Last Mile - David Baldacci - E-Book
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Last Mile E-Book

David Baldacci

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Beschreibung

Der Memory Man ist zurück!

Seit einem Unfall kann Amos Decker, der Memory Man, nichts mehr vergessen. Fast wäre er an den unlöschbaren Bildern seiner traumatischen Vergangenheit zerbrochen. Aber nun hat er ein neues Lebensziel gefunden: Innerhalb einer Spezialeinheit des FBI klärt er ungelöste Schwerverbrechen. In seinem ersten Fall geht es um Melvin Mars, der seit zwanzig Jahren in der Todeszelle sitzt. Er soll seine eigenen Eltern ermordet haben. Doch Stunden vor seiner geplanten Exekution taucht ein Mann auf und behauptet, der Schuldige zu sein. Kann Decker ihm glauben? Ist Melvin Mars unschuldig und muss vor der Todesstrafe bewahrt werden? Oder wird ein hochgefährlicher Mörder auf freien Fuß gesetzt? Als ein Mitglied aus Deckers Team plötzlich spurlos verschwindet, zeigt sich bald, dass der Fall eine noch viel tiefergehende gesellschaftliche Sprengkraft birgt.

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Seitenzahl: 585

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DAVID BALDACCI

LAST MILE

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton

und Norbert Jakober

Das Buch

Seit einem Unfall kann Amos Decker, der Memory Man, nichts mehr vergessen. Fast wäre er an den unlöschbaren Bildern seiner traumatischen Vergangenheit zerbrochen. Aber nun hat er ein neues Lebensziel gefunden: Innerhalb einer Spezialeinheit des FBI klärt er ungelöste Schwerverbrechen. In seinem ersten Fall geht es um Melvin Mars, der seit zwanzig Jahren in der Todeszelle sitzt. Er soll seine eigenen Eltern ermordet haben. Doch Stunden bevor er endgültig die »Last Mile« antreten soll, den Weg zur Exekution, wendet sich das Blatt. Ein Mann ist aufgetaucht und behauptet, der Schuldige zu sein. Kann Amos Decker ihm glauben? Ist Melvin Mars wirklich unschuldig und muss vor der Todesstrafe bewahrt werden? Oder wird ein hochgefährlicher Mörder freigelassen? Als ein Mitglied aus Deckers Team plötzlich spurlos verschwindet, zeigt sich bald, dass der Fall größte gesellschaftliche Sprengkraft birgt.

Der Autor

David Baldacci, geboren 1960 in Virginia, arbeitete lange Jahre als Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist in Washington, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sämtliche Thriller von ihm landeten auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Mit über 110 Millionen verkauften Büchern in 80 Ländern zählt er zu den weltweit beliebtesten Autoren. Last Mile ist der zweite Band in seiner neuesten Bestsellerserie um den Memory Man Amos Decker.

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Last Mile bei Grand Central Publishing / Hachette Book Group Inc., New York
Copyright © 2016 by Columbus Rose, Ltd. Copyright © 2017 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Übersetzung: Uwe Anton Kapitel 1–10, Norbert Jakober Kapitel 11–Danksagung Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung der Motive von shutterstock / Stokkete, Mizzick Redaktion: Claudia Alt Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN 978-3-641-18212-0V002
www.heyne-verlag.de

Im Andenken an Alison Parker und Adam Ward,

zwei brillante Lichter, die viel zu früh

von uns genommen wurden.

Und für Vicki Gardner, deren Mut und Anstand

beflügelnde Belege für die Biegsamkeit

des menschlichen Geistes sind.

1

Mars, Melvin.

Hier drinnen rief man einen überall und jederzeit, indem man den Nachnamen zuerst nannte, und er antwortete stets prompt, wenn er den seinen hörte.

Selbst auf der Toilette. Als wäre er beim Militär, nur dass er da nie gewesen war. Hierher hatte man ihn auch gegen seinen ausdrücklichen Willen gebracht.

»Mars, Melvin?«

»Jawohl, Sir. Hier, Sir. Bin gerade beim Scheißen, Sir.«

Denn wo sollte ich sonst sein, Sir?

Er wusste nicht, warum sie das so handhabten, und hatte sich nie die Mühe gemacht, danach zu fragen. Die Antwort wäre für ihn von keinerlei Bedeutung gewesen. Und sie hätte dazu führen können, dass der Schlagstock eines Wachmanns gegen seine Schläfe donnerte.

Hier im Staatsgefängnis von Texas in Huntsville musste er sich mit anderen Dingen befassen. Es wurde wegen der roten Backsteine des Gebäudes die Walls Unit genannt. Eröffnet hatte man es 1849, es war damit das älteste Gefängnis im Lone Star State.

Und es beherbergte den Hinrichtungsraum.

Offiziell war Mars der Häftling 7-4-7, wie das Flugzeug. Die Wärter im Todeszellentrakt, aus dem er hergebracht worden war, nannten ihn deshalb »Jumbo«. An die Größe eines Jumbojets kam er zwar nicht heran, aber klein war er bestimmt nicht. Die meisten Leute sahen zu ihm auf, wenn auch nur, weil sie es mussten. Knapp eins neunzig, und morgens vielleicht noch mal zwei Zentimeter obendrauf.

Er kannte seine genaue Größe nur, weil sie sie in der National Football League penibel gemessen hatten. Dort hatten sie alles an ihm präzise gemessen. Als er das über sich ergehen ließ, hatte er im Geiste Vergleiche mit Sklaven auf dem Marktplatz gezogen. Bei denen hatten die potenziellen Besitzer die Ware auch immer methodisch abgetastet. Na ja, im Gegensatz zu seinen Sklavenvorfahren hätte er zumindest jede Menge Schotter gehabt, um sich mit dem Trümmerhaufen seines Körpers zu befassen, nachdem seine Tage als aktiver Spieler vorbei waren.

Er wog immer noch gut hundert Kilo. Kein Fett, nur Muskeln. Das war nicht leicht bei dem Scheißfraß, den sie ihm hier vorsetzten, hergestellt in großen Fabriken, voller Fett und Salz und auch voller Chemikalien, mit denen sie wahrscheinlich einfach alles von Beton bis Teppichen herstellten.

Ihr bringt mich langsam um mit eurem Scheißfraß.

Er war schon fast genauso lange hier drinnen, wie er draußen gelebt hatte.

Die Zeit war nicht schnell verstrichen. Es fühlte sich nicht wie zwanzig Jahre an. Eher wie zweihundert.

Aber das spielte keine Rolle mehr. Es würde bald vorbei sein. Das war der Tag.

Seine letzte, allerletzte Berufung.

Abgelehnt.

Er war tot.

Er war von den Todeszellen in der Haftanstalt Polunsky in Livingstone, sechzig Meilen weiter östlich, zum Gefängnis von Huntsville gebracht worden, in der Erwartung, dass der Staat ihn jetzt nach zwanzigjähriger Wartezeit kriegen würde. Das bleiche Gesicht seiner Anwältin war freudlos gewesen, als sie ihm die Nachricht überbracht hatte. Aber sie würde am nächsten Tag aufwachen.

Ich nicht.

Bald würde er auf das Geräusch der Schritte lauschen, die in seine Richtung kamen.

Dann auf das Keuchen der stämmigen Wärter, die die glänzenden Fußfesseln hielten.

Die ernsten Wärter, die einen Tag später seinen Namen vergessen haben würden.

Der fromme Mann Gottes, der seine Bibel festhielt und laut seine Verse las, weil man sich auf dem Weg hier heraus an etwas Geistliches klammern sollte. Nicht heraus aus dem Gefängnis, sondern aus dem Leben.

Texas richtete mehr Häftlinge als jeder andere Bundesstaat hin, über fünfhundert nur in den letzten dreißig Jahren. Fast hundert Jahre lang, seit 1819, hatte man die Delinquenten gehängt. Dann hatten sie den elektrischen Stuhl namens »Old Sparky« benutzt, und im Verlauf von vier Jahrzehnten waren 361 Häftlinge durch einen Stromschlag zu Tode gebracht worden. Nun benutzte Texas die Todesspritze, um einen ins Jenseits zu befördern.

So oder so, tot war tot.

Das Gesetz sah vor, dass Hinrichtungen nicht vor achtzehn Uhr beginnen konnten. Man hatte Mars gesagt, dass man ihn um Mitternacht holen würde. War doch toll, wenn man es hinauszögerte. Das passende Ende eines wirklich langen und wirklich beschissenen Tages.

Den lebenden Toten, so hatte man ihn genannt.

»Auf Nimmerwiedersehen!«, hatte er öfter von den Wärtern gehört, als er zählen konnte.

Er wollte nicht zurückschauen. Nicht zum Epizentrum der ganzen Sache.

Aber wie hätte er das vermeiden können?

Als die letzte Stunde also näher rückte, dachte er an sie.

An die Morde an Roy und Lucinda Mars, an seinen weißen Vater und seine schwarze Mutter.

Damals war diese Kombination seltsam gewesen, anders, sogar exotisch, ganz bestimmt im westlichen Texas. Jetzt war sie normal. Jeder Junge, der hier rein kam, sah aus wie Mischmasch aus fünfzig unterschiedlichen Menschentypen.

