Lahn Sieg Tod - Sandra Halbe - E-Book

Lahn Sieg Tod E-Book

Sandra Halbe

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Caro König ermittelt wieder: einfühlsam, frisch, spannend. Noch vor ihrem Dienstantritt bei der Polizei Bad Laasphe wird Caro König zu ihrem ersten Fall gerufen: Ein Mann wurde erschossen, seine Frau niedergeschlagen, das Baby der beiden ist spurlos verschwunden. Dass es sich um die Enkelin eines der größten Unternehmer Wittgensteins handelt, erhöht den Druck auf das Team, in dem für Caro gar kein Platz zu sein scheint. Dann wird die Tatwaffe im Rothaargebirge gefunden – und taucht alles in ein vollkommen anderes Licht ...

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Seitenzahl: 349

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Sandra Halbe, Jahrgang 1985, wurde im Sauerland geboren. Nach ihrem Studium in Köln, Aix-en-Provence und Newcastle arbeitete sie zunächst in Wiesbaden. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Bad Laasphe.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Tobias Arhelger/stock.adobe.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-929-7

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Leselupe-Literaturagentur, Wachtendonk.

Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; unglücklich ist jede Familie auf ihre eigene Art.

Leo Tolstoi, »Anna Karenina«

1

Sonntag

»Es wird schon schiefgehen.«

»Genau das befürchte ich ja!«

»Caro, du hattest doch genug Zeit, dir das Ganze durch den Kopf gehen zu lassen.«

»Hatte ich das? Jetzt kommt es mir eher so vor, als hätte ich überstürzt beim BKA gekündigt, um Polizistin auf dem Land zu werden.«

»Streich das Wort ›überstürzt‹, dann passt es.«

Ich tigere in der Küche auf und ab und zupfe mir immer wieder meine Ponysträhne in die Stirn, in der Hoffnung, dass sie mein Muttermal dort verdeckt. Eine nervige Angewohnheit. Aber irgendwo muss ich hin mit meiner Nervosität. Vielleicht hätte ich mir so spät doch keinen Kaffee mehr kochen sollen.

»Warum wolltest du heute nicht bei Alex schlafen? Das ist ja nicht die letzte Nacht vor eurer Hochzeit, die ihr getrennt verbringen müsst.«

Ich seufze. »Morgen ändert sich unsere Beziehung trotzdem. Irgendwie.«

Morgen ist mein erster offizieller Arbeitstag bei der Polizei in Bad Laasphe. Das Gebäude kenne ich schon in- und auswendig. Ich habe dort viele Stunden verbracht, als ich den letzten Fall meines Vaters neu aufgerollt habe. Ich weiß, wer mein Chef ist: Alexander Fischer. Meine Jugendliebe, mit der ich jetzt wieder zusammen bin. Meine zukünftigen Arbeitskollegen kenne ich noch nicht. Alex wird mich dem Team morgen vorstellen. Und von Minute zu Minute kommt mir diese Idee bescheuerter vor.

Warum bin ich nicht beim BKA in Wiesbaden geblieben? Ich habe das Nachwuchsprogramm dort erfolgreich absolviert. Das Team und die Arbeitsabläufe sind mir vertraut. Ich habe zahlreiche Fälle gelöst und mir einen gewissen Ruf erarbeitet. Dort ist mein Chef mein Chef und nicht mehr. Andere Leute führen auch erfolgreiche Fernbeziehungen. Alex und ich hätten uns an den Wochenenden sehen können. An den dienstfreien, versteht sich.

Was habe ich mir bloß dabei gedacht?

Meine Mutter sitzt schweigend am Küchentisch. In diesem Zustand erträgt sie mich schon den ganzen Tag. Und obwohl sie sichtlich mit mir leidet, zucken ihre Mundwinkel amüsiert. »Du hast es aus Liebe getan«, sagt sie theatralisch, woraufhin ich sie mit einem Trockentuch bewerfe.

»Du machst es nicht besser!«

Lachend fängt sie es auf. »Wenn du morgen einigermaßen fit sein willst, solltest du langsam schlafen gehen«, empfiehlt sie mir. »Vorher könntest du was essen. Du hast in den letzten Tagen kaum etwas gegessen.«

»Ich habe keinen Hunger. Gute Nacht«, grummele ich und gehe ohne ein weiteres Wort auf mein Zimmer. An Schlaf brauche ich nicht zu denken, aber vielleicht komme ich ja ein wenig zur Ruhe.

Ein paar Stunden später weiß ich, dass nicht mal das heute Nacht möglich ist.

»Komm nach Richstein. Jetzt«, sagt Alex statt einer Begrüßung, als er mich gegen zwei Uhr auf meinem Handy anruft. »Die Straße heißt An der Kegelbahn. Zweifamilienhaus. Du kannst es nicht verfehlen, wir sind schon da.«

Bevor ich etwas erwidere, hat er aufgelegt. Fluchend stehe ich auf und schlüpfe in die erstbesten Klamotten, die ich in die Finger bekomme. Ich überlege, ob ich meiner Mutter eine Nachricht hinterlassen soll. Nicht dass sie denkt, ich wäre getürmt. Schnell verwerfe ich den Gedanken wieder. Für so verrückt hält sie mich sicher nicht. Außer mir und meinem Auto fehlt nichts, weit kann ich nicht sein. Und für alle Fälle habe ich mein Handy dabei.

Alex hatte recht: Ich kann den Tatort nicht verfehlen, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, ob und wann ich zum letzten Mal in Richstein war. Der Ort ist viel zu klein, um sich verfahren zu können. Ein Kranken- und zwei Streifenwagen stehen am Straßenrand, der Hauseingang ist mit Absperrband gesichert. Ich schlüpfe darunter durch und halte dem Polizisten, der sich mir in den Weg stellt, meinen Ausweis unter die Nase. Einen Moment lang zögere ich: Soll ich mich vorstellen? Ein paar Worte mit ihm wechseln? Nicht dass wir uns morgen im Büro über den Weg laufen und ich bei ihm unten durch bin, weil ich ihn heute Nacht so abweisend behandelt habe. Bevor ich die Gelegenheit dazu bekomme, ist der Kollege weitergegangen und prüft die Identität eines Anwohners, der anscheinend von der Spätschicht kommt und ins Haus nebenan will.

An der Haustür wartet Gott sei Dank schon Alex auf mich. »Hi«, sagt er und streicht mir kurz über den Arm. Kein Kuss, keine Umarmung. Okay, da hätten wir das mit der Begrüßung am Tatort geklärt.

