Verlorene Träume - Sandra Halbe - E-Book

Verlorene Träume E-Book

Sandra Halbe

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Beschreibung

Caro König ist zurück! Kommissarin Caro König hatte es sich so schön vorgestellt: Lebkuchen, Weihnachtsmusik und Glühwein unter dem geschmückten Weihnachtsbaum. Doch in einem alten Rübenkeller am Stünzelfestplatz wird die Leiche einer jungen Frau gefunden: Die Influencerin Frauke Blöcher wollte gerade mit ihrem Kanal »Fit mit Frauke« in den sozialen Medien durchstarten. Bald häufen sich die Verdächtigen, und das kleine Team der Polizei in Bad Laasphe kommt an seine Grenzen. Dann stellt sich heraus, dass das Opfer ein dunkles Geheimnis hatte... Weitere Bücher der Reihe: Wittgensteiner Schatten Lahn Sieg Tod Alle Bände können unabhängig voneinander gelesen werden

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Über die Autorin

Sandra Halbe wurde 1985 im Sauerland geboren. Nach ihrem Studium in Köln, Aix-en-Provence und Newcastle lebt sie heute mit ihrem Mann in Siegen-Wittgenstein. Dort spielen ihre Regionalkrimis mit Kommissarin Caro König.

Weitere Bücher der Reihe:

Wittgensteiner Schatten

Lahn Sieg Tod

www.sandra-halbe.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

PROLOG

Nie hätte ich gedacht, dass dieses Lied mich so sehr bewegen würde. Hunderte, wenn nicht tausende Male habe ich es gehört, in den verschiedensten Varianten. Immer klingt es gleich. Und dann auch wieder nicht.

Als ich auf diese Version gestoßen bin, waren all die Bilder auf einmal zurück. Alles, was ich jahrelang verdrängt habe. Nicht vergessen, nein. Ich erinnere mich an jene Nacht, als wäre sie gestern gewesen, an jedes Detail. Nur wollte ich meine Erinnerungen nicht. Diese Gedanken an all das, was damals passiert ist. Also sperrte ich sie aus.

Bis ich dieses Lied hörte. Nach all den Jahren.

Die erste Zeile von »The Sound of Silence«. Worte, die ich schon so oft gehört habe. Und doch waren sie auf einmal neu.

Ein Hallo an die Dunkelheit. Die Dunkelheit, mein Freund? Ist das möglich?

Ich erinnere mich an unsere Zeit hier. Die Abende, an denen wir gefeiert, gelacht und getanzt haben. Dieser Ort bedeutete uns alles. Mein Klavier, auf dem du dieses Lied so oft gespielt hast. Die Weihnachtsdekoration darauf, die wir so liebevoll ausgesucht hatten. Obwohl wir bereits wussten, dass dies das Ende sein würde. Diese Endgültigkeit, als ich zum letzten Mal das Licht ausschaltete. Dieses Gefühl, als ich zum letzten Mal den Schlüssel im Schloss herumdrehte.

Es war vorbei. Für immer. Und obwohl ich es wusste, konnte ich es nicht begreifen.

Denkst du noch daran? An diesen Moment, der alles änderte?

Denkst du noch an mich?

Ich werde dafür sorgen, dass du dich wieder erinnerst.

1

Sonntag

»Wir könnten ihn da hinstellen.«

»Wo?«

»Na, da!«

»Ist er da nicht zu nah am Kamin?«

»Was interessiert mich der Kamin?«

»Wir zünden ihn momentan gerne an. Wenn du ihn so nah ran stellst, wird der Weihnachtsbaum schnell trocken. Dann wäre er nach ein paar Tagen nicht mehr zu gebrauchen und wir könnten ihn schon vor dem sechsten Januar zu Brennholz verarbeiten. Wäre doch schade, oder?« Alex sieht mich abwartend an.

»Die paar Tage hält der das schon aus. Weihnachten dauert ja nicht ewig.«

»Lassen wir ihn nicht die ganze Adventszeit stehen?«

Ich überlege. »Bei uns zu Hause wurde der Weihnachtsbaum immer am 23. Dezember aufgestellt.«

»Und bei meiner Familie am ersten Advent. Jetzt entscheiden wir, wie wir es in unserem Zuhause handhaben.« Alex zieht mich an sich.

»Ich hätte nie damit gerechnet, wie viel man entscheiden muss, wenn man zusammenzieht.« Ich schüttele den Kopf.

