Lämmerblut - Bea Eschen - E-Book

Lämmerblut E-Book

Bea Eschen

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Beschreibung

Die Geschwister Ellen und Hans Andernbach entdecken in ihrem Keller ein altes Tagebuch von Henrietta Haller, das dunkle Geheimnisse aus dem 19. Jahrhundert enthüllt. Henrietta beschreibt darin schockierende medizinische Experimente mit Lämmerblut, die Menschenleben retten sollten, aber moralisch fragwürdig waren. Diese Bluttransfusionen von Lämmern auf Menschen galten als letzte Hoffnung, obwohl die Methode gefährliche Nebenwirkungen hatte. Während Ellen und Hans immer tiefer in die Geschichte eintauchen, wird ihre eigene Gegenwart von einer modernen Pestepidemie heimgesucht und die Medizin steht vor ähnlichen Problemen wie damals. Die Angst in der Bevölkerung wächst und die Familie muss sich mit den Parallelen zwischen den damaligen Erfahrungen und der aktuellen Situation auseinandersetzen. Je mehr die Geschwister lesen, desto deutlicher wird, dass ihre eigene Familiengeschichte vom dunklen Erbe dieser Experimente geprägt ist. Der moralische Konflikt rückt in den Mittelpunkt, während die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen.

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LÄMMERBLUT

BEA ESCHEN

Copyright © 2024 Bea Eschen

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung der Autorin in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen elektronischen oder mechanischen Mitteln, einschließlich Datenspeicherungs- und Abrufsystemen, reproduziert werden.

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg

INHALT

Vorwort

1. Lämmerblut

Nachwort

Weitere Bücher und Kurzgeschichten von Bea Eschen

VORWORT

Es handelt sich hierbei um ein fiktives Werk. Namen, Charaktere, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie der Autorin oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebendig oder tot, oder tatsächlichen Ereignissen, ist rein zufällig.

Der Kranke schien den Blick von Hans zu spüren, als er mit grimmiger Entschlossenheit auf das kleine vergitterte Kellerfenster des alten Herrenhauses zusteuerte. Mit einer plötzlichen, trotzigen Bewegung schleuderte er einen Klumpen blutigen Rotz gegen die Eisengitter. Ein Teil der zähflüssigen Masse tropfte wie ein dunkler, eitriger Fleck die schmale Fensterbank hinunter, während der Rest hartnäckig am kalten Metall klebte; ein scheußliches Symptom seines Leidens.

Hans zuckte zusammen, wich vor dem Glas zurück und versank in den Schatten des schwach beleuchteten Kellerraums.

Neugierig stieg Ellen die zwei Stufen zum Fenster hinauf und rief, als sie die schleimige Masse sah, „Igitt, das ist ja ekelhaft!“

Hans konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Na, hoffentlich gibt es bald heftigen Regen“, sagte er, wobei der spöttische Unterton klar durchklang.

Der kranke Mann zog sich zurück, nicht ohne den Geschwistern einen letzten abscheulichen Gruß zu senden. Schmerzhaft wimmernd zeigte er ihnen wortlos seinen Missmut und ließ seine schleimige, blutunterlaufene Zunge wie eine schlaffe Wurst heraushängen.

„Warum verachtet er uns? Er kann uns nicht einmal sehen und wenn, dann nur unsere Umrisse“, flüsterte Ellen verwirrt.

Hans seufzte, während er dem Mann mitleidig nachsah. „Er ist nicht mehr zu retten, Ellen. Er ist in seiner eigenen Finsternis versunken und hasst alles und jeden. Er wartet auf das Ende.“