Ein gerade erst inhaftierter Pisser war das Produkt von gemischtrassigen Eltern, die wiederum ebenfalls Kinder nicht traditioneller Verbindungen gewesen waren. Also war der neue Junge – ein Idiot, der einen Ladenbesitzer wegen einer Tüte Twizzlers weggepustet hatte, die er hatte mitgehen lassen – eine Mischung aus Schwarz, Braun und Weiß, mit einem Sprenkel Asiat drin. Außerdem war er Muslim, obwohl Mars nie gesehen hatte, dass der Mann auf die Knie ging und fünfmal am Tag betete, wie einige hier es taten. Sein Name war Anwar. Er kam ursprünglich aus Colorado.

Und er hatte allen erzählt, dass er unbedingt Alexis werden wollte.

Mars setzte sich in der Schlafkoje in seiner Zelle auf und sah auf die Uhr. Es war an der Zeit für sein Programm. Zum allerletzten Mal.

Sein Overall war weiß, und auf dem Rücken standen die schwarzen Buchstaben D und R. Das bedeutete Death Row – Todestrakt. Mars setzte es mit dem Klappern einer Schlange gleich, das die anderen Insassen warnte, sich verdammt noch mal von ihm fernzuhalten.

Er ließ sich auf dem kühlen Betonboden nieder und machte zweihundert Liegestütze, zuerst auf den Fäusten, dann auf den Fingerspitzen und schließlich aus der Herabschauender-Hund-Stellung, wobei der Scheitel seines kahl geschorenen Kopfes bei jedem Durchlauf den Boden berührte. Danach machte er dreihundert Kniebeugen, immer in Einheiten von sechs Stück, wobei er versuchte, jede Wiederholung etwas energischer durchzuführen. Dann folgte Yoga und Pilates für die Kraft, das Gleichgewicht, den Bewegungsradius und, am wichtigsten, die Gelenkigkeit. Er konnte bei durchgestreckten Beinen die Stirn mit den Zehen berühren, keine geringe Leistung bei einem groß gewachsenen Mann mit sehnigen Muskeln.

Dann kamen die tausend Wiederholungen des Bauchmuskeltrainings, die seine Muskulatur wie mit Säure versengten. Sie waren der Grund, wieso er einen steinharten Waschbrettbauch und Sixpacks hatte. Sein Bauchnabel war so straff, dass er eher wie ein Leberfleck aussah als wie die Stelle, an der einst seine Nabelschnur befestigt gewesen war. Danach kam das Sprungtraining, bei dem er sich in einer Reihe von Übungen, von denen er viele selbst entworfen hatte, von allen vier Wänden und dem Fußboden abstieß.

Er war wie Spider-Man oder wie Fred Astaire, der an der Decke tanzte. Im Gefängnis hatte er viel Zeit, solche Einheiten zu planen. Sein Leben war sehr strukturiert, bot aber auch jede Menge Freizeit. Die meisten Häftlinge saßen einfach herum und taten nichts. Es gab keinen Unterricht, nicht die geringste Rehabilitation.

Das inoffizielle Gefängnismotto war eindeutig: Rehab ist was für Weicheier.

Schließlich lief Mars mit hochgezogenen Knien so lange auf der Stelle, dass er jedes Zeitgefühl verlor. Es war verrückt, dass er dieses Programm auch an diesem Tag absolvierte. Aber er hatte es so ziemlich jeden Tag durchgezogen, seit er im Knast war, und glaubte fest, dass es sein letzter Akt des Trotzes war. Das würden sie ihm nicht nehmen. Zumindest würde er nicht die traditionelle Henkersmahlzeit verweigern müssen, denn Texas bot schon lange keine mehr an. Er wollte am Ende nicht ihren Scheißfraß in sich haben. Er zog es vor, mit leerem Magen zu sterben.

Niemand hatte ihn besucht, denn es gab keinen, der ihn besuchen wollte. Er war allein, wie schon in den letzten zwanzig Jahren. Er fragte sich, was die Zeitungen am nächsten Tag schreiben würden. Wahrscheinlich würde es nur eine kleine Meldung geben. Es war keine große Nachricht, dass ein weiterer Schwarzer die Todesspritze erhielt. Verdammt, es war kaum ein Foto wert. Aber sie würden die Verbrechen aufzählen, wegen denen er verurteilt worden war. Das würden sie ganz bestimmt. Und das würde für viele das Einzige sein, weshalb sie sich an ihn erinnern würden.

Melvin Mars, der Mörder.

Er kühlte ab. Der Schweiß strömte aus seinen Poren und hinterließ Flecken auf dem Beton, der schon von viel Schlimmerem als Schweiß gezeichnet war. Man wusste von zum Tode Verurteilten, dass sie den Darm auf den Boden entleerten, bevor sie zu ihrer Hinrichtung geführt wurden.

Während seine Atmung sich normalisierte, setzte er sich auf die Pritsche und lehnte den Kopf gegen die Wand. In seiner alten Zelle hatte er die Wände Reed, Sue, Johnny und Ben genannt, nach dem Superhelden-Team Fantastic Four. So etwas tat man manchmal an einem Ort, an dem man nichts zu tun hatte. Jeden Tag füllte man mit dem aus, was einem gerade einfiel.

Mars hatte oft Fantasien über die sexy Sue Storm, doch er sah sich eher mit Ben Grimm verwandt, dem Ding, dem Außenseiter. Als Sportler war Mars in gewisser Hinsicht ebenfalls ein Außenseiter gewesen.

Doch er konnte auch nachdenklich sein, wie der kluge Reed.

Er fühlte sich auch zu der menschlichen Fackel Johnny Storm hingezogen, Sues jüngerem Bruder, weil er den Eindruck hatte, jede Sekunde an jedem Tag in Flammen zu stehen. Vorwiegend deshalb, weil die Tage hier alle gleich waren. Eigentlich die Hölle auf Erden, deshalb die Flammen.

Das war für ihn Tag 7342. Sein letzter Tag.

Er sah wieder auf die Uhr.

Noch fünf Zeigerumdrehungen bis zum Jüngsten Gericht.

Kurz nachdem er ins Gefängnis gekommen war, hatte er ein Jahr in Einzelhaft verbracht. Der Grund dafür war einfach. Sein Leben war vorbei, seine Träume lagen in Trümmern, die ganze Schufterei war vergebens gewesen, und er war so unendlich angepisst gewesen.

Seine Strafe dafür, drei Mithäftlingen die Scheiße aus dem Leib geprügelt und sich dann ein halbes Dutzend Wärter vorgenommen und ihnen standgehalten zu haben, bis sie ihn schließlich mit einem Taser bearbeiteten und fast totschlugen? Ein Jahr lang vierundzwanzig Stunden am Tag in einer fünf Quadratmeter großen Zelle mit einem Schlitz als Fenster. Niemand sprach mit ihm. Er sah nie ein anderes Gesicht. Spürte nie die Berührung der Haut eines anderen. Sein Essen wurde ihm durch den Türschlitz hereingeschoben, zusammen mit Toilettenpapier, gelegentlich einem Waschlappen und Seife und noch gelegentlicher sauberer Gefängniskleidung.

Er duschte in einer Ecke, und das Wasser war entweder eiskalt oder sengend heiß. Er schlief auf dem Boden, murmelte vor sich hin, schrie, fluchte und schluchzte schließlich. Ihm wurde klar, dass Menschen auf Gedeih und Verderb soziale Wesen waren. Ohne Kontakt zu anderen wurden sie wahnsinnig.

Und Mars wäre in dieser Zelle fast wahnsinnig geworden. Es war am Tag 169 gewesen. Er erinnerte sich ganz genau daran, hatte sogar die Zahlen mit blutigen Fingernägeln in die Wand gekratzt. Sein Verstand war so gut wie verschwunden, nur ein Fetzen war davon geblieben. Und er hatte diesen Fetzen benutzt wie eine Schwimmweste in einem Tsunami; er war sein Hafen im Sturm. Er hatte sich auf eine imaginäre alte Freundin konzentriert, Tatiana. In seiner Vorstellung war sie jetzt verheiratet und hatte sechs Kinder, breite Hüften und war aufgegangen, verdrossen und unglücklich und vermisste ihn deshalb gewaltig. Aber damals war diese imaginäre Person perfekt gewesen. Ihr Gesicht, ihr Körper, ihre grenzenlose Liebe für ihn ermöglichten es ihm, Tag 169 zu überleben und weitere 196 durchzustehen.

Als sich die Tür öffnete, war das erste Gesicht, das er sah, Tatianas, das den Körper eines hundertdreißig Kilo schweren rassistischen Albtraums von einem jungen Wärter überlagerte, der passenderweise Big Dick genannt wurde und Mars sagte, er solle seinen Mulattenarsch hochschaffen, sonst würde er den Rest seines Lebens nur mit einem Strohhalm essen können.

Und als es vorüber war, war Melvin Mars ein anderer Mensch geworden. Er hatte nie wieder etwas getan, das ihn dorthin zurückbringen würde. Er wusste, sollte er so etwas tun, würde er sich damit umbringen. Dann würde er nicht mehr auf den Hinrichtungsraum warten müssen.

Hinrichtungsraum.

Er lag am Ende des Ganges. Die letzte Meile, nannten sie ihn. Doch es war keine Meile. In Wirklichkeit waren es nur zehn Meter, was gut war, weil die meisten Verurteilten zusammenbrachen, bevor sie dort ankamen. Aber sie hatten kräftige Wärter, die einen hochhoben und den Rest des Weges trugen.

Texas brachte einen um, ob man es nun tapfer hinnahm oder nicht.