Ein paar Monate ist es jetzt her, dass ich zu Alex in sein kleines Haus Am Birkenstrauch in Bad Laasphe gezogen bin. Ein Haus, das schon fix und fertig eingerichtet war. Wir mussten keine Küche aussuchen, kein Bad renovieren ... Okay, letzteres kommt irgendwann auf uns zu, aber zumindest momentan ist davon keine Rede. Alles in allem war der Einzug schnell erledigt. In den Wochen zuvor hatte ich den Großteil meiner Sachen bei Alex untergebracht. Eine eigene Zahnbürste und mein Shampoo im Badezimmer. Kleidung im Kleiderschrank. Hier ein Bild an der Wand, dort eine Lampe für die Kommode. Am Ende fuhr ich in die Ostpreußenstraße zu meiner Mutter und packte das, was in meinem alten Kinderzimmer noch übrig war, in einen Koffer, den ich bei Alex ein paar Straßen weiter wieder auspackte. Klingt einfach, oder?

Obwohl mein Einzug bei Alex ein mehr oder minder schleichender Prozess war, war es doch etwas anderes, als ich plötzlich meinen eigenen Schlüssel hatte und klar war: Dieses Haus ist jetzt auch meins. Irgendwie. Meiner Meinung nach gehörte ab diesem Zeitpunkt das Brot nicht mehr in den Kühlschrank, wo Alex es lagerte. Er wiederum beschwerte sich, dass ich meine Schuhe mitten im Flur liegen ließ, wo ich sie nach der morgendlichen Laufrunde auszog. Jahrelang hatte Alex sämtliche Wäsche in den Trockner geworfen, ob das Etikett auf dem Kleidungsstück das zuließ oder nicht. Wollten wir das für meine Klamotten riskieren oder ab jetzt alles zum Trocknen auf den Wäscheständer hängen? Wer bekam wie viel Platz im Arbeitszimmer, um den Papierkram zu erledigen? Und die Diskussionen, die wir darüber führten, wie die Fächer im Badezimmerschrank verteilt werden ... Sagen wir: Zusammenziehen ist eine Sache. Zusammenwohnen doch eine andere.

Nun sind wir beim Weihnachtsbaum angekommen.

»Hattest du hier schon mal einen Weihnachtsbaum?«, will ich wissen.

Alex schüttelt den Kopf. »Ich hab Weihnachten entweder gearbeitet oder bei meiner Familie verbracht.«

»Und jetzt willst du direkt einen über die ganze Adventszeit aufstellen?«

Er zuckt mit den Schultern. »Ich arbeite unsere Dienstpläne für Weihnachten erst in den nächsten Tagen aus. Aber ob die dann so bleiben, werden wir sehen. Du weißt ja, dass es jederzeit einen neuen Fall geben kann. Falls wir beide Weihnachten auf dem Präsidium verbringen, haben wir wenigstens an den Abenden davor etwas von unserem Baum.«

Damit hat er nicht unrecht. Was bringt uns ein Weihnachtsbaum, der eine Woche steht, wenn wir kaum zu Hause sind oder abends, wenn es dunkel ist und wir die Lichter anzünden könnten, direkt ins Bett fallen?

»Ich finde trotzdem, dass er sich im Wohnzimmer am besten machen würde«, beharre ich. »Hier verbringen wir die meiste Zeit, wenn wir dann mal zu Hause sind. In der Küche brauche ich keinen Weihnachtsbaum.«

»Natürlich kommt der Baum ins Wohnzimmer, ich rede nicht von einem anderen Raum. Aber wir könnten über einen Standort weniger nah am Kamin nachdenken.«

Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. »Ohne die Möbel umzustellen?«

»Wir brauchen ja keinen riesigen Baum. Wie wäre es denn mit ...«

In diesem Moment klingelt Alex’ Handy. Bei seinem Blick aufs Display spare ich mir jeden weiteren Kommentar zum Thema. Unsere Diskussion, wo und für wie lange wir den Weihnachtsbaum aufstellen werden, müssen wir auf später verschieben.

2

Stünzel ist der kleinste Ort, der zu Bad Berleburg gehört. Jedes Jahr im Juni findet hier auf dem Festplatz die Kreistierschau, das Stünzelfest, statt. Dass hier an jenem Wochenende 25.000 Besucher feiern, ist jetzt, im November, nicht zu sehen, und so haben wir kein Problem, einen Parkplatz zu bekommen. Krankenwagen und Notarzt sind bereits eingetroffen. Ich notiere mir schnell die Nummernschilder der beiden übrigen Autos, die hier geparkt sind, und stolpere dann hinter Alex her, der zügig in Richtung Wald vorangeht. In den letzten Tagen hat es viel geregnet, sodass der Boden stellenweise matschig ist. Auch geschneit hat es vor ein paar Wochen schon einmal, hier und da sind noch Reste von Schnee zu sehen. Immer wieder sinken meine Füße ein, und so komme ich nur langsam voran. Ein paar Meter vor mir höre ich Alex leise fluchen. Ihm geht es offenbar nicht anders.

