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Hülya wird mit einem Gendefekt geboren, ihre Hände und Beine sind nicht voll funktionsfähig. Auch zu Hause erfährt sie keine Geborgenheit. Trotzdem lässt diese starke Frau sich nicht unterkriegen und meistert ihr Leben mit all seinen Hindernissen. Hülyas Lebens- und Liebesgeschichte zeugt von ihrem unerschütterlichen Glauben an das Gute. Mit ihrer warmherzigen Art berührt sie die Menschen überall, wo sie hinkommt. Ihr Lebensmotto: "Ich lasse das Leben entscheiden und dann gehe ich mit."
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Seitenzahl: 239
Veröffentlichungsjahr: 2025
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© 2025 adeo Verlagin der SCM Verlagsgruppe GmbH,Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar
Erschienen im März 2025
ISBN 9783863348854
Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter ∙ www.grafikbuero-sonnhueter.de
Umschlagfoto sowie Fotos Bildteil: Dennis Marquardt
Lektorat: Christiane Kathmann ∙ www.lektorat-kathmann.de
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
www.adeo-verlag.de
Inhalt
Prolog: Wer hätte das gedacht?
1 Mit beiden Beinen ins Leben
2 Von wegen Hanni und Nanni
3 Ich nehm’ die Sache selbst in die Hand
4 Einfach mal machen – könnte ja gut werden
5 Das halbe Mädchen
6 Die Sache mit Gott, der Vergebung und den Wundern
7 Mr Right oder: So einen muss man erst mal finden!
8 Eine Hochzeit und zwei Todesfälle
9 Mit Instagram gegen die Barrieren
10 Reise in die Vergangenheit
11 Lebe lieber unkompliziert
12 Alles steht Kopf – wir werden Eltern
Epilog: Happy End … nee, Happy Beginning!
Bildteil
Für meinen Mann Dennis – danke für so viel Liebe und Verständnis.
In Liebe, Hülya
Für meinen Sohn Rangi Manawa – mögest du Vertrauen in das Leben haben und die Wärme der Dankbarkeit in deinem Herzen fühlen.
In Liebe, Mama
Prolog: Wer hätte das gedacht?
April 2020
Ich sitze im Garten und genieße die ersten wärmenden Sonnenstrahlen. Um mich herum summt, brummt, zwitschert, wächst und blüht alles. Es ist jedes Jahr wieder ein Wunder, wenn die Natur nach dem Winter zu neuem Leben erwacht. Und diesmal spüre ich dieses Wunder ganz besonders, denn es passiert nicht nur um mich herum, sondern auch in mir.
Gedankenverloren streichele ich über die Rundung meines Bauches. Das größte Wunder wächst in mir heran. Immer neu bringt mich das zum Staunen. Ich empfinde große Dankbarkeit, dass ich das erleben darf. Noch nie habe ich mich so zutiefst weiblich gefühlt. Und ich spüre in mir eine Stärke, als wäre ich unbesiegbar.
Schon verrückt, das alles. Wer hätte gedacht, dass ich mal hier landen würde? Als ich 1983 als Kind türkischer Gastarbeiter mit einer schweren Behinderung zur Welt kam, war das echt nicht abzusehen. Aber ich habe früh entschieden, das Leben einfach geschehen zu lassen und zu schauen, wo es mich hinführt. Und jetzt sitze ich hier, richtig klischeehaft glücklich im eigenen Häuschen mit Garten, verheiratet mit dem wunderbaren Dennis, und erwarte ein Kind.
Tja, wer hätte das gedacht?
Aber fangen wir vorne an …
1Mit beiden Beinen ins Leben
Wenn du anfängst, den Gaben zu vertrauen, die dir geschenkt worden sind, wird dir der Sinn des Lebens klar. Du kannst ihn vielleicht nicht in Worte fassen, aber du wirst ihn verstehen.
Paul Ferrini
„Nächster Halt: Siegen“, dröhnt es aus den Lautsprechern. Der Zug rollt unter durchdringendem Quietschen der Bremsen auf dem Bahnsteig aus. Ein kleiner Mann mit schwarzen Haaren und dunklem Teint springt etwas hektisch von seinem Sitz auf, holt sein Köfferchen aus der Gepäckablage und sammelt seine Jacke und die Tüte mit Proviant ein, die er den ganzen Weg von Anatolien bis hierher mitgeschleppt hat. Inzwischen ist die Tüte fast leer. Nur noch ein aufgeweichter Rest Sesamkringel ist darin und eine leere Trinkflasche. Er schiebt sich an einigen anderen Fahrgästen vorbei und wartet, bis die Tür aufgeht.
