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Drei Novellen: Lavinia - Pauline - Kora
Geschichten dreier außergewöhnlicher Frauen
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Taschenbuch-Literatur-Klassiker, George Sand, Lavinia - Pauline - Kora
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Vorrede
Lavinia
Eine alte Geschichte
Pauline
1.
2.
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4.
5.
6.
7.
Kora
1.
2.
3.
Amantine Lucile Aurore Dupin – das ist George Sand's Familienname – wurde am 5. Juli 1804, gerade einen Monat nach der Hochzeit ihrer Eltern, zu Paris geboren. Wie Heine, der – gleichviel, ob mit Recht oder Unrecht – die Bizarrerie seines Geistes und Charakters aus seiner Abstammung von jüdischem Proletariat und christlich-germanischem Adel zu erklären liebte, konnte auch Aurore Dupin sich solcher Abkunft von heterogenen gesellschaftlichen Elementen rühmen: ihr Vater war ein Enkel des bekannten Marschalls Moriz von Sachsen, ihre Mutter ein ächtes Kind des Volkes, eine »Zigeunerin« von jener Art, die Henry Murger in seinen Romanen so trefflich zu schildern weiß. Den größten Theil ihrer Jugend verbrachte Aurore bei ihrer Großmutter väterlicherseits, Madame Dupin de Francueil, auf deren Landgut Nohant in der Grafschaft Berry. Mit fünfzehn Jahren brachte man sie dann behufs weiterer Ausbildung in ein Kloster der englischen Augustinerinnen, das sie drei Jahre später verließ, um sich mit einem Herrn Dudevant zu vermählen.
Diese Ehe war keine glückliche. Die Seelen der Gatten harmonirten nicht miteinander, pecuniäre Verlegenheiten machten das Verhältniß unleidlich, und so trafen sie denn nach neunjähriger Ehe die freundschaftliche Übereinkunft, sich zu trennen, indem Madame Dudevant einen Theil des Jahres in Paris verleben sollte, wo sie ihren Unterhalt neben einer ihr vom Gatten ausgesetzten, mäßigen Summe mit den Erträgnissen ihrer Schriftstellerei zu bestreiten hoffte. Ihre vierjährige Tochter Solange, die spätere Gattin des Bildhauers Clesinger, nahm sie mit sich.
Selten oder nie hat eine Stadt eine größere Menge begabter, jugendkühner, hochstrebender Geister gleichzeitig in ihren Mauern vereinigt, als damals Paris. Victor Hugo, Alfred de Vigny, Alexander Dumas, Gerard de Nerval, Theophile Gautier, Alfred de Musset, Jules Sandeau, Mery, Merimée, Saint-Beuve, Victor Cousin, Villemain, Lamartine, Louis Blanc, Proudhon, Balzac, Soulié, Sue, Scribe, Littré, Ampère, Jules Janin, Mignet, Thiers, Michelet, die beiden Thierry, Aug. Comte, Lacordaire, Buchez, Berlioz, Halévy, Leop. Robert, Delaroche, Gavarny, Ary Scheffer u.s.w. u.s.w. – sie alle in der Blüte ihrer Jahre, noch vom Kampfe, den sie in den zwanziger Jahren gegen jede Autorität im Staate, in der Kirche, in der Gesellschaft, in der Kunst geführt hatten, erhitzt, bemühten sich nun, die Früchte ihres Sieges zu pflücken und durch neue Schöpfungen zu beweisen, daß ihre Kraft nicht allein zur leidenschaftlichen Verneinung, sondern auch zum künstlerischen Schaffen ausreiche. – Mit ihrer Ankunft in Paris (1831) trat Aurore Dudevant in den Mittelpunkt dieser Gährung. Schnell wurde sie mit den Stimmführern der Epoche bekannt, Balzac, der Analytiker des »Phänomens der Liebe«, ward ihr Freund, der jugendliche Jules Sandeau, der ihr später die Hälfte seines Namens abtreten mußte, ihr Begleiter auf den Streifzügen durch die Stadt, die sie in Männerkleidern unternahm, die St. Simonisten, die die Emancipation des Weibes anstrebten, ihre Lehrer und Führer. Im selben Jahre erschien auch ihre erste Novelle » Rosa und Blanca«, an der Jules Sandeau nicht wenig Antheil gehabt haben soll, fand aber wenig Beachtung, während dagegen » Indiana« [Fußnote] 1832 ganz Frankreich elektrisirte. Mit »Indiana« begann George Sand den Kampf gegen das Institut der Ehe und für die Emancipation der Frau, einen Kampf, den sie mit wenig Unterbrechung bis an das Ende ihres Lebens fortgeführt hat.
Diese Tendenz scheint verwerflich, aber man behalte im Auge, daß George Sand für Franzosen und über französische Ehen schrieb. Die Ehe, begründet auf der persönlichen Zuneigung der Gatten, ist gewiß ein sittliches Institut, sie wirkt aber unmoralisch, sobald diese persönliche Neigung fehlt. Und das eben ist bei den meisten Ehen der sogenannten höhern Stände in Frankreich der Fall. Mit siebenzehn, achtzehn Jahren wird das junge Mädchen aus der Pension heraus verheirathet, ohne ihren Gatten, ohne die Welt näher zu kennen. Ihre Bildung ist eine oberflächliche, ihr Herz leer, ihr Hirn mit allerlei confusen Vorstellungen angefüllt – von einem traulichen Familienleben kann da nicht die Rede sein. Nun tritt sie in die Welt, lernt jetzt erst andere Männer kennen und mit dem eigenen vergleichen, für den selbst es fast zum »guten Ton« gehört, Herzensfreuden nur außerhalb des Hauses zu suchen, ihr selbst, bietet die Gesellschaft Gelegenheit, sich für das zu entschädigen, was sie daheim entbehrt – – – –
Und dabei ist die Ehe nach kanonischem und civilem Recht in Frankreich unlöslich! – Die französischen Schriftsteller schreiben also nicht aus Hang zum Widerspruche und zur Frivolität gegen die Ehe, nein, ihren Ausführungen liegt zumeist ein edles, tief sittliches Motiv zu Grunde. So auch bei George Sand.