Endlich kommen wir auf der Lichtung an. Mein Blick fällt auf ein winziges Gebäude, das in den Wald hineingebaut ist. Die Tür steht sperrangelweit offen, auf dem Dach ist ein kleiner Holzzaun angebracht. Ein alter Rübenkeller, schießt es mir durch den Kopf. Davor stehen der Notarzt und zwei Sanitäter und winken uns zu. Ein paar Meter entfernt kniet eine Frau über etwas im Gras, das ich von hier aus nicht erkenne. Eine weitere Frau steht neben ihr, einen Terrier angeleint zu ihren Füßen. Alex geht auf den Rübenkeller zu, ich steuere die beiden Frauen an.

»Caroline König von der Polizei«, weise ich mich aus. »Können Sie mir sagen, was hier passiert ist?«

»Wiebke Schneider«, stellt die Frau mit dem Hund sich vor. »Ich bin hier mit meinem Rocky spazieren gegangen, wie jeden Sonntag. Da hinten hab ich die Frau liegen sehen. Sie hat nicht auf meine Rufe reagiert, nur leise gestöhnt. Ich wollte ihr helfen, aber ihr dummer Hund hat mich nicht zu ihr gelassen, also hab ich einen Krankenwagen gerufen.«

»Ihr Hund hätte vermutlich nicht anders reagiert«, mischt sich die Frau ein, die vorher auf dem Boden gekniet hat. Vor ihren Füßen steht eine Transportbox, in der ein zweiter Hund leise knurrt.

»Was ist mit ihm?«, frage ich.

»Ich habe ihn da hinein verfrachtet, so beruhigt er sich. Ich bin Andrea Klein vom Ordnungsamt. Die Kollegen vom Rettungsdienst haben mich gerufen, damit ich ihnen einen Weg zu der Frau verschaffe.«

»Hätte man da nicht einen Tierarzt rufen müssen, um ihm ein Beruhigungsmittel zu spritzen?«, wundert sich Wiebke Schneider.

»Nein, in solchen Fällen ist das Ordnungsamt zuständig. Ein Tierarzt kennt den Hund auch nicht zwingend und weiß nicht, auf welche Mittel er allergisch reagiert. Deswegen kommen wir mit einem langen Stock, an dem eine Schlinge befestigt ist, und verfrachten den Hund in eine Transportbox.« Sie zeigt auf die Box, aus der mittlerweile nur noch ein leises Winseln kommt. »So ist kein Medikament nötig. Hunde sind für ihren stark ausgeprägten Beschützerinstinkt bekannt. Wenn das Frauchen wehrlos am Boden liegt, kommt dieser zum Vorschein. Das ist leider nicht immer ideal, weil so auch Helfer vom Opfer ferngehalten werden.« Sie zuckt mit den Schultern. »Ich hab mir mal das Sprunggelenk gebrochen, mitten im Wald. Als ich da lag, haben Spaziergänger versucht, mir zu helfen. Keine Chance. Mein Hund hat sie nicht gelassen, obwohl ich bei Bewusstsein war und ihm immer wieder versichert habe, dass es okay ist, wenn diese Leute mir nahekommen. Erst als mein Lebensgefährte auftauchte, hat Joy sich beruhigen lassen und man kam an mich heran, um mir zu helfen. Diese Frau konnte sich nicht verständigen, sodass die Reaktion ihres Hundes nachvollziehbar ist. Ihr Hund hätte nicht anders reagiert.«

Hat die Frau während ihrer Ausführungen nur einmal Luft geholt? Ich staune. »Was passiert jetzt mit dem Hund?«, frage ich und wappne mich für den nächsten Redeschwall.

»Ich bringe ihn zum Hof Birkefehl und hinterlege den Standort bei Tasso. Das ist eine zentrale Datenbank, in der Besitzer nach vermissten Tieren suchen können. Vielleicht kommt die Frau ja wieder auf die Beine. Dann weiß sie, wo sie ihren Liebling abholen kann.«

Ich sehe in Richtung Rübenkeller. Die beiden Sanitäter und der Notarzt stehen ein paar Meter abseits, während Alex wild gestikulierend mit seinem Handy Verstärkung anfordert.