»Hi«, antworte ich. »Was haben wir?«

»Überfall mit Todesfolge. Die Frau wurde niedergeschlagen, dem Mann wurde in den Kopf geschossen. Die Nachbarn haben den Rettungswagen gerufen. In der Zwischenzeit ist die Frau wieder zu sich gekommen und hat die 112 gewählt, da waren die Kollegen aber schon auf dem Weg hierher.«

In diesem Moment kommen zwei Sanitäter im Laufschritt mit einer Trage die Treppe herunter zum Rettungswagen. Darauf liegt die Frau, die Alex erwähnt hat. »In welches Krankenhaus bringen Sie sie?«, fragt er die Sanitäter.

»Berleburg«, antwortet einer von ihnen. Die drei Männer nicken einander kurz zu. Die Frau auf der Trage hat keinen Ton von sich gegeben. Schockzustand oder ruhiggestellt, vermute ich. Vor morgen werden wir sie nicht vernehmen können.

»Komm mit.« Alex berührt mich leicht am Arm. Ich folge ihm die paar Stufen hinauf bis zur Wohnung im Halbstock. »Die Nachbarn im ersten Stock sind informiert, wir haben sie gebeten, drinnen zu bleiben.« Vor der weit geöffneten Wohnungstür bleibt er stehen. »Nach Ihnen.«

Ich drücke mich an ihm vorbei in die Diele. Überall brennt Licht. Der Schirmständer ist umgerissen, eine Jacke ist von der Garderobe gefallen. Das könnten die Sanitäter gewesen sein. Oder der Einbrecher, den Alex erwähnt hat. Linker Hand befindet sich die kleine Küche. Nichts Auffälliges. Ich gehe nach rechts ins Wohnzimmer. Dort liegt der Tote auf dem Sofa, beige, es ist vom Blut aus seiner Kopfwunde an einer Stelle dunkel verfärbt. »Vermutlich hat der Täter den Mann gezwungen, sich auf das Sofa zu legen«, murmele ich.

»Und der hat seinen Anweisungen Folge geleistet«, spinnt Alex den Bogen weiter. »Er hat ihm vom Sofa aus verraten, wo er die Wertsachen findet.« Die Schranktüren stehen offen, der Inhalt ist komplett über den Boden verteilt. Der Raum ist ein einziges Chaos.

»Ich weiß nicht, ob es hier nur um Wertsachen geht«, sage ich. »Jemandem in den Kopf zu schießen hat was Persönliches.«

»Als die Sanitäter ihn gefunden haben, hatte der Mann das hier auf dem Gesicht liegen.« Alex zeigt mir ein flaches Sofakissen, das auf der einen Seite mit Blut beschmiert ist. »Meinst du, der Täter hat sich anschließend dafür geschämt und deswegen sein Opfer verdeckt?«

»Oder er war vom Anblick angeekelt«, sage ich geistesabwesend. Ich fotografiere den Toten und das Wohnzimmer mit dem Handy. Dabei fällt mein Blick auf die Balkontür. Ich knipse ein weiteres Foto. »Das Fenster ist eingeschlagen. Also ist der Täter über den Balkon entweder rein oder raus.«

»Oder beides«, hören wir eine Stimme von der Tür aus.

Alex’ Gesichtszüge hellen sich auf. »Hi, Ingrid«, sagt er und streicht der neu angekommenen Polizistin über den Arm. So wie mir vorhin. Ich spüre ein leises Gefühl der Eifersucht in mir aufkeimen, kämpfe es aber sofort nieder. Ich bin übermüdet, rede ich mir ein. Ingrid hat kurze rotbraune Haare und trägt eine dicke Hornbrille auf der Nase. Außerdem sieht sie aus wie Mitte fünfzig, ist also entschieden zu alt für Alex. »Hi, ich bin Caro.« Ich setze ein Lächeln auf und strecke ihr die Hand entgegen. Sie schüttelt sie und nickt mir knapp zu. »Habt ihr an meinem Tatort schon was angerührt?«

Ihr Tatort? Gott sei Dank bin ich zu irritiert, um direkt etwas zu sagen.

»Die Sanitäter sind mit der Ehefrau des Opfers gerade raus«, erklärt Alex.

»Und ich habe nur ein paar Fotos –«, setze ich an.

»Dann ist ja gut. Hier wird nichts angefasst, bis ich es sage. Und jetzt raus mit euch. Paul Rother kommt gleich und kümmert sich um unseren Toten. In der Zwischenzeit schaue ich mich hier um. Die gründliche Begehung mache ich morgen.«

Ich werfe Alex einen Blick zu, aber der ist schon zwei Schritte in den Flur zurückgewichen und dreht sich dann in Richtung Haustür. Staunend, dass er diesen Ton duldet, folge ich ihm. Aber im Gegensatz zu ihm dringe ich weiter in die Wohnung vor, um mir die übrigen Räume anzusehen.

Rechts neben dem Wohnzimmer geht es in ein großes, geräumiges Arbeitszimmer. Auch hier herrscht ein einziges Durcheinander. Rechts an der Wand steht ein Schreibtisch. Die Schubladen, die vollgestopft waren mit Papieren, sind aufgerissen, alle Dokumente aus dem Aktenschrank daneben sind achtlos auf den Boden geworfen worden. Am Ende des Flurs geht es ins Badezimmer. Hier ist alles unauffällig. Ein leicht muffiger Geruch hängt in der Luft, trotz des gekippten Fensters. Links daneben befindet sich das Schlafzimmer: Auch hier ist nichts zu sehen. Hat das Ehepaar das Bett grundsätzlich nicht gemacht, oder wurde es vom Täter geweckt, sodass dafür keine Zeit mehr blieb?

»Keine schöne Art, aus dem Bett geholt zu werden«, murmele ich. Dann öffne ich die letzte Tür rechts und stehe in einem Kinderzimmer. Mitten im Raum steht ein Babybett.

Es ist leer.

»Wir haben ein Problem!«, rufe ich und stürme zurück in den Flur.

»Es ist mir egal, ob sie vernehmungsfähig ist oder nicht!«, bellt Alex in sein Handy. »Sie soll sich dazu äußern, ob ihr Kind zur Tatzeit zu Hause war!« Frustriert wartet er auf die Antwort des zuständigen Arztes im Krankenhaus Bad Berleburg.

Einen Moment lang sehe ich ihm zu, aber dann halte ich es nicht mehr aus, hier tatenlos rumzustehen. Ich steige die Treppe hinauf und klingele bei den Nachbarn im Obergeschoss. »Familie Marburger«, steht auf dem Klingelschild. Nach zwei Sekunden wird mir geöffnet. Ein Mann Mitte vierzig sieht mich erwartungsvoll an. »Caroline König von der Polizei.« Ich zeige ihm meinen Ausweis. »Es tut mir leid, dass ich Sie um diese Zeit störe.«

»Christoph Marburger«, stellt der Herr sich vor. Er lächelt verständnisvoll und bittet mich hinein. »Wir können heute Nacht sowieso nicht mehr schlafen.«

Ich folge ihm in die Küche, wo es nach Knoblauch riecht und die Pfanne vom Abendessen noch im Spülbecken steht. Am Tisch sitzt in sich zusammengesunken seine Frau. Sie sieht kurz auf, als wir die Küche betreten, aber verbirgt ihr Gesicht direkt wieder in ihren Händen.