Gleich wird er aussteigen … hinein in eine komplett andere Welt, in der alles neu und fremd für ihn ist. Die Sprache, die Gepflogenheiten, einfach alles. Er ist allein, es gibt hier niemanden, den er kennt, nichts, woran er sich orientieren könnte. Er hat etwas Angst, aber auch Hoffnung: Schließlich ist er aufgebrochen, um ein besseres Leben zu finden als das, was ihm seine Heimat bieten konnte. Was wird ihn hier erwarten?
Die Tür geht zischend auf. Er hebt seinen Koffer an und macht den ersten Schritt hinaus in sein neues Leben.
*
Mit meinem Opa väterlicherseits hat alles angefangen, damals in den 1960er-Jahren. Wie anders wäre nicht nur sein, sondern auch mein Leben verlaufen, wenn er damals nicht den Mut aufgebracht hätte, ganz allein in ein fremdes Land zu gehen und von vorn anzufangen.
Mustafa war der älteste von vier Brüdern und ist ohne Vater in Anatolien aufgewachsen. Er hatte nur die Mutter – und die war extrem streng. Sie war die Krankenschwester und Hebamme seines Heimatdorfes. Elif hieß sie, und wenn man nur den Namen hörte, stand man schon stramm, so erzählte er. Liebevoll war sie nicht, auch nicht zu ihren eigenen Kindern. Aber das ist vielleicht irgendwie nachvollziehbar, weil sie vier Jungs allein großziehen musste, und das in einer nicht gerade einfachen Zeit und Gegend. Das Leben hatte sie sozusagen dazu gezwungen, so zu sein. Vielleicht kannte sie es auch nicht anders.
Mustafa fing früh an zu arbeiten, damit seine drei jüngeren Brüder studieren konnten. Er heiratete und wurde Vater von vier Kindern. Und als sich die Möglichkeit auftat, als Gastarbeiter nach Deutschland zu gehen, war er einer der Ersten, die herkamen. Seine Familie musste er in der Türkei zurücklassen, doch er schickte ihnen regelmäßig das Geld, das er in der Fabrik im Siegerland verdiente.
Nach einigen Jahren holte er dann seine Frau und die Kinder nach. Mein Vater, Faruk, war damals acht Jahre alt. Er war das dritte Kind und hatte einen Bruder und zwei Schwestern. Er hatte ähnliche gesundheitliche Einschränkungen wie ich, wenn auch nur an den Beinen, und mein Opa war überzeugt, dass man ihn hier deutlich besser medizinisch versorgen konnte als in der Türkei. Der Gendefekt, den mein Vater hatte, kam wohl über seine Mutter. In der Familie meiner Oma gab es einige Familienmitglieder, die ähnliche Symptome aufwiesen wie er.
Mein Opa war ein extrem fleißiger Mensch. Früh beschloss er, dass es ihm nicht reichte, gemeinsam mit meiner Oma in der Fabrik zu arbeiten, sich mit den Deutschen dort mit Händen und Füßen zu verständigen und sonst weiterhin zu leben wie in der Türkei, immer nur unter anderen Türken. Er sagte sich: „Wenn ich es hier zu irgendwas bringen will, muss ich die Sprache lernen.“ Deshalb befasste er sich intensiv mit der deutschen Sprache und besuchte später sogar eine Übersetzer-Schule und wurde Dolmetscher. Ich bin richtig stolz auf ihn, denn Deutsch ist als Fremdsprache ja wirklich nicht leicht zu lernen, das muss man erst mal schaffen.
Mein Opa hat mich als Kind mal zum Gericht mitgenommen, wo er in Verhandlungen als Dolmetscher tätig war. Ich war damals total beeindruckt, wie schnell er simultan übersetzen konnte. Ich denke, es ist unglaublich schwierig, gleichzeitig zuzuhören und zu reden.