»Davon sollten wir wohl nicht ausgehen«, murmele ich.

3

Ich wate durch den Schlamm hinüber zu Alex. Die Tote, die zu seinen Füßen auf dem Rücken liegt, ist meiner Schätzung nach Anfang 20. Sie trägt wetterfeste Kleidung, die langen, dunklen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die blaue Windjacke ist am Bauch dunkelrot verfärbt.

»Der Notarzt hat den Tod der Frau festgestellt. Vermutlich ein Messerstich. Ingrid ist auf dem Weg, um die Spuren zu sichern«, sagt Alex. Auch wenn eindeutig zu erkennen ist, dass die Frau nicht mehr lebt, müssen wir auf einen Arzt warten, der den Tod offiziell feststellt. Erst dann können wir unsere Ermittlungen aufnehmen und einen Rechtsmediziner rufen, der weitere Untersuchungen an der Toten durchführt.

Ich werfe einen Blick auf die Flut von Fußabdrücken rund um den Rübenkeller, die allein die Sanitäter und der Notarzt hinterlassen haben. Hinzu kommen unsere. Unwahrscheinlich, hier eine Spur zu finden, die uns weiterbringen wird. »Ingrid wird begeistert sein.« Ich bringe Alex auf den neusten Stand: »Als die Frau gefunden wurde, hat sie laut der Zeugin leise gestöhnt. Sie ist also noch nicht lange tot.«

Alex nickt. »Der Rechtsmediziner kommt aus Siegen, braucht einen Moment länger.«

»Lag die Frau im Keller oder davor?«

»Davor. Möglicherweise hat sie sich an die Tür gelehnt und ist daran zu Boden geglitten.«

»Das ist doch Frauke!« Eine Sanitäterin kommt auf uns zu. »Die wollte hier bestimmt ein Video für ihren Kanal drehen!«

»Wer ist Frauke?«, will Alex wissen. »Und was für ein Kanal?«

Die Sanitäterin schnalzt mit der Zunge und wirft mir einen verschwörungsvollen Blick zu. »Männer! War ja klar, dass der Frauke Blöcher nicht kennt.«

»Ich kenne sie auch nicht«, antworte ich zu ihrer Enttäuschung. »Helfen Sie uns bitte auf die Sprünge, Frau ...?«

»Bender. Janine Bender. Frauke ist Physiotherapeutin und betreibt den Kanal ›Fit mit Frauke‹ in den sozialen Medien. Sie veröffentlicht dort regelmäßig Fitnessvideos. Seitdem ich immer wieder mit ihr Sport mache, habe ich schon fünf Kilo abgenommen.« Sie wirft einen stolzen Blick auf ihren schlanken Bauch.

Ich krame nach meinem Notizbuch und notiere mir schnell den Namen des Opfers. »Und Sie denken, hier wäre ein geeigneter Platz für ein Fitnessvideo?«

»Das war ja das Besondere an Fraukes Videos! Sie hat dafür oft Orte hier in der Gegend und unter freiem Himmel ausgesucht. Letztens war sie auf dem alten Sportplatz in Laasphe. Da verdeckte das Gras ihre Beine fast komplett. Deswegen hat sie nur Übungen für den Oberkörper gefilmt, um zu zeigen, dass man immer etwas für seinen Körper tun kann. Hier wäre es wahrscheinlich ein Video nach dem Motto ›Platz ist in der kleinsten Hütte‹ geworden. Man sollte nie eine Ausrede haben, keinen Sport zu treiben. Das hat Frauke mit ihren Videos humorvoll vermittelt.« Janine Bender sieht bedauernd auf die Frau zu ihren Füßen. »Schade, dass es keine Videos mehr von ihr geben wird. Jetzt muss ich mir wohl einen anderen Sportkanal suchen.«

Alle Anwesenden haben den Tatort auf unseren Wunsch hin verlassen, halten sich aber für weitere Fragen zur Verfügung. Nur Alex und ich stehen noch vor der Leiche und warten auf Ingrid und den Rechtsmediziner. Im Rübenkeller befindet sich auf den ersten Blick nichts, leider auch keine Tatwaffe. Auf dem Boden liegt lediglich ein wenig verrottetes Laub. In unmittelbarer Nähe ist uns nichts Verdächtiges aufgefallen. Vielleicht hat Ingrid mehr Glück.