»Stören Sie sich nicht an der Unordnung. Bis jetzt war noch keine Zeit, die Küche aufzuräumen«, entschuldigt sich Marburger. »Meine Frau Susanne ist von den Ereignissen ein wenig mitgenommen. Kaffee?«, fragt er. »Die Nacht ist für uns alle gelaufen, denke ich. Da kann man genauso gut Koffein tanken.«

»Ein Kaffee wäre großartig, danke.«

Marburger schaltet die Kapselmaschine auf der Anrichte ein und schließt die Küchentür. »Wenn wir etwas leiser sprechen könnten, wäre das toll. Dann kann wenigstens unsere Tochter weiterschlafen.«

»Natürlich. Ich will Ihre Zeit nicht länger als nötig in Anspruch nehmen. Einer meiner Kollegen hat Sie bestimmt schon gebeten, morgen bei uns auf der Wache vorbeizukommen. Da Sie die Polizei gerufen haben, müssen wir Ihre Aussage formell aufnehmen.« Dankbar nehme ich meine Tasse entgegen und greife nach der Milch, die Susanne Marburger mir reicht. Sie sieht mich aus verquollenen Augen an, scheint sich aber langsam zu fangen. Wir lassen uns auf der Eckbank nieder.

»Familie Hoffmann in der Wohnung unter Ihnen hat ein Baby, richtig?«

Die beiden nicken. »Nora. Die Kleine ist vor Kurzem ein Jahr alt geworden«, erklärt Christoph Marburger.

Ich krame nach meinem Notizbuch, das ich Gott sei Dank in der Eile nicht vergessen habe, und schreibe mir alles auf. »Wissen Sie, ob Nora heute Abend zu Hause war, oder ob ihre Eltern einen Babysitter hatten?«

Die beiden sehen einander an. »Mareike ist in Elternzeit«, antwortet Susanne Marburger. »Deswegen brauchen sie nicht regelmäßig einen Babysitter. Wir haben hin und wieder das Babyfon, wenn sich niemand findet, um auf Nora aufzupassen.«

»Hatten Sie es heute Abend?«

»Nein. Hoffmanns waren ja zu Hause. Also wird Nora auch dort gewesen sein.«

»Manchmal haben sie Nora zu Leopolds Eltern gebracht«, wirft Christoph Marburger ein. »Auch wenn sie zu Hause waren. So ein Baby ist anstrengend.« Er verdreht die Augen.

Ob das Ehepaar Hoffmann Probleme mit dem Kind hatte? »Haben Sie die Adresse von Herrn Hoffmanns Eltern?«

»Sie wohnen in der Bergstraße. Welches Haus genau, weiß ich nicht.«

»Das finde ich heraus. Vielen Dank! Und danke für den Kaffee.« Ich vereinbare mit dem Ehepaar einen Termin für morgen, oder besser gesagt heute Nachmittag.

Als ich in den Flur gehe, hält Frau Marburger mich am Ärmel zurück. »Haben Sie den Mann gefasst, der Leo …« Ihre Stimme bricht, und sie fährt sich über die Augen, damit ich ihre Tränen nicht sehe.

Ich schüttele den Kopf. »Wir werden alles tun, den Täter so schnell wie möglich zu fassen. Vor dem Haus befindet sich ein Kollege von uns, der dafür sorgt, dass Sie hier sicher sind.«

Sie sieht mich an, als wollte sie etwas erwidern. Aber dann murmelt sie lediglich »Bis morgen« und öffnet mit einem Ruck die Tür, um mich hinauszulassen.

Zurück im Hausflur hat Alex sein Telefongespräch beendet. In seinen Augen sehe ich, dass wir uns den Besuch bei Leopold Hoffmanns Eltern sparen können.

Nora ist weg.

2

Montag

Die Streifen suchen nach dem Baby. Um sechs Uhr wollen wir uns mit dem Team auf dem Revier treffen und entscheiden, wie es weitergeht, wenn es bis dahin keine Neuigkeiten gibt. Alex hat mich nach Hause geschickt. »Komm ein bisschen zur Ruhe«, hat er mir mit auf den Weg gegeben, aber selbst gemerkt, wie unsinnig diese Worte sind. In einer Stunde soll unser Team seine Arbeit aufnehmen. An Ruhe, geschweige denn Schlaf ist nicht zu denken. Stattdessen habe ich mit klopfendem Herzen auf der Bettkante gesessen und mir anhand der wenigen Bilder, die ich vom Tatort geknipst habe, Notizen gemacht.

Jetzt stehe ich mit weit aufgerissenen Augen vorm Spiegel und versuche, mit Concealer die Ränder unter ihnen abzudecken. Ich bin total überdreht. Der Kaffee bei Marburgers war zu stark. Vielleicht sollte ich ein wenig mehr Schminke auflegen als normal. Ich will ja einen positiven Eindruck machen, trotz der Umstände, unter denen ich mein Team kennenlernen werde. Ein Blick in die Utensilien meiner Mutter kann nicht schaden. Da! Ein Lippenstift. Okay, Rosa ist nicht meine Farbe. Davon abgesehen, dass ich nie welchen trage. Eigentlich. Heute will ich eine Ausnahme machen. Ich öffne die Kappe und führe den Stift an mein Gesicht. Meine Hände zittern, sodass ich Schwierigkeiten habe, meinen Mund zu treffen. Als ich es geschafft habe, starre ich ungläubig in den Spiegel. Die Frau, die mir entgegenblickt, bin nicht ich. Ich sehe furchtbar aus. Und das Gefühl auf meinen Lippen! Der Gedanke an den Abdruck, den mein Mund auf dem Kaffeebecher hinterlassen wird, lässt mich schaudern. Ich will nicht jedes Mal Lippenstift mittrinken, wenn ich den nächsten Schluck nehme.

»Das geht nicht!« Ich greife nach einem Abschminktuch und entferne das Zeug wieder. Oder versuche es zumindest. Hat meine Mutter schon mal versucht, Lippenstift direkt nach dem Auftragen wieder zu entfernen? Weiß sie, wie schwer das ist? Während ich verzweifelt mit Wasser nachhelfe, überlege ich, wann ich sie zum letzten Mal damit gesehen habe, aber erinnere mich nicht. Am Ende ist der hier schon jahrealt und hat deswegen eine so komische Konsistenz. Egal. Als ich in den Spiegel sehe, bin ich immer noch nicht zufrieden. Aber ich sehe wenigstens wieder aus wie ich. Mit Schlafmangel. Und panischer Angst.