Während sie über die Finsternis nachdachten, die die Seele eines Mannes verzehrte, wurde die Welt draußen von einem viel größeren Grauen heimgesucht. Es war im Frühling des Jahres 2032. Unter dem unerbittlichen Griff der Beulenpest war Europa in eine Decke der Verzweiflung gehüllt, seine Städte durch ein Dekret zum Schweigen gebracht, das die Bevölkerung in ihre Häuser zwang. Der seit dem Mittelalter bekannte Erreger der Pest, das Bakterium Yersinia pestis, das durch Flöhe von Tieren auf Menschen übertragen wird, war inzwischen gegen die gängigen Antibiotika völlig resistent geworden. Auch alternative Antibiotika, die in Windeseile in den Labors der Welt entwickelt wurden, blieben wirkungslos. Neue Methoden wie Immuntherapien und sauerstoffhaltige Flüssigkeiten, die das Blut ersetzen sollten, konnten die Krankheit nur kurze Zeit unter Kontrolle halten. Die meisten starben nach einem langen und qualvollen Leidensweg.

Die medizinische Gemeinschaft stand erneut vor der großen Herausforderung, einen wirksamen Impfstoff zu entwickeln, doch die Forschung steckte noch in den Kinderschuhen. Die Friedhöfe füllten sich und auch in den Wäldern reihten sich die Urnen der Opfer unheilvoll aneinander. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Angst in der Bevölkerung, eine alles überwältigende Furcht, die die Menschen ihre letzte Hoffnung auf ein Überleben in den Glauben an Wunder oder Glück setzen ließ. Die Dunkelheit der Verzweiflung legte sich über die Menschheit, während sich die Krankheit unaufhaltsam ausbreitete.

In Berlin war die vierköpfige Familie Andernbach in ihrem prachtvollen Haus aus dem 18. Jahrhundert gefangen, dessen große Räume und hohe Decken einst ein Gefühl von Freiheit und Wohlstand vermittelten. Doch nun, inmitten der allgegenwärtigen Bedrohung durch die Pest, verwandelten sich die großzügigen Zimmer in einen Käfig, der mit jeder Stunde enger zu werden schien.

Der Garten, der mit seinen Blumenbeeten und schattenspendenden alten Bäumen zum Verweilen einlud, verwilderte. Die Fenster, die einst einen weiten Blick auf die belebten Straßen und das pulsierende Leben der Stadt boten, zeigten nur noch die leeren, stillen Gassen Berlins, durch die der Wind der Krankheit wehte.

Ellen und Hans, beide Teenager, suchten Zuflucht in ihrem für ihre Zwecke ausgestatteten Kellerraum. Sie verbrachten die meiste Zeit an ihren elektronischen Geräten, hörten Musik und standen nur auf, um sich zu strecken, Neuigkeiten auszutauschen oder aus der einzigen Lichtöffnung zu schauen, um die Lebensmittellieferung abzuwarten oder um zu sehen, ob etwas los war. Der Kellerraum war auch ein ruhiger Zufluchtsort vor der angespannten Atmosphäre im Obergeschoss, wo ihre Eltern mit den Anforderungen ihrer Arbeit kämpften, sich in endlose Online-Meetings verstrickten und einen Kaffee nach dem anderen tranken. Der Keller, einst ein Lagerraum, war zu ihrer eigenen kleinen Welt geworden, in der die Geschwister, auch wenn nur für eine kurze Zeit, die düstere Realität draußen vergessen konnten.

Ellen empfand das Verhalten des kranken Mannes als ein schlechtes Omen, ein Zeichen, das sie nicht ignorieren konnte. Schon als Kind war sie ein tiefgründiger Mensch gewesen und die Welt um sich herum zu hinterfragen, war ihr zur zweiten Natur geworden. Stundenlang konnte sie in Gedanken versinken, jedes Detail analysieren und stieß dabei oft auf Dinge, die andere lieber übersehen hätten. Ihre Neigung half ihr nicht dabei, Freunde in der Schule zu finden – zu der Zeit, als die Schule noch offen war, obwohl sie schon seit etwa einem Jahr geschlossen war und es nur noch die Online-Schule gab. Ihre ständigen, bohrenden Fragen brachten oft unangenehme Wahrheiten ans Licht, die besser im Dunkeln geblieben wären. Manchmal konnte sie das Unbehagen in den Gesichtern ihrer Mitschüler sehen, wenn sie wieder einmal etwas aussprach, was andere nicht einmal zu denken wagten. Manche hassten sie dafür, nannten sie lästig oder gar arrogant. Aber das war Ellen egal. Für sie war die Suche nach der Wahrheit wichtiger als ein falsches Miteinander.