Der »Indiana« folgte noch im selben Jahre » Valentine«, dann 1833 » Lelia«, 1834 » Der Geheimsecretär«, » Jacques« und » Leone Leoni«. All diese Romane tragen die Tendenz offen zur Schau, um so offener, da die Komposition überall eine ziemlich einförmige ist. Was bezweckt nun aber die Schriftstellerin damit? Will sie uns etwa Frauen wie Julie, die sich von dem nichtswürdigen Leoni zu den ärgsten Schändlichkeiten bestimmen läßt, oder Indiana, die ihrem Verführer nachläuft wie eine Gassendirne, als Vorbilder hinstellen? Will sie diese Schwächen und Fehler für Recht und Sitte erklären? Keineswegs! Nicht Bewunderung und Achtung sollen diese Gestalten uns abnöthigen, sondern Mitleid und Bedauern, nicht unsere Liebe sollen sie erwecken, sondern unser Gerechtigkeitsgefühl. » L'amour, c'est Ia vertu de la femme! Die Liebe ist die Tugend der Frau,« ruft sie aus; aber sie ist kein Act des Willens, sondern eine Nothwendigkeit, ein Naturgesetz, das diese Frauen unwiderstehlich fortreißt. Deshalb kann und darf man sie nicht verdammen, sondern muß und soll sie bemitleiden und ihnen verzeihen: sie sind keine Verbrecher, sondern Unglückliche, keine Frevlerinnen, sondern Opfer der Verhältnisse und ihrer Instincte.
In den bis jetzt genannten Schriften George Sand's ist die Tendenz die Hauptsache, die Erzählung wird ihr gegenüber geradezu stiefmütterlich behandelt. Inzwischen aber hatte die Dichterin das berüchtigte Verhältniß mit Alfred de Musset angeknüpft und in seiner Begleitung die aus den » Briefen eines Reisenden« genugsam bekannte Reise nach Italien gemacht. Warum gerade der zerfahrene, unklare, flatterhafte Musset ihr Cicisbeo wurde? Man höre, was sie gelegentlich einmal an Sainte-Beuve schrieb: »Ich fürchte mich ein wenig vor den Männern, die von Geburt an tugendhaft sind. Ich würdige sie wie schöne Blumen und schöne Früchte, aber ich sympathisire nicht mit ihnen. Man fürchtet die Leute, die man achtet und läuft zudem Gefahr, von ihnen aufgegeben und verachtet zu werden, wenn man sich so zeigt, wie man ist. Die Leute, die man nicht achtet, werden uns besser verstehen, aber – sie verrathen uns.« – Das Verhältniß war unhaltbar. Auf wessen Seite die Schuld lag, ist schwer zu entscheiden, genug, der Bruch erfolgte, und Musset machte ihn durch sein » Bekenntniß eines Kindes des Jahrhunderts«, dem George Sand in » Lucretia Floriani« und in » Sie und Er« entgegentritt, unheilbar. Im Februar 1836 entschied auch endlich das Gericht die Klage auf die Trennung (d. h. Scheidung von Tisch und Bett) ihrer Ehe zu ihren Gunsten: sie behielt das von der Großmutter ererbte Gut Nohant und ihre beiden Kinder, von denen der Sohn Maurice, als Maler und Schriftsteller bekannt, später den durch seine Mutter berühmt gemachten Namen Sand annahm.
Von 1836 an werden nun ihre Erzählungen milder, die Composition wird mit mehr Liebe behandelt, den Einzelheiten mehr Raum gewidmet. Zwar ist die Tendenz noch immer dieselbe, aber sie tritt weniger leidenschaftlich hervor: der Ernst der Denkerin zügelt die Glut der Dichterin. Zu den Novellen dieser Epoche (1836–41) gehört neben » André«, »Simon«, »Pauline«, »Horace« u.s.w. auch » Lavinia«.
Die frühern Schöpfungen sind Variationen über das Thema: »Arme Frauen, arme Gesellschaft, in der das Herz keine wahre, wirkliche Freude findet, außer im Vergessen aller Pflicht und aller Vernunft!« – » Lavinia« ist eine Interpretation der Worte Tremor's in der »Lelia«: »Der Mensch fängt erst da an, wo die Leidenschaft aufhört: Ruhe ist die Zukunft, nach der die unsterbliche Seele trachtet.« Lady Lavinia Blake sucht diese Ruhe, nachdem der erste Mann, den sie geliebt, sie betrogen und verlassen hat, indem sie sich ihren Anbetern entzieht. Nicht ihre Liebe, sondern ihr Vertrauen ist erloschen: sie glaubt nicht mehr an das Glück, und wie der Ausgang zeigt, hat sie Recht. Die Reflexion besiegt hier die Leidenschaft. Lionel, der geistreiche, aber mattherzige und in seiner Schwächlichkeit egoistische Dandy, ist eine stehende Figur Sand'scher Novellen, neu dagegen die Gestalt Henry's. Auch Henry ist ein Stutzer, aber er weiß, daß er's ist und will nichts anders sein und scheinen, und eben darin liegt seine Ueberlegenheit dem feinern, aber schwächern Lionel gegenüber. Er ist schwatzhaft, eitel, flatterhaft wie irgend einer, aber er weiß, was er will und spielt nicht mit sich selbst Comödie. Noch ein anderer Umstand verdient hier der Erwähnung: in »Lavinia« zeigt sich zum ersten Male ein gewisser Humor, den wir in den frühern Werken der Dichterin durchweg vermissen, dann aber in » Pauline«, »Kora«, »Matten«, »Die letzte Aldini« u.s.w. zur Blüte kommen sehen.