»Mir ist schlecht.« Ich stehe vor dem Besprechungsraum auf dem Polizeirevier in der Bahnhofstraße. Passend zu meinem Umzug ist die Dienststelle von der Gartenstraße hierher verlegt worden. Wenigstens etwas, an das sich alle gewöhnen müssen, denke ich zerknirscht. Durch die Milchglastür sehe ich, dass Licht brennt, also muss schon jemand da sein. Alex und ich sind gleichzeitig angekommen. Er will mich jetzt dem Team vorstellen. Danach werden wir den Fall von letzter Nacht in Angriff nehmen. Ich versuche, Zeit zu schinden. »Können wir nicht erst ins Krankenhaus fahren und Mareike Hoffmann vernehmen?«, frage ich.

»Nein, du gehörst jetzt zum Ermittlerteam. Das heißt, die anderen müssen dich erst kennenlernen.«

»Warum genau bin ich noch mal vom BKA weggegangen?«

»Das weißt nur du.« Alex rollt mit den Augen und streckt mir kurz die Zunge raus. Zu oft habe ich ihm in den letzten Tagen mein Leid geklagt, da kann er mich nicht mehr ernst nehmen. »Komm jetzt«, sagt er und greift nach der Klinke. Bevor er die Tür öffnet, sieht er mich einen Moment lang prüfend an. Ich warte auf ein »Du schaffst das« oder »Ich liebe dich«.

Stattdessen fragt er: »Was hast du da im Mundwinkel? Ist das Lippenstift?«

»Ich will nicht darüber reden«, gebe ich zurück und wische mir mit einem Taschentuch über meinen ohnehin schon wunden Mund, bis Alex, der sich mühsam ein Lachen verkneift, nickt. »Los geht’s«, sage ich, als hätte ich eine Wahl.

Sie sind zu dritt und starren mich an, sodass ich mich winzig fühle und den Besprechungsraum am liebsten direkt wieder verlassen würde. Da ist Ingrid, die ich ja letzte Nacht schon getroffen habe. Und ich dachte, ich hätte Ränder unter den Augen. Sie sieht mindestens genauso übernächtigt aus. Neben ihr sitzt eine Frau ungefähr in meinem Alter, deren schmales Gesicht von einem Wust blonder Locken umrahmt wird. Und dann ist da ein Mann mit südländischen Zügen, vielleicht Anfang dreißig. Bis auf Ingrid führt Alex ein recht junges Team.

»Guten Morgen zusammen«, begrüßt Alex die drei, die ein »Guten Morgen« zurückgrummeln. Ich spüre seine Hand in meinem Rücken. Er schiebt mich sanft, aber bestimmt vorwärts. »Darf ich euch eure neue Kollegin vorstellen? Das ist Caro König.«

Ich zwinge mich zu lächeln und strecke ihnen die Hand entgegen. »Guten Morgen«, murmele ich.

Die Frau mit dem Lockenkopf erhebt sich. »Anna Lenz«, stellt sie sich vor. Mir fällt sofort ihre elegante Bluse auf. Überhaupt könnten wir beide nicht unterschiedlicher sein, auf einmal wünsche ich mir den Lippenstift zurück, um mir neben ihr nicht ganz so fehl am Platz vorzukommen.

Leider wird es nicht besser. »Ingrid Bald.« Ingrid lässt meine Hand sofort wieder los, als hätte sie sich verbrannt.

»Murat Arens«, beendet der Mann die Vorstellungsrunde. Sein Händedruck ist fest, in seinen Augen lese ich sowohl Aufmerksamkeit als auch Skepsis.

Ich setze mich auf einen der freien Plätze. Eine Thermoskanne mit Kaffee steht auf dem Tisch, und Alex schenkt mir eine Tasse ein. Ingrid und Anna tauschen einen Blick.

»Die Sache ist so, um das gleich vorwegzunehmen«, meint Alex und sieht alle in der Runde gewinnend an. »Caro und ich waren während der Schulzeit ein Paar. Und wir sind es jetzt wieder.« Er greift kurz nach meiner Hand, um seine Worte zu unterstreichen, bemüht, bei den entgeisterten Gesichtern nicht loszulachen. Ich weiß, dass er noch an die Lippenstift-Episode im Flur denkt. Nach einer kurzen Pause fährt er fort: »Lasst uns über den Fall von gestern Nacht sprechen: Ein Einbrecher ist über den Balkon des Hauses in Richstein eingedrungen und hat Leopold Hoffmann in den Kopf geschossen. Seine Frau Mareike wurde niedergeschlagen und liegt derzeit im Krankenhaus in Berleburg. Die einjährige Tochter der beiden wird vermisst. Also müssen wir von einem Mord mit Kindesentführung ausgehen.« Alex zählt einige Namen auf, die ich auf die Schnelle nicht behalten kann. »Diese Kollegen sprechen gerade mit den Nachbarn und werfen einen Blick in die umliegenden Mülltonnen. Spürhunde sind angefordert. Das ist keine schöne Vorstellung, aber wir wissen so wenig, dass wir auch einen Kindsmord in Betracht ziehen müssen. Anna, du hältst hier die Stellung, falls die Kollegen etwas rausfinden.«

Die Frau mit dem Lockenkopf nickt.

»Caro und ich fahren gleich ins Krankenhaus und sprechen mit Frau Hoffmann. Wenn wir schon einmal da sind, gehen wir danach in die Pathologie. Dann können Caro und Paul Rother sich miteinander bekannt machen. Wenn wir die Ergebnisse der Obduktion von Leopold Hoffmann haben, kommen wir wieder zurück. Die Nachbarn, die in der Wohnung über den Hoffmanns wohnen, sind nachher zur Vernehmung eingeladen. Sie haben heute Nacht den Rettungswagen alarmiert. Murat, kannst du das Verhör übernehmen, wenn wir bis dahin nicht zurück sind?«

Der Mann nickt.

»Ingrid, du machst dich in der Zwischenzeit auf zum Tatort. Wir brauchen alles. Fingerabdrücke. DNS. Fotografier jeden Zentimeter dieser Wohnung. Sammel die Papiere ein, die auf dem Boden liegen. Prüfe, ob was fehlt. Heute Nachmittag treffen wir uns wieder hier.«

Kollektives Nicken, gefolgt von Stühlerücken. Ich spüre, wie die Kollegen uns beobachten, als Alex und ich den Raum verlassen.