»Für eine Zufallstat wirkt das hier zu persönlich«, meine ich. »Niemand geht mit einem Messer in den Wald und sticht einfach wahllos eine Frau nieder.«

»Nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich«, stimmt Alex mir zu. »Opfer und Täter müssen einander gekannt haben. Sonst hätte der Täter nicht gewusst, dass Frauke Blöcher heute hier mit ihrem Hund Gassi geht und wäre ihr nicht so nahegekommen.«

»Selbst wenn der Hund den Täter gekannt hat: Hat er den Mord zugelassen, ohne sein Frauchen zu verteidigen? Er hat ja sogar die Ersthelferin von ihr ferngehalten.«

»Womöglich war er nicht angeleint und ist erst herbeigelaufen, als Frauke Blöcher schon verwundet war.«

»Dann hätte er unseren Täter vielleicht erwischt.«

»Ich hätte mich noch nie so über einen Hundebiss gefreut.« Alex zückt sein Handy, um die Notaufnahmen abzutelefonieren. Auch wenn sein Frauchen nicht überlebt hat, haben wir vielleicht Glück und der Hund führt uns direkt zum Täter.

4

»Die Dame nehmen wir mit nach Siegen«, beschließt der Rechtsmediziner Doktor Carl Schröder nach wenigen Minuten. »Die sehe ich mir näher an. Offensichtlich ist sie unter Fremdeinwirkung zu Tode gekommen. Bis morn.« Er schließt den Leichensack mit einem Ruck. »Das hier möchten Sie sich bestimmt ansehen.« Er drückt Alex Frauke Blöchers Handy in die Hand, nickt uns zu, und macht sich mit der Toten und der Hilfe eines Polizisten auf den beschwerlichen Weg zum Parkplatz. Von dort aus wird er die Leiche nach Siegen-Weidenau fahren und sie obduzieren.

»Jetzt haben die mit der Trage den Tatort verwüstet!« Ingrid sieht kopfschüttelnd auf die Spuren, die die beiden Männer im Schlamm hinterlassen haben.

»Ich wusste schon, dass du dich freuen würdest.« Ich unterdrücke nur mühsam ein Lachen.

Alex macht eine Handbewegung, die das Gelände umfasst. »Tob dich aus. Caro hilft dir mit dem Absperrband. In der Zwischenzeit bringe ich das hier aufs Revier.« Vorsichtig steckt er das Handy in einen Beweisbeutel. So hat auch Murat was zu tun, denke ich und trotte hinter Ingrid her, um wie versprochen mit ihr und ein paar weiteren Kollegen den Tatort abzusperren. Die Mitarbeit bei der Spurensicherung ist eigentlich nicht mein Fachgebiet, aber es ist abzusehen, dass uns bei den Lichtverhältnissen hier draußen die Zeit für erste Eindrücke davonläuft. Also ist es besser, wenn ich mich mit ihr zusammen umsehe.

»Am Tatort haben wir bis jetzt nichts gefunden.« Ingrid lässt sich frustriert auf einen Stuhl im Besprechungszimmer fallen. Ich umklammere mit vor Kälte tauben Fingern die Tasse Kaffee, die Alex mir reicht. Vor einer Viertelstunde haben wir die Suche nach Hinweisen abgebrochen. Jetzt ist es draußen stockduster.

»Ich habe bislang auch nichts Ungewöhnliches gefunden«, bestätigt Alex. »Der Keller wird zwar nicht mehr genutzt, seit keine Rüben mehr an Vieh verfüttert werden. Das Gelände rund um Stünzel ist aber bei Spaziergängern beliebt, sodass der Ort durchaus bekannt ist. Die beiden Autos auf dem Parkplatz sind auf unsere Zeugin Wiebke Schneider und Andrea Klein vom Ordnungsamt zugelassen. Der Täter war schon über alle Berge.«

»Ich bin dran, mir einen Überblick über die Daten auf Frauke Blöchers Handy zu verschaffen«, sagt Murat. »Wir haben es hier mit einer kleinen Berühmtheit zu tun, so viel steht fest.«

»Was meinst du damit?«, frage ich ihn.

»Die Frau hat alles ins Internet gestellt, ihr komplettes Leben war online. Und die Leute wollten alles darüber wissen.« Murat drückt auf den Knopf am Monitor, der an der Wand befestigt ist, und wir schauen in Frauke Blöchers Augen, die uns von ihrem Online-Profil aus entgegenstrahlen. Auf ihrer Seite finden sich zahlreiche Beiträge und Videos. Überall sehen wir Herzchen und Kommentare. Über 1.500 Menschen folgen ihr.

