heute Abend dîner?«

»Wenn es so ruhig bleibt, komme ich gerne schon zum Mittag. Die Kantine im Rathaus soll ausgezeichnet sein.«

Sie lächelte wieder. »Heute Mittag führt mich mein Vorgänger chic aus. Er macht ja die Übergabe. Aber ein andermal gerne. Also bis heute Abend.«

»Bon courage«, sagte Lacroix, und sie küssten sich noch einmal. Dann strich Dominique ihr Kostüm glatt und ging die letzten Meter auf das hochherrschaftliche Gebäude zu. Das Rathaus war eine Landmarke der Stadt, ungefähr auf gleicher Höhe wie Notre-Dame genau am Ufer des Flusses. Es war im verspielten Stil der Neorenaissance erbaut, mit unzähligen von Bogen gerahmten Fenstern, Türmchen und Zinnen und großen Figuren hoch oben auf dem Schieferdach – ein echtes Château, das auf die Macht des Mannes verwies, der diese Stadt regierte. Oder eben die Macht der Frau. Es waren viele Touristen hier, die Fotos machten von diesem Zuckerbäckerbau und die natürlich keine Ahnung hatten, wer Dominique war und dass sie gleich einziehen würde in dieses Haus. Aber es waren auch ein paar Einheimische unterwegs, die ihr nachsahen oder zunickten. Lacroix beobachtete, wie ein Mann ihr freundlich lächelnd die Hand reichte. Sie war es. Die neue Chefin von Paris.

Gerade betrat sie das Portal, und der diensthabende Polizist salutierte. Sie lächelte nur und schüttelte ihm die Hand. Großer Pomp war nicht ihre Sache, daran hatte auch die Wahl nichts geändert.

Als sich das Tor wieder schloss, wandte Lacroix sich um und ging über die Seinebrücke Pont d’Arcole auf die Île de la Cité. Er hatte Hunger auf ein kleines Frühstück, nichts Großes, nur ein Croissant und einen café. Das dîner war üppig gewesen.

Während er den Palais de Justice passierte und der Place Dauphine entgegenstrebte, ließ er innerlich die vergangenen Wochen Revue passieren. Die Endphase des Wahlkampfes, als er Dominique zu ihren Kundgebungen begleitet hatte und von Auftritt zu Auftritt überzeugter geworden war, dass sie die Richtige für die Aufgabe war: kompetent, mitreißend, aber dennoch bescheiden. Dann waren sie im Urlaub gewesen, eine Woche an der Algarve, um einfach mal abzuschalten und nichts zu tun. Und ehe sie sich versahen, war der Wahltag gekommen. Sie gaben früh am Morgen in der Schule in der Rue Cler ihre Stimmen ab. Als Dominique ihren Stimmzettel in die Wahlurne steckte, erging ein regelrechtes Blitzlichtgewitter über sie. Lacroix hielt sich im Hintergrund. Er mochte den Rummel nicht, das wusste seine Frau.

»Na, hast du dein Kreuz bei meinem Gegner gemacht, damit ich verliere und du wieder deine Ruhe hast?«, fragte sie ihn hinterher mit einem breiten Grinsen. Sie lachten.

Anschließend gingen sie ins Café Central frühstücken und verbrachten den Tag bei strahlendem Sonnenschein auf einer Picknickdecke im Jardin du Luxembourg, mit Zeitungslektüre und einer Flasche Weißwein am Nachmittag. Erst am Abend um neunzehn Uhr begaben sie sich ins Rathaus, zur Wahlparty der Partei. Um Punkt zwanzig Uhr flimmerten die Ergebnisse über die Leinwand, die eigens für diesen Abend aufgebaut worden war. Der Sender France 2 versuchte nicht mal, die Spannung aufrechtzuerhalten oder noch eine gewisse Unsicherheit zuzulassen. Dafür war das Ergebnis zu eindeutig.

