Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Notizen aus 2021 in der japanischen Kurzgedichtform des Tanka. Das Tanka ist eine mindestens 1300 Jahre alte reimlose japanische Gedichtform mit fünf Zeilen. Ein Tanka konzentriert sich auf augenblickliche Ereignisse oder Beobachtungen, die mit weiterführenden Gedanken ergänzt werden.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 71
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vorbemerkung
Januar
Februar
März
April
Mai
Juni
Juli
August
September
Oktober
November
Dezember
Die vorliegenden Notizen wurden im Stil japanischer
Kurzgedichte, in Form von Tanka
verfasst. Das Tanka (jap. ist eine mindestens
1300 Jahre alte reimlose japanische
Gedichtform mit fünf Zeilen. Ein Tanka konzentriert
sich auf augenblickliche Ereignisse oder
Beobachtungen, die mit weiterführenden Gedanken
ergänzt werden.
Yoshimi Kondō (1913–2006) zählte zu den
wichtigsten japanischen Dichtern der Nachkriegszeit.
Er war Präsident des Verbandes der
Tanka-Dichter.
Im deutschen Sprachraum stellte das 1990
erschienene „Buch der Tanka-Dichtung“ die
erste länderübergreifende Anthologie dar. Nach
der Jahrtausendwende gewann das deutschsprachige
Tanka neue Qualität und Eigenständigkeit.
Mittlerweile hat sich ein kleiner Kreis
von Autor/innen etabliert, die sich intensiver mit
dem Tanka auseinandersetzen. Häufig finden
sich in Tanka Situationen aus dem Alltag, die
mit Humor und Augenzwinkern oder mit feiner
Melancholie gesehen werden.
Weitere Informationen:
Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Tanka),
Magazin Einunddreißig
(http://einunddreissig.net/)
letzter Spaziergang …
auf den Rebzeilen
liegt graue Dämmerung
bis zur Nacht –
ein kleines Feuerwerk
der weiße Himmel hängt
über dem Dachfenster
wenn ich aufwache ...
wie eine
Daunendecke
ich stricke einen
Pullover aus Wollresten
meiner Tochter …
lost heißt das neue
Jugendwort
am Wetterkreuz
Nebel und Raureif,
ich denke an einen Gruselfilm –
war da nicht
ein tiefer Glockenton?
im coronaleeren Stadtzentrum
hat nur das Reisebüro geöffnet …
eine Obdachlose
trottet vorbei
mit ihrem Hartschalenkoffer
die Bilder vom
Anschlag auf das US-Kapitol,
mir wird bewusst,
wie leicht zu ködern
wir Menschen sind
draußen das Geräusch
des Autofensterkratzens,
doch die Tauben gurren
dem kommenden Frühling
entgegen
ich liege lange wach
dann träume ich, dass ich
lange wach liege
und zu früh aufwache,
bevor ich zu früh aufwache
Parteimitglied …
ich bin inmitten junger Leute,
doch ihre Heilige sei,
sagen sie,
die alte Bistroinhaberin
ich will in die Wintersonne,
doch die Kinder kommen
zum Mittagessen …
zwei Tauben turteln
auf dem Dach
im Vorraum
der Stadtbibliothek
den schweren Band auf den Knien,
die Brille beschlagen …
ein steiler Pfad
ich recherchiere für einen
Mittelaltertext über ein
Kloster … kaum sind
die Figuren angelegt,
beginnen sie zu streiten
Abriss oder Neubau?
im modernen Anbau
des Historischen Museums
tropft Wasser durchs Dach –
seit der Titanic-Ausstellung
einen alten Song
höre ich bei einer Freundin
so berührend, ich denke
an eine Beerdigung –
huch, an meine eigene
in der Stadt fiel Schnee,
meine erwachsenen Kinder
tollen wie junge Hunde –
bevor sie
in die Badewanne springen
ich fahre aus der Stadt
auf diesem Hügel
schauert es mich,
hier stand einst der
Galgen
die Kinder sind aus dem Haus,
jetzt müsse
ein neuer Mann her,
sagt sie … im Kofferraum ein
Gipstorso vom Friedhof
im Hagebuttenstrauch
klemmt ein
verlassenes Nest …
wie es wohl
unseren Kindern geht?