» Pauline« ist das Gegenstück zu »Lavinia«: Lady Blake, die erfahrene Weltdame, nutzt ihre Erfahrungen und verzichtet entschlossenen Sinns auf ein zweifelhaftes Glück, Pauline D***, die tugendstolze Spießbürgerin, verschließt sich hartnäckig der Erkenntniß und schafft sich ein unzweifelhaftes Unglück. Zu engherzig, um zu entsagen, verfällt sie dem gewöhnlichen Unglück der Frauen, die nur ihre Tugend in die Wagschale zu werfen haben: sie bekommt einen Mann, aber kein zweites Selbst. – In die Erzählung eingewoben ist die prächtige Schilderung des kleinstädtischen Philistertums, das sich aller Orten gleich bleibt und auch in »Kora« den nicht wenig ergötzlichen Hintergrund bildet. » Kora«, die launige Selbsterzählung einer phantastischen Jugendleidenschaft, ist wol das harmloseste Kind der Sand'schen Muse und erinnert mit seinen Reminiscenzen aus der Zeit der französischen Romantiker unwillkürlich an des mit Unrecht vergessenen Franz von Gaudy klassisch-heitre »Schülerliebe«. Das Geschichtchen ist ohne Tendenz, und das ist vielleicht sein größter Vorzug. Den beiden andern fügte ich es in der Übersetzung an, um im Kleinen ein anschauliches Bild von der Entwicklung des Humors bei unserer Dichterin zu geben.
Mit »Pauline« betrat George Sand auch noch ein anderes Gebiet: das der Schilderung des leichten, flotten Künstlerlebens, die in ihrem Meisterwerke » Consuelo« und dessen schwächerer Fortsetzung » Die Gräfin von Rudolstadt« zu vollendeter Schönheit gedieh. Dann folgte »Jeanne«, eine moderne Jungfrau von Orleans, und, nachdem schon vorher » Der französische Handwerksbursche« ( Ie Compagnon du Tour de France) erschienen war, » Der Müller von Angibault« und » Die Sünde des Herrn Antoine«, in denen sich die Handwerker mit ihren naiven Tollheiten auf die heiterste Weise abspiegeln. Später erschienen die Dorfgeschichten » Der Teufelssumpf«, »Franz der Findling«, »Die kleine Fadette«, deren Schauplatz die Grafschaft Berry, die eigentliche Heimat der Dichterin ist, ferner » Isidora«, »Teverino«, »Lucretia Floriani«, » Der Piccinino« u.s.w. und endlich 1854 ihre Autobiographie » Die Geschichte meines Lebens«.
Damit hatte George Sand ihre Laufbahn eigentlich abgeschlossen, denn wer seine Memoiren schreibt, deutet damit an, daß er im gewissen Sinne mit dem Leben fertig ist. Der Staatsstreich vom 2. September hatte ihre Hoffnungen auf die Verwirklichung ihrer republikanischen Ideen an der Wurzel getroffen: sie gab den Kampf auf, den sie seit 1841 mit gleichgesinnten Freunden, wie Leroux, Lamennais, Mickiewicz u. a. gegen die Monarchie geführt und 1848 in einem eigenen Journal » La Cause du Peuple« eifrig unterhalten hatte. Zwar erschienen noch mannichfach Schriften von ihr, namentlich Schauspiele, doch nur wenige von denselben – » Molière«, »Der Marquis von Billemer«, »Claudia«), [Fußnote] » Victorine's Hochzeit«) [Fußnote] u. e. a. – sind der Erwähnung werth.
Zum Schluß sei mir gestattet, eine Schilderung, die Heine im Jahre 1841 von der Person der Dichterin gab, anzuführen: »George Sand ist eine schöne Frau. Ihr Gesicht ist eher schön als interessant zu nennen, von griechischer Regelmäßigkeit. Ihre Augen sind etwas matt, wenigstens nicht glänzend. Ihren Mund umspielt gewöhnlich ein gutmüthiges Lächeln, es ist aber nicht sehr anziehend; die etwas hängende Unterlippe verräth ermüdete Sinnlichkeit ... Ihre Stimme ist matt, und welk, ohne Metall, jedoch sanft und angenehm ... Sie hat durchaus nichts von dem sprudelnden Esprit ihrer Landsmänninnen, aber auch nichts von ihrer Geschwätzigkeit. Sie ist einsilbig, weil sie dich nicht werth hält, ihren Geist an dir zu vergeuden, oder weil sie das Beste deiner Rede in sich aufzunehmen trachtet, um es später in ihren Büchern zu verarbeiten: ein Zug, worauf mich Alfred de Musset aufmerksam machte.« – An einer andern Stelle nennt der ungezogene Liebling der Grazien, der wie Chopin, Lamennais, Boccage u. a. viel und gern im Hause der Dichterin verkehrte, sie »den größten Dichter in Prosa, den die Franzosen besitzen.«
Schon seit 1836 hatte sie abwechselnd in Paris und Nohant gewohnt. In den letzten Jahren hatte sie sich ganz auf das Landgut zurückgezogen und starb dort im Kreise ihrer Kinder und Enkel am 8. Juni 1876.