Dominique Lacroix war mit dreiundfünfzig Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang zur neuen Bürgermeisterin von Paris gewählt worden. Ein einmaliges, absolutes Traumergebnis. Ihr Widersacher landete fast zwanzig Prozent hinter ihr, die restlichen Stimmen waren an Kandidaten kleinerer Parteien gegangen. Sogar die Wahlbeteiligung war hoch. Dominique sah den Commissaire in diesem Augenblick ungläubig an. Er nahm sie sofort ganz fest in den Arm und küsste sie. Aber schon in diesem Moment spürte er, dass sie sich tief in ihrem Inneren gewünscht hatte, der Kelch wäre an ihr vorübergegangen. Denn von diesem Augenblick an würde ihr Leben vollkommen anders werden, als es bisher gewesen war.

Und natürlich hatte der ganze Rummel unmittelbar begonnen: mit unzähligen Interviews und Fernsehdebatten, mit Selfies, für die Dominique mit jungen Wählerinnen und Wählern posieren musste, mit Autogrammen und Hunderten Gratulanten, die anriefen, darunter auch der französische Präsident.

Die Wahlparty war rauschend, aber erst zu später Stunde, als alle Fotografen verschwunden waren, wagte das Ehepaar Lacroix auch einen Tanz. Sich als ungelenken Tänzer auf einer Titelseite verewigt zu sehen – das wollte Lacroix dann doch nicht.

Trotz alledem hatten sie die darauffolgenden Tage verbracht, als wenn nichts geschehen wäre. Bis zur Amtsübergabe blieben ihnen noch zwei Wochen. Sie schliefen stets lange und machten viele Spaziergänge, sie gingen essen und ins Kino, sprich: Sie versuchten, die gemeinsame Zeit in vollen Zügen zu genießen.

Vor zwei Tagen hatte Dominique sich von ihren Mitarbeitern im Rathaus des siebten Arrondissements verabschiedet. Sie nahm nur einige wenige Vertraute mit in die neue Stellung, darunter ihre Assistentin Véronique. Es wurde ein tränenreicher Abschied. Lacroix’ Frau hatte ihre Arbeit im Siebten sehr gemocht und war auch bei den dort angestellten Beamten äußerst beliebt gewesen.

Und nun ging es also los, am Dienstag, dem ersten September, dem schlimmsten aller Tage in Paris, der Beginn der sogenannten rentrée, wenn alle Angestellten und Beamten gleichzeitig aus ihren Urlaubsdomizilen zurückkehrten und den Büros entgegenstrebten, noch mit Sand in den Schuhen und bereits Sehnsucht nach dem nächsten Urlaub im Herzen. Ausgerechnet an diesem Tag wurde Dominique Lacroix, die Frau des Commissaires, die neue Bürgermeisterin der Stadt. Es war ihr erster Arbeitstag – und Lacroix wusste, dass er Dominique in dieser Woche nicht oft zu Gesicht bekommen würde. Wenn sie etwas Neues anging, war sie nicht nur eifrig, sie war fieberhaft. Sie wollte ihre Aufgabe gut machen, und das tat sie dann auch.

Blöd nur, dass er selbst so wenig zu tun hatte. Obwohl es natürlich nicht bedauerlich war, dass das Verbrechen ruhte. Es war ja auch weniger die Langeweile, die Lacroix quälte, als vielmehr dieses unangenehme Bauchgefühl, das ihn daran hinderte, die Ruhe zu genießen.

Vielleicht ist es auch der Hunger, dachte Lacroix, und mit dem würde es gleich vorbei sein. Denn just in diesem Moment öffnete er die Tür zum Chai de l’Abbaye, seinem Stammbistro, in dem er stets sein Frühstück einnahm.

Doch noch bevor er sich an den zinq, den alten Zinktresen mit den hölzernen Barhockern stellen konnte, kam Yvonne, die Patronne, auf ihn zugeeilt.