Das oberste Bundesgericht hatte über die grausamen und ungewöhnlichen Aspekte des Tods durch eine Injektion verhandelt, weil es ziemlich viele Beispiele gegeben hatte, bei denen die Häftlinge schreckliche Qualen gelitten hatten, bevor sie starben. Das Gericht war zu dem Schluss gekommen, mit den Hinrichtungen weiterzumachen, die Qualen aber zu vermeiden. Schließlich hatten die Opfer der Verurteilten auch schreckliche Schmerzen und Furcht erlitten. Wer konnte also behaupten, dass das falsch war? Er hoffte einfach, dass sie es bei ihm nicht vermasselten.

Der Hinrichtungsraum war nicht groß, drei mal vier Meter, mit heiteren türkisfarben gestrichenen Ziegelmauern und einer Metalltür, was einem angesichts des Zwecks der Kammer ziemlich unpassend vorkam. Dort trat man keinen Karibikurlaub an, sondern wurde hingerichtet.

Die mobile Krankenliege verfügte über ein bequemes Kissen und robuste Lederriemen und befand sich in der Mitte des Raums. Es gab zwei Nachbarräume, aus denen man durch Einwegscheiben in die Kammer sehen konnte. Der eine war für die Familie des Opfers, der andere für die des Delinquenten.

Mars wusste, dass die Gruppen in seinem Fall ein und dieselbe waren. Und er wusste auch, dass beide Räume leer bleiben würden.

Er lehnte sich auf seiner Pritsche zurück und sog den Gestank seines eigenen Schweißes ein, und sein Geist trieb zurück zu den einzigen guten Erinnerungen, die ihm noch geblieben waren.

Er hatte in der Welt des College-Footballs nicht zu den schwersten Brocken gehört, doch für einen Runningback war er recht stattlich gebaut. Noch wichtiger war, dass er Talent hatte. Die NFL war eine sichere Sache für jemanden wie ihn. Er gehörte in seinem letzten Jahr auf dem College zu den Finalisten derHeisman Trophy, als einziger Halfback in der Gruppe. Die anderen waren alle Quarterbacks gewesen. Er konnte quer laufen, um Gegenspieler herum oder einfach durch alle hindurch. Er konnte blocken, und seine weichen Hände konnten den Ball fangen, der aus dem Rückfeld kam. Und fast immer ließ er den ersten Gegenspieler mit einer instinktiven seitlichen Bewegung ins Leere laufen, eine seltene Begabung, die bei den NFL-Gurus sehr begehrt war.

Wenn er den Turbo einschalten musste, ließ er ihn aufflammen und war weg. Nachdem er dann die Punkte gemacht hatte, musste er dem Schiedsrichter nur noch den Ball geben und sich vom Trainer an der Seitenlinie den Hintern tätscheln lassen.

Seine offiziell gemessene Zeit auf vierzig Yard lag bei 4,31 Sekunden. Vor zwanzig Jahren war das eine ausgezeichnete Geschwindigkeit gewesen, selbst für einen Cornerback oder Receiver, ganz zu schweigen von einem Ungeheuer von Runningback mit Schultern so breit wie der Himmel, dessen Job es war, den gegnerischen Verteidigungsriegel zu knacken. Und das galt selbst heute noch als außergewöhnlich gute Zeit.

Ein Gottesgeschenk war es. Er war das Gesamtpaket. Ein Freak der Natur, so hatten sie ihn genannt.

Er spürte, wie sich ein Lächeln auf seinem verschwitzten Gesicht ausbreitete.

Ja, das war seine Chance gewesen, sein Leben. Ein Leben mit einem fetten Gehalt. Das war lange gewesen, bevor die Verdienstobergrenzen für Neulinge eingeführt worden waren. Er hätte vom ersten Tag an gutes Geld machen können, Millionen von Dollar. Eine Villa, Autos, Frauen, Respekt.

Er würde garantiert seinen Weg von Anfang an machen, sagten alle. Zählte wahrscheinlich zu den fünf besten des Jahres. Er würde wahrscheinlich noch vor den Quarterbacks verpflichtet werden, die ebenso wie er Anwärter auf die Heisman Trophy gewesen waren. Es gingen die Gerüchte, dass die New York Giants, die ein paar beschissene Jahre hinter sich hatten, und die Tampa Bay Bucs, die viele beschissene Jahre hinter sich hatten, und die beide auf die Verpflichtung von neuen Talenten setzten, liebend gern die Brieftaschen ihrer wohlhabenden Besitzer geöffnet und ihn auf der Stelle verpflichtet hätten. Verdammt, vielleicht hätte er eines Tages sogar den Superbowl gewonnen. Alles sah prima aus. Er hatte sich den Arsch dafür aufgerissen. Ihm war nichts geschenkt worden. Die Hürden waren gewaltig gewesen. Er hatte sie alle genommen.

Und dann hatten die Geschworenen gesprochen. »Wir befinden den Angeklagten für schuldig.« Und niemand in der Welt des professionellen Football gab noch einen Dreck auf Mars, Melvin, der die vierzig Yard in 4,31 Sekunden lief.

Der Jumbo hatte eine Bruchlandung hingelegt.

Es gab keine Überlebenden.

Und in ein paar Minuten würde es auch von ihm nichts mehr geben. Man würde ihn auf einem Armenfriedhof beisetzen, weil er niemanden mehr hatte, der ihn anständig unter die Erde bringen konnte.

In zwei Monaten wäre er zweiundvierzig geworden. Wie sich herausstellte, war sein einundvierzigster Geburtstag sein letzter gewesen.

Er sah wieder auf die Uhr. Die Zeit war abgelaufen. Seine Uhr verriet ihm das, und auch der Klang der Schritte, die sich auf dem Gang näherten.

Er hatte schon längst seinen Frieden gemacht. Er würde wie ein Mann sterben. Aufrecht, erhobenen Hauptes.

Plötzlich hatte er einen Kloß im Hals, und seine Augen wurden feucht. Er versuchte, normal zu atmen, sich zusammenzureißen. Das war’s. Er schaute sich in der Zelle um und sah die Mauern seiner Todeszelle in der Haftanstalt Polunsky.

Bis dann, Sue, du tolle Frau. Adios, Johnny. Viel Glück, Ben. Pass auf dich auf, Reed.

Er stand auf und lehnte den Kopf gegen die Wand, vielleicht um sich aufrechter zu halten.

Als würdest du einschlafen, Mann. Du wachst nur nicht mehr auf, das ist alles. Als würdest du einschlafen.

Die Zellentür wurde geöffnet, und er sah die Männer, die dort standen. Drei in Anzügen und vier in Uniform. Die in den Anzügen wirkten entsetzt, die in Uniform angefressen.

Mars bemerkte das sofort, und auch, dass keiner der Typen in den Anzügen eine Bibel dabeihatte.

Irgendetwas stimmte eindeutig nicht.

Der Mann mit der schmalen Brille und einem entsprechenden Körperbau trat behutsam in die Zelle, als rechnete er damit, dass die Tür hinter ihm ins Schloss fiel und er auf ewig hier gefangen sein würde.

Mars konnte das Gefühl durchaus nachempfinden.

Die Mienen der anderen Männer in Anzügen waren jetzt wachsam, als wüssten sie, dass hier irgendwo eine Bombe tickte, hätten aber keine Ahnung, wann sie hochgehen würde.

Der mit der schmalen Brille räusperte sich. Er schaute auf den Boden, zur Wand, zur Decke, zu der Lampe hoch oben unter der Decke, überallhin, nur nicht zu Mars. Es war, als wäre der große, verschwitzte, dunkelhäutige Typ, der anderthalb Meter vor ihm stand, unsichtbar.

Er räusperte sich erneut. Für Mars klang es, als würde der ganze Schlamm in der größten Kläranlage der Welt hin und her geschoben werden.

Der mit der schmalen Brille sah wieder zu Boden. »Es hat in Ihrem Fall eine unerwartete Entwicklung gegeben«, sagte er. »Ihre Hinrichtung wurde abgesagt.«

Mars, Melvin erwiderte nichts darauf.

2

Er trug immer noch den weißen Overall mit der Warnung auf dem Rücken, doch irgendetwas fehlte. Man hatte ihn von seiner Zelle in diesen Raum gebracht, ohne ihm die Fußketten anzulegen, das erste Mal in diesem Gefängnis. Trotzdem säumten für den Fall, dass er widerspenstig wurde, ein halbes Dutzend Wärter die Wand.

Vier Männer saßen ihm gegenüber. Er kannte keinen von ihnen. Alle waren weiß und trugen ausgebeulte Anzüge. Der jüngste war etwa in seinem Alter. Sie machten den Eindruck, als wären sie lieber überall sonst, nur nicht hier.

Sie musterten Mars. Und er erwiderte ihre Blicke genauso durchdringend.

Er würde nichts sagen. Sie hatten ihn zu der Party eingeladen, und sie würden mit der Musik anfangen müssen.

Der Mann in der Mitte schob ein paar Papiere auf dem Tisch vor ihm hin und her. »Sie fragen sich bestimmt, was hier vor sich geht, Mr. Mars.«

Mars neigte leicht den Kopf, sagte aber immer noch nichts. Er hatte nicht mehr gehört, dass ein Weißer ihn »Mister« nannte, seit … Verdammt, er konnte sich nicht daran erinnern, dass ein Weißer ihn je so genannt hatte. Bei der NFL hatten sie ihn einfach »Holy Shit« genannt. Im Gefängnis hatten sie ihn genannt, wie sie wollten.