Hans dagegen war anders. Er war der Einzige, der sie wirklich verstand, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Er war ein Jahr jünger und hatte in vielerlei Hinsicht noch nicht die Reife eines Erwachsenen. Das zeigte sich vor allem in seiner Neigung, Dinge zu vereinfachen, die für Ellen eine tiefere Bedeutung hatten. Er konnte sich schnell begeistern, ließ sich leicht ablenken und sah die Welt oft in Schwarz-Weiß, während Ellen die vielen Grautöne dazwischen erkannte. Trotzdem hatte er eine Art, Ellen zuzuhören, die ihr das Gefühl gab, nicht allein zu sein. Er folgte ihren Gedanken, auch wenn er manchmal nicht genau verstand, worauf sie hinauswollte. Seine Geduld und sein offenes Herz machten ihn zu einem Verbündeten in einer Welt, die Ellens Tiefe oft nicht zu schätzen wusste. Aber Hans konnte nicht immer mithalten und in diesen Momenten fühlte sie sich allein.

Wie Ellen es geahnt hatte, geschah zwei Tage nach dem Vorfall mit dem kranken Mann etwas Unerwartetes. Hans entdeckte einen Riss in einer Wand, der ihm sofort ins Auge fiel, als er morgens den Kellerraum betrat. Diese Wand unterschied sich auffallend von den anderen alten Kellerwänden. Während die anderen aus grobem, unregelmäßigem Stein gehauen waren, bestand diese aus einem glatteren, weniger bekannten Material. Es war nicht die übliche raue Steinstruktur, die die Atmosphäre des Kellers prägte. Stattdessen war die Wand fast modern und aus einem anderen Baumaterial.

Der Riss selbst wirkte wie eine Wunde. Hans konnte es nicht widerstehen, der Sache nachzugehen. Vorsichtig strich er mit den Fingern darüber und schon bröckelten einige Putzstücke ab. „Sag mal, hatten wir ein Erdbeben?“, fragte er und warf Ellen einen fragenden Blick zu.

Sie blickte von ihrem Bildschirm auf und runzelte die Stirn. „Nicht, dass ich wüsste. Warum fragst du?“ Ihre Neugier wurde geweckt, als sie sah, wie er die Wand um den Riss abtastete.

„Dieser Riss muss erst heute Nacht entstanden sein“, erklärte Hans nachdenklich. Je länger er tastete und klopfte, desto mehr Putz fiel ab. „Ich hole Werkzeug“, fügte er hinzu und verschwand.

Endlich war die nagende Langeweile, die die beiden seit Monaten begleitete, gebrochen. „Wozu denn? Willst du jetzt die Wand aufmachen?“, rief sie ihm hinterher, obwohl sie sich nicht ganz sicher war, ob er es ernst meinte.

Kurz darauf kam Hans mit einer Taschenlampe und einem großen Schraubenzieher zurück. „Genau, das will ich. Ich habe das Gefühl, da ist was drin!“

Sein strahlender Blick und seine Entschlossenheit überzeugten Ellen. Sie stand auf, ihre Augen funkelten vor Aufregung. „Okay, dann wollen wir der Sache mal auf den Grund gehen.“

Immer wieder schlug Hans mit dem Schraubenzieher kräftig gegen die Wand, während sich der Staub und die herabfallenden Brocken auf dem Boden häuften. Mit jedem Schlag ging er tiefer in das Mauerwerk hinein. Plötzlich hielt er inne.

„Was ist los?“, fragte Ellen, die voller Spannung zusah.

„Schau“, sagte Hans ungläubig, „der Schraubenzieher stößt in einen Hohlraum!“ Einen Moment lang schwiegen beide. Sie sahen sich erstaunt an, ihre Herzen schlugen schneller.