das Gesicht meines
Schwagers im Videochat,
sein bildschirmfüllendes
Mienenspiel … ich kann
Gedanken lesen
meine verschneite Straße
in der Morgendämmerung –
nach dem Schneeschippen
der Nachbarn die tiefe Stille
in mir
an der Infotheke
des Baumarkts gebe ich
die Bestellung ab –
mit anderen Wartenden
wie um den Altar geschart
im Kinder-Fotoalbum
sucht sie ihr hässlichstes
Heulgesicht –
irgendwas
muss doch gewesen sein
das verschneite Dorf
am Ende der Straße …
für einen Tag
wäre ich gerne
zugedeckt
alle reden
von der Virus-Mutation
mir schnürt es den Hals zu
wenn ich an meine
restliche Lebenszeit denke
frühmorgens
der Lärm der nahen Straße
trotz der Homeoffice-
Empfehlung … der Wind
hat sich gedreht
eine rasante Schlittenpartie
mitten auf der Landstraße
mitten im Lockdown …
so viel in meinem Leben
ging glatt
was ist wichtiger,
fragt mein Mann nach einer
Beerdigung,
meine Musik perfekt oder
im Ensemble zu spielen?
magst du
ein Marmeladenglas
voll Schülerstaub haben,
fragt mein Sohn lachend,
kein Thema!
beim Aussortieren
erscheint seine ganze
Kindheit vor meinen Augen –
doch auch der
Abnabelungsprozess
ach ja, seufzt mein Liebster,
das Leben ist so schwer;
warum denn?, frage ich
lebt es sich nicht
von ganz allein?
Nachbarinnenschwatz
im Supermarkt
kurz vor Ladenschluss –
fasziniert starre ich auf ihre
pulsierende Maske
überfrierende Nässe
bei der Ankunft
im Elternhaus …
wir bestaunen die riesige
Mond-Aura
stundenlang Schneefall …
wir reden über Belangloses
und über die Kindheit –
keine Ahnung, warum ich
heulen muss
das elterliche
Hochzeitsalbum
ihr Kleid aus Fallschirmseide
das irgendwann
in der Mülltonne landete
die Geburt unseres
ersten Kindes, heißt es
in der Karte – das bedeutete doch,
sagt Mutter, einen
Hinterhalt
das Foto, auf dem
mich Mutter
glücklich an sich drückt …
mein Stirnrunzeln
gibt mir zu denken
manches ist schiefgelaufen,
sagt Mutter – ich weiß nicht,
ob ich sie mit meinen
statistischen Überlegungen
trösten kann
aus mir werde keine Dame,
sagte sie mir einst –
aber so kann ich
ungeniert
Secondhandkleidung tragen
sich möglichst schnell
abfinden, sagt Mutter,
und mir wird bewusst,
dass ich sie
nicht wirklich kenne
blaue Stunde
im verschneiten Garten
um 17:04 Uhr
denke ich an ein Kartenspiel
das Vater mochte
von Opas Schrebergarten
erfahre ich jetzt erst …
ob Oma im Sommer gern
eimerweise Erdbeeren
einkochte?
die Meinung meines Leserbriefes
teilt Mutter nicht …
von meinem Romanprojekt
hätte ich ihr
dennoch erzählen sollen
zwischen Tag und Traum
mein Vater kommt lachend
zur Terrassentür herein
ein blau verpacktes Geschenk
unter dem Arm
zwischen Traum und Tag
jeden Morgen
der innere Widerstreit
ob es mir gehört oder nicht,
mein Leben
er küsst mich
mit einem Aroma von Erdnussbutter
ich träume
vom erotischen Reiz,
der von Dieben ausgeht
(Einunddreißig.net 05/21)
sollte ich Mutter
häufiger anrufen?