»Tatsache ist«, fuhr der Mann fort, »dass jemand gestanden hat, die Morde begangen zu haben, für die Sie verurteilt wurden.«

Mars blinzelte ein paarmal und setzte sich aufrechter. Er legte die großen Hände, die weiche Ziele für viele Quarterbacks gewesen waren, auf den Tisch.

»Wer?« Seine Stimme klang seltsam unvertraut, als würde jemand anders für ihn sprechen.

Der Mann schaute zu einem seiner Kollegen, der älter war als die anderen und aussah, als hätte er hier das Sagen. Dieser Mann nickte dem Jüngeren zu.

»Sein Name ist Charles Montgomery«, sagte der erste Mann.

»Wo ist er?«

»In einem Staatsgefängnis in Alabama. Ihn erwartet ebenfalls die Hinrichtung. Wegen anderer Verbrechen, die nichts damit zu tun haben.«

»Glauben Sie, dass er es getan hat?«, fragte Mars.

»Wir ermitteln noch.«

»Was weiß er? Über die Morde?«

Der Mann sah wieder den Älteren an. Diesmal wirkte der Bursche unentschlossen.

Mars spürte das und sah ihn an. »Warum sonst hätten Sie meine Hinrichtung gestoppt? Weil irgendein Sträfling in Alabama gesagt hat, er sei’s gewesen? Das glaube ich nicht. Er muss etwas gewusst haben. Das nur der wahre Mörder wissen konnte.«

Der ältere Mann nickte und schien Mars in einem neuen und günstigeren Licht zu sehen. »Das hat er«, sagte er. »Gewisse Dinge, die nur der Mörder gewusst haben konnte. Da haben Sie völlig recht.«

»Na schön, das ergibt Sinn.« Mars atmete tief ein. Trotz seiner Worte konnte er nicht ganz verarbeiten, was die Männer ihm sagten.

»Kennen Sie Mr. Montgomery?«, fragte der erste Mann.

Mars richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. »Nie von ihm gehört, bis Sie gerade seinen Namen genannt haben. Warum?«

»Wir versuchen nur, gewisse Fakten zu bestätigen.«

Mars nickte wieder. Er wusste genau, auf welche »Fakten« dieser Bursche hinauswollte. Hatte Mars Montgomery angeheuert, um seine Eltern zu töten?

»Ich kenne ihn nicht«, sagte er nachdrücklich und ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Und was jetzt?«

»Sie werden in Haft bleiben, bis gewisse Dinge … bestätigt wurden.«

»Und was, wenn Sie sie nicht bestätigen können?«

»Sie sind rechtskräftig wegen Mordes verurteilt worden, Mr. Mars«, sagte der ältere Mann. »Dieses Urteil hat gegen Berufungen im Lauf vieler Jahre Bestand gehabt. Sie sollten heute Abend hingerichtet werden. Das alles kann nicht in ein paar Stunden rückgängig gemacht werden. Man muss dem Verfahren Zeit geben, in die Gänge zu kommen.«

»Wie lange wird es dauern, bevor dieses Verfahren seine Wunderkraft bewirkt?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen jetzt keinen genauen Zeitplan nennen. Ich wünschte, ich könnte es, aber das ist unmöglich. Ich kann Ihnen sagen, dass wir Leute nach Alabama geschickt haben, damit sie Mr. Montgomery eingehender befragen. Was das betrifft, haben die texanischen Behörden die Ermittlungen wiederaufgenommen. Ich kann Ihnen versichern, wir tun alles in unserer Macht Stehende, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun.«

»Tja, wenn er sagt, dass er meine Eltern ermordet hat und ich trotzdem noch im Gefängnis bin und auf den Tod warte, würde ich sagen, dass der Gerechtigkeit nicht Genüge getan wird.«

»Sie müssen Geduld haben, Mr. Mars.«

»Ich habe zwanzig Jahre lang genug Geduld gehabt.«

»Dann wird etwas mehr Zeit Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten.«

»Weiß meine Anwältin davon?«

»Sie wurde informiert und ist in diesem Moment bereits auf dem Weg zu Ihnen.«

»Sie sollte an dieser Ermittlung beteiligt sein.«

»Das wird sie auch. Wir wollen hier komplette und vollständige Transparenz. Nicht weniger. Noch einmal, unser Ziel ist es, die Wahrheit herauszufinden.«

»Ich bin fast zweiundvierzig. Was ist mit all den verlorenen Jahren meines Lebens? Wer wird dafür bezahlen?«

Das Gesicht des Mannes versteinerte, sein Tonfall dienstfertiger. »Wir müssen uns auf professionelle Weise mit einer Sache nach der anderen befassen. So wird es ablaufen.«

Mars wandte den Blick ab, blinzelte schnell. Er bezweifelte, dass diese Typen, wären sie an seiner Stelle, die Sache so ruhig und professionell angehen würden. Sie würden Zeter und Mordio schreien und drohen, jeden zu verklagen, der auch nur im Entferntesten damit zu tun hatte. Aber er sollte eins nach dem anderen in Angriff nehmen. Geduldig sein. Das sollte ihm keine Unannehmlichkeiten bereiten.

Zum Teufel mit euch!

Er wollte in seine Zelle zurück, dem einzigen Ort, in dem er sich wirklich sicher fühlte. Er stand auf.

Die Männer wirkten überrascht.

»Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie das alles geklärt haben, okay?«, sagte Mars. »Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«

»Wir haben eigentlich noch ein paar Fragen an Sie, Mr. Mars«, sagte der erste Mann.

»Die können Sie mir in Anwesenheit meiner Anwältin stellen«, sagte er. »Schluss mit dem Gequatsche. Wie ich es sehe, sind Sie jetzt am Zug. Sie wissen alles über mich und die Anklage gegen mich. Jetzt müssen Sie das über diesen Montgomery in Erfahrung bringen. Wenn er meine Eltern ermordet hat, will ich hier raus. Je schneller, desto besser.«

Die Wärter brachten ihn in seine Zelle zurück. Später an diesem Morgen wurde er mit einem Gefangenentransporter zurück in den Todestrakt im Staatsgefängnis Polunsky gebracht.

Als er zu seiner alten Zelle geführt wurde, flüsterte einer der Wärter ihm zu: »Du glaubst, du kommst hier raus, Boy? Da irrst du dich gewaltig, ganz egal, was die hohen Tiere sagen. Du bist ein Mörder, Jumbo. Und du wirst für deine Verbrechen bezahlen.«

Mars ging weiter. Er drehte nicht einmal den Kopf, um den Mann anzusehen, einen dürren Mistkerl mit einem großen Adamsapfel. Er hatte Mars schon öfter ohne jeden Grund mit seinem Schlagstock einen harten Hieb in den Rücken verpasst. Oder ihm ins Gesicht gespuckt, wenn niemand hinsah. Doch wenn Mars sich zur Wehr setzen sollte, würde er auf ewig hier versauern, ganz gleich, was aus diesem Montgomery in Alabama werden würde.

Die Zellentür schlug zu, und Mars fiel mit seltsam wackligen Beinen eher auf seine Pritsche, als dass er sich setzte.

Sofort raffte er sich wieder auf, lehnte sich aus Macht der Gewohnheit mit dem Rücken an die Betonwand und sah zur Tür. Niemand konnte ihn durch Beton angreifen, aber mit der Tür war es eine andere Sache.

Im Geiste ließ er alles, was in den letzten zehn Stunden geschehen war, noch einmal Revue passieren.

Seine Hinrichtung sollte stattfinden. Er war darauf vorbereitet, zumindest so sehr, wie man es sein konnte.

Und dann war sie abgeblasen worden. Doch konnten sie ihn trotzdem noch hinrichten, wenn sie nicht überzeugt waren, dass dieser Kerl in Alabama der Mörder war? Er wusste, dass die Antwort auf diese Frage verdammt noch mal wahrscheinlich Ja lautete.

Leg dich nicht mit Texas an.

Er schloss die Augen. Er war sich nicht ganz sicher, welche Gefühle er jetzt haben sollte. Sollte er glücklich, nervös, erleichtert, besorgt sein?

Tja, er empfand das alles zugleich. In erster Linie fühlte er jedoch, dass er diesen Ort irgendwie niemals verlassen würde, ganz gleich, was die »Ermittlung« ergab.

Er war nicht fatalistisch, einfach nur realistisch.

Er fing an, leise zu singen, sodass die Wärter es nicht hören konnten. Vielleicht war das unter diesen Umständen dumm, doch es fühlte sich trotzdem richtig an.

Oh when the saints, oh when the saints, oh when the saints go marching in, oh Lord I want to be in that number, when the saints go marching in.

3

Am letzten Tag des Jahres saß Amos Decker in seinem Mietwagen in der Schlange am Drive-in-Schalter eines Burger King in der Nähe der Grenze von Ohio und Pennsylvania und überlegte, was er bestellen sollte.

Die meisten seiner Besitztümer lagen auf dem Rücksitz und im Kofferraum des Wagens. Ein paar Habseligkeiten hatte er noch in einem Lagerraum in Burlington. Er konnte sich nicht von ihnen trennen, hatte aber auch nicht genug Platz, um sie mitzunehmen.

Er war ein groß gewachsener Mann, eins fünfundneunzig und irgendwo um die hundertfünfzig Kilo – die genaue Zahl hing davon ab, wie viel er bei einer Mahlzeit verdrückte. Er war ein ehemaliger College-Footballspieler mit einem kurzen Auftritt in der NFL. Dort hatte ein heftiger Zusammenstoß seine Karriere beendet, seinen Verstand verändert und ihm ein fast perfektes Gedächtnis verliehen. Hyperthymesie lautete der Fachausdruck dafür.