„Los, weiter! Da könnte wirklich etwas drin sein“, drängte Ellen, die Eintönigkeit des Lockdowns wie weggeblasen.

Hans nickte und begann mit noch mehr Eifer in die Wand zu bohren. Der Hohlraum dahinter zog ihn wie ein Magnet an. Er stieß immer heftiger zu, bis das Loch groß genug war, um hindurchzusehen. Er knipste die Taschenlampe an, drückte seine Augen gegen die staubige Öffnung und stieß ein aufgeregtes „Wow“ heraus. Mit großen Augen und offenem Mund wich er zurück. „Sieh dir das an ... das sieht wie ein Buch aus!“

Ellen konnte es kaum glauben. Sie schob ihren Bruder leicht zur Seite, ihr Entdeckungsdrang überwältigte sie. Während Hans das Licht hielt, brachte sie ihr Gesicht näher an das Loch und spähte hinein. Dort, in der verborgenen Höhle, steckte tatsächlich ein Buch, umgeben von Brösel und Staub, seit unbekannten Zeiten dort gelagert. „Du hast recht“, bestätigte sie entschieden, „da ist wirklich ein Buch!“

Die Geschwister verharrten einen Moment lang, während ihnen bewusst wurde, dass sie etwas Außergewöhnliches entdeckt hatten. Das Versprechen eines Geheimnisses wartete nur darauf, gelüftet zu werden.

Hans griff nach dem alten Buch. Er musste ein paar Mal ruckartig daran ziehen, bis es endlich nachgab und sich löste. Der dicke Staub, der den Einband bedeckte, schien wie eine Schutzschicht, die kurz davorstand, durchbrochen zu werden. Langsam strich er darüber und Stück für Stück kam die Schrift darunter zum Vorschein.

Henrietta Haller

stand da in feiner, eleganter Handschrift. Darunter, kaum lesbar, tauchte das Wort

privat

wie eine stumme Warnung auf dem alten Leder auf.

Ellen wurde es mulmig zumute. Irgendetwas an diesem Buch, an der Atmosphäre, die es umgab, machte sie nervös. „Meinst du, wir sollten das respektieren?“, fragte sie leise, als fürchte sie, die Stille der Vergangenheit zu stören.

Hans hielt inne, den Blick starr auf den Titel gerichtet. „Sollten wir nicht“, antwortete er, verspielt und frech zur gleichen Zeit. Ohne weiteres Zögern öffnete er langsam den Buchdeckel. Ein leises Reißen begleitete die Bewegung. Es war, als hätte der Deckel sich im Laufe der Jahre untrennbar mit den Seiten des Buches verbunden. Darunter stand in kunstvoll geschwungenen Lettern die Jahreszahl

1864

- wie eine Signatur der Zeit, eingefangen von einer Hand, die die Kunst der Kalligrafie meisterhaft beherrschte. Ellen kam es vor, als wäre jede Linie, jeder Bogen mit Bedacht gesetzt worden, als wollte die Schreiberin den Finder des Buches mit ihrem Talent beeindrucken. Sie schluckte schwer, die Spannung in der Luft war mit Händen zu greifen. Was auch immer in diesem Buch steckte, es hatte bereits begonnen, seine Geheimnisse preiszugeben.

Wo um Himmels willen sollen all die Lämmer herkommen?

war der erste Satz, abgesetzt von dem, was folgte. Den Geschwistern stockte der Atem. Was sollte das bedeuten?

„Lämmer?“, brachte Ellen hervor.

Hans drehte das Buch leicht, so dass das einfallende Tageslicht die erste Seite erhellte, als er sich langsam auf die oberste Stufe der alten Steintreppe setzte.

Ohne ein Wort zu sagen, lies Ellen sich neben ihrem Bruder nieder, während sie gemeinsam auf die vollgeschriebenen Seiten blickten. Behutsam legte Hans das aufgeschlagene Buch zwischen sie auf die Knie, so dass beide die in feiner Schrift geschriebenen Worte lesen konnten. Ihre Augen wanderten synchron über die Zeilen und für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Die dumpfen Stimmen ihrer Eltern von oben wurden zu einem sanften Hintergrund, während sie in die ersten Worte des Tagebuches eintauchten.