die Zeit, denke ich,
wird mit zunehmendem Alter
dünner
im Kellerschacht
der Bekannten
ein verschneiter Spinnwebteppich …
hoffentlich wird mancher Schleier
nie gelüftet
am Holocaust-Gedenktag
spüre ich der Dichterin
Gertrud Colmar nach; ich lese
flüsternd, denn es sind Gedichte
aus Asche
die Neujahrsgrüße
des Oberbürgermeisters
auf Hochglanzpapier –
ich suche vergeblich
nach Zuversicht
ich kann nicht einschlafen
nach einem aufregenden Tag –
mein Mann spielt
das Abendlied noch nicht
fehlerfrei
ich habe mich angemeldet
im Häuserwahlkampf
und übe Formulierungen …
mürrische Menschen
machen mich nervös
größer, edler –
kein Vergleich zu der Zeit,
als mein wohlhabender Vater
die Vorzüge
von Aldi entdeckte
wir säubern die leeren
Schränke des Sohnes
ein paar verstreute Spielzeuge
zeugen von
versäumten Träumen
wie es klingt
das leere
Kinderzimmer –
der Nachhall
seiner Kindheit
unser Familientreffen
wird wieder fraglich …
andererseits sehe ich
dem Ende von Corona
mit gewissem Bangen entgegen
auch in diesem Jahr
blüht diese Osterglocke
schon an Lichtmess …
als könne sie die Dunkelheit
vertreiben
kommt zur Tür herein
und wirft sich aufs Sofa –
mein Sohn versteht nicht,
weshalb ich mich
überfallen fühle
sie hatte kein Heimweh,
sagt meine Tochter,
und auch ich empfinde,
als sei mit ihrem Auszug
alles Frühere fortgewischt
die Freundin postet
Südseebilder,
weil man nicht verreisen könne … mir
geht es
nicht so schlecht
jetzt lieben sie mich,
meine Enkelkinder,
sagt eine Bekannte,
seit ich ihnen
beim Homeschooling helfe
beim Aufwachen
sehe ich im Dachfenster,
dass die Bettdecke
mein schönstes
Gewand ist
die Tierheimleiterin
sagt tatsächlich adoptieren –
wird nun der Halter
des Hundes
zum Vater?
ich verteile
Partei-Flyer …
der Paketzusteller
im Stadtdorf sagt
Kollegin zu mir
Pippi Langstrumpf
wäre sie gern gewesen,
sagt die Bekannte,
aber es gehe auch
ohne Zöpfe
Fernweh …
nun redet sie Portugiesisch
mit ihrer Haushaltshilfe –
immer besser,
meint diese
der Mittagshimmel
hängt gelb
über dem Rheintal –
als hätte er in der Dämmerung
ein Sandlicht eingeschaltet
die Bekannte gibt mir
mein Arienheft zurück …
mir schwant,
dass ich es nicht mehr
verwenden werde
die Freundin schreibt,
dass ihr Mann sie nicht sehen will,
aus Angst vor Corona …
nun will sie selbst
niemanden sehen
beim Aufstehen
sage ich zu meinem Kissen:
bleibe gesund!
und tropfe
etwas Teebaumöl darauf
viel Schnee
fällt den ganzen Tag
ich sehe durch das Fenster
wie durch ein
Gitter
eine Freundin besuchen
wie sehr ich sie
vermisst habe,
bemerke ich jetzt,
ihre knarzenden Holzdielen
wir trinken Cappuccino
und teilen unseren Durst
auf Reisen
nun will sie mit mir
nach Japan
sie erinnert sich
an meine Feier zum fünfzigsten …
ich könne bald
zu planen beginnen
für meinen sechzigsten
im frostigen Schlafzimmer
ist meine Nase
wie die Rückenflosse
eines Hais
im warmen Ozean
der Schnee
kam über Nacht
zur Haustür herein –
beim Staubsaugen
mache ich einen Bogen
nächtliche Ukuleleklänge
unter meinem Schlafzimmer …
ich stelle mir
eine Tanzkneipe vor und sehe
den Drehschwüngen zu
ich mag die
transparenten Vorhänge
meiner Kundin …
ihr Zen-Garten
versinkt im Schnee
ist meine Heimat
ein Ort oder das Schreiben?