Leas Steine - Susanne Zeitz - E-Book

Leas Steine E-Book

Susanne Zeitz

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Beschreibung

Seit ihrer Kindheit hat Klara immer wieder denselben Traum, der sie nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter beinahe jede Nacht bedrängt. Er will ihr etwas mitteilen und obwohl Klara spürt, dass es in ihrem Leben einiges anzuschauen und zu verändern gäbe, drängt sie Träume, Trauer und Ängste zur Seite. Sie hat sich ihr Leben im Äußeren sehr erfolgreich eingerichtet. Ihre beiden Galerien laufen sehr gut und lassen ihr keinen Raum für ein Privatleben. Doch eine schwere Angsterkrankung zwingt sie schließlich, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Was ist in ihrer Kindheit passiert und was haben die Träume zu bedeuten? Klara begibt sich auf eine Reise, die sie über die Toskana an den Golf von Neapel und über die nordfriesische Insel Amrum zu sich selbst führt. - Susanne Zeitz ist 1960 in Schwäbisch Hall geboren. Sie ist in Stuttgart aufgewachsen und lebt seit 1997 mit ihrem Mann und ihrer Familie in Konstanz am Bodensee. Ausbildung zur Kunst, Mal- und Gestaltungstherapeutin und Burnout- und Stresspräventionstrainerin. Sie malt und fotografiert, schreibt Reiseberichte, Gedichte und märchenhafte Erzählungen für Erwachsene. Ihr erstes Buch DIE KLEINE INSEL UNSERER FANTASIE ist 2015 erschienen.

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Seitenzahl: 377

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Susanne Zeitz

LEAS STEINE

Roman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig 2016

Susanne Zeitz ist 1960 in Schwäbisch Hall geboren. Sie ist in Stuttgart aufgewachsen und lebt seit 1997 mit ihrem Mann und ihrer Familie in Konstanz am Bodensee. Ausbildung zur Kunst, Mal- und Gestaltungstherapeutin und Burnout- und Stresspräventionstrainerin.

Sie malt und fotografiert, schreibt Reiseberichte, Gedichte und märchenhafte Erzählungen für Erwachsene.

Ihr erstes Buch DIE KLEINE INSEL UNSERER FANTASIE ist 2015 erschienen.

Inhalt

Cover

Titel

Die Autorin

Impressum

Prolog

Sommer 1968

April 2013

Auf der Insel Reichenau

Die Entscheidung

Sorrent Oktober 2013

Die Reise – Oktober 2013

Lucca

Die Flucht

Sorrent

Der Weg

Abschied

Die Heimreise

Lucca

Wieder Zuhause

Die Entdeckung

Die Reise nach Amrum

Insel Amrum

Wieder in Stuttgart

Auf der Insel Reichenau

Veränderungen

Erkenntnisse

Abschiede

Reise nach Sorrent November 2014

Lucca

Epilog

Lesen Sie außerdem von Susanne Zeitz

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

PROLOG

SOMMER 1968

Die Sonne ist glutrot, wie eine brennende Kugel, über dem Wattenmeer aufgegangen. Das Thermometer an der Hauswand des alten Friesenhauses misst an diesem Morgen bereits schon zwanzig Grad. Es verspricht, ein sonniger und heißer Hochsommertag zu werden. Der stets lebhafte Wind fährt in das geöffnete Fenster und lässt die kurzen, teefarbenen Gardinen lustig flattern. Karin spürt noch den letzten Hauch des Windes auf ihrem Gesicht, bevor dieser das Zimmer wieder verlässt. Von draußen ist das zänkische Kreischen einzelner Möwen zu hören, die in weiten Kreisen über das Haus in Richtung Meer fliegen.

Sie schlägt die Augen auf. Ihr erster Blick fällt auf den Wecker. Bald gibt es Frühstück. Das Bett neben ihr ist leer, die grüne Decke zurückgeschlagen. Sie hört Klaus nebenan im Badezimmer ein Lied pfeifen. Karin muss lachen. Die Töne liegen, wie immer, ziemlich neben der Melodie, aber anscheinend nur für ihre Ohren, denn er findet, jeder könne seine Lieder sofort erkennen. Sie hat kaum zu Ende gedacht, da erscheint er bereits mit leicht eingezogenem Kopf im Türrahmen.

»Guten Morgen, meine Liebste, grins nicht so frech! Ich weiß genau, was du gerade denkst!«

Karin lacht ihn verschmitzt an. Sie liebt ihn so sehr. Wie gut er aussieht mit seinen rotblonden, vom Duschen noch feuchten, zerzausten Haaren! Er ist zu groß für die niedrigen Räume des alten Friesenhauses. Das hat er gleich am ersten Tag, als er das Gepäck auf ihre Zimmer brachte, schmerzhaft feststellen müssen, als er sich am oberen Türrahmen den Kopf anstieß.