»Na, da bist du ja endlich!«

»Was ist denn los?«, fragte er, als er die Röte auf ihren Wangen sah, die sicher nicht von der Hitze in der Küche kam.

»Dein Büro hat schon viermal angerufen. Ob du denn endlich da seiest. Sie suchen dich. Es gab …«, sie senkte die Stimme, »es gab einen Mord. Jade Rio ist auf dem Weg hierher. Sie will dich abholen.«

»Einen Mord? Mon dieu …« Lacroix schwor sich, seinem Bauchgefühl nie wieder zu misstrauen. »Machst du mir bitte noch schnell einen café …« Doch bevor er den Satz beenden konnte, rauschte der kleine Renault Clio mit dem Blaulicht auf dem Dach auch schon auf den Bürgersteig und kam vor dem Chai zum Stehen. Auf dem Fahrersitz saß Jade Rio und winkte ihm zu.

»Vergiss es, Yvonne.«

»Magst du einen café zum Mitnehmen?«

Der Commissaire rümpfte die Nase. »Dass du jetzt diese schrecklichen Pappbecher angeschafft hast, ist eine Schande. Aber dass du auch noch denkst, ich würde daraus trinken – unerhört!« Er zwinkerte ihr zu. »Wir sehen uns später.«

Noch als er schon auf der Straße stand, hing ihm der Duft der frisch gebackenen Croissants in der Nase. Aber unterwegs zu essen kam für ihn einfach nicht infrage; dafür, fand Lacroix, war der Mensch nun mal nicht gemacht.

»Guten Morgen, Capitaine«, sagte er, als er in den Wagen einstieg.

»Morgen, Commissaire, leider kein guter«, erwiderte die Capitaine, die seit fast fünfzehn Jahren für ihn arbeitete. Am Grad ihrer Erregung konnte er abmessen, wie ernst es war. Heute sprach sie so schnell und ließ die Reifen beim Losfahren so laut quietschen, dass klar war: Es war todernst. »Ein Concierge hat uns angerufen. Die Wohnungstür in einem Appartement in der Rue Vavin stand offen. Er hat die Bewohnerin gefunden, eine junge Frau. Sie liegt tot im Schlafzimmer. Die Stadtpolizei ist vor Ort. Der Agent ist recht erfahren, und er sagt: Klarer Hinweis auf Fremdeinwirkung. Und das ausgerechnet heute! Paganelli hat seinen ersten Urlaubstag, wir sind auf uns allein gestellt.«

Lacroix flüsterte: »Non, mais non«, und schüttelte den Kopf.

»Was ist denn, Commissaire?«

»Hätte ich mir doch bloß nicht mehr Arbeit gewünscht.«

»Tja, wie heißt es immer: Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst.«

»Sie haben so recht, Capitaine, so recht.«

2

Das Haus mit der Nummer 15, Rue Vavin, war ein schlichter Altbau, die dunkelgelbe Fassade hatte mal wieder einen Anstrich nötig, genau wie die schmiedeeisernen Brüstungen der Haussmannschen Balkone.

Jade Rio hatte es tatsächlich geschafft, die Strecke hierher in fünf statt der zu dieser Stunde üblichen zwanzig Minuten zu bewältigen. Lacroix musste sich erst mal strecken, als er aus dem Wagen stieg; während des ganzen Parcours hatte er sich angespannt am Haltegriff festgeklammert. Am Eingang zu dem Haus flatterte bereits das weiß-rote Absperrband der Pariser Stadtpolizei, und eine junge Beamtin mit blauer Schirmmütze stand unsicher davor.