»Ich dachte, ich hätte mir die hochgezogenen Augenbrauen der anderen nur eingebildet«, sage ich, als wir im Auto sitzen. »Aber du hast sie auch gesehen, als du gesagt hast, dass wir ein Paar sind. War das nicht zu früh?«

»Ich glaube nicht. Wir sind ein Paar, und wir sind hier auf dem Dorf, da wissen es sowieso alle. Ich wollte erst gar keine Gelegenheit für Spekulationen aufkommen lassen. Wir wären ohnehin aufgeflogen.« Alex wirft mir einen kurzen Seitenblick zu, bevor er fortfährt: »Die drei Kollegen und ich arbeiten seit Jahren zusammen. Wir sind ein eingespieltes Team. Es wird dauern, bis du dich dort integriert hast. Aber wir sind überlastet und brauchen dich und deine Erfahrung. Vor allem bei einem Fall wie diesem. So was passiert hier eigentlich nicht.«

»Das haben wir schon mal gedacht, weißt du noch?« Ich muss an den ersten Fall denken, auf den ich hier in Bad Laasphe angesetzt wurde: der letzte Fall meines Vaters. Vier Frauen waren einem vermeintlichen Serienmörder zum Opfer gefallen. Dass hier in Wittgenstein ein Serienmörder sein Unwesen trieb, schien schon abwegig genug. Aber uns beschäftigte noch wochenlang, dass Robert Hellmar jahrelang die Schuld für die Verbrechen seiner Frau auf sich genommen hatte – von deren Tatmotiv erst gar nicht zu sprechen.

»Erzähl mir etwas über unser Team«, bitte ich Alex, bevor ich in meinen Gedanken versinke.

»Ingrid ist die älteste Kollegin. Sie hat schon mit deinem Vater zusammengearbeitet und sich vor Jahren zur Forensikerin weiterbilden lassen. In der Spurensicherung leistet sie großartige Arbeit. Sie hat ein Auge fürs Detail. Wenn es etwas Wichtiges am Tatort gibt, dann findet sie es. Zwischenmenschlich ist es zugegeben manchmal schwierig mit ihr. Anna hält meistens am Telefon die Stellung und kümmert sich um die Zusammenarbeit mit der Presse. Sie kennt alle und jeden. Manchmal denkt man, sie ist das Wittgensteiner Urgestein und nicht Ingrid. Murat ist schon seit seiner Ausbildung bei uns. Er bewirbt sich in regelmäßigen Abständen beim BKA, bis jetzt hat es aber nicht geklappt. Offen gestanden tut es mir nicht leid. Je länger er bei uns bleibt, umso besser für uns. Er arbeitet akribisch und ist darüber hinaus technikaffin. Außerdem ist es nicht leicht mit zu vielen Frauen im Team.« Alex grinst.

»Also hat jeder seinen festen Platz. Welchen hast du für mich vorgesehen?«

»Ich brauche jemanden, der nicht nur einen Bruchteil der Ermittlungen sieht, sondern alle Ergebnisse zusammenführen kann. Jemanden, der Zusammenhänge erkennt, die anderen nicht auffallen. Jemanden mit BKA-Hintergrund eben. Nach deiner Ausbildung dort bist du eine Allrounderin, die das große Ganze überblickt. Außerdem schaffst du es, dass Menschen sich öffnen. Du stellst die richtigen Fragen, denkst über den Tellerrand hinaus. Robert Hellmar hat jahrelang mit niemandem über seine Taten geredet. Dann kamst du, und er hat dir alles erzählt.«

Ich fühle mich geschmeichelt und unbehaglich zugleich. Kann ich Alex das bieten, was er von mir erwartet?

»Gehen wir richtig vor?«, fragt er mich.

»Was meinst du?«

»Ich arbeite in meinem Kopf gerade das Lehrbuch mit dem Titel ›Was müssen Sie bei einer Kindesentführung beachten?‹ ab. Ich habe keinerlei Erfahrung mit solchen Fällen und will nicht gegen eine Wand steuern. Ich lüge nicht, wenn ich sage, dass ich dich brauche. Gibt es noch etwas, das wir tun müssen?«

»Nein. Wir tun alles, was möglich ist«, beruhige ich ihn. »Vor Ort wird nach dem Kind und weiteren Hinweisen gesucht. Und gleich werden wir die einzige Augenzeugin befragen, von der wir derzeit wissen. Vielleicht hat sie den Täter erkannt oder kann uns einen anderen Hinweis geben, der uns weiterbringt. Anschließend gehen wir in die Pathologie. Wenn wir Glück haben, hat der Täter an der Leiche Spuren hinterlassen.« Ich sehe aus dem Fenster und beobachte, wie die Landschaft an uns vorbeirauscht.

Den Rest der Fahrt verbringen Alex und ich schweigend. Dass die meisten Kindesentführungen, die nicht innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden aufgeklärt werden, tödlich enden, lassen wir unerwähnt. Wir kennen die Statistiken. Und uns beiden ist klar: Obwohl wir alles in unserer Macht Stehende tun, läuft uns die Zeit davon.

Der Streifenbeamte vor Mareike Hoffmanns Zimmer lächelt uns zu. »Der Arzt ist gerade drin«, erklärt er uns. Alex macht uns miteinander bekannt, aber ich bin so angespannt, dass ich seinen Namen gleich wieder vergesse. Ich weiß, dass Alex der Chef von rund zehn Mitarbeitern ist. Und jetzt streikt mein Gehirn schon beim Namen des vierten, den ich heute kennenlerne? Das kann ja heiter werden. Ich nehme mir vor, Alex gleich noch mal nach dem Kollegen zu fragen.

In diesem Moment wird die Tür geöffnet, und der Arzt kommt heraus. »Guten Morgen«, begrüße ich ihn und zeige ihm meinen Ausweis. »Haben Sie zwei Minuten für uns?«

Der Arzt nickt und geht mit uns ins leere Besucherzimmer direkt gegenüber. Ich schließe die Tür hinter uns.

»Sie wissen, dass ich der Schweigepflicht unterstehe«, beginnt der Arzt unsere Unterhaltung.

»Das respektieren wir«, beruhigt Alex ihn.

»In erster Linie interessiert uns Frau Hoffmanns Wohlergehen«, füge ich hinzu. »Soweit wir wissen, hat sie bei dem Einbruch einen Schlag auf den Hinterkopf abbekommen. Wie geht es ihr jetzt? Können wir mit ihr reden?«

»Ihre Wunde wurde versorgt. Sie ist aber immer noch mitgenommen und sollte sich nicht aufregen.«

»Ist sie sexuell missbraucht worden?«

»Darauf dürfte ich gar nicht antworten.«

Ich atme tief durch. »Wie Sie vielleicht wissen, ist das Baby der Hoffmanns entführt worden. Wir wollen Frau Hoffmann signalisieren, dass wir alles tun, um das Mädchen zu finden. Was sie uns zu den Geschehnissen von gestern Nacht erzählt, wird uns dabei helfen. Sollte sie außer dem Schlag auf den Hinterkopf andere körperliche Misshandlungen durchlitten haben, müssen wir bei unserem Gespräch vorsichtiger vorgehen. Das ist wichtig für Frau Hoffmann. Darüber hinaus würden wir dann einen anderen Tätertyp suchen. Das wiederum ist wichtig für das Baby.«

Der Arzt denkt über meine Worte nach und schüttelt schließlich den Kopf. »Sie hat keine weiteren Verletzungen davongetragen.«

Alex atmet erleichtert aus.