Randau, 29. November 1879. Robert Habs.
Brief.
»Dürfte es nicht angebracht sein, Lionel, da Sie sich verheirathen, uns gegenseitig unsere Briefe und Portraits zurückzugeben? Da der Zufall uns einander nahe bringt, und wir heute nach zehn Jahren himmelweiter Trennung nur wenige Meilen von einander entfernt sind, ist es leicht. Sie kommen zuweilen nach Saint-Sauveur, hat man mir erzählt – ich verweile wenigstens acht Tage dort und hoffe demnach, daß Sie sich im Laufe der nächsten Woche mit dem von mir zurückgeforderten Paquet hier einfinden werden. Ich wohne im Haus Estabanette am Fuße des Wasserfalls. Schicken Sie die mit der Botschaft beauftragte Person dorthin; sie wird Ihnen ein ähnliches Paquet zurückbringen, das ich für Sie zum Austausch bereit halte.«
Antwort.
»Madame!
»Das Paquet, welches ich Ihnen übersenden soll, liegt mit Ihrer Adresse versehen, hier versiegelt. Da ich sehe, daß Sie nicht bezweifelten, es würde an dem Tage und dem Orte, an dem die Rückforderung Ihnen beliebte, mir zu Händen sein, bin ich Ihnen sicherlich zu Dank verpflichtet.
»Aber muß ich es denn persönlich nach Saint-Sauveur bringen, Madame, um es dann den Händen eines Dritten anzuvertrauen, der es Ihnen zustellen soll? Wäre es nicht einfacher, mich nicht an Ihrem Wohnsitze der Aufregung, Ihnen so nahe zu sein, auszusetzen, da Sie mir das Glück einer Zusammenkunft bei dieser Gelegenheit nicht zu bewilligen gedenken? Wäre es nicht besser, das Paquet einem Boten anzuvertrauen, von dem ich sicher bin, daß er es nach Saint-Sauveur bringt? Ich erwarte daraufhin Ihre Befehle, Madame. Wie sie auch seien, ich werde mich ihnen blindlings unterwerfen.«
Brief.
»Daß meine Briefe zufällig in diesem Augenblick Ihnen zu Händen wären, Lionel, wußte ich, da mein Cousin Henry mir sagte, er habe Sie in Bagnères gesehen und diesen Umstand von Ihnen erfahren. Es freut mich sehr, daß Henry, der, wie alle Schwätzer, ein wenig lügt, mich nicht getäuscht hat. Das Paquet selbst nach Saint-Sauveur zu bringen, bat ich Sie, weil dergleichen Botschaften in von Schleichhändlern unsicher gemachten Gebirgen nicht leichtsinnig einer Gefahr ausgesetzt werden dürfen; denn diese Schmuggler nehmen alles, was ihnen unter die Hände kommt. Da ich Sie kenne als einen Mann, der anvertrautes Gut wacker zu vertheidigen weiß, kann ich nichts Besseres zu meiner Beruhigung thun, als Sie selbst zum Bürgen für das machen, was mich interessirt. Eine Zusammenkunft bot ich Ihnen nicht an, da ich Ihnen dadurch den schon an sich peinlichen Weg, den ich von Ihnen verlangte, noch unangenehmer zu machen fürchtete. Da Sie aber mit Leidwesen an diese Zusammenkunft zu denken scheinen, bin ich es Ihnen schuldig und bewillige Ihnen diese schwache Entschädigung. Und da ich nicht wünsche, daß Sie dem Warten kostbare Zeit opfern, will ich Ihnen für diesen Fall den Tag bestimmen, damit Sie mich nicht abwesend finden. Seien Sie also am 15. Abends 9 Uhr in Saint-Sauveur. Warten Sie bei mir zu Hause auf mich und lassen Sie mich durch meine Negerin benachrichtigen. Ich werde sofort erscheinen. Das Paquet wird bereit liegen. – Adieu.«
Sir Lionel wurde von der Ankunft dieses zweiten Billets unangenehm berührt. Es überrumpelte ihn gerade bei dem Project zu einer Reise nach Luchon, wobei die schöne Miß Ellis, seine Verlobte, sehr auf seine Begleitung rechnete. Der Ausflug mußte entzückend werden. In den Bädern gelingen die Lustfahrten beinahe stets, weil sie so rasch einander folgen, daß man nicht Zeit hat, sie vorzubereiten, weil das Leben hastig, lebhaft, unvorhergesehen vorüberbraust, und weil das beständige Hinzukommen neuer Gefährten den geringsten Kleinigkeiten einer Festlichkeit den Charakter des Unvorhergesehenen verleiht.
Sir Lionel amüsirte sich also in den Bädern der Pyrenäen, so weit es für einen guten Engländer schicklich ist, sich überhaupt zu amüsiren. Zudem war er ganz leidlich in den üppigen Wuchs und die erquickliche Mitgift der Miß Ellis verliebt, und seine Fahnenflucht angesichts eines Schauritts von so außerordentlicher Bedeutung (Fräulein Ellis hatte einen sehr schönen Navarreser Apfelschimmel aus Tarbes kommen lassen, den sie an der Spitze der Caravane glänzen lassen wollte) konnte seinen Heirathsprojecten verderblich werden. Sir Lionels Lage war gleichwol eine schwierige, denn er war ein Mann von feinstem Ehrgefühl. Daher suchte er seinen Freund Sir Henry auf, um ihn von dem Gewissensfall in Kenntniß zu setzen.