Durch die geöffnete Türe zum Nebenzimmer stürmen Lea und Klara, ihre Zwillinge, gerade einmal zweieinhalb Jahre alt, ihrem Vater geradewegs in die Arme. Karin schaut vom Bett aus zu, wie Klaus voller Freude seine beiden Mädchen im Kreis herumschwenkt. Wenn nur dieser Moment ewig dauern würde, denkt sie. Fest prägt sie sich dieses Bild ein: Klaus, in seiner verwaschenen Jeans und offenem Hemd, der Lea und Klara fest an sich drückt. Die Kinder sind auf den ersten Blick schwer auseinanderzuhalten, so sehr ähneln sie sich mit derselben roten Haarfarbe und den grünen Augen, die jetzt lebhaft und freudig blitzen. Beide tragen kurze, rosa Hemdchen, die den Blick auf ihre leicht gebräunten, pummeligen Beinchen freigeben. Ihre vom Schlaf zerzausten, roten Haare umrahmen zarte Gesichter, in denen sich jetzt die Wangen aus lauter Übermut gerötet haben.

Ein Bild der perfekten Familie! Zu perfekt, schießt es ihr durch den Kopf. Es ist, als lege sich ihr plötzlich ein schweres Gewicht auf die Brust und nehme ihr den Atem. Was ist nur los mit mir, denkt sie erschrocken. Schnell, um auf andere Gedanken zu kommen, nimmt sie ein Kopfkissen und wirft es ihren drei Lieben zu. Diese drehen sich zu ihr und eine ausgelassene Kissenschlacht beginnt. Die dunkle Ahnung löst sich langsam auf.

»So, meine Damen, Schluss jetzt! In einer halben Stunde gibt es Frühstück«, stellt Klaus fest. »Ich gehe schon hinunter in den Garten und warte dort auf euch.«

Bald darauf verlassen Karin und die Mädchen das Haus. Klaus wirft Karin, die ein kurzes, rotes Leinenkleid trägt, das ihre schlanke Figur äußerst wirkungsvoll zur Geltung bringt, einen bewundernden Blick zu, den sie mit einem koketten Augenaufschlag erwidert. Voller Freude betrachtet er seine Zwillinge, die in ihren lindgrünen Baumwollkleidchen, die Haare mit grünen Schleifen zu lustig wippenden, kleinen Zöpfchen gebunden, ein liebliches Bild abgeben.

Unter einem mächtigen, alten Lindenbaum wartet schon ein liebevoll gedeckter Frühstückstisch auf sie. Ein typisch friesisches Teeservice mit blauweißem Zwiebelmuster steht auf einer weißen Tischdecke, die der laue Wind sanft bewegt. Ein Korb voll mit frischen, duftenden Brötchen, dazu Honig und selbstgemachte Erdbeermarmelade lässt bei den Vieren Appetit aufkommen. Frau Petersen, ihre Pensionswirtin und Klaus’ Patentante, bringt Kaffee für die Eltern und Kakao für die Kinder.

»Moin, moin, habt ihr gut geschlafen? Die Lütten auch? Das freut mich!«, antwortet sie auf ihr bejahendes Kopfnicken.

»Was für ein schöner Tag, aber heiß wird es! Was habt ihr heute geplant?«, fragt Frau Petersen.

»Heute gibt es einen Strandtag: Baden, Sandburgen bauen, Muscheln sammeln, Ausruhen und den letzten Urlaubstag genießen«, erklärt Klaus und Karin stimmt ihm zu.

»Lea und Klara sind so gern am Wasser, stundenlang sind sie damit beschäftigt, Muscheln und kleine Schwemmhölzer zu sammeln und im Sand zu spielen«, ergänzt Karin lächelnd.

»Dann wünsche ich euch allen einen schönen Tag«, verabschiedet sich Frau Petersen und streichelt die beiden roten Köpfchen. Es ist traurig, dass seine Mutter sein Glück nicht mehr miterleben kann. Sie hätte sicher ihre helle Freude an ihrer sympathischen Schwiegertochter und ihren süßen Enkelinnen, denkt Frau Petersen. Für sie ist Klaus in all den Jahren wie ein Sohn geworden. Schade, dass sie morgen schon wieder abreisen!

»Übrigens Karin, bevor ich es vergesse. Ich fahre später mit Wiebke auf die Insel Föhr. Ich muss in Wyk etwas besorgen. Möchtest du uns begleiten? Du könntest solange bummeln und ins Café gehen.«

Karin überlegt. Sie würde gerne etwas für sich allein unternehmen, ein bisschen durch die Auslagen der Geschäfte stöbern und gemütlich im Café sitzen. Außerdem liebt sie Wyk. Sie sieht Klaus fragend an.

»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich mitginge?« »Nein, mein Schatz, fahr mit und mach dir einen schönen Tag. Ich gehe mit den Kleinen an den Strand.«

Nach einem ausgiebigen Frühstück gehen Klaus und die Mädchen, mit Picknickkorb, Badeutensilien, zwei großen, aufgeblasenen, roten Plastik Enten und mit Eimern und Schaufeln beladen, über die Dünen hinunter ans Meer. Karin bleibt zurück und winkt ihnen hinterher. Die dunkle Ahnung vom Morgen befällt sie wieder. Ich sollte nicht gehen, sondern bei ihnen bleiben! Dieses Gefühl breitet sich in ihr aus. Am liebsten würde sie ihrer Familie nacheilen. Doch sie schüttelt den Impuls ab und geht auf ihr Zimmer, um sich für die Stadt zu richten. Klaus macht es sich währenddessen in ihrem gemieteten Strandkorb bequem und schaut Lea und Klara beim Spielen zu. Eifrig buddeln sie im Sand und sammeln kleine Steine und Muscheln, die sie in ihre Eimerchen schaufeln. Nichts Anderes scheint sie zu interessