Lass uns ein Eis essen - Birgit Heid - E-Book

Lass uns ein Eis essen E-Book

Birgit Heid

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Beschreibung

Notizen aus 2021 in der japanischen Kurzgedichtform des Tanka. Das Tanka ist eine mindestens 1300 Jahre alte reimlose japanische Gedichtform mit fünf Zeilen. Ein Tanka konzentriert sich auf augenblickliche Ereignisse oder Beobachtungen, die mit weiterführenden Gedanken ergänzt werden.

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Inhalt

Vorbemerkung

Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

August

September

Oktober

November

Dezember

Vorbemerkung

Die vorliegenden Notizen wurden im Stil japanischer

Kurzgedichte, in Form von Tanka

verfasst. Das Tanka (jap. ist eine mindestens

1300 Jahre alte reimlose japanische

Gedichtform mit fünf Zeilen. Ein Tanka konzentriert

sich auf augenblickliche Ereignisse oder

Beobachtungen, die mit weiterführenden Gedanken

ergänzt werden.

Yoshimi Kondō (1913–2006) zählte zu den

wichtigsten japanischen Dichtern der Nachkriegszeit.

Er war Präsident des Verbandes der

Tanka-Dichter.

Im deutschen Sprachraum stellte das 1990

erschienene „Buch der Tanka-Dichtung“ die

erste länderübergreifende Anthologie dar. Nach

der Jahrtausendwende gewann das deutschsprachige

Tanka neue Qualität und Eigenständigkeit.

Mittlerweile hat sich ein kleiner Kreis

von Autor/innen etabliert, die sich intensiver mit

dem Tanka auseinandersetzen. Häufig finden

sich in Tanka Situationen aus dem Alltag, die

mit Humor und Augenzwinkern oder mit feiner

Melancholie gesehen werden.

Weitere Informationen:

Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Tanka),

Magazin Einunddreißig

(http://einunddreissig.net/)

Januar

letzter Spaziergang …

auf den Rebzeilen

liegt graue Dämmerung

bis zur Nacht –

ein kleines Feuerwerk

der weiße Himmel hängt

über dem Dachfenster

wenn ich aufwache ...

wie eine

Daunendecke

ich stricke einen

Pullover aus Wollresten

meiner Tochter …

lost heißt das neue

Jugendwort

am Wetterkreuz

Nebel und Raureif,

ich denke an einen Gruselfilm –

war da nicht

ein tiefer Glockenton?

im coronaleeren Stadtzentrum

hat nur das Reisebüro geöffnet …

eine Obdachlose

trottet vorbei

mit ihrem Hartschalenkoffer

die Bilder vom

Anschlag auf das US-Kapitol,

mir wird bewusst,

wie leicht zu ködern

wir Menschen sind

draußen das Geräusch

des Autofensterkratzens,

doch die Tauben gurren

dem kommenden Frühling

entgegen

ich liege lange wach

dann träume ich, dass ich

lange wach liege

und zu früh aufwache,

bevor ich zu früh aufwache

Parteimitglied …

ich bin inmitten junger Leute,

doch ihre Heilige sei,

sagen sie,

die alte Bistroinhaberin

ich will in die Wintersonne,

doch die Kinder kommen

zum Mittagessen …

zwei Tauben turteln

auf dem Dach

im Vorraum

der Stadtbibliothek

den schweren Band auf den Knien,

die Brille beschlagen …

ein steiler Pfad

ich recherchiere für einen

Mittelaltertext über ein

Kloster … kaum sind

die Figuren angelegt,

beginnen sie zu streiten

Abriss oder Neubau?

im modernen Anbau

des Historischen Museums

tropft Wasser durchs Dach –

seit der Titanic-Ausstellung

einen alten Song

höre ich bei einer Freundin

so berührend, ich denke

an eine Beerdigung –

huch, an meine eigene

in der Stadt fiel Schnee,

meine erwachsenen Kinder

tollen wie junge Hunde –

bevor sie

in die Badewanne springen

ich fahre aus der Stadt

auf diesem Hügel

schauert es mich,

hier stand einst der

Galgen

die Kinder sind aus dem Haus,

jetzt müsse

ein neuer Mann her,

sagt sie … im Kofferraum ein

Gipstorso vom Friedhof

im Hagebuttenstrauch

klemmt ein

verlassenes Nest …

wie es wohl

unseren Kindern geht?