Um aber den jovialen Henry zu ernster Aufmerksamkeit zu zwingen, begann er, mit ihm zu zanken.
»Sie leichtsinniger Schwätzer!« schrie er ihn gleich beim Eintreten an. »Es verlohnte sich wol der Mühe, Ihrer Cousine mitzutheilen, daß ihre Briefe in meinen Händen wären! Nie haben Sie ein verfängliches Wort auf der Zunge behalten können! Sie sind gerade wie ein Gießbach, der eben soviel ausströmt, als er einnimmt, wie einer jener unverschloßnen Vasen, die die Statuen der Flußgötter und Najaden schmücken: der Guß, der sie durchströmt, nimmt sich nicht zum Ruhen Zeit« – – –
»Sehr gut, Lionel!« rief der junge Mann. »Ich sehe Sie gern in einem Anfall von Wuth: das macht Sie poetisch. In diesem Augenblick sind Sie selbst ein Gießbach, ein Fluß von Metaphern, ein Strom der Beredsamkeit, ein Meer von Allegorien« – –
»Ha! es handelt sich jetzt wol um einen Scherz!« schrie Lionel wüthend. »Wir reiten nicht nach Luchon!«
»›Wir reiten nicht nach Luchon – wer hat das gesagt?‹«
»Wir reiten nicht dorthin, Sie und ich! Das sage ich Ihnen!«
»›Sprechen Sie Ihrerseits soviel Sie wollen, ich für mein Theil bin Ihr sehr ergebener Diener.‹«
»Ich gehe nicht dorthin und folglich auch Sie nicht. Sie haben einen Fehler begangen, Henry, den müssen Sie wieder gut machen. Sie haben mir eine abscheuliche Unannehmlichkeit auf den Hals geladen – nun fordert Ihr Gewissen, daß Sie mir sie tragen helfen. Sie diniren mit mir in Saint-Sauveur.«
»›Der Teufel hole mich, wenn ich's thue!‹« rief Henry. »›Seit gestern Abend bin ich närrisch in die kleine Bordeauxerin verliebt, über die ich mich noch gestern Morgen lustig machte. Ich reite nach Luchon, da sie dahin reitet. Sie wird meinen Yorkshire besteigen, und Ihr großes Habichtsgesicht, Miß Margaret Ellis, wird vor Eifersucht bersten.‹«
»Hören Sie, Henry,« sagte Lionel mit ernster Miene. »Sie sind mein Freund?«
»›Ohne Frage! Das ist bekannt. Es ist unnütz, in diesem Augenblick der Freundschaft wegen in Rührung zu zerfließen. Mir ahnt, daß dieser feierliche Eingang mich veranlassen soll‹« – –
»Hören Sie mich an, sage ich Ihnen, Henry. Sie sind mein Freund, Sie freuen sich über die glücklichen Ereignisse meines Lebens, und ich denke, Sie würden es sich nicht leichthin verzeihen, wenn Sie mir einen Nachtheil, ein wirkliches Unheil zugefügt hätten?«
»›Nein, auf Ehre nicht! Aber warum handelt es sich denn?‹«
»Nun, Sie machen möglichen Falls meine Heirath zu Wasser, Henry.« »›Gehen Sie doch! Nur weil ich meiner Cousine sagte, Sie wären im Besitz ihrer Briefe, und weil dieselbe sie von Ihnen zurückverlangt? Welchen Einfluß kann Lady Lavinia nach zehnjährigem, gegenseitigen Vergessen auf Ihr Leben ausüben? Sind Sie so dünkelhaft, daß Sie meinen, sie habe sich über Ihre Untreue nicht getröstet? Zum Teufel, Lionel, das ist zu gewissenhaft! Das Uebel ist nicht so groß! Glauben Sie nur, es ist nicht ohne Heilmittel gewesen‹« – –
Henry zupfte bei diesen Worten nachlässig an seiner Cravatte und warf einen Blick in den Spiegel, zwei Bewegungen, die in der heiligen Sprache der Pantomime leicht zu deuten sind.
Diese Lection über Bescheidenheit aus dem Munde eines Menschen, der noch eitler war, als er, erzürnte Sir Lionel.