Ich nannte ihn Dede, obwohl das die Bezeichnung für den Vater der Mutter ist. Aber weil die Kinder meiner Tante ihn so nannten, hat sich das bei uns auch eingebürgert. Dede wollte, dass alle in der Familie Sprachen lernen und Dolmetscher werden, auch die Enkelkinder. Wenn ich nachmittags aus der Schule zu den Großeltern kam, hat er mir oft eine Zeitung hingelegt, damit ich Artikel aus dem Türkischen ins Deutsche übersetze. Darauf hatte ich natürlich gar keine Lust, aber ich wusste: Wenn ich bei Dede bin, muss ich pauken. Der Mann war total verrückt mit seinem Sprachenlernen, Deutsch war ihm nicht genug. Er hatte von Montag bis Sonntag in seinem Kalender stehen, welche Sprachen wann dran waren: Russisch, Englisch, Arabisch …
Da ich nach der Schule nicht so recht wusste, was ich machen sollte, ging Dede mit mir zur IHK, damit ich mich zu verschiedenen Ausbildungsmöglichkeiten beraten lassen konnte. Das fand ich eine gute Idee. Aber als wir dran waren, behauptete Dede, bevor ich irgendwas sagen konnte, dass ich gern Dolmetscherin werden möchte, und fragte, was ich denn dafür brauche. Ich zischte ihm zu: „Dede, das stimmt doch gar nicht!“ Da zwinkerte er mir nur zu und flüsterte zurück: „Jetzt lass mich mal.“ Das war irgendwie auf übergriffige Art süß. Ich wusste ja, dass es sein tiefster Wunsch war, dass wir alle Dolmetscher werden. Außer meinem Vater ist aber niemand in die Richtung gegangen und bei mir hat es auch nicht funktioniert.
Dede war sehr streng zu seinen vier Kindern und wollte, dass sie immer nur lernen, lernen, lernen. Mein Papa, Faruk, war jedoch ein bisschen faul. Er war sehr intelligent, hatte aber keinen Bock auf übermäßige Lernanstrengungen, sondern eher auf Frauengeschichten. Die wilde Zeit in den 70er-Jahren nahm er voll mit. Er war ein sehr charmanter, gut aussehender Kerl und lebte sich voll aus. Er war damals schon beinamputiert, aber das scheint nicht groß gestört zu haben. Mit mir hat er nicht darüber geredet, deshalb weiß ich nicht, ob es ihm viel ausgemacht hat und wie es für ihn war. Auf jeden Fall hat er sein Leben gelebt. Er war sehr selbstbewusst und ein bisschen ein Rebell.
Eines Tages, er war im Urlaub in der Türkei, irgendwo draußen auf dem Land, fuhr ein Traktor mit einem Anhänger vorbei, auf dem lauter Frauen saßen. Eine davon fiel ihm ins Auge, und er sagte sich: „Die ist die Hübscheste, die will ich!“ Er muss zu der Zeit 19 oder 20 gewesen sein.
Vor Ort recherchierte mein Vater, wer dieses Mädchen auf dem Traktor gewesen war und zu welcher Familie sie gehörte. Und dann fuhr er dorthin und stellte sich den Eltern des Mädchens vor. Die waren gleich hin und weg von ihm. Mein Papa sah, wie gesagt, sehr gut aus und konnte gut quatschen, und als sie hörten, dass er aus Deutschland kam, gingen bei ihnen die Lichter an: Deutschland! Mercedes! Miele! Reichtum!
Ihre Tochter, also meine Mutter, war erst 15. Ihre Eltern haben sie halb überredet, halb gezwungen, meinen Vater zu heiraten. Eigentlich wollte sie lieber die Schule beenden und Anwältin werden, aber sie hatte ihren Eltern nicht wirklich etwas entgegenzusetzen. Ihre Eltern sagten: „Pass auf, der sieht gut aus, er ist fleißig und dir wird es in Deutschland gut gehen – den heiratest du.“ Damit war es entschieden und sie musste ihn heiraten.
Das war Anfang der 80er-Jahre. Mit 16 musste meine Mutter ihre Familie und ihr ganzes Leben in der Türkei zurücklassen und mit einem fremden Mann in ein fremdes Land mit einer anderen Kultur gehen, dessen Sprache sie nicht verstand. Sie wollte das nicht und sie wollte auch diesen Mann mit seiner Behinderung nicht heiraten. Das war einfach alles zu viel.
Meine Mutter hat mir später erzählt, dass mein Dede, also der Vater meines Vaters, alles andere als nett zu ihr war und ihr ständig vorgehalten hat, dass sie die Schule nicht abgeschlossen hatte. Dabei war das ja gar nicht ihre Entscheidung gewesen.