»Diese Leute werden sich nicht freuen, wenn der Anbieter die Seite in einer Woche löscht«, meint Murat. »Das ist Standard, wenn jemand verstorben ist.«

»Hoffen wir, dass der Mord nicht mit ihrem Social-Media-Kanal in Zusammenhang steht«, meint Alex. »Wir müssen innerhalb dieser Woche alles tun, um herauszufinden, wer hinter den 1.500 Accounts steckt und ein Motiv haben könnte.«

»Verstanden.« Murat nickt. »Ich mach mich an die Arbeit.«

»Gab es in der Zwischenzeit Anrufe auf ihrem Handy?«, will ich wissen.

Murat schüttelt den Kopf.

»Wir müssen ihre Angehörigen informieren. War sie verheiratet?«

»Nein«, sagt Alex.

»Fangen wir in ihrer Wohnung an. Vielleicht gibt es einen Lebensgefährten oder die Nachbarn wissen, wo wir die Eltern finden.«

5

Frauke Blöcher besaß eine kleine Wohnung in der Alten Eisenstraße in Fischelbach. Laut Unterlagen des Einwohnermeldeamts und dem, was wir auf den ersten Blick ihrem Internetkonto entnehmen konnten, wohnte sie allein dort. Das muss aber nichts heißen. Ich habe auch einige Wochen bei Alex gewohnt, bis ich offiziell dort gemeldet war. Vielleicht gibt es einen Lebensgefährten. Bislang hat niemand sie als vermisst gemeldet. An einem Sonntag ist das jedoch nichts Ungewöhnliches. Wir wissen nicht, wie lange sie normalerweise mit dem Hund unterwegs war oder an ihren Videos arbeitete. Es ist möglich, dass ihr Verschwinden noch niemandem aufgefallen ist.

Alex und ich stehen vor ihrer Tür und klingeln. Nichts. Ich trete einen Schritt zurück und sehe an der Wand des Zweifamilienhauses hinauf. Auch in der oberen Wohnung tut sich nichts.

»Die Wohnung da oben steht seit ein paar Wochen leer«, hören wir eine Stimme hinter uns. Eine ältere Frau lehnt im Türrahmen des Hauses gegenüber und beäugt uns durch ihre riesige Lesebrille. »Wenn die Kleine aus der Wohnung unten nicht daheim ist, müssen Sie den Makler anrufen. Warten Sie, ich komm gleich auf ihren Namen.«

»Frauke Blöcher heißt sie.« Alex geht einen Schritt auf die Dame zu.

»Richtig, jetzt fällt es mir ein!«, ruft die erleichtert aus.

»Wissen Sie, wann Frau Blöcher sonntags normalerweise mit dem Hund wieder nach Hause kommt?«, fragt er.

»Sonst ist sie um diese Zeit zurück. Waren Sie mit ihr verabredet?«.

»Nein, wir sind von der Polizei.«

»Ach, dann sind Sie gar nicht wegen der Wohnung hier? Hat Frauke was ausgefressen?« Die Frau kommt einen Schritt auf uns zu und lässt uns nicht mehr aus den Augen. »Oder hatte sie den Hund mal wieder nicht im Griff?«

»Genau, es geht um ihren Hund«, antworte ich schnell.

»Ich hab immer schon gesagt, dass sie den Hund an die Leine nehmen soll. So lieb das Tier auch ist, es gehört angeleint. Was hat Balu denn gemacht?«

»Das würden wir seiner Besitzerin gern selbst sagen. Wir versuchen später unser Glück.«

»Wissen Sie, wo Frauke Blöchers Eltern wohnen?«, schaltet Alex sich wieder ein.

»Na, in Hesselbach, im Holderweg. Das muss aber was Schlimmes sein, wenn Sie jetzt mit ihren Eltern über den Hund reden müssen.« Sie kommt einen weiteren Schritt auf uns zu und ist offensichtlich enttäuscht, als wir uns bedanken und den Rückweg zu unserem Auto antreten.

»Was sollte das mit dem Hund denn?«, will Alex wissen, als wir wieder auf der Straße sind.