Das klang cool.

War es aber nicht.

Doch es war nichts im Vergleich dazu gewesen, eines Abends sein Haus zu betreten und seine Frau, seine Tochter und seinen Schwager brutal ermordet vorzufinden. Der Mörder weilte nicht mehr unter den Lebenden. Dafür hatte Decker gesorgt. Aber der Abschluss dieses Falls hatte ihn auch dazu gebracht, von Burlington, Ohio, nach Virginia zu ziehen und einen einzigartigen Job beim FBI anzunehmen.

Er wusste immer noch nicht, was er davon halten sollte. Also bestellte er zwei Whopper, zwei große Portionen Pommes und eine so große Cola, dass er sie kaum mit seiner riesigen Pranke halten konnte. Wenn er besorgt war, aß er.

Er fuhr auf den Parkplatz und schlang die Mahlzeit hinunter. Das Salz auf den Pommes klebte an seinen Fingern und rieselte auf seinen Schoß. Draußen schneite es leicht. Er hatte die Reise spät angetreten und war müde, also würde er heute nicht viel weiter fahren. Er würde sich im Keystone State ein Motelzimmer nehmen und die Fahrt am nächsten Tag beenden.

Special Agent Ross Bogart, für den er beim FBI arbeiten würde, hatte ihm gesagt, dass das Bureau seine Reisekosten innerhalb eines vernünftigen Rahmens übernehmen würde. Er hatte Decker sogar angeboten, ihn nach Virginia fliegen zu lassen, doch Decker hatte abgelehnt. Er wollte fahren. Wollte etwas Zeit für sich haben. Beim FBI würde er mit einer Frau zusammenarbeiten, die er in Burlington kennengelernt hatte, einer Journalistin namens Alexandra Jamison. Sie hatte sich während der Ermittlungen in der Mordsache an seiner Familie als ziemlich clever erwiesen, woraufhin Bogart sie als Angehörige seines ungewöhnlichen Teams haben wollte.

Bogart hatte Decker schon in Burlington die Einzelheiten erläutert, wie er sich dieses Team vorstellte. Es würde in der FBI-Niederlassung in Quantico seinen Sitz haben und FBI-Agenten und Zivilisten mit besonderen Fähigkeiten zusammenbringen, um kalte Fälle wieder zu öffnen und hoffentlich aufzuklären.

Vielleicht werden wir ein Team von Sonderlingen sein, dachte Decker.

Er wusste nicht genau, was er davon halten sollte, zur Ostküste zu ziehen und praktisch neu anzufangen. Aber in Burlington war ihm nichts mehr geblieben. Warum also nicht? Zumindest hatte er letzte Woche so gedacht. Jetzt war er nicht mehr so zuversichtlich.

Weihnachten war gekommen und gegangen. Heute war Silvester. Die Leute feierten und begrüßten das neue Jahr. Decker gehörte nicht zu ihnen. Er hatte nichts zu feiern, trotz des neuen Jobs und des neuen Lebens. Er hatte seine Familie verloren. Nichts konnte sie ersetzen, also würde er nie wieder etwas zu feiern haben.

Er warf die Papiertüte mit dem Abfall in einen Mülleimer auf dem Parkplatz, stieg wieder in den Wagen und fuhr weiter. Er schaltete das Radio ein. Als er den örtlichen Sender gefunden hatte, kam gerade die stündliche Nachrichtensendung. Die erste Meldung beschäftigte sich mit einem zum Tode verurteilten Häftling, dessen Leben, so melodramatisch es auch klang, in allerletzter Minute verschont worden war.

Ein Weihnachtsgeschenk in letzter Sekunde, sagte der Nachrichtensprecher.

Der Name des Mannes war Melvin Mars. Er war vor mehr als zwanzig Jahren wegen des Mordes an seinen Eltern verurteilt worden. All seine Berufungen waren abgewiesen worden, und der Staat Texas war bereit, den Mann als Strafe für seine Verbrechen vom Leben zum Tode zu befördern.

Aber verblüffende neue Beweise seien ans Licht gekommen, sagte der Sprecher.

Ein Häftling in Alabama hatte die Verbrechen gestanden und angeblich Einzelheiten genannt, die nur der wirkliche Mörder kennen konnte. Mars, ein ehemaliger College-Footballer, Finalist der Heisman Trophy und Top-Kandidat für die National Football League, war zurzeit noch hinter Gittern und wartete die Ergebnisse der gerade in die Wege geleiteten Ermittlung ab. Doch sollte diese Ermittlung das Geständnis bestätigen, fuhr der Sprecher fort, würde man Melvin Mars nach zwei Jahrzehnten Haftzeit freilassen. Sein Traum von der NFL war natürlich vorbei, doch vielleicht würde ihm endlich Gerechtigkeit widerfahren, wenn auch ein wenig spät.

Verdammt, dachte Decker, als er das Radio wieder ausschaltete. Tolle Gerechtigkeit für Melvin Mars.

Dann begann sein Verstand zu surren, und seine Erinnerungen blitzten in ordentlicher chronologischer Ordnung auf, obwohl Decker seine Hyperthymesie eigentlich gar nicht brauchte, um sich an diese Sache zu erinnern.

Melvin Mars war damals der Star unter den Runningbacks der University of Texas gewesen. Die Longhorns waren in der letzten Woche der regulären Spielzeit gegen Deckers Team angetreten, die Buckeyes von der Ohio State. Das Spiel war bundesweit im Fernsehen übertragen worden. Decker war der Linebacker seiner Mannschaft gewesen. Er war groß für einen Linebacker und ein guter, aber kein herausragender Spieler gewesen. Er hatte die Größe, Kraft und Zähigkeit, aber nicht die Schnelligkeit und die Athletik der wirklich überdurchschnittlichen Spieler.

Mars hatte an diesem Nachmittag Decker und den Buckeyes das Leben vermiest. Texas hatte mit einem Mordsvorsprung von fünf Touchdowns gewonnen und der Ohio State jede Chance auf die Teilnahme an der nationalen Meisterschaft genommen.

Mars selbst hatte viermal gepunktet. Dreimal, indem er durchgelaufen war, und einmal mit einem eleganten Catch-and-Run, der seinen Ausgangspunkt an der 35-Yard-Linie der Buckeyes nahm. Decker erinnerte sich gut daran. Wenn Mars aus dem Rückfeld gekommen war, hatte er ihn attackieren müssen.

Er hatte Mars mit allem getroffen, was er hatte, sobald der den Ball gefangen hatte. Doch Mars war es irgendwie gelungen, auf den Beinen zu bleiben. Er hatte mit zwei Finten zuerst den Corner und dann den Safety aus dem Spiel genommen und dann einen weiteren Safety überlaufen, der fast aus dem Toraus kam, während Decker dreißig Yard auf dem Feld hinter ihm war. Mars schien ihn zum fünften Mal an diesem Tag überlistet zu haben. Wie sein Coach später klarstellte, als sie die Aufzeichnung des Spiels analysierten, war es das zehnte Mal gewesen.

Decker war nach diesem Fehlversuch auf die Bank geschickt worden. Die Longhorns führten bei kaum noch sechs Minuten Spielzeit mit 28 Punkten. Sie machten noch einen weiteren Punkt, als sie den Ball bei einem Angriff der Buckeyes abfingen. Es war erneut Mars, der ihren losrennenden Linebacker traf, einen Felsbrocken namens Eddie Keyes, der später zwölf Jahre bei den Forty-Niners spielte – und zwar so hart, dass der Mann zurück in die Endzone geworfen wurde, als Mars den letzten Punkt des Tages machte.

Melvin Mars.

Decker hatte ebenfalls gedacht, der Bursche wäre ein sicherer Kandidat für die NFL. Es hatte Schlagzeilen gemacht, als er dann verhaftet worden war. Aber Decker hatte hart an seiner eigenen Karriere gearbeitet, und die Verhaftung und Verurteilung von Melvin Mars war schließlich in Vergessenheit geraten.

Zwanzig Jahre im Gefängnis. Für ein Verbrechen, das er womöglich nicht begangen hatte.

Ein anderer hatte gestanden. Kannte Einzelheiten, die nur der wahre Mörder wissen konnte.

Das ähnelte den Morden an Deckers Familie so sehr, dass nicht einmal sein einzigartiger Verstand sich mit der Möglichkeit befassen konnte, wie unwahrscheinlich dieser Zufall war.

Er fuhr durch Pennsylvania und dann in südliche Richtung nach Maryland und schließlich Virginia. Er legte keine Pause ein, um zu schlafen. Sein Verstand war aufmerksam und wach und arbeitete.

Er dachte an Melvin Mars.

Ein Name aus der Vergangenheit.

Decker glaubte nicht an das Schicksal, nicht einmal an seinen kleinen Vetter, den glücklichen Zufall.

Und doch hatte er das Radio genau in diesem Moment eingeschaltet. Wenn er für seine Mahlzeit ein paar Minuten länger gebraucht hätte oder noch pinkeln gegangen wäre, hätte er die Story nie gehört.

Aber er hatte sie gehört.

Was hatte das also zu bedeuten?

Er war sich nicht sicher. Und er war sich auch nicht sicher, dass er den Namen Melvin Mars je vergessen werden würde.

Stunden später erreichte er die Adresse, die man ihm gegeben hatte. Sie befand sich in der Marine Corps Base Quantico, einem der größten Stützpunkte der U.S. Marine auf der Welt und gleichzeitig Heimat für eine Handvoll bundesstaatlicher Strafverfolgungsbehörden.