Und dann wurde sie schwanger. Mit 17.
Sie wusste nicht, dass die Behinderung meines Vaters eine genetische Ursache hatte und dass ich eine Behinderung haben könnte. Keine Ahnung, ob man ihr das absichtlich verheimlicht hat, ob es meiner Familie nicht bewusst war oder ob es einfach nicht zur Sprache gekommen war.
Ich kam am 8. Mai 1983, am Muttertag, auf die Welt, und für meine Mutter brach eine Welt zusammen. Kein Wunder, wenn ich darüber nachdenke: Ein junges Mädchen, das gegen seinen Willen verheiratet wurde, ohne Sprachkenntnisse, bekommt in einem fremden Land ein Kind, das ganz offensichtlich eine Behinderung hat. Sie versteht nicht viel von dem, was um sie herum passiert. Schwestern, Ärzte, alle reden durcheinander. Sie begreift, dass es sehr dramatisch ist, bekommt aber nur die Hälfte mit und kann nicht mal sicher sein, ob die Leute um sie herum richtig übersetzen, weil sie kein Vertrauen zu ihnen hat. Das muss alles sehr schwer für sie gewesen sein. Heute, wo ich selbst Mama bin, kann ich noch viel besser nachvollziehen, was das für sie bedeutet haben muss.
Kaum geboren, wurden bei mir 1001 Untersuchungen gemacht. Ich bin mit Dysmelie zur Welt gekommen, einem Gendefekt, der sich unterschiedlich äußert. Körperteile können vergrößert oder verkleinert sein, andere Formen aufweisen oder fehlen. Ich hatte – man möchte sagen: missgebildete Hände, aber das ist so ein blödes Wort. Sagen wir: Sie haben eine sehr spezielle Form. Auf Englisch nennt man es „Lobster Claw Syndrome“ – also „Krebsscherenhände“ – und das beschreibt ihre Form ganz gut. Meine Beine hatten diverse Fehlbildungen der Knochen, vor allem im Unterschenkel und an den Füßen, sodass fraglich war, ob ich jemals laufen würde. Die Ärzte tappten selbst ein bisschen im Dunkeln, was sie am besten machen sollten, um mir zu helfen, und so tasteten sie sich mit korrigierenden OPs heran. Mit zwei Monaten lag ich zum ersten Mal auf dem OP-Tisch. Insgesamt wurde ich bis zum Alter von sechs Jahren 20-mal operiert. Tatsächlich weiß ich gar nicht so genau, was da alles gemacht wurde. Ich war noch viel zu jung, um es zu verstehen.
Zum Glück haben meine Eltern früh entschieden, dass an meinen Händen nicht herumoperiert wird. Sie waren der Ansicht, ich solle später selbst entscheiden, ob ich kosmetisch etwas machen lassen will oder irgendwann, wenn die Medizin so weit ist, vielleicht sogar Finger transplantiert bekommen möchte oder so was. Dazu habe ich aber nie einen Anlass gesehen. Ich mag meine Hände. Sie sind besonders, sie gehören zu mir und ich komme sehr gut mit ihnen zurecht.
Zu Hause haben wir nur Türkisch gesprochen, weil meine Mutter kein Deutsch konnte. Mein Papa sprach natürlich als Übersetzer fehlerfrei Deutsch, aber wenn er sich mit meiner Mutter unterhalten wollte, ging das nur auf Türkisch. Ich lernte Deutsch im Kindergarten und beim Spielen auf der Straße. Mein Name, Hülya, ist türkisch und bedeutet so viel wie „Fantasie“ oder „Tagtraum“ – benannt bin ich nach einer Schauspielerin, die mein Vater bewunderte.
In unserer Familie wurde nicht offen über diese Zeit gesprochen, deshalb weiß ich nicht, was damals so los war zwischen meiner Mutter und meinem Vater – nur, dass es schwierig und unschön war. Die Fakten sind: Elf Monate nach mir wurde meine Schwester Mehtap geboren. Sie war bis auf eine kleinere Sache an einem Bein gesund. Und noch mal neun Jahre später kam die Jüngste, Sema, auf die Welt, obwohl da schon klar war, dass meine Eltern sich scheiden lassen. Ganz ehrlich, ihre Ehe war eine einzige Katastrophe. Dass sie noch ein Baby bekamen, hat die Scheidung nur ein paar Jahre verzögert.