»Hast du gesehen, wie die Alte uns angestarrt hat? Die lechzt nach Dorftratsch. Wenn wir ihr erzählt hätten, dass Frauke Blöcher tot ist, hätte es im nächsten Moment die ganze Straße gewusst, aber keiner ihrer Angehörigen.«

»Wir hätten ihr das ja nicht auf die Nase binden müssen.«

»Immerhin wissen wir jetzt, dass unsere Theorie nicht so abwegig war: Wenn Frauke Blöcher das Tier nicht angeleint hat, hat der Hund sich ausgetobt und das gab dem Täter Zeit, nah an sie heranzukommen.«

Alex nickt. »Da könntest du recht haben. Jetzt geht’s nach Hesselbach zu Frauke Blöchers Eltern.«

Ich krame mein Handy aus meiner Tasche und tippe eine Nachricht, bevor ich mich ans Steuer setze. Alex nutzt die Fahrt, um die Krankenhäuser abzutelefonieren. Aber unser Täter scheint keine Bekanntschaft mit Frauke Blöchers Hund gemacht zu haben, in den Notaufnahmen ist bis jetzt niemand mit Hundebiss aufgetaucht. Bis vor Kurzem waren wir zu fünft auf dem Präsidium und hatten eine Kollegin, die sich um solche Anrufe kümmerte. Ihre Stelle ist derzeit unbesetzt und wir suchen händeringend nach einem neuen Teammitglied. Wir teilen diese Aufgaben zwischen uns auf, aber meistens bleiben sie an Alex hängen. Als Vorgesetzter bemüht er sich um Verstärkung, doch das scheint sich schwieriger zu gestalten als gedacht. In letzter Zeit sehe ich ihm an, wie sehr die Mehrarbeit ihm zusetzt. Trotzdem habe ich bislang nicht ein Wort der Beschwerde von ihm gehört. Auch jetzt steckt er sein Handy wieder ein, ohne zu murren. Nur ein »Wäre ja zu einfach gewesen« verkneift er sich nicht.

Als wir in Hesselbach durch die Dunkelheit fahren und aus einzelnen Häusern Licht nach außen dringt, kommt mir die Vorstellung von einem Weihnachtsbaum, der uns ein paar Wochen lang das Wohnzimmer erhellen wird, gar nicht mehr so dumm vor wie heute Morgen. Wir wären nicht die Einzigen, die so früh Weihnachtsdeko aufstellen: Überall hängen Sterne in den Fenstern, Lichterketten zieren Balkongeländer und Gartenzäune. Das kleine Einfamilienhaus, vor dem wir parken, strahlt ebenfalls hell. Am Dach entlang ist eine Lichterkette angebracht, im Garten steht ein leuchtender Schlitten, davor ein Rentier. »So was Kitschiges will ich nicht«, stelle ich klar, bevor wir die Haustür erreichen.

»Hab ich nicht im Sinn«, gibt Alex zurück, während er auf die Klingel drückt, auf der »Sylvia und Harald Blöcher« steht.

Eine kleine gebückte Frau öffnet kurz darauf die Haustür. Sie trägt eine Jogginghose und ein ausgewaschenes Sweatshirt, das einmal dunkelblau war. Ihre Haare sind in Lockenwickler gedreht. Offensichtlich hat sie nicht mit Besuch gerechnet.

»Frau Blöcher?«, frage ich.

»Ja?«

»Ich bin Caroline König, das ist mein Kollege Alexander Fischer. Wir sind von der Polizei und müssen Ihnen leider etwas mitteilen. Dürfen wir hereinkommen?«

Von einer Sekunde auf die andere verändert sich Sylvia Blöchers Gesichtsausdruck. Die abweisend zusammengekniffenen Augen werden groß, ihr Mund öffnet sich leicht. Zurückhaltung schwenkt um in Angst. Mit einem leisen Seufzen weicht sie zurück und bedeutet uns, ihr durch den Flur ins Wohnzimmer zu folgen. Dort sitzt ihr Mann in ähnlich legerer Kleidung auf dem Sofa und starrt auf den Fernseher. »Wo bleibst du denn? Tatort geht gleich los!« Überrascht sieht er auf, als er merkt, dass seine Frau nicht allein ist.

»Harry, die beiden sind von der Polizei«, stellt sie uns vor. Daraufhin greift ihr Mann nach der Fernbedienung und schaltet den Fernseher aus. Mit ähnlich großen Augen schaut er uns an.

Diesmal stellt Alex uns vor. »Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Tochter Frauke heute tot aufgefunden wurde.«

Schweigend beobachten wir das Ehepaar. Sylvia Blöcher lässt sich langsam auf den Sessel sinken, vor dem sie gestanden hat. Ihr ohnehin blasses Gesicht hat sämtliche Farbe verloren. Die eben noch überraschten Augen sind jetzt völlig leer.

»Tot aufgefunden? Wo? Wie? Was meinen Sie damit?«, fragt Harald Blöcher verständnislos.