»Länger als zehn Minuten sollte Ihr Gespräch nicht dauern«, ermahnt der Arzt uns. »Wenn Frau Hoffmann Sie bittet zu gehen, tun Sie das.«

Man hat Mareike Hoffmann auf ein Einzelzimmer gebracht. Ihre rotblonden Haare sind wild auf dem Kissen ausgebreitet und lassen ihr Gesicht winzig wirken. Sie hat riesige Schatten unter den geschlossenen Augen. Ein Pflaster klebt dort auf der Stirn, wo sie nach dem Schlag mit dem Kopf auf den Boden geprallt ist. Die Wunde am Hinterkopf ist nicht zu sehen.

Als ich mich leise räuspere, schreckt sie hoch. »Guten Morgen, Frau Hoffmann«, begrüße ich sie. »Mein Name ist Caroline König. Das ist mein Kollege Alexander Fischer. Wir sind von der Polizei.«

Mareike Hoffmann sieht uns schweigend an. Alex hält sich im Hintergrund. Also gehe ich einen Schritt auf sie zu und berühre sie sanft an der Schulter. »Frau Hoffmann, können Sie uns erzählen, was letzte Nacht bei Ihnen zu Hause passiert ist?«

»Wo ist Nora?«

»Sie war nicht in ihrem Bettchen«, sage ich leise. »Deswegen ist es wichtig, zu verstehen, wie der Abend gestern abgelaufen ist.«

»Wir haben ferngesehen, mein Mann und ich.« Ihre Stimme ist tonlos, und ihr Blick geht ins Leere.

»Im Wohnzimmer?«

Sie nickt.

»Sind Sie immer so lange auf?«

»Mein Mann hatte Frühschicht. Er war schon eher wach. Es ging ihm nicht gut. Manchmal ist die Umstellung im Schichtdienst nicht so einfach.«

»Das kenne ich. Meine Mutter ist Krankenschwester. Sie ist früher oft durchs Haus gegeistert, wenn sie nicht schlafen konnte.« Ich lächle Mareike Hoffmann aufmunternd zu.

»Kurz vorher war Nora aufgewacht. Sie hat geschrien, und ich habe nach ihr gesehen, damit Leo vor der Arbeit seine Ruhe hat.« Sie schluckt, und ihre Augen werden feucht. »Dann bin ich zu ihm ins Wohnzimmer. Ich hab ihn dort vor dem Fernseher gesehen und mich zu ihm gesetzt, falls ich noch mal zu Nora müsste.« Frau Hoffmanns Atem beschleunigt sich. »Auf einmal hat es geknallt, und die Scheibe der Balkontür wurde eingeschlagen. Ich bin aufgesprungen und wollte weglaufen, aber er rannte hinter mir her und dann …« Sie schluchzt auf. »Dann weiß ich nichts mehr.« Ihre Hand fährt in Richtung Hinterkopf, aber sie zuckt zusammen, bevor sie die Wunde berührt, und lässt den Arm wieder sinken.

»Sie machen das toll.« Ich nicke ihr zu. »War es eine Person, die durch das Fenster eingestiegen ist, oder waren es mehrere?«

»Ich hab nur den einen gesehen.«

»Einen Mann? Haben Sie ihn erkannt?«

»Nein. Es ging alles so schnell. Wir hatten im Wohnzimmer nur den Fernseher an und sonst kein Licht. Ich glaube, er war schwarz angezogen und hatte eine Maske auf.«

»Was hat Ihr Mann gemacht, als die Scheibe eingeschlagen wurde?«

»Ich dachte, er ist direkt hinter mir. Aber ich weiß es nicht.« Jetzt fließen die Tränen ungehindert. Frau Hoffmanns Körper wird von Schluchzern geschüttelt.

»Was ist passiert, als sie aufwachten?«

»Ich erinnere mich nicht. Die ganze Nacht ist ein Flimmern in meinem Kopf. Da ist nur ein großes schwarzes Loch. Je mehr ich nachdenke, umso verschwommener wird alles. Was ist mit Nora?«

»Wir tun alles, um sie zu finden«, sage ich und löse damit einen erneuten Heulkrampf aus. Ich spüre Alex’ Hand an meiner Schulter.

»Danke für Ihre Zeit, Frau Hoffmann«, sagt er und beendet damit unser Gespräch. Widerwillig lasse ich mich in Richtung Tür schieben.

»Ich war noch nicht fertig«, beschwere ich mich, als wir draußen auf dem Gang angekommen sind.

»Du hast doch gesehen, wie sie das mitnimmt«, zischt Alex.

»Aber wir müssen den oder die Täter finden und dürfen keine Zeit verlieren. Da können wir nicht übermäßig Rücksicht nehmen.«

»Die Frau ist überfallen worden. Ihr Mann ist tot, und ihr Kind wird vermisst. Da ist etwas Rücksicht das Mindeste. Zumal sie sich an nichts erinnert.«

»Vielleicht kann man ihrem Gedächtnis ja auf die Sprünge helfen.«

»Vielleicht könntest du einen Kurs zum Thema Taktgefühl besuchen.«

Einen Moment lang sehen wir einander schweigend an, doch bevor einer von uns etwas sagen kann, hören wir hinter uns ein panisches »Warten Sie!«.

»Wo ist meine Tochter? Lassen Sie mich durch!«

Der Arzt, mit dem wir uns eben unterhalten haben, versucht ohne Erfolg, den Mann zurückzuhalten, der jetzt über den Flur auf uns zustürmt. Alex’ Augen weiten sich, doch binnen einer Sekunde hat er sich wieder gefangen und positioniert sich vor der Tür, sodass der Mann keine andere Wahl hat, als stehen zu bleiben. Er muss um die sechzig sein. Jeans und Hemd sitzen wie angegossen, kein einziges der grauen Haare tanzt aus der Reihe. Obwohl Alex ihn um einen Kopf überragt, nimmt der Mann gefühlt mehr Platz ein. Er strotzt nur so vor Selbstbewusstsein und weicht nicht einen Zentimeter zurück. »Lassen Sie mich durch«, sagt er mit ruhiger Stimme, die keine Widerworte gewohnt ist. Seine eisblauen Augen taxieren Alex.