»Guten Morgen«, begrüßte sie der Commissaire, »wir sind die Kollegen aus dem Kommissariat im sechsten.«

»Oh, Commissaire Lacroix«, antwortete die junge Frau und rang sich ein leichtes Lächeln ab. »Es ist mir eine Ehre.«

»Bitte, das ist nicht nötig«, murmelte der Commissaire. »In welcher Etage befindet sich die Leiche?«

»Mein Kollege ist bei ihr. Dritte Etage. Der Anblick … Ich habe mich gar nicht hochgetraut, weil er sagte, dass ich es lieber nicht tun solle …«

»Das war wahrscheinlich das Beste«, erwiderte Lacroix. »Haben Sie vielen Dank.«

Dann stieg er, Jade Rio im Schlepptau, die Treppen hinauf. Vor der Wohnung in der dritten Etage trat ein älterer Mann mit dunklem Teint und Vollbart unruhig von einem Bein aufs andere.

»Guten Morgen«, grüßte Lacroix, »Sie sind sicher der Concierge dieses Hauses?«

»Ganz recht, Monsieur. Alberto Vista ist mein Name. Ich kenne Sie, Commissaire, ich kenne Sie aus der Zeitung. Sie sind doch der Mann der Bürgermeisterin, nicht wahr?« Seine Augen glänzten. Doch bevor Lacroix ihn unterbrechen konnte, schien sich der Mann selbst wieder daran zu erinnern, warum der Commissaire hier war. »Ich habe …«, er zog die Worte in die Länge und bekreuzigte sich einmal, »die Tote heute Morgen gefunden.«

»Das muss ein schrecklicher Moment gewesen sein, Monsieur Vista«, sagte Lacroix und widerstand der Versuchung, dem Mann die Hand auf den Arm zu legen. Vista trug ein grobes Holzfällerhemd und eine Arbeitshose, sein Teint war dunkel, seine strubbeligen Haare und schweren Augenbrauen von einem tiefen Grau. Er war der Prototyp des Pariser Concierges, schon dem Namen nach musste er wie die meisten von ihnen aus Portugal stammen, ruhige Menschen, die hart arbeiteten und das ihnen anvertraute Haus bewachten, als wäre es ihr eigenes.

»Das war es wirklich. Wissen Sie, Commissaire, ich mache morgens immer einen Rundgang durchs Haus, bis in die oberste Etage. Einmal ist es vorgekommen, dass hier eingebrochen wurde, da war ich aber im Urlaub, daheim in Faro. Deshalb ist der Einbruch niemandem aufgefallen, und die Tür ganz oben unterm Dach stand eine Woche offen. Seither steige ich jeden Morgen bis ganz nach oben. Und als ich dann die offene Tür von Mademoiselle Cantin sah, wusste ich gleich, dass etwas passiert sein musste.«

»Sie sind hineingegangen?«, fragte Lacroix.

»Nein, natürlich nicht. Vielleicht hatte sie ja auch Besuch, und die Tür war nicht richtig zugegangen. Ich meine, das Haus ist in fabelhaftem Zustand, aber es kann natürlich doch manchmal vorkommen, dass eine der alten Türen nicht richtig schließt. Also habe ich erst mal geklopft und nach ihr gerufen, erst leise und dann etwas lauter. Aber es hat niemand reagiert. Und dann bin ich hineingegangen.« Er stockte und bekreuzigte sich noch einmal. »Meu Deus«, fuhr er auf, »mein Gott, Commissaire, ich habe erst die Küche durchsucht und dann das Wohnzimmer – ich wollte ja auf keinen Fall ins Schlafzimmer gehen. Aber dann habe ich doch einen Blick hineingeworfen, die Tür stand offen. Da lag sie. Ich werde den Anblick nie vergessen. Wie sie … die Augen so zur Decke gerichtet … Es war … schrecklich.«

»Haben Sie irgendetwas angefasst?«

»Aber Commissaire, ich schaue doch auch Krimis. Nein, gar nichts, nicht einmal die Türklinke zur Wohnung, ich habe die Tür mit dem Fuß aufgestoßen. Sie werden meine Abdrücke dort nicht finden.«