Die Einrichtung wurde von hohen Zäunen mit einem bewachten Tor umgeben, an dem ernst aussehende Männer in Uniform mit Automatikwaffen Wache schoben.

Amos Decker hielt vor dem Tor an, fuhr die Seitenscheibe hinunter, atmete tief ein und bereitete sich darauf vor, mit seinem neuen Leben anzufangen.

4

Drei Zimmer.

Ein Schlafzimmer von der Größe einer Gefängniszelle. Ein Bad, das etwa ein Viertel so groß war. Und ein dritter Raum für alles andere, einschließlich zum Kochen.

Die Wohnung bot viel mehr Platz, als Amos Decker es in den letzten anderthalb Jahren jemals gewohnt gewesen war.

Er setzte die Reisetaschen ab und sah sich in seinem neuen Domizil um. Er hätte eine Mütze Schlaf nehmen sollen, war aber nicht müde.

Manchmal konnte er den ganzen Tag lang schlafen, doch bei anderen Gelegenheiten, wie dieser, erlaubte sein Verstand ihm nicht, zur Ruhe zu kommen. Sein Gehirn stand in Flammen.

Vor der Küchenzeile stand ein kleiner Tisch. Auf dem Tisch lag ein Laptop, daran klebte ein Zettel. Die Nachricht stammte von Agent Bogart. Der Laptop stand ihm zur Verfügung. Hier gab es sicheres WLAN. Bogart würde später vorbeischauen.

Decker sah auf die Uhr. Es war kurz vor fünf Uhr morgens. Bogart hatte damit gerechnet, dass er eine Pause machen und schlafen würde, also erwartete er seine Ankunft wahrscheinlich für den Nachmittag oder Abend.

Decker machte sich eine Tasse Kaffee, schwarz, mit einem Haufen Zucker, und trug sie zum Tisch hinüber. Er setzte sich und klappte den Laptop auf. Dann ging er online und suchte den Namen Melvin Mars.

In den letzten paar Tagen waren ziemlich viele Artikel über Mars veröffentlicht worden. Decker las sie alle, und sein perfektes Gedächtnis speicherte jeden unauslöschlich in sein Gehirn.

Aber er wollte auch mehr über die Vergangenheit des Mannes wissen. Ein paar Minuten später fand er, was er suchte.

Melvin Mars hatte auf der Liste der Verpflichtungen für die NFL, die im April eines jeden Jahres stattfanden, ganz oben gestanden. Man ging davon aus, dass er zu den fünf besten Nachwuchsspielern gehörte, bis er verhaftet und des Mordes an seinen Eltern angeklagt wurde, Roy und Lucinda Mars.

Decker betrachtete die körnigen Bilder der beiden auf dem Monitor. Roy war weiß, mit starken Gesichtszügen, und selbst auf dem verschwommenen Foto erkannte man, wie stechend sein Blick war. Lucinda war schwarz und von außergewöhnlicher Schönheit, mit üppigem Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel. Ihr Gesicht kräuselte sich zu einem ansteckenden Lächeln.

Klare Gegensätze, zumindest an der Oberfläche. Interessant.

Decker nippte an seinem Kaffee und scrollte weiter.

Die Morde hatten am zweiten April stattgefunden. Die Leichen waren in einem Schlafzimmer im ersten Stock gefunden worden. Tödliche Schüsse aus einer Schrotflinte hatten ihre Gesichter unkenntlich gemacht, dann waren ihre Leichen in Brand gesetzt worden. Das Haus stand ein gutes Stück von der Straße entfernt. Sie hatten im ländlichen Texas gewohnt, und es war niemand in der Nähe gewesen, der sie hätte sterben hören können.

Die Leichen wurden von Feuerwehrleuten gefunden, die auf einen Notruf reagiert hatten. Die Flammen waren gelöscht worden, das Haus hatte man zum Tatort erklärt.

Die Leute in der Gegend kannten die Familie Mars. Tja, sie hatten Melvin wegen seines Talents auf dem Footballfeld gekannt. Er war in Texas eine Highschool-Footballlegende und hatte diesen Ruhm als Longhorn auf dem College vermehrt.

Wo war Melvin also, als seine Eltern starben?

Er hatte im vergangenen Semester den College-Abschluss gemacht, nachdem er in den drei Jahren zuvor jedes Mal auf die Sommerschule gegangen war, um den Abschluss früher zu bekommen. Er hatte Pläne für sein Leben, hieß es damals. Und mit dem anstehenden Engagement wollte er sich von akademischen Verpflichtungen befreien. Er war ein Mann, der weit voraus dachte, hieß es. Er entsprach nicht der Vorstellung einiger Menschen von einem Footballspieler, der Leute umrennen, aber kein Gespräch führen konnte. Es hieß, er habe keinen Berater, weil er seinen Vertrag mit einem NFL-Verein selbst aushandeln wolle. Er habe sich informiert, mit aktuellen und ehemaligen Spielern gesprochen.

Also, noch einmal, wo war Melvin gewesen?

Die Polizei fand ihn schlafend und allein in einem Motel. Er hatte mit seiner Kreditkarte bezahlt. So hatten sie ihn aufgespürt.

Seine Geschichte war relativ einfach gewesen. Er hatte eine Freundin besucht. Er hatte das Haus der Freundin mit der Absicht verlassen, nach Hause zu fahren. Er hatte jedoch Probleme mit dem Wagen gehabt und am einzigen Motel an der Strecke angehalten, um dort zu schlafen. Er hatte nichts von dem Mord an seinen Eltern gewusst, bis die Polizei an seine Tür geklopft hatte.

Das war, bevor jeder ein Handy oder eine E-Mail-Adresse, eine Facebook-Seite oder einen Twitter-Account hatte. Man konnte einfach durchs Raster fallen, und keiner konnte mit einem Kontakt aufnehmen, heutzutage ein unvorstellbarer Gedanke.

Mars galt nicht sofort als Verdächtiger. Er hatte sich abgeschottet, noch während eine Belohnung für jegliche Information über das Verbrechen ausgelobt wurde. Eine ganze Weile verging, und die Polizei ermittelte.

Decker konzentrierte sich auf eine Story, die genau nachzeichnete, wie Mars zum Verdächtigen geworden war.

Die Freundin, die er besucht hatte, erinnerte sich daran, dass Mars früher aufgebrochen war, als er es der Polizei gesagt hatte. Das Motel war nicht einmal eine Stunde von seinem Zuhause entfernt. Warum war er an diesem Abend also nicht einfach nach Hause gefahren? Mars wiederholte, dass er Probleme mit dem Wagen gehabt und deshalb bei dem Motel angehalten habe. Er hatte seinen Vater am nächsten Morgen anrufen und bitten wollen, zu ihm zu fahren und sich den Wagen anzusehen.

Das einzige Problem damit war nur, dass der Wagen sofort ansprang, als die Polizei ihn bat, ihn anzulassen. Mars hatte keine Erklärung dafür; er beharrte darauf, dass der Motor gestottert habe und dann, als er das Motel erreichte, ganz abgesoffen sei. Er habe ihn sogar auf den Parkplatz schieben müssen. Hinzu kam, dass ein Wagen, der dem von Mars ähnelte, später in dieser Nacht in der Nähe seines Elternhauses gesehen worden war.

Der Portier sagte der Polizei gegenüber aus, Mars habe gegen ein Uhr fünfzehn morgens eingecheckt. Die Freundin sagte aus, er sei gegen zehn Uhr abends von ihr losgefahren. Die Fahrt zum Haus seiner Eltern dauerte nur eine Stunde und vierzig Minuten. Das hätte ihm die Zeit gegeben, nach Hause zu fahren, seine Eltern zu töten, dann zurückzufahren und in dem Motel einzuchecken.

Der Portier sagte aus, dass Mars derangiert und aufgeregt gewirkt habe. Er bezeugte ebenfalls, dass sich auf der Kleidung, die Mars trug, irgendwelche Flecken befunden hätten. Die Kleidung, die Mars ihm zufolge getragen hatte, war nicht diejenige, die er trug, als die Polizei auftauchte. Man vermutete daher, dass Mars die blutige Kleidung irgendwo entsorgt und sich dann im Motel frische angezogen hatte.

Der andere belastende Umstand war, dass das Schrotgewehr Mars gehörte. Er benutzte es zur Jagd und hatte damit tatsächlich schon Wildvögel erlegt. Also waren seine Fingerabdrücke auf der Waffe.

Das Benzin schließlich, mit dem die Leichen von Mr. und Mrs. Mars angezündet worden waren, stammte aus ihrer Garage. Es war reines Glück gewesen, dass das Haus nicht abgebrannt war. Der einzige Schaden entstand in dem Schlafzimmer, in dem sie gefunden worden waren.

Und schließlich war Blut, das Lucinda Mars zugeordnet werden konnte, im Wagen gefunden worden. Das war ein vernichtender forensischer Beweis.

Decker stand auf und schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. Draußen wurde es schon hell. Er achtete nicht darauf, setzte sich wieder und las weiter.

Aber weshalb hatte Mars seine Eltern getötet? Was war sein Motiv?