»Alexander Fischer von der Polizei Bad Laasphe«, stellt Alex sich mit ebenso fester Stimme vor. »Können Sie sich ausweisen?«

Der Mann schüttelt den Kopf, als wäre es das Unmöglichste, was man von ihm verlangen könnte. Doch dann holt er sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und hält Alex seinen Ausweis unter die Nase. »Oscar Hoffmann. Ich bin Mareikes Vater. Wie weit sind Sie mit Ihren Ermittlungen schon gekommen?«, will er wissen.

»Dass ich Ihnen darüber keine Auskunft geben darf, verstehen Sie hoffentlich.«

Mittlerweile ist der Arzt bei uns angekommen. »Ihre Tochter kann jetzt keine Aufregung vertragen«, wiederholt er, was er auch uns schon gesagt hat.

»Ich will mich versichern, dass es ihr gut geht und hier alles für sie getan wird«, poltert Hoffmann. »Und dass auch die Polizei alles für sie tut.«

»Das ist selbstverständlich«, erwidert Alex. »Lass uns in die Pathologie gehen«, sagt er und berührt mich kurz am Arm, bevor Hoffmann noch etwas sagen kann.

Ich atme tief durch, dann folge ich ihm. Ich gebe mir keine allzu große Mühe zu verstehen, was Hoffmann in seinen nicht vorhandenen Bart nuschelt, als wir ihn auf dem Flur stehen lassen.

Im Aufzug, der uns hinunter zur Leichenhalle bringen soll, beginne ich zu frösteln.

»Alles okay?« Alex wirft mir einen Seitenblick zu.

Ich nicke. Auf dem Weg in die Pathologie wird mir immer kalt. Ich habe schon alles versucht. Wollpullover. Tee. Ohne Erfolg. Dieses Gefühl ist in mir drin, und ich kann nichts dagegen tun, auch wenn der Besuch in der Pathologie mittlerweile Routine für mich sein sollte. Mir wird kalt, schon bevor ich bei der Leiche ankomme. Alex legt den Arm um meine Hüfte und zieht mich an sich, um mich zu wärmen. Nach unserem Disput von eben könnte es Schlimmeres geben.

»Was war das denn gerade?«, frage ich mit klappernden Zähnen. »Den Ausweis hättest du nicht gebraucht, erzähl mir nichts, du kanntest den Typen.«

»Das war Oscar Hoffmann, wie er leibt und lebt«, sagt Alex. Seine Hände sind zu Fäusten geballt. Er richtet den Blick an die Decke und lacht tonlos. »Es ist ja nicht so, dass ein Mord mit Kindesentführung nicht schon genug Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es muss auch noch die Enkelin von Oscar Hoffmann sein, die entführt wird.«

Bevor ich weitere Fragen stellen kann, sind wir unten angekommen, und Alex verlässt den Aufzug nahezu fluchtartig.

Vor einem der ersten Büros bleiben wir stehen. Alex klopft und lässt mir den Vortritt.

»Guten Morgen!«, begrüßt uns der Mann, der die Tür öffnet. Er ist Mitte vierzig und hat freundliche braune Augen. Alex überragt uns beide um Längen, was auch der Mann bemerkt. »Endlich hast du dir mal jemanden auf meiner Augenhöhe ausgesucht«, richtet er das Wort an ihn und strahlt mich danach freudig an. »Die Leute, die er sonst hier anschleppt, können aus der Dachrinne saufen. Da ist mir jemand in meiner Größe ganz recht. Ich bin Paul Rother.« Sein Händedruck ist warm und fest. Ich weiß jetzt schon, dass ich ihn mag.

Wir stehen um Leopold Hoffmanns Leiche herum und lauschen Pauls Ausführungen, auch wenn ich das Gefühl habe, dass Alex mit seinen Gedanken ganz woanders ist. »Schuss zwischen die Augen aus circa einem Meter Entfernung. Das war ein Präzisionstreffer, meine Güte! Kann sein, dass euer Täter dieses Jahr Schützenkönig wird.«

»Aus dieser Distanz dermaßen genau zu treffen ist nicht allzu bemerkenswert«, entgegne ich. »Bei einem Meter Entfernung muss kein Profi am Werk gewesen sein. Zumal das Opfer auf dem Sofa saß und sich vermutlich nicht bewegt hat.«

Paul Rother sieht mich wortlos an. Offensichtlich ist er anderer Meinung. Nach einem Moment nimmt er den Faden wieder auf: »Das Projektil ist im Hinterkopf stecken geblieben. Kleinkaliber. Ich habe die Kugel entfernt, Murat hat sie seit heute Morgen vorliegen. Damit wisst ihr schon, welcher Waffentyp benutzt wurde. Und vielleicht habt ihr ja Glück und findet damit sogar die Tatwaffe im System. Der Schuss war auch die Todesursache. Der Tod ist zwischen dreiundzwanzig und ein Uhr eingetreten.«

»Die Nachbarn haben den Schuss gehört. Genaueres zum Todeszeitpunkt erfahren wir hoffentlich heute Nachmittag«, werfe ich ein, während ich mir Notizen mache.

»Abgesehen von dem einen Kopfschuss gab es bei der Leiche nichts Außergewöhnliches festzustellen«, fährt Paul fort. »Im Magen befanden sich Rückstände von etwas wie Saftschorle und einem Mittel gegen Durchfall.«

»Wann hat er das eingenommen?«

»Ungefähr dreißig Minuten vor seinem Tod.«

»Das erklärt, warum er so früh aufgestanden ist«, murmele ich. Und den Gestank im Bad, füge ich in Gedanken hinzu.

»Sollten wir sonst etwas wissen?«, fragt Alex.

Paul schüttelt den Kopf. »Wenn ihr noch Fragen habt, wisst ihr ja, wo ihr mich findet.«

»Danke.« Die beiden Männer geben einander die Hand, dann wendet Paul sich mir zu. »Hat mich gefreut, Caro.«

»Mich auch.« Ich erwidere sein Lächeln und seinen Händedruck. Endlich ein Teammitglied, das mich nicht behandelt wie einen Eindringling.

Nur bei meinen Fragen kann Paul mir nicht weiterhelfen, fürchte ich. Denn nach dem Besuch bei Frau Hoffmann und der Szene vorhin auf dem Flur habe ich davon mehr als zuvor.

3

»Keine Spur vom Kind« ist die erste demotivierende Botschaft, als wir uns wieder zusammen im Besprechungsraum einfinden. Anna hat vor ein paar Minuten sämtliche auf Nora angesetzte Beamte angefunkt, aber es gibt nach wie vor nichts Neues.

»Keine Spur vom Täter«, fügt Murat hinzu, der die Zeugenaussagen der Nachbarn koordiniert.

»Und keine brauchbare Aussage von Mareike Hoffmann«, ergänzt Alex. »Die im Übrigen Oscar Hoffmanns Tochter ist.«

Ein Raunen geht durchs Besprechungszimmer.