* * *

Januar 1864

Dr. Eckbert wird von Tag zu Tag unruhiger. Seine Patienten werden immer mehr, aber die Lämmer bekommen wir nur noch auf Umwegen und sie werden immer teurer! Das Geheimnis, das wir beide so sorgsam gehütet haben, verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Ich spüre schon das Getuschel und die skeptischen Blicke im Krankenhaus. Was wird die Direktion sagen, wenn sie die Wahrheit erfährt? Ich fühle mich schrecklich, habe ständig Angst und kann nicht mehr schlafen. Wie lange kann ich noch schweigen, bevor das Unaussprechliche ans Licht kommt? Ich war dabei, ich habe sogar selbst mitgeholfen, das zitternde Lamm ruhig zu halten, während Dr. Eckbert seine makabre Methode durchführte. Und doch habe ich ihm mein Wort gegeben, dieses dunkle Geheimnis für mich zu behalten. Was aber, wenn alles herauskommt?

Die Blutübertragung, die Methode - alles ist so fragwürdig. In der Vossischen Zeitung als auch in der Klinischen Wochenschrift wird schon darüber spekuliert, und die Stimmen werden lauter: „Die armen Tiere“, sagen sie, „wo soll das alles hinführen?“ Es gibt Leute, die sagen, der Mensch wird zum Tier degradiert, wenn er sein Blut in seine Blutbahn aufnimmt. Jedoch behaupten die Befürworter, dass das Blut der Lämmer rein und unschuldig sei und deshalb heilende Kräfte besitze. Meist handelt es sich um Intellektuelle, angehende Mediziner oder einfach um Besserwisser, die vom Fortschritt begeistert sind, selbst aber nicht direkt betroffen sind. Ihre Theorien sind eine Mischung aus wissenschaftlichem Halbwissen und romantischen Vorstellungen von Unbeflecktheit und Reinheit. Die Lämmer werden fast schon heiliggesprochen! Aus medizinischer Sicht behaupteten sie auch, dass das Blut der Lämmer langsamer fließe als das eines ausgewachsenen Schafes, was weniger Druck auf das Herz des Empfängers ausübe und somit schonender für den geschwächten Organismus des Patienten sei. Außerdem ernährten sich Lämmer ausschließlich von Milch und hätten daher weniger flüchtige Fettsäuren im Blut. Dies führe dazu, dass ihr Blut weniger intensiv rieche und möglicherweise weniger abstoßend auf den Patienten wirke.

Mit dieser Kombination aus physiologischen und ästhetischen Argumenten untermauern die Befürworter ihre Überzeugung, dass Lämmerblut ein wahres Wundermittel sei. Doch ihre Begeisterung für diese Methode wird von vielen mit Skepsis betrachtet. Kritiker werfen ihnen vor, das Leid der Betroffenen zu ignorieren und sich in unbewiesene Theorien zu flüchten, die mehr auf Wunschdenken als auf wissenschaftlichen Fakten beruhen. Gerade in Zeiten großer Verzweiflung suchen Menschen nach Hoffnung - ob das Lämmerblut diese Hoffnung erfüllen kann, bleibt fraglich.

Übernehmen wir uns? Spielen wir Gott, indem wir uns anmaßen, über Leben und Tod zu entscheiden?

Unsere letzte Patientin, eine Frau mit massivem Blutverlust, schien hoffnungslos. Sie hatte einen Blutdurst wie ein Vampir und spornte Dr. Eckbert an, ihr so viel wie möglich zu geben! Doch als endlich Lämmerblut in ihren Körper floss, traten beunruhigende Symptome auf. Kaum hatte die Transfusion begonnen, fror sie plötzlich heftig und klagte über starke Rückenschmerzen. Kurz darauf brach ein Schweißausbruch über sie herein und sie schrie vor unerträglichen Kopfschmerzen. Die Szene war kaum zu ertragen und als ich sah, wie sie sich unter diesen Qualen krümmte, konnte ich es nicht länger mit ansehen und verließ den Raum.