Nachdem Mars verhaftet und des Mordes angeklagt worden war, gab die Polizei ihre Theorie bekannt. Bei der anstehenden NFL-Verpflichtung würde Mars einen großen Vertrag unterzeichnen und eine Menge Geld verdienen. Seine Eltern wollten einen größeren Anteil davon abhaben, als Mars ihnen zukommen lassen wollte. Es hatte Streit gegeben, Mars fühlte sich in die Enge getrieben. Er wollte keine negative Publicity. Er hatte sorgfältige Imagepflege betrieben, in der Hoffnung, zusätzlich zu seinem Footballvertrag lukrative Werbeaufträge einzuheimsen. Er hatte sein gesamtes Leben durchgeplant. Seine Eltern standen dem vielleicht im Weg, jedenfalls der Staatsanwaltschaft zufolge.

Um sich dieses Problem also vom Hals zu schaffen, hatte Mars den Mord an ihnen geplant und dann durchgeführt. Er hatte seine Freundin besucht, um sich ein Alibi zu verschaffen, war nach Hause gefahren, hatte seine Eltern umgebracht und war dann zu dem Motel gefahren. Doch wie so viele Mörder war er über die kleinen Details gestolpert. In Wirklichkeit hatte ihm jedoch der zeitliche Ablauf alles verdorben. Ganz gleich, wie gut man etwas plante, wenn man an einem Ort war und jemanden umbrachte, während man behauptete, an einem anderen zu sein und geschlafen zu haben, konnte man den zeitlichen Ablauf niemals narrensicher machen. Dann würde es immer Risse geben, wenn auch nur kleine. Doch wenn die Polizei sich auf sie konzentrierte und zu graben anfing, würden diese Risse größer werden und schließlich das gesamte Lügengebäude zum Einsturz bringen.

Und genau das war offensichtlich Melvin Mars zugestoßen.

Also konnte die Anklage ein Motiv und die Gelegenheit aufzeigen. Und die Morde waren mit Mars’ eigener Waffe begangen worden, womit ihm auch die nötigen Mittel zur Verfügung gestanden hatten. Somit hatte die Anklage alle drei grundlegenden Bestandteile, um seine Schuld zu beweisen. Und sie schickte sich an, sie überzeugend über jeden Zweifel hinaus zu beweisen.

Ein Zeuge nach dem anderen marschierte vor den Geschworenen auf und machte seine Aussage. Langsam formte sich ein Bild. Der Staatsanwalt, der in Tennessee seinen Abschluss gemacht hatte und deshalb kein Fan von texanischen Footballspielern war, leistete erstklassige Arbeit, um die Beweise zusammenzufügen.

Die Verteidigung versuchte, Löcher aufzuzeigen, richtete damit aber nicht genug Schaden an. Und als Mars nicht in den Zeugenstand trat, war sie erledigt.

Die Geschworenen waren kaum lange genug weg, um auf die Toilette zu gehen, bis sie mit ihrem Schuldspruch zurückkamen.

Mars hatte einen fairen Prozess bekommen. Die Indizien genügten der Beweispflicht.

Roy und Lucinda Mars waren von ihrem einzigen Kind ermordet worden. Von Melvin.

Mars wurde zum Tode verurteilt. Seine Laufbahn in der NFL war zu Ende, bevor sie überhaupt angefangen hatte. Genau wie der Rest seines Lebens.

Ende der Geschichte.

Der Termin für seine Hinrichtung war bereits festgesetzt, als ein anderer sich gemeldet und das Verbrechen gestanden hatte.

Charles Montgomery.

Decker betrachtete das Foto des Mannes auf dem Bildschirm.

Ein Weißer jenseits der siebzig. Muskulös, hart und fies aussehend. Armeeveteran mit einem langen Vorstrafenregister. Er war von kleineren Betrügereien zu ernsteren Sachen übergegangen, zu sehr ernsten Sachen. Er saß in einem Gefängnis in Alabama ein und erwartete seine eigene Hinrichtung wegen mehrerer anderer Morde, die er vor Jahren begangen hatte.

Wie hatte der Fall gegen Melvin Mars so schlimm aus dem Ruder laufen können, falls Montgomery die Wahrheit sagte?

Die Meldungen behaupteten, er würde Einzelheiten des Falles kennen, die die Polizei all die Jahre zurückgehalten hatte, was der Standardprozedur entsprach. Montgomery kannte sich offensichtlich aus. Aber warum hatte er gerade jetzt ausgepackt? Weil er schon im Gefängnis war? Weil er Bedauern verspürte? Weil er sowieso sterben würde? Für Decker, der jede Menge Erfahrung mit hartgesottenen Verbrechern hatte, sah er einfach nicht aus wie jemand, der Bedauern verspürte. Er sah aus wie der Mörder, der er war.

Decker trank den Kaffee aus und lehnte sich zurück.

Jemand klopfte an seine Tür. Er sah auf die Uhr. Halb acht.

Er machte auf.

Special Agent Bogart erwiderte seinen Blick. Er hatte eine große Aktentasche in der Hand. Er war über vierzig, groß und fit und hatte dunkles Haar, das auf attraktive Weise von Silbergrau gesprenkelt wurde. Eine Art von stiller Autorität ging von ihm aus, die man erwarb, indem man Menschen bei schwierigen Aufträgen befehligte. Er hatte keine Kinder, lebte von seiner Frau getrennt, die Scheidung lief bereits.

Hinter ihm stand Alex Jamison. Sie war groß und hübsch, mit braunem Haar, und der Blick ihrer ausdrucksvollen Augen hellte sich auf, als sie Decker sah. Sie hielt eine Imbisstüte in der Hand.

»Überraschung!«, sagte Jamison fröhlich. »Glückliches neues Jahr!«

»Ich habe die Nachricht erhalten, dass Sie schon eingetroffen sind«, sagte ein strahlender Bogart. »Willkommen beim FBI.«

»Ich habe einen Fall«, sagte Amos Decker, »in dem ich ermitteln will.«

5

Decker mampfte sein Rührei mit Schinken und den Käsetoast, während Jamison und Bogart auf dem Laptop die Artikel über Melvin Mars lasen.

Schließlich schaute Bogart auf. »Ein faszinierender Fall, aber er fällt wirklich nicht in unsere Zuständigkeit, Amos.«

Decker beendete sein Frühstück, trank einen letzten Schluck Kaffee, knüllte die Verpackung zusammen und erzielte einen Dreier, als er sie in den Mülleimer neben der Küchentheke warf.

»Was genau ist denn Ihre Zuständigkeit?«

Als Antwort öffnete Bogart die Aktentasche, holte einen dicken Ordner hervor und gab ihn Decker. »Alex hat ihr Exemplar bereits erhalten. Das sind die Fälle, die wir in Erwägung ziehen. Lesen Sie die Akte. Wir sprechen später bei unserem Meeting darüber.«

»Wir sind jetzt hier. Das ist ein Meeting.«

»Es gibt noch zwei weitere Mitglieder des Teams«, sagte Bogart.

»Ich habe eine von ihnen kennengelernt, Amos«, sagte Jamison. »Sie werden sie mögen.«

Decker hielt den Blick auf Bogart gerichtet. »Sie kennen diesen Melvin Mars?«, fragte der Special Agent.

»Ich habe am College gegen ihn gespielt. Aber ich kann mich nur erinnern, zu ihm gesagt zu haben: ›Scheiße, wie hast du das gemacht?‹«

»So gut war er?«

»Er war der Beste, den ich je gesehen habe.«

»Vielleicht kommt er ja aus dem Gefängnis«, sagte Jamison. »Das ist doch gut.«

»Falls er unschuldig ist«, berichtigte Decker.

»Ja, natürlich.«

»Ich bezweifle, dass sie ihn entlassen werden, bevor sie sich absolut sicher sind«, stellte Bogart klar.

Decker zeigte auf den Laptop. »Haben Sie gewusst, dass Jahr für Jahr Hunderte von Menschen aus dem Gefängnis entlassen werden, weil man herausgefunden hat, dass sie unschuldig sind?«

»Ein kleiner Prozentsatz angesichts der Zahl der Menschen, die inhaftiert wurden«, erwiderte Bogart. Er wirkte ein wenig ungeduldig.

»Man schätzt, dass zweieinhalb bis fünf Prozent aller Häftlinge in amerikanischen Gefängnissen unschuldig sind«, sagte Decker. »Das sind etwa zwanzigtausend Menschen. DNS-Proben wurden erstmals 1985 vor Gericht zugelassen. Seitdem sind 330 Gefangene durch DNS-Proben entlastet worden. Aber DNS-Proben sind nur in etwa sieben Prozent aller Fälle möglich. Und bei 25 Prozent der Fälle, bei denen sie benutzt wurden, konnte das FBI den Verdächtigen ausschließen, sodass der Prozentsatz der unschuldigen Häftlinge höher sein könnte. Vielleicht viel höher.«

»Wie ich sehe, haben Sie in dieser Sache einige Nachforschungen betrieben«, sagte Bogart trocken.

Ein langes Schweigen folgte.

»Decker«, sagte Bogart. »Das ist nicht das, womit wir uns befassen. Wir ermitteln in kalten Fällen und versuchen, einen Mörder zu finden.«

»Was, wenn Mars nicht der Mörder ist?«

»Dann ist es dieser Montgomery.«

»Und wenn er es auch nicht ist?«

»Warum sollte jemand ein Verbrechen gestehen und …« Bogart hielt inne und schaute ein wenig verlegen drein. »Na schön, da genau das in Ihrem Fall passiert ist, verstehe ich, worauf Sie hinauswollen. Aber trotzdem …«

»Kann das … Team den Fall wenigstens in Betracht ziehen?«, fragte Decker.