das Gesicht meines

Schwagers im Videochat,

sein bildschirmfüllendes

Mienenspiel … ich kann

Gedanken lesen

meine verschneite Straße

in der Morgendämmerung –

nach dem Schneeschippen

der Nachbarn die tiefe Stille

in mir

an der Infotheke

des Baumarkts gebe ich

die Bestellung ab –

mit anderen Wartenden

wie um den Altar geschart

im Kinder-Fotoalbum

sucht sie ihr hässlichstes

Heulgesicht –

irgendwas

muss doch gewesen sein

das verschneite Dorf

am Ende der Straße …

für einen Tag

wäre ich gerne

zugedeckt

alle reden

von der Virus-Mutation

mir schnürt es den Hals zu

wenn ich an meine

restliche Lebenszeit denke

frühmorgens

der Lärm der nahen Straße

trotz der Homeoffice-

Empfehlung … der Wind

hat sich gedreht

eine rasante Schlittenpartie

mitten auf der Landstraße

mitten im Lockdown …

so viel in meinem Leben

ging glatt

was ist wichtiger,

fragt mein Mann nach einer

Beerdigung,

meine Musik perfekt oder

im Ensemble zu spielen?

magst du

ein Marmeladenglas

voll Schülerstaub haben,

fragt mein Sohn lachend,

kein Thema!

beim Aussortieren

erscheint seine ganze

Kindheit vor meinen Augen –

doch auch der

Abnabelungsprozess

ach ja, seufzt mein Liebster,

das Leben ist so schwer;

warum denn?, frage ich

lebt es sich nicht

von ganz allein?

Nachbarinnenschwatz

im Supermarkt

kurz vor Ladenschluss –

fasziniert starre ich auf ihre

pulsierende Maske

überfrierende Nässe

bei der Ankunft

im Elternhaus …

wir bestaunen die riesige

Mond-Aura

stundenlang Schneefall …

wir reden über Belangloses

und über die Kindheit –

keine Ahnung, warum ich

heulen muss

das elterliche

Hochzeitsalbum

ihr Kleid aus Fallschirmseide

das irgendwann

in der Mülltonne landete

die Geburt unseres

ersten Kindes, heißt es

in der Karte – das bedeutete doch,

sagt Mutter, einen

Hinterhalt

das Foto, auf dem

mich Mutter

glücklich an sich drückt …

mein Stirnrunzeln

gibt mir zu denken

manches ist schiefgelaufen,

sagt Mutter – ich weiß nicht,

ob ich sie mit meinen

statistischen Überlegungen

trösten kann

aus mir werde keine Dame,

sagte sie mir einst –

aber so kann ich

ungeniert

Secondhandkleidung tragen

sich möglichst schnell

abfinden, sagt Mutter,

und mir wird bewusst,

dass ich sie

nicht wirklich kenne

blaue Stunde

im verschneiten Garten

um 17:04 Uhr

denke ich an ein Kartenspiel

das Vater mochte

von Opas Schrebergarten

erfahre ich jetzt erst …

ob Oma im Sommer gern

eimerweise Erdbeeren

einkochte?

die Meinung meines Leserbriefes

teilt Mutter nicht …

von meinem Romanprojekt

hätte ich ihr

dennoch erzählen sollen

zwischen Tag und Traum

mein Vater kommt lachend

zur Terrassentür herein

ein blau verpacktes Geschenk

unter dem Arm

zwischen Traum und Tag

jeden Morgen

der innere Widerstreit

ob es mir gehört oder nicht,

mein Leben

er küsst mich

mit einem Aroma von Erdnussbutter

ich träume

vom erotischen Reiz,

der von Dieben ausgeht

(Einunddreißig.net 05/21)

sollte ich Mutter

häufiger anrufen?