»Ich werde mir nie eine Bemerkung über Lady Lavinia erlauben,« sagte er, indem er seinen Unmuth zu unterdrücken strebte. »Das Gefühl verletzter Eitelkeit wird mich nie bewegen, den Ruf einer Frau zu beflecken, selbst wenn ich nie Liebe zu dieser Frau empfunden hätte.« »›Das ist durchaus bei mir der Fall,‹« entgegnete Sir Henry leichtsinnig. »›Ich habe sie nie geliebt und bin nie auf die eifersüchtig gewesen, welche sie besser zu behandeln wußte als mich. Ueberdies habe ich gegen die Tugend meiner glorreichen Cousine nichts einzuwenden – nie habe ich sie ernstlich zu erschüttern versucht‹« – – »Henry, Sie haben ihr diese Gnade widerfahren lassen? Da muß sie Ihnen wirklich dankbar sein!«
»›Nun genug, Lionel! Wovon reden wir, was wollten Sie mir sagen? Gestern schienen Sie gegen die Erinnerung an Ihre erste Liebe sehr wenig pietätvoll zu sein: rückhaltslos lagen Sie vor der strahlenden Miß Ellis anbetend auf den Knieen. Wenn's beliebt – wo bleiben Sie heute damit? Betreffs der Vergangenheit scheinen Sie keine Vernunft anzunehmen und reden da von einem Ritt nach Saint-Sauveur, anstatt nach Luchon! Laßt sehen, wen lieben Sie jetzt? Wen wollen Sie heirathen?‹«
»Ich heirathe Miß Margaret, wenn's Gott und Ihnen gefällt.«
»›Mir?‹«
»Ja, Sie können mich retten. Da, lesen Sie das neue Billet, das mir Ihre Cousine schreibt. – Haben Sie? – Sehr gut! Sie sehen, ich muß mich jetzt zwischen Luchon und Saint-Sauveur, zwischen einer zu erobernden und einer zu tröstenden Frau entscheiden.«
»›Holla, Sie Narr!‹« rief Henry. »›Hundert Mal habe ich Ihnen erzählt, meine Cousine sei frisch wie eine Blume, schön wie ein Engel, munter wie ein Vogel, lustig, heiter und gesund, elegant, coquet – wenn diese Dame trostlos ist, will ich mein ganzes Leben unter der Last eines gleichen Schmerzes verseufzen.‹«
»Machen Sie sich keine Hoffnung, Henry, mich zu ärgern, Ihre Mittheilung macht mich vielmehr glücklich. Aber können Sie mir diesenfalls die sonderbare Laune deuten, die Lady Lavinia veranlaßt, mir ein Rendezvous zu geben?«
»›O Sie Erznarr!‹« rief Henry. »›Sehen Sie denn nicht, daß das Ihre Schuld ist? Lavinia, wünschte diese Zusammenkunft nicht im mindesten – dessen bin ich sicher. Denn als ich mit ihr von Ihnen sprach, als ich sie fragte, ob nicht auf dem Wege von Saint-Sauveur nach Bagnères beim Nahen einer Gruppe von Cavalieren, unter denen auch Sie sich befinden könnten, ihr Herz zuweilen schneller schlüge, antwortete sie mir mit schläfriger Miene: »Wahrhaftig! mein Herz pochte vielleicht, begegnete ich ihm« – – und ein reizendes Gähnen modulirte das letzte Wort ihrer Phrase. Beißen Sie sich nicht auf die Lippen, Lionel, es war ein so zartes, so frisches Gähnen aus schönem Frauenmund, so harmonisch, daß es artig und schmeichelhaft schien, so lang gezogen, daß es die tiefste Apathie, die herzlichste Gleichgültigkeit ausdrückte. – Sie aber, anstatt aus dieser guten Stimmung Nutzen zu ziehen, Sie können der Neigung zum Phrasenmachen nicht widerstehen. Treu dem ewigen Pathos der in Ungnade gefallenen Liebhaber, affectiren Sie, obgleich über diese Ungnade entzückt, den elegischen Ton, das tragische Genre; Sie scheinen die Unmöglichkeit, sie wiederzusehen, zu beklagen, anstatt ihr offen und ehrlich zu sagen, daß Sie ihr eben deshalb außerordentlich dankbar seien.'«
»Dergleichen Ungezogenheiten kann man sich nicht zu Schulden kommen lassen. Wie konnte ich ahnen, daß sie einige müßige Worte, die in diesem Falle die Schicklichkeit mir abnöthigte, im Ernst nehmen würde?«
»,O, ich kenne Lavinia. Das ist eine Bosheit in ihrer Manier.'«
»Unsterbliche Frauenbosheit! Doch nein! Lavinia war die sanfteste und am wenigsten spottsüchtige von allen. Ich weiß, sie hat nicht mehr Lust zu dieser Zusammenkunft als ich. Halt, lieber Henry, retten Sie uns beide vor dieser Strafe: nehmen Sie das Paquet, eilen Sie nach Saint-Sauveur, bemühen Sie sich, alles zu ordnen, geben Sie ihr zu verstehen, daß ich unmöglich« – –
»Miß Ellis am Vorabende Ihrer Hochzeit verlassen darf, nicht wahr? – Ein netter Grund, den man einer Nebenbuhlerin angeben könnte! Unmöglich, mein Lieber! Sie haben die Suppe eingebrockt, nun müssen Sie sie auslöffeln. Wenn man die Dummheit begeht, zehn Jahre lang die Briefe und das Portrait einer Frau aufzubewahren, wenn man unbesonnen genug ist, sich gegen einen Schwätzer wie mich damit zu rühmen, wenn man die Tollheit besitzt, mit kaltem Blute einem Scheidebrief Geist und Empfindung einzuhauchen, so muß man auch die Folgen über sich ergehen lassen. So lange die Briefe in Ihren Händen sind, können Sie Lady Lavinia nichts verweigern, und welche Art des Verkehrs Sie Ihnen auch vorschreibt, Sie sind ihr unterworfen, bis der feierliche Schritt gethan ist. Auf, Lionel, lassen Sie Ihren Pony satteln und gehen wir! Denn ich begleite Sie. Ich bin ein wenig schuld an alle dem, Sie sehen, daß ich nicht lache, nun es sich um's Wiedergutmachen handelt. Vorwärts!«'
Lionel hatte gehofft, Henry würde ein anderes Mittel finden, um ihn aus der Verlegenheit zu ziehen. Mit der geheimen Empfindung unwillkürlichen Widerstandes gegen den Rathschluß der Notwendigkeit blieb er bestürzt, unbeweglich an seinem Platze. Am Ende jedoch erhob er sich mit über der Brust gekreuzten Armen, traurig und in sein Schicksal ergeben. Im Punkte der Liebe war Sir Lionel ein vollkommener Held. War auch sein Herz in mehr als einem Falle eidvergessen gewesen, nie war sein äußeres Benehmen vom Codex der seinen Lebensart abgewichen, nie hatte ihm eine Frau ein Abirren von jener zartsinnigen, großherzigen Willfährigkeit, dem besten Zeichen, das ein wohl erzogener Mann einer zürnenden Frau für das Erblassen seiner Leidenschaft geben kann, zum Vorwurf machen können. Mit dem Bewußtsein einer peinlichen Treue gegen diese Regeln beruhigte der schöne Sir Lionel sein Gewissen über die Leiden, die für andere mit seinen Triumphen verbunden waren.