»Sie sind aber wirklich gut informiert«, stellte Lacroix fest. »In Ordnung. Ich werde mir das Opfer einmal ansehen, und dann können Sie mir vielleicht noch ein wenig über Mademoiselle Cantin erzählen? Sie kennen die Bewohner Ihres Hauses doch sicher sehr gut?«

Der alte Concierge nickte, senkte dann aber den Kopf. »Ja, ich kenne meine Bewohner, natürlich, aber ausgerechnet Mademoiselle Cantin lebt noch nicht lange hier. Vielleicht seit einem Jahr. Sie arbeitet den ganzen Tag, deshalb habe ich mit ihr noch nicht mehr als zehn Sätze gewechselt. Aber sie war immer sehr freundlich. Und sie führte auch sonst ein geregeltes Leben.«

Lacroix zog eine Augenbraue hoch. »Was heißt das denn, Monsieur Vista? Was ist denn in Ihren Augen ein geregeltes Leben?«

»Na, es ist ja nicht ihre Wohnung, sondern die Wohnung ihres – wie sagt man heute so neumodisch? – ihres Freundes. Monsieur Fallanquier hat die Wohnung geerbt, er selbst lebt aber in Barcelona und kommt nur am Wochenende nach Paris. Deshalb hat er seine Freundin hier wohnen lassen.«

»Gut. Haben Sie einen Kontakt zu diesem Monsieur Fallanquier? Meine Kollegin wird alles aufschreiben. Wissen Sie, welchen Beruf Mademoiselle Cantin ausgeübt hat?«

»Sie arbeitete in der Damenabteilung der Galeries Lafayette. Sie hatte ständig Tüten dabei, wahrscheinlich war sie eine ihrer besten Kundinnen.« Es sah aus, als müsste sich Monsieur Vista ein Lachen verkneifen.

»Merci für den Moment, Monsieur. Wir gehen nun nach oben. Würden Sie den Kontakt zum Wohnungsbesitzer heraussuchen, bis wir wieder herunterkommen?«

»Natürlich, Commissaire.«

Jade Rio nickte dem Mann zu, dann stiegen sie die hölzernen Stufen hinauf, die schon ganz ausgetreten waren von all den Menschen, die hier täglich treppauf, treppab gingen.

»Ich habe Docteur Obert schon erreicht. Er ist in zehn Minuten hier«, sagte Jade Rio.

»Auf Sie ist wirklich Verlass, Capitaine.«

Auf dem letzten Absatz vor der dritten Etage stand ein Uniformierter und sah nervös nach unten. Als er den Commissaire erkannte, hellte sich sein Gesicht auf.

»Puuh«, murmelte er, »enfin, na endlich.«

Lacroix sah ihm den Gefühlsausbruch nach, der Mann war wirklich recht blass um die Nase.

»Kein schöner Anblick«, sagte der Polizist leise. »Die Frau liegt auf dem Bett. Ich habe den Puls gefühlt, aber …« Er schüttelte den Kopf. »Wenn Sie jetzt hineingehen, darf ich dann unten vielleicht eine …« Er brach ab, als er den betroffenen Blick des Commissaires sah, aber dann nickte Lacroix, setzte ein freundliches Lächeln auf und sagte: »Natürlich, gehen Sie mal eine rauchen. Lassen Sie gleich nur Docteur Obert nach oben, wenn er hier eintrifft, d’accord?«

»Bien sûr, Commissaire.«

»Keine Einbruchsspuren«, sagte Rio, die die Türklinke und das Schloss in Augenschein genommen hatte.