»In der Nähe des Stünzelfestplatzes«, antworte ich. »Sie war mit ihrem Hund unterwegs. Eine Frau, die auch mit ihrem Hund Gassi ging, hat sie gefunden. Es sieht leider so aus, als sei Frauke einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Es tut uns leid.«

Wieder warten wir schweigend, bis sich der erste Schock beim Ehepaar setzt.

»Wo ist sie jetzt?«, ergreift erneut Harald Blöcher das Wort.

»Man hat sie nach Siegen in die Gerichtsmedizin gebracht, wo sie untersucht wird. Morgen sprechen wir mit dem Rechtsmediziner und können Ihnen dann hoffentlich mehr sagen«, erklärt Alex.

»Haben Sie den Täter gefasst?«

»Leider noch nicht, aber wir tun alles in unserer Macht Stehende. Haben Sie eine Idee, wer das getan haben könnte? Hatte Frauke Streit mit jemandem?«, frage ich.

»Das war bestimmt ihr Nichtsnutz von Exfreund!« Harald Blöcher springt auf und greift nach dem Telefon. »Nur die Mailbox. Daniel, geh ran!« Fluchend legt er auf.

»Setzen Sie sich bitte wieder hin, Herr Blöcher.« Alex’ Stimme ist ruhig, duldet jedoch keinen Widerspruch. »Wer ist denn Fraukes Exfreund? Warum denken Sie, könnte er Ihrer Tochter so etwas antun?«

Harald Blöcher lässt sich wieder auf das Sofa fallen, das Telefon legt er achtlos neben sich. »Er heißt Daniel Althaus. Frauke hat sich vor ein paar Wochen von ihm getrennt. Er kam nicht damit klar, dass sie so erfolgreich wurde mit ihren Internet-Videos. Mit der Trennung kam er aber noch weniger zurecht. Hat sie ständig angerufen und ihr aufgelauert. Bestimmt hat er sie jetzt umgebracht, damit kein anderer sie haben kann.«

»Das glaub ich nicht«, meldet sich leise Sylvia Blöcher zu Wort. Sie starrt mit leeren Augen auf die Tischplatte vor sich, aber sie schüttelt den Kopf. »Das hätte der Daniel nie gemacht.«

Harald Blöcher wischt mit dem Arm sämtliche Zeitschriften vom Sofa. »Der ist sogar bei ihr eingebrochen, der tolle Daniel!«

Ich lehne mich nach vorn. »Sie sagen, Fraukes Exfreund sei bei ihr eingebrochen?«

»Da waren Einbruchsspuren an ihrer Haustür!«

»Aber ist es sicher, dass es Daniel Althaus war?«

»Wer soll es denn sonst gewesen sein?«

»Ich hab ihr immer gesagt, dass sie vorsichtig sein soll mit ihren Videos«, murmelt Sylvia Blöcher. »Jeder kann sie in ihren knappen Oberteilen vor der Kamera tanzen sehen. Das Internet vergisst nichts.« Sie zieht ein Taschentuch aus der Jogginghose und fährt sich damit über die Augen.

»Wir werden dem nachgehen«, versichere ich den beiden. »Wenn Sie möchten, schicken wir Ihnen eine Kollegin vorbei, mit der Sie sprechen können. Sabine Riedel vom Kriseninterventionsteam ist jederzeit verfügbar.«

Harald Blöcher sieht zu seiner Frau hinüber. Die starrt vor sich hin. Er bückt sich und sammelt die Zeitungen und Prospekte vom Boden auf, die er vorhin vom Sofa gewischt hat.

»Sie müssen sich nicht jetzt entscheiden.« Ich reiche ihm meine Karte und die von Sabine. »Bitte melden Sie sich bei uns, wenn Ihnen etwas einfällt.«

Er nickt und erhebt sich, um uns zur Tür zu begleiten. »Diese Frau Riedel«, murmelt er. »Wie schnell kann die denn hier sein?«

»In zirka zehn Minuten.«

»Rufen Sie sie bitte an? Ich glaube, meiner Frau würde das guttun.« Er überlegt kurz. »Und mir wahrscheinlich auch.« Er wirft einen Blick auf die Zeitungen, die er offenbar grundlos mit zur Tür genommen hat, und legt sie kopfschüttelnd auf den Garderobenschrank.

Ich nicke und verspreche, Sabine anzurufen.

»Eine Frage.« Harald Blöcher sieht Alex an, als wir schon fast aus der Tür sind. »Was passiert denn jetzt mit Balu? Das ist Fraukes Hund.«

»Das Ordnungsamt hat ihn nach Birkefehl gebracht«, wiederhole ich Frau Kleins Worte. »Dort kann er abgeholt werden.«