die Zeit, denke ich,

wird mit zunehmendem Alter

dünner

im Kellerschacht

der Bekannten

ein verschneiter Spinnwebteppich …

hoffentlich wird mancher Schleier

nie gelüftet

am Holocaust-Gedenktag

spüre ich der Dichterin

Gertrud Colmar nach; ich lese

flüsternd, denn es sind Gedichte

aus Asche

die Neujahrsgrüße

des Oberbürgermeisters

auf Hochglanzpapier –

ich suche vergeblich

nach Zuversicht

ich kann nicht einschlafen

nach einem aufregenden Tag –

mein Mann spielt

das Abendlied noch nicht

fehlerfrei

ich habe mich angemeldet

im Häuserwahlkampf

und übe Formulierungen …

mürrische Menschen

machen mich nervös

größer, edler –

kein Vergleich zu der Zeit,

als mein wohlhabender Vater

die Vorzüge

von Aldi entdeckte

wir säubern die leeren

Schränke des Sohnes

ein paar verstreute Spielzeuge

zeugen von

versäumten Träumen

wie es klingt

das leere

Kinderzimmer –

der Nachhall

seiner Kindheit

unser Familientreffen

wird wieder fraglich …

andererseits sehe ich

dem Ende von Corona

mit gewissem Bangen entgegen

Februar

auch in diesem Jahr

blüht diese Osterglocke

schon an Lichtmess …

als könne sie die Dunkelheit

vertreiben

kommt zur Tür herein

und wirft sich aufs Sofa –

mein Sohn versteht nicht,

weshalb ich mich

überfallen fühle

sie hatte kein Heimweh,

sagt meine Tochter,

und auch ich empfinde,

als sei mit ihrem Auszug

alles Frühere fortgewischt

die Freundin postet

Südseebilder,

weil man nicht verreisen könne … mir

geht es

nicht so schlecht

jetzt lieben sie mich,

meine Enkelkinder,

sagt eine Bekannte,

seit ich ihnen

beim Homeschooling helfe

beim Aufwachen

sehe ich im Dachfenster,

dass die Bettdecke

mein schönstes

Gewand ist

die Tierheimleiterin

sagt tatsächlich adoptieren –

wird nun der Halter

des Hundes

zum Vater?

ich verteile

Partei-Flyer …

der Paketzusteller

im Stadtdorf sagt

Kollegin zu mir

Pippi Langstrumpf

wäre sie gern gewesen,

sagt die Bekannte,

aber es gehe auch

ohne Zöpfe

Fernweh …

nun redet sie Portugiesisch

mit ihrer Haushaltshilfe –

immer besser,

meint diese

der Mittagshimmel

hängt gelb

über dem Rheintal –

als hätte er in der Dämmerung

ein Sandlicht eingeschaltet

die Bekannte gibt mir

mein Arienheft zurück …

mir schwant,

dass ich es nicht mehr

verwenden werde

die Freundin schreibt,

dass ihr Mann sie nicht sehen will,

aus Angst vor Corona …

nun will sie selbst

niemanden sehen

beim Aufstehen

sage ich zu meinem Kissen:

bleibe gesund!

und tropfe

etwas Teebaumöl darauf

viel Schnee

fällt den ganzen Tag

ich sehe durch das Fenster

wie durch ein

Gitter

eine Freundin besuchen

wie sehr ich sie

vermisst habe,

bemerke ich jetzt,

ihre knarzenden Holzdielen

wir trinken Cappuccino

und teilen unseren Durst

auf Reisen

nun will sie mit mir

nach Japan

sie erinnert sich

an meine Feier zum fünfzigsten …

ich könne bald

zu planen beginnen

für meinen sechzigsten

im frostigen Schlafzimmer

ist meine Nase

wie die Rückenflosse

eines Hais

im warmen Ozean

der Schnee

kam über Nacht

zur Haustür herein –

beim Staubsaugen

mache ich einen Bogen

nächtliche Ukuleleklänge

unter meinem Schlafzimmer …

ich stelle mir

eine Tanzkneipe vor und sehe

den Drehschwüngen zu

ich mag die

transparenten Vorhänge

meiner Kundin …

ihr Zen-Garten

versinkt im Schnee

ist meine Heimat

ein Ort oder das Schreiben?