Als Sema auf die Welt kam, war ich richtig stolz drauf, jetzt eine große Schwester zu sein. Mehtap und ich sind ja nur elf Monate auseinander, da fühlte es sich nie so an, als sei ich die Große und sie die Kleine.
Sema war einfach so süß mit ihren Locken und den Kulleraugen. Meine Mutter hat sie immer angezogen wie eine Puppe. Ich war und bin wirklich froh, dass meine Eltern sie noch bekommen haben. Für meine mittlere Schwester war es dagegen nicht so toll, als Sema kam. Bis dahin hatte sie im Mittelpunkt gestanden, und plötzlich war da jemand Neues und schubste sie vom Thron.
Mittlerweile hat Sema fünf Kinder. Wir haben im trubeligen Alltag nicht so viel Kontakt, aber wenn wir telefonieren, ist da diese Leichtigkeit zwischen uns und wir wissen beide, dass wir jederzeit aufeinander zählen können, wenn irgendwas ist.
*
Ich sitze am Küchentisch in unserer kleinen Wohnung, vor mir steht eine Torte. Meine Mutter hat sie für mich gebacken. Obendrauf sind kleine Blätter aus Schokolade, die ich ganz toll finde.
Es ist mein zweiter Geburtstag. Ich verbringe ihn zu Hause und das ist etwas ganz Besonderes, denn für mich ist es normal, im Krankenhaus zu sein. Ich habe dort mein Zimmer, mein Bett mit den weißen Gittern, es gibt das Spielzimmer mit Stofftieren und Lego, es gibt Ärzte und andere Kinder – und das Allerwichtigste: Es gibt Schwester Gabi. Wenn ich traurig bin, was oft vorkommt, nimmt sie mich in den Arm und tröstet mich. Häufig setzt sie mich auf ihre Schultern und ich reite mit ihr durch die Flure und Zimmer der Station. Dann lache ich wieder und die Traurigkeit ist vergessen.
Meine Eltern kommen mich ab und zu besuchen. Und zwischendurch bin ich immer mal wieder für einige Wochen zu Hause. So wie jetzt, an diesem zweiten Geburtstag. Als meine Eltern mich wieder ins Krankenhaus bringen, fühle ich eine Mischung aus Traurigkeit und Freude. Das mulmige Gefühl verschwindet schnell, als ich Schwester Gabi sehe. Ich strecke ihr die Arme entgegen und rufe freudig: „Mama!“
*
Eigentlich kann es gar nicht sein, dass ich mich an diesen zweiten Geburtstag erinnere, aber ich tue es. Vielleicht war es wirklich so besonders, zu Hause zu sein, dass es sich mir so eingeprägt hat. Ich könnte dagegen nicht sagen, wie der dritte oder vierte Geburtstag war. Sonst sind es nur einzelne Bilder und Szenen, an die ich mich aus der Zeit erinnere: Die weißen Gitter des Krankenhausbetts. Mein roter Schnuller. Das Gefühl, wie ich allein im Dunkeln in diesem Bett sitze.
Bis zu meinem sechsten Lebensjahr war ich mehr im Krankenhaus als zu Hause. Insgesamt schätze ich, dass ich 60 Prozent der Zeit im Krankenhaus war und 40 Prozent zu Hause. Meine Erinnerungen sind nur bruchstückhaft, reichen aber sehr weit zurück. Meine Mutter und mein Vater besuchten mich meiner Erinnerung nach nicht sehr oft. Damals war es noch nicht erlaubt, dass ein Elternteil mit dem Kind im Krankenhaus aufgenommen wird. Das ist inzwischen ja Gott sei Dank anders. Heutzutage bleiben Kinder auch mit schweren Erkrankungen oder nach OPs nicht mehr so lange im Krankenhaus, und die Eltern können die ganze Zeit oder zumindest größtenteils bei ihnen sein. Aber früher hat man das eben so gemacht.
Man kann sich unschwer vorstellen, dass es für ein Kind unglaublich schwierig ist, wenn die Eltern nicht da sind und es allein irgendwo mit fremden Leuten zusammen ist. Drumherum lauter andere Kinder, denen es genauso geht. Klar, dass diese Zeit etwas mit mir gemacht hat. Ich weiß noch, dass ich oft traurig war und mich allein gefühlt habe.