Bogart dachte einen Moment lang darüber nach. »Ich hatte vor, das Team eine Reihe von möglichen Fällen überprüfen und dann abstimmen zu lassen, welchen es in Angriff nehmen will. So flexibel bin ich.«

»Und wir können uns für bestimmte Fälle verwenden?«, fragte Jamison.

»Ich wüsste nicht, was dagegenspräche«, sagte Bogart. »Ich mag demokratische Abstimmungen genau wie jeder andere«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

»Ich glaube, wir sollten diesen Fall übernehmen«, sagte Decker starrsinnig.

»Und wir können die anderen dazu bringen, uns zuzustimmen, Amos«, sagte Jamison schnell. »Wie Agent Bogart eben gesagt hat.«

Decker sah auf den Laptop. Sowohl Bogart als auch Jamison beobachteten ihn.

Sie wussten, dass Decker sich nicht beirren ließ, wenn er einmal einen Entschluss gefasst hatte. Sie wussten auch, dass er nichts dafür konnte. Er war eben, wer er war.

»Da Sie so früh hier eingetroffen sind«, sagte Bogart, »habe ich unser Meeting auf vierzehn Uhr statt auf morgen verlegt.« Er ließ den Blick über Deckers zerknitterte Kleidung und ungekämmtes Haar gleiten. »Wir lassen Ihnen etwas Zeit, um sich frisch zu machen, holen Sie dann gegen Viertel vor zwei ab und fahren mit Ihnen rüber. So weit ist es nicht.«

Decker schaute an seiner mitgenommenen Kleidung hinab. Er wollte etwas sagen, nickte dann aber nur verdrossen und sah wieder auf seinen Laptop.

Bogart stand auf, doch Jamison blieb sitzen. Als er sie fragend ansah, sagte sie: »Ich treffe Sie dann hier.«

Er warf einen Blick auf Decker und nickte knapp. »Amos, es ist schön, Sie an Bord zu haben.«

Decker sah weiterhin den Laptop an.

Bogart drehte sich um und ging.

Jamison schaute zu Decker. »Ziemlich viele Veränderungen«, sagte sie. »In kurzer Zeit.«

Er zuckte die Achseln.

»Was fasziniert Sie an dem Mars-Fall wirklich?«, fragte sie. »Dass Sie Football gegen ihn gespielt haben?«

»Ich mag keine Leute, die aus heiterem Himmel auftauchen und ein Verbrechen gestehen.«

»Wie es im Fall Ihrer Familie passiert ist?«

Decker schloss den Laptop und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Erzählen Sie mir von den anderen ›Team‹-Mitgliedern.«

»Ich habe nur eine von ihnen kennengelernt. Lisa Davenport. Eine klinische Psychologin aus Chicago. Sie ist Ende dreißig und sehr nett. Sehr professionell.«

»Wie soll das alles funktionieren?«, fragte Decker.

»Wie Bogart sagte, wir stimmen ab, welchen Fall wir übernehmen.«

»Aber jemand muss die Fälle zusammenstellen, über die wir gemeinsam abstimmen. Also trifft jemand doch eine Vorauswahl.«

»Ja, das stimmt.« Sie zeigte auf die Aktenmappe. »Da drinnen. Faszinierendes Zeug. Aber Sie können diesen Mars-Fall hinzufügen. Das hat Bogart ja gesagt.«

»Das hat er eigentlich nicht gesagt. Er hat gesagt, der Fall wäre außerhalb seiner Zuständigkeit. Er hat gesagt, wir könnten die anderen überzeugen, ihn zu nehmen. Aber wenn ich überstimmt werde, nehmen wir ihn nicht.« Er sah sie an. »Habe ich Ihre Stimme?«

»Natürlich haben Sie die, Amos.«

Er wandte den Blick ab. »Das weiß ich zu schätzen.«

Jamison schaute überrascht drein. Decker gestand so etwas normalerweise nicht ein.

»Wollen Sie sich frisch machen? Es war eine lange Fahrt«, fügte sie diplomatisch hinzu. »Und Sie scheinen durchgefahren zu sein.«

»Bin ich. Und, ja, ich sollte mich frisch machen. Aber ich habe nicht viel Kleidung dabei.«

»Wenn Sie wollen, können wir ja vor dem Meeting einkaufen gehen.«

»Vielleicht danach.«

»Jederzeit, Amos. Ich will nur helfen.«

»Sie müssen nicht so nett zu mir sein.«

Jamison wusste, dass Decker im Gegensatz zu anderen Menschen ziemlich direkt sein konnte.

»Ich denke, wir beide haben große Veränderungen in unserem Leben hinter uns, und wir müssen zusammenhalten. Vielleicht kommt auch mal ein Fall, den ich übernehmen will. Und dann brauche ich Ihre Hilfe, nicht wahr?«

Decker sah sie nachdenklich an und nickte. »Sie sind komplizierter, als Sie sich geben.«

»Das will ich doch hoffen«, sagte sie und lächelte schwach.

6

»Wie bekomme ich zwanzig Jahre meines Lebens zurück? Können Sie mir das sagen? Wie?«

Melvin Mars saß im Besuchsraum des Gefängnisses seiner Anwältin gegenüber.

Mary Oliver war Mitte dreißig, hatte kurz geschnittenes kastanienbraunes Haar und trug eine viereckige Brille über ihren funkelnden grünen Augen. Ihr kantiges, hübsches Gesicht war mit Sommersprossen gesprenkelt.

»Die bekommen Sie nicht zurück, Melvin«, sagte sie. »Das ist unmöglich. Doch Montgomerys Geschichte ist noch nicht bestätigt. Wir sollten also einen Schritt nach dem anderen machen.«

»Ich kenne diesen Kerl nicht. Ich bin ihm nie begegnet. Ich habe nicht mal gewusst, dass es ihn gibt, bis sie kamen und mir von ihm erzählten. Also können sie nicht behaupten, ich hätte ihn bezahlt, damit er meine Eltern tötet. Und wenn sie das nicht beweisen können, bin ich hier raus, oder?«

Oliver blätterte in einigen Papieren, die vor ihr lagen. »Hören Sie, so einfach ist das nicht. Wir müssen die Dinge ihren regulären Lauf nehmen lassen, okay?«

Mars stand auf und schlug gegen die Wand hinter ihm, was ihm einen Blick des untersetzten Wärters einbrachte, der in der Mitte des Raums stand. Er war weit genug entfernt, dass er ihr Gespräch, das unter die Vertraulichkeitsverordnung fiel, nicht verstehen konnte – zumindest nicht, wenn sie mit normaler Lautstärke sprachen. Aber er war nah genug, um notfalls eingreifen zu können.

»Den regulären Lauf? Ich habe das Verfahren schon einmal seinen Lauf nehmen lassen, und Sie sehen ja, was es mir eingebracht hat. Sie haben mir mein verdammtes Leben gestohlen, Mary.«

»Es ist ganz normal, dass Sie sich verraten und ausgenutzt fühlen, Melvin. Alles, was Sie empfinden, ist ganz normal.«

Mars sah aus, als wolle er auf etwas einschlagen, auf irgendetwas, so hart, wie er konnte. Aber dann sah er, dass die Hand des Wärters sich dem Griff seines Schlagstocks näherte. Und er sah, wie der Mund des Mannes vor Vorfreude zuckte, einem Häftling in den Arsch treten zu können.

Gib mir nur einen Grund, du Wichser! Bitte!

Mars beruhigte sich und setzte sich wieder. »Wie lange wird es dauern, bis die Dinge ihren normalen Verlauf genommen haben?«, sagte er mit gemäßigter Stimme.

»Es gibt keinen feststehenden Zeitplan dafür, weil die Sache so ungewöhnlich ist«, erklärte Oliver. Sie wirkte erleichtert, dass er wieder vernünftig war. »Aber ich bleibe ununterbrochen am Ball, Melvin. Das verspreche ich Ihnen. Und wenn ich mitbekomme, dass sie die Sache schleifen lassen, mache ich denen Feuer unterm Hintern. Das schwöre ich. Ich werde Anträge einreichen.«

Er nickte. »Das weiß ich.«

»Das muss sehr schwer für Sie sein«, fuhr sie fort. »Als man mich informierte, war ich völlig perplex. Ich weiß immer noch nicht, in welcher Verbindung Ihre Eltern und dieser Charles Montgomery standen.«

»Tja, wenn es eine Verbindung gibt, haben sie mir nichts davon erzählt. Vielleicht gab es gar keine. Er bricht in das Haus ein und ermordet sie.«

»Aber es gab keine Anzeichen für einen Einbruch. Und nichts wurde gestohlen. Deshalb hat die Polizei ja Sie ins Visier genommen.«

»Aber Sie glauben mir, oder?«, sagte er schnell.

»Ja, natürlich glaube ich Ihnen.«

Melvin sah sie an. Natürlich glauben Sie mir, dachte er.

»In unserer Gegend hat damals niemand seine Tür abgeschlossen. Außerdem war es ja nicht so, dass meine Eltern viel gehabt hätten, das man hätte stehlen können. Sie wissen, wie wir gelebt haben. Mein Vater arbeitete in einer Pfandleihe. Meine Mom verdiente etwas Geld dazu, indem sie Kleider nähte und Spanisch unterrichtete und anderen Leuten den Dreck wegräumte.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte das alles ändern, wenn ich in die NFL ging. Wollte ihnen ein Haus kaufen, Geld beiseitelegen. Sie hätten ihre Jobs aufgeben können. Ich hatte Pläne.« Er schlug mit der Handfläche auf den Tisch. »Ich hatte Pläne.«