»›Halt! ein Mittel!‹« rief endlich Henry und sprang ebenfalls auf. »›Die Klatschgesellschaft unserer schönen Landsmänninnen ist hier maßgebend. Miß Ellis und ihre Schwester Anna sind die bedeutendsten Mächte im Rathe der Amazonen. Man muß es von Margaret erlangen, daß der auf morgen festgesetzte Ausflug um einen Tag verschoben wird. Ein Tag hier zu Lande, das ist viel, ich weiß es, aber man muß es durchsetzen, ein ernstes Hinderniß zum Vorwand nehmen und noch in dieser Nacht nach Saint-Sauveur aufbrechen. Wir kommen dort am Nachmittag an, ruhen uns bis zum Abend aus, um 9 Uhr, während des Rendezvous, lasse ich die Pferde satteln, und um 10 Uhr (ich glaube, daß zum Austausch zweier Briefpackete nicht mehr als eine Stunde nöthig) sitzen wir wieder auf; wir reiten die ganze Nacht durch, kommen mit Sonnenaufgang hier an, treffen die schöne Margaret auf ihrem edeln Rosse paradirend, meine hübsche, kleine Madame Bernos meinen Yorkshire tummelnd, wechseln die Stiefeln und die Pferde, und staubbedeckt, marschermüdet, liebeskrank, bleich und interessant folgen wir unfern Dulcineen durch Berg und Thal. Wenn solcher Eifer nicht belohnt wird, verdienen alle Frauen zum warnenden Exempel gehangen zu werden. Vorwärts, bist du fertig?‹«
Dankdurchdrungen warf sich Lionel in Henry's Arme. – Nach einer Viertelstunde kehrte dieser zurück. »›Laß uns aufbrechen,‹« sagte er, »›es ist alles abgemacht, die Fahrt nach Luchon wird bis zum 16. verschoben. Aber es hat Mühe gekostet. Miß Ellis war argwöhnisch. Sie weiß, daß meine Cousine in Saint-Sauveur ist und hegt eine schreckliche Abneigung gegen sie, weil sie die Tollheiten kennt, die du früher Lavinia's wegen angestellt hast. Doch ich habe geschickt den Argwohn abgelenkt. Ich sagte, du wärest entsetzlich krank, und ich hätte dich soeben gezwungen, dich zu Bett zu legen‹« – –
»Gerechter Gott! eine neue Thorheit, um mich in's Unglück zu stürzen!«
»›Nein, nein, keineswegs! Dick wird deinem Kopfkissen eine Nachtmütze aufstülpen, es der Länge lang in dein Bett legen und beim Hausmädchen drei Terrinen Krankensuppe bestellen. Vor allen Dingen aber wird er den Zimmerschlüssel in die Tasche stecken und sich mit verdrießlichem Gesicht und wildem Blick an die Thür postiren. Und dann hab' ich ihm auf die Seele gebunden, niemand eintreten zu lassen und jeden durchzuprügeln, der es versuchen sollte, mit Gewalt den Eintritt zu erzwingen – und wäre es Miß Margaret selbst. Ah sieh, da ist er ja und wärmt dein Bett mit der Wärmflasche. Famos! er hat ein ausgezeichnetes Gesicht – traurig will er aussehen und sieht dumm aus. Laß uns durch die Thür hinausschlüpfen, die zur Schlucht führt. Jack wird unsere Pferde an den Ausgang des Thales führen, als ob er sie ausritte; an der Lonniobrücke treffen wir mit ihm zusammen. Marsch, auf den Weg! und der Gott der Liebe mag uns schützen!« –
Eilig durchsprengten sie den Raum, der die beiden Bergketten trennt, und mäßigten die Gangart erst in dem engen, dunkeln Hohlweg, der sich zwischen Pierrefitte und Luz hinzieht. Unstreitig ist dies eine der wild-romantischsten, charakteristischsten Partien in den Pyrenäen. Alles nimmt dort ein düsteres Aussehen an. Die Berge drängen sich eng aneinander, dazwischen zwängt sich der Gave hindurch und grollt dumpf unter den von wildem Wein und Felsklippen gebildeten Bogengängen dahin. Die schwarzen Felshänge sind mit Schlingpflanzen bedeckt, deren kräftiges Grün auf den entferntern Flächen in bläuliche Tinten und gegen die Gipfel zu in einen grauweißen Ton übergeht. Das Wasser des Bergstroms erhält dadurch einen bald hellgrünen, bald mattblauen, schieferfarbenen Glanz, wie man ihn am Meerwasser bemerkt.