Aber ich habe auch viele positive Erinnerungen an das Krankenhaus, denn dort gab es meinen ganz persönlichen Engel: Schwester Gabi. Schwester Gabi hatte zwei lange rote Zöpfe, und für mich war sie wie Pippi Langstrumpf und meine Ersatzmutter in einer Person. Schwester Gabi kümmerte sich sehr liebevoll um mich – vielleicht war ich auch ein bisschen ihr Ersatzkind, denn sie hatte keine eigenen Kinder. Ich muss wohl ziemlich viel geweint haben, und sie hat mich dann in den Arm genommen und getröstet und mich viel mit sich herumgeschleppt. Ich weiß noch, wie ich auf ihren Schultern saß und mit ihr von Zimmer zu Zimmer „ritt“. Später hat meine Mutter einmal erzählt: „Immer, wenn ich auf die Station kam, hatte dich Schwester Gabi auf dem Arm.“
Vor Kinderpflegekräften habe ich jedenfalls den allergrößten Respekt, das ist für mich einer der wichtigsten Berufe, die es gibt. Schwester Gabi und die anderen Schwestern haben versucht, alles aufzufangen, was wir Kinder vermisst haben. Und es ist ihnen wirklich gelungen, uns dort in dem Krankenhaus sehr viel Liebe zu geben und sehr viel Mitgefühl. Wir mussten ja viele körperliche Schmerzen aushalten, und es ist für Pflegekräfte bestimmt besonders hart, mit anzusehen, wie Kinder leiden. Auch für die Ärzte ist es sicher nicht schön, aber die Pflegekräfte sind noch näher an den Patienten dran und verbringen viel mehr Zeit mit ihnen. Und gerade kleinen Kindern kann man ja noch nicht erklären, warum sie im Krankenhaus sein müssen, warum Mama und Papa nicht da sind oder warum das jetzt so wehtut.
Wenn ich da an meinen Sohn denke, der jetzt vier ist … wenn Dennis oder ich nur mal ein paar Stunden weg sind, vermisst er uns und fängt an, nach uns zu fragen. Und wie er sich freut, wenn wir uns wiedersehen! Wenn ich mir vorstelle, wie es wäre, wenn er ganz lange ohne uns sein müsste … das wäre sicher furchtbar schwer für ihn. Und für uns auch.
Ich kann mich, wie gesagt, nur an flüchtige Momente oder Bilder aus der Zeit erinnern. Aber wenn ich an das Krankenhaus denke, empfinde ich vor allem Wärme und viel Liebe. Und das habe ich allein Schwester Gabi zu verdanken.
Irgendwo spüre ich bei der Erinnerung auch ein bisschen Einsamkeit und Traurigkeit. Klar, denn auch wenn die Schwestern sich die größte Mühe gaben – Mutter und Vater sind für ein Kind doch was anderes. Wobei ich leider sagen muss, dass meine Eltern beide nicht dazu in der Lage waren, mir viel Liebe zu schenken. Beide haben von ihren Eltern wenig zärtliche Liebe erfahren. Da wurde nicht viel gestreichelt oder geherzt oder Liebe geschenkt. Und deshalb konnten sie ihren eigenen Kindern ihre Zuneigung auch nicht so zeigen. Tief im Innern haben sie uns sicherlich geliebt, aber sie konnten es nach außen nicht zeigen, wie so eine Art Blockade. Auf jeden Fall war für mich deutlich spürbar, dass sie oft lieblos waren. Zu sich selbst, zueinander und zu ihren Kindern. Das hätte ich damals nicht so in Worte fassen können, aber gespürt habe ich es sehr wohl.
Wenn du noch klein bist, reflektierst du das natürlich nicht oder bringst Verständnis dafür auf, sondern du hast nur ein ungutes Gefühl und diesen mehr oder weniger klaren Gedanken: „Stimmt mit mir was nicht, dass sie mich nicht so liebhaben und vermissen wie ich sie?“ Ich habe mich sehr danach gesehnt, diese Liebe zu spüren, aber irgendwas schien mit mir nicht in Ordnung zu sein, irgendwie glaubte ich, dass ich keine Liebe verdiene, warum auch immer. Interessanterweise habe ich das nicht mit der Behinderung in Verbindung gebracht. Vielleicht, weil mein Vater ja eine ähnliche Behinderung hatte.