»Kann mir jetzt endlich mal jemand erklären, wer dieser ominöse Oscar Hoffmann ist?«, frage ich genervt.

Wider Erwarten ist es Anna, die sich aufrichtet und mir antwortet. »Oscar Hoffmann ist der Besitzer eines Landmaschinenimperiums mit Sitz in Bad Berleburg«, erklärt sie. »Mittlerweile gibt es dafür hier in der Gegend nur noch sein Unternehmen. Wann immer dein Traktor den Geist aufgibt oder du einen neuen Mähdrescher brauchst: Oscar Hoffmann ist deine Anlaufstelle. Und das nicht nur in Wittgenstein, sondern im ganzen Siegerland und Sauerland.«

»Also müssen wir unsere Pressemitteilung noch mal überarbeiten«, sagt Alex mit zusammengebissenen Zähnen. »Zumindest müssen wir auf Fragen in dieser Richtung vorbereitet sein.«

»Was hat es in der Wohnung der Hoffmanns für Erkenntnisse gegeben?«, frage ich, bevor wir unser eigentliches Ziel aus den Augen verlieren.

Ingrid sieht mich so an, als würde es ihr körperliche Schmerzen bereiten, meine Frage zu beantworten. Da auch Alex sie erwartungsvoll anschaut, sagt sie endlich: »Es scheint so, als wäre die Wohnung durchsucht worden. Frau Hoffmann muss das bestätigen, aber sämtliche Wertsachen scheinen noch da zu sein: die Portemonnaies inklusive Bargeld und Kreditkarten. Handys und Laptops. Es wirkt so, als hätte man einen Raubüberfall lediglich vortäuschen wollen. Dafür spricht auch, dass die Scheibe der Balkontür von innen eingeschlagen wurde.«

»Von innen?«, fragt Murat ungläubig.

Ingrid nickt.

Einen Moment lang macht sich fassungslose Stille im Raum breit.

»Zeig uns die Fotos«, bittet Alex Ingrid schließlich.

Die wirft mir wieder einen Blick zu, den ich nicht deuten kann. Dann sieht sie zu Anna und Murat hinüber und schaltet den Beamer ein. Kurze Zeit später werden die Tatortbilder auf der Leinwand sichtbar. In der Küche gibt es nichts Ungewöhnliches. Doch im Wohnzimmer liegen in der Tat sämtliche Scherben der Türscheibe draußen auf dem Balkon, der Wohnzimmerboden ist scherbenfrei. Das Zimmer selbst ist verwüstet, alle Schränke wurden ausgeräumt. Im Arbeitszimmer setzt sich das Chaos fort: Ordner und Papiere liegen auf dem Boden verteilt herum. Sogar der Schreibtischstuhl wurde in der Hektik umgeworfen.

»Wenn alle Wertsachen noch da sind, hat der Täter vielleicht etwas Bestimmtes gesucht«, mutmaße ich. »Zur Not müssen wir warten, bis Mareike Hoffmann aus dem Krankenhaus entlassen ist und feststellt, ob Unterlagen fehlen. Gibt es schon Ergebnisse der Fingerabdrücke?«

»Wir sind dran.«

»Eine Lösegeldforderung ist nicht eingegangen, oder?« Alex blickt in die Runde, erntet aber nur Kopfschütteln.

Ingrid ruft die Fotos von der Leiche auf. »Den Sanitätern zufolge lag das Kissen dort auf Leopold Hoffmanns Gesicht, als sie in die Wohnung kamen.«

»Spricht dafür, dass der Täter sich geschämt hat, nachdem er Hoffmann getötet hatte«, meint Murat.

Ich starre gedankenverloren in mein Notizbuch.

»Was denkst du?«, fragt Alex mich.

»Irgendwas an der Sache ist merkwürdig. Wenn der Einbruch vorgetäuscht wurde, ist der Täter nicht über den Balkon, sondern durch die Wohnungstür reingekommen. Gab es dort Einbruchspuren?«

»Nein«, antwortet Ingrid.

»Also haben Hoffmanns ihn wahrscheinlich gekannt und ins Wohnzimmer gelassen. Der Täter zerbricht dort die Balkonscheibe, möglicherweise mit seiner Waffe. Mareike Hoffmann sprintet los, aber der Täter schlägt sie nieder. Was macht ihr Mann währenddessen?«

Murat zuckt die Schultern. »Vielleicht war er auf dem Klo. Er hatte anscheinend Durchfall.«

»Laut Mareike Hoffmann saß er neben ihr, als die Scheibe eingeschlagen wurde«, entgegne ich. »Sie spricht also von einem Einbruch über den Balkon, den es offensichtlich nicht gab. Und der Täter musste an Leopold Hoffmann vorbei, um sie zu erreichen. Der hätte ihn entweder überwältigen können oder auf den Balkon laufen und um Hilfe schreien.«

»Vielleicht haben Täter und Waffe ihm Respekt eingeflößt, und er hat sich deswegen nicht vom Fleck bewegt«, vermutet Anna. »Und Mareike Hoffmann hat einen Schlag auf den Kopf bekommen. Sie kann sich doch an so gut wie nichts erinnern, oder?«

Ich bin skeptisch, auch Alex gibt sich damit nicht zufrieden.

»Gehen wir mal davon aus, dass Leopold Hoffmann sitzen geblieben ist und dass der Täter etwas Bestimmtes gesucht hat«, sagt er. »Hoffmann konnte ihm anscheinend nicht sagen, wo genau es ist, sonst hätte er nicht die gesamten Schränke ausräumen müssen. Vielleicht hat er Hoffmann erschossen, damit er sich auf die Suche konzentrieren konnte. Aber dann blieb ihm nicht viel Zeit, er konnte sich ja denken, dass nach dem Schuss jemand die Polizei rufen würde.«

»Vielleicht hat der Täter ihn ja erst erschossen, als er hatte, was er suchte«, sagt Ingrid genervt.

»Und riskiert, dass er überwältigt wird, während er mit der Suche beschäftigt ist?« Ich schüttele den Kopf.

»Außerdem: Warum Leopold Hoffmann erschießen und Mareike Hoffmann nur niederschlagen?«, fragt Alex in die Runde. »Am Ende weiß sie ja, was der Täter mitgenommen hat. Und er konnte nicht sicher sein, dass sie sich nicht an ihn erinnern würde.«

»Selbst wenn sie sich an ihn erinnern kann: Sie wird ihn nicht verraten«, entgegne ich.

Alex sieht mich einen Moment lang an. »Er hat ihr Kind«, sagt er dann leise.

»Und solange er ihr Kind hat, wird sie nach seiner Pfeife tanzen. Ich werde Mareike Hoffmann trotzdem dazu befragen.«