Nach der Operation wirkte Dr. Eckbert sichtlich verwirrt. Er konnte sich die heftigen Symptome seiner Patientin nicht erklären, zumal die meisten seiner anderen Patienten die Transfusion mit weit weniger Gegenreaktionen überstanden hatten. Glücklicherweise überlebte die Patientin, aber von Heilung kann keine Rede sein. Stattdessen ist sie schwächer als zuvor, ein Schatten ihrer selbst. Ihre Familie, die der Behandlung aus Verzweiflung zugestimmt hatte, ist tief enttäuscht und reagiert feindselig. Ihr Glaube an die Heilung durch Lämmerblut ist erschüttert und die Wut über das ausgebliebene Wunder richtet sich nun gegen Dr. Eckbert.

Die Frage ist nicht mehr ob, sondern wann Dr. Eckbert zur Rechenschaft gezogen wird. Der Tag wird kommen, an dem einer seiner Patienten stirbt - und dann wird die ganze Welt erfahren, was wir getan haben. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Unvermeidliche geschieht. Und was dann? Was wird aus mir, wenn das Urteil gefällt wird? Ich werde meine Arbeit als Krankenschwester im Hospital verlieren. Was wird Leonard von mir denken, wenn er erfährt, wobei ich mitgewirkt habe? Hat er es schon bemerkt, dass ich nicht mehr recht bei Sinne bin? Er liebt mich, und ich liebe ihn von ganzem Herzen. Warum belüge ich ihn mit Schweigen? Ich muss es ihm sagen, ich muss, ich muss …“

* * *

„Warum seid ihr beide so still?“ fragte die Mutter, die von ihren Kindern Sara genannt wurde, als sie abends am Tisch saßen. Sie war eine hochgewachsene Frau, deren Schönheit sich in einem Ausdruck von Güte und Intelligenz widerspiegelte. Als Direktorin der Berliner Bank trug sie eine große Verantwortung, besonders in der Zeit des Lockdowns, als viele Hausbesitzer ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten und die Wirtschaft in rasantem Tempo zusammenbrach.

Die Geschwister zuckten mit den Schultern und starrten auf ihre Teller. Richtigen Appetit hatten sie an diesem Abend nicht. Auch ihr Vater, Andreas Andernbach, der Bürgermeister von Berlin, zu Hause kurz Andy genannt, war mit Problemen überhäuft, sprach selten und spülte seinen Frust über die Situation abends mit ein paar starken Getränken hinunter. Sara sah ihre Kinder an, müde von den Strapazen des Tages und seufzte innerlich, während sie versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen, das die düstere Stimmung vielleicht etwas aufhellen könnte. „Welche Themen behandelt ihr denn gerade in der Online-Schule?“, fragte sie.

Hans kaute noch an einem Bissen Lammfleisch, bevor er antwortete: „Wir lernen über die Fortschritte der Medizin im 19. Jahrhundert, besonders über die Verwendung von Lämmerblut, mit dem die Ärzte versuchten, ihre Patienten zu heilen“.

Ellen verschluckte sich und begann heftig zu husten. Sara blickte überrascht auf und legte die Gabel beiseite. „Haben sie das wirklich gemacht?“, fragte sie erstaunt.

„Ja, zumindest die Landärzte taten es. Ob das im Charité auch gemacht wurde, weiß man nicht“, erklärte Hans sachlich, ohne mit der Wimper zu zucken.

Andy lächelte kurz und schüttelte den Kopf. „Das glaub ich nicht.“

Ellen wurde nervös, deutlich in ihrem Ton, als sie sich einmischte: „Können wir das Blutgerede bitte beim Essen lassen?“ Sie warf ihrem Bruder einen verärgerten Blick zu.

Hans wollte gerade etwas erwidern, doch Sara hob beschwichtigend die Hand. „Schon gut“, sagte sie sanft, „lassen wir das Thema.“