Ich litt nicht nur unter ihren eher seltenen Besuchen im Krankenhaus, sondern auch darunter, wie sie mich zu Hause behandelten. Meinem Vater konnte ich einfach nichts recht machen. Ständig maßregelte er mich, machte mich runter oder schlug mich. Dabei war ich alles andere als ein aufmüpfiges Kind, im Gegenteil, ich war eher eingeschüchtert und sehr bemüht zu gefallen.
Schon früh wurde mir klar: Ich kann machen, was ich will, er findet immer einen Anlass, auszurasten. Dabei wurden sehr böse Aussagen gemacht, Sätze wie „Du bist dumm und frech“, „Nichts kannst du!“ Oft wurde ich in meinem Zimmer eingesperrt oder, noch viel schlimmer, im Dunkeln im Keller. Da saß ich manchmal stundenlang und hatte Mega-Schiss vor der Dunkelheit, vor den unheimlichen Geräuschen und vor den Spinnen, die dort lauerten.
Schlimm war es auch, wenn er mich schlug. Und damit meine ich nicht ab und zu einen kleinen Klaps, sondern wirkliche Prügel. Mein Vater hat nicht davor zurückgeschreckt, mit Gegenständen auf mich einzuschlagen, mit Stöcken und Besenstielen oder mit den Beinschienen, die ich damals trug. Er war trotz der Amputation sehr athletisch und stark, ich hatte keine Chance, von ihm wegzukommen. Ich werde nie den blanken Hass vergessen, der in seinen Augen lag und mir große Angst machte. Da war so viel Aggression in meinem Vater, so viel Wut gegen mich, was ich überhaupt nicht verstanden habe. Oft dachte ich: „Wieso macht er das mit mir? Ich hab doch nichts getan?!“
Wenn wir zusammen am Essenstisch saßen, hatte ich ständig panische Angst, weil ich nur darauf wartete, dass ich wieder irgendwas falsch machte. Manchmal kippte mein Glas um oder ich kaute ewig an einem zähen Stück Fleisch herum, und dann ließ mich mein Vater als Bestrafung scharfe Peperoni essen, damit ich „das Essen mehr schätzen lerne“, und ähnlich absurde Sachen. Oder er hat mich nach dem Frühstück verhauen und angekündigt: „Wenn du aus der Schule kommst, gibt es erst richtig Schläge!“ Oft saß ich völlig verängstigt im Klassenraum und konnte mich nicht auf den Unterricht konzentrieren, weil ich wusste: Wenn ich nach Hause komme, wird es wieder eskalieren.
Meine Schwester wurde auch ab und an mal geschlagen, aber nicht so schlimm wie ich. Ich habe mich oft gefragt, wieso er sich so auf mich eingeschossen hat, denn Mehtap hat ihm sehr viel mehr Anlass gegeben, wütend auf sie zu sein. Lange habe ich gedacht, ich hätte mir vielleicht eingebildet, dass es mich besonders hart getroffen hat. Aber irgendwann habe ich meine Familienangehörigen gefragt, wie sie das erlebt haben, und sie haben meinen Eindruck bestätigt.
Falls ich eine rebellische Ader gehabt haben sollte, konnte ich diese jedenfalls nicht ausleben. Weil ich überleben wollte, hielt ich mich möglichst bedeckt, und Widerworte gab ich schon gar nicht. Ich durfte mich nicht zeigen, mein eigentliches Ich, und zog mich immer mehr in mich selbst zurück. Irgendwie schien es komplett egal zu sein, was ich wollte.
Das ging viele Jahre so, und nie hat mein Vater irgendwie Einsicht gezeigt oder hinterher gesagt, dass es ihm leidtut.
Auf den wenigen Kinderfotos, die es von mir gibt, gucke ich oft ziemlich traurig. Nicht nur, weil ich tatsächlich traurig war, sondern auch, weil mein Vater beim Fotografieren immer irgendetwas zu meckern und zu korrigieren hatte: „Setz dich gerade hin! Guck nicht so! Tu dies, lass das.“
Ich stand permanent unter Stress und verspürte immer den Druck, perfekt funktionieren zu müssen, wie ein Roboter. Eigentlich kein Wunder, dass ich manchmal ins Krankenhaus zurückwollte, wenn ich zu Hause war. Einmal sagte ich zu meiner Mutter: „Ich möchte zurück zu meiner Mama!“, und damit meinte ich Schwester Gabi. Gegen mein Leben zu Hause war die Zeit im Krankenhaus schon fast Erholung.