Große Marmorbrücken wölben sich in einem einzigen Bogen über Abstürze hinweg von einer Seite der Bergkette zur andern. Nichts ist imposanter, als die Bauart und die Lage dieser Brücken, die in der Luft schweben und sich in der klaren, feuchten Atmosphäre baden, welche nur widerwillig in's Thal zu sinken scheint. Auf einen Raum von vier Meilen [Fußnote] läuft die Straße sieben Mal von einer Seite der Schlucht zur andern. Als unsere beiden Reisenden die siebente Brücke passirten, erblickten sie im Grunde des Schlundes, der sich allmählich vor ihnen erweiterte, das entzückende Luzer Thal, das die Glutpfeile der aufgehenden Sonne überfluteten. Die Höhe der Berge gestattete den Strahlen der Morgensonne nicht, bis zu ihnen zu dringen. In den Stauden am Bache ließ die Wasseramsel ihren leisen Klageruf ertönen. Das schäumende, kalte Wasser zerriß mühsam den Nebelschleier, der auf ihm lagerte. An den Gipfeln blitzten nur spärlich einige Lichtstrahlen über die Zacken der Felsen und das hangende Astwerk der Waldreben hin. Aber mitten in dieser wild-düstern Umgebung, hinter den gewaltigen Felsmassen, die, hart und starr, den beliebten Gemälden Salvators glichen, schwamm das schöne Thal, vom strahlenden Morgenroth übergossen, in einem Meer von Licht und glich einer goldenen Platte in einem Rahmen aus schwarzem Marmor.
»Wie schön ist das!« rief Henry, »und wie bedaure ich Sie, Lionel, daß Sie verliebt sind. Sie sind unempfindlich gegen all diese Schönheit und meinen, der herrlichste Sonnenstrahl wiege ein Lächeln Miß Margaret Ellis nicht auf.«
»Gestehen Sie, Henry, daß Miß Margaret die schönste Person der drei Königreiche ist.«
»Gewiß, theoretisch betrachtet, ist sie eine Schönheit sonder Tadel. Aber gerade das mache ich ihr zum Vorwurf: ich wollte, sie wäre weniger vollkommen, weniger majestätisch, weniger klassisch. Hundert Mal lieber nähme ich meine Cousine, ließe mir Gott zwischen beiden die Wahl!«
»Gehen Sie doch, Henry, Sie denken nicht daran,« sagte Lionel lächelnd. »Der Familienstolz macht Sie blind. Nach dem Urtheil aller, die Augen im Kopfe haben, ist Lady Lavinia von mehr als problematischer Schönheit. Und ich, der ich sie in der ganzen Frische der Jugend gekannt habe, ich kann Sie versichern, daß zwischen beiden ein Vergleich nie thunlich« – –
»Schon gut! Aber wieviel Anmuth und Lieblichkeit bei Lavinia! Diese feurigen Augen, dies schöne Haar, diese kleinen Füße!«
Lionel unterhielt sich ewige Zeit damit, die Bewunderung Henry's für seine Cousine zu bekämpfen. Aber während er sich ein Vergnügen daraus machte, die Schönheit zu rühmen, die er liebte, schmeichelte es einer versteckten Empfindung seiner Eitelkeit, auch jene wieder zu Ehren bringen zu hören, die er geliebt hatte. Es war das freilich nur eine Anwandlung der Selbstgefälligkeit, denn in Wirklichkeit hatte die arme Lavinia dies Herz, das die Erfolge frühzeitig verdorben hatten, nie besessen. Es ist vielleicht ein großes Unglück für einen Mann, sich zu früh zu einer glänzenden Stellung berufen zu finden. Die blinde Vorliebe der Frauen, die blöde Eifersucht gewöhnlicher Rivalen genügt, um dem Urtheil eines Neulings eine falsche Richtung zu geben und einen ungeübten Geist zu verderben.
Weil Lionel das Glück des Geliebtwerdens zu wohl kennen gelernt, hatte er die Kraft seines Gemüths durch Zersplitterung erschöpft; weil er die Leidenschaften zu früh genossen, hatte er sich zu einer innigen Neigung unfähig gemacht. Unter schönen, männlichen Zügen, unter dem Ausdruck einer jugendlich kräftigen Gesichtsbildung verbarg er das kalte, verbrauchte Herz eines Greises.
»Nun, Lionel, sagen Sie mir, warum haben Sie Lavinia Buenafè, durch Ihr Verschulden jetzt Lady Blake, nicht geheirathet? Denn obgleich ich kein Tugendheld und durchaus aufgelegt bin, unter den Privilegien unseres Geschlechts vor allem das göttliche Recht des freien Beliebens zu respectiren, so kann ich doch, wenn ich es überlege, Ihr Benehmen nicht recht billigen. Nachdem Sie ihr zwei Jahre den Hof gemacht, nachdem Sie sie compromittirt haben, soweit eine junge Dame zu compromittiren ist (was im glücklichen Albion keine durchaus leichte Sache ist), nachdem sie Ihretwegen die besten Partien ausgeschlagen hat, verlassen Sie sie, um hinter einer italienischen Sängerin herzulaufen, die wahrlich einer solchen Missethat nicht werth war. Laßt sehen, war Lavinia nicht geistreich und hübsch? war sie nicht die Tochter eines portugiesischen Banquiers, der freilich Jude, aber auch reich war? wurden Sie von ihr nicht bis zum Wahnsinn geliebt?«