»Danke, Capitaine.«

Ohne den Griff zu berühren, stieß Lacroix die Tür vorsichtig ein Stück weiter auf, dann betraten sie die Wohnung. Sie war klein, machte aber einen ordentlichen Eindruck. Alle Fenster gingen zur Straße hinaus, sodass es hier drinnen hell und luftig war. Kleine Staubflöckchen wirbelten durch die Sonne. Die Dielen waren frisch gewienert, und die Möbel schienen alle von ausgesuchter Qualität zu sein. Lacroix fragte sich, ob Mademoiselle Cantins Geschmack sich hier bereits niedergeschlagen hatte; diese Auslese wirkte nicht so, als hätte ein Mann sie vorgenommen. Nirgendwo stand oder lag irgendetwas herum, keine Kleidung, kein Geschirr, keine Papiere. Es war wirklich ein penibel gepflegtes Appartement.

»Dort ist es wohl«, sagte Lacroix und stieß mit dem Fuß die Tür zu einem Schlafzimmer auf, das nicht weniger ordentlich war als das Wohnzimmer. Es gab hier nicht viel: einen hölzernen Kleiderschrank und ein weißes Bett mit einer weißen samtbezogenen Kopfstütze, darauf Kissen und Decke in weißer Bettwäsche, und auf dieser weißen Bettwäsche, einmal diagonal über die gesamte Bettbreite, lag die Frau. Sie trug ein dunkelblaues Kleid, ihre Augen waren tatsächlich verdreht und an die Decke gerichtet.

Lacroix und Rio blieben erst einmal in der Tür stehen, weil sie die Szenerie in sich aufnehmen mussten. Selbst sie beide, erfahrene Kriminalbeamte, mussten eine gewisse Überwindung aufbringen, die entscheidenden Schritte weiterzugehen, auch, weil es sich für den Commissaire so anfühlte, als übertrete er eine Grenze, als dringe er in die Privatsphäre dieser Frau ein.

Vorsichtig und langsam betraten sie das Zimmer, Jade Rio ging rechts am Bett entlang, Lacroix links. Ihm ragten die Füße der Frau entgegen, die noch immer in flachen Ballerinas steckten. Während Jade Rio zunächst den Schrank öffnete und unterm Bett nachsah, ob sich der Täter womöglich noch dort versteckte, nahm der Commissaire den Leichnam näher in Augenschein.

Das blonde Haar der Mademoiselle Cantin fiel glänzend über das Bett; sie musste sehr lange Haare haben. Auf dem nun fahlen Gesicht war dezente Schminke zu sehen. Ein dunkelroter Lippenstift, leichtes Rouge auf den Wangen, das durch die darunterliegende Blässe viel kräftiger wirkte, beinahe obszön. Das Kleid war halblang und etwas zerknittert, als wäre es bereits einige Zeit getragen worden. Lacroix prägte sich jedes Detail der Erscheinung der jungen Frau ganz genau ein, denn er wusste, dass dies noch wichtig werden würde.

»Dort«, sagte Rio und wies auf den Hals. »Haben Sie schon gesehen, Commissaire?«

Lacroix nickte. Natürlich hatte er das riesige braune Mal schon gesehen, das sich um den Hals der Frau zog bis nach hinten in ihren Nacken. Ein Würgemal. Er wusste, dass dies die Ursache für den Tod der Mademoiselle Cantin war. Docteur Obert müsste es ihnen noch bestätigen, aber diese Verfärbung war so ausgeprägt, dass es den Commissaire verwundert hätte, wäre die Todesursache eine andere.

Die Hände lagen mit den Handflächen nach unten auf dem Bett, was bedauerlich war, weil Lacroix gern die Innenseiten der gelb lackierten Nägel gesehen hätte, aber er durfte die Frau jetzt nicht berühren. Vorher musste der Gerichtsmediziner seine Arbeit machen.

»Sie kam von einer Abendveranstaltung, oder?«, fragte Lacroix.

Rio nickte. »Sie ist sehr zurechtgemacht. Vielleicht ein dîner, ein Theaterbesuch oder … ein Date?«

»Und der Täter hat hier gewartet oder ist ihr gefolgt. Sie hat sich nicht mal ausziehen können, bevor er sie angegriffen hat.«

»Ein sexuelles Motiv?«