Und meine Mutter? … Ach, meine Mutter. Sie war unglücklich, sie war frustriert, mein Vater und sie haben sich ständig gestritten. Trotzdem hat sie sich nicht auf unsere Seite gestellt oder uns vor ihm beschützt. Vielleicht kannte sie es aus ihrem Elternhaus nicht anders.
Einmal habe ich zu ihr gesagt: „Das war bestimmt ein schönes Muttertagsgeschenk, als ich auf die Welt gekommen bin!“ Da hat sie kurz überlegt und geantwortet: „Nein, das war überhaupt kein schönes Geschenk.“ Ich war damals vielleicht acht oder neun Jahre alt und habe natürlich nicht verstanden, dass sie das eher auf die Gesamtsituation bezog als darauf, mich als Tochter zu haben. Und so bestätigten ihre Worte wieder dieses nagende Gefühl, dass ich eben einfach nicht liebenswert sei.
Viel später hat mein Vater mir erzählt, dass meine Mutter immer Angst hatte, was später aus mir werden wird, ob ich mit meiner Behinderung klarkommen werde, ob ich irgendwann einen Mann finden und eine Familie gründen würde oder ob ich allein zurechtkommen müsste … Und dann hat mein Vater zu ihr gesagt: „Du wirst sehen, die Hülya wird eine sehr selbstbewusste Frau werden.“
Schade, dass er solche Dinge nie zu mir gesagt hat. Ich bekam nur Negativbotschaften. Vielleicht hat er gedacht, dass er mich besonders streng behandeln muss, damit ich lerne, mich durchzusetzen, und mich deshalb so oft verprügelt und getriezt? Er selbst war ja durchaus ein sehr starker Charakter, der sein Ding gemacht hat. Vielleicht meinte er, ich müsse besonders hart gemacht werden. Wenn dem so war, dann hat er einen echt komischen Ansatz verfolgt. Und trotzdem scheint es irgendwie funktioniert zu haben – aber das hätte auch anders ausgehen können. Eigentlich ist es eher ein Rezept dafür, wie man einem Kind einen psychischen Schaden verpasst, wenn man ihm immer vermittelt: „Hey, du kannst nichts, du machst alles falsch, du bist eh der letzte Mist.“ Die Folge davon ist dann, dass Kinder aufgeben, sich nichts zutrauen und ihr Selbstwertgefühl total am Boden ist.
Tatsächlich war ich über lange Zeit wirklich traurig. Viele Leute denken ja, ich müsse unglaublich unglücklich sein, weil ich diese Behinderung habe. Aber was mich unglücklich gemacht hat, war die lieblose Art zu Hause und nicht, dass ich so auf die Welt gekommen bin, wie ich bin. Es lag nicht an meinem Körper, sondern es waren seelische Schmerzen. Ich habe nie gedacht: „Oh Gott, warum bin ich nur so und nicht wie alle anderen?“
Ich habe mein Anderssein immer als Einzigartigkeit gesehen. Meine Missbildungen sind ein Teil dessen, was mich ausmacht. Schon als sehr kleines Kind habe ich zu meiner Mutter gesagt: „Weißt du, Mama, ich glaube, es hat einen Sinn, dass ich so bin.“ Und das habe ich nicht nur so dahingesagt, sondern es war meine tiefe Überzeugung. Mir war schon damals klar, was dieser Sinn sein könnte: Ich dachte, vielleicht kann ich irgendwann mal Menschen helfen, die durch ähnliche Dinge gehen und Unterstützung brauchen.
Und heute bestätigt sich das. Ich will damit nicht sagen, dass ich was Besonderes wäre, überhaupt nicht. Aber wenn man in seinem Leben den einen oder anderen Schicksalsschlag erlebt hat und jemand einem dann von ähnlichen Erfahrungen erzählt, kann man das viel besser nachempfinden, weil man es auch durchlitten hat. Sicher, irgendwie klingt das nach Schönreden, aber mir hat es wirklich geholfen, dass ich in dem Ganzen einen Sinn erahnt habe. Selbst wenn es nur ein Schutzmechanismus war – scheinbar hat es dazu beigetragen, dass ich nicht in eine Depression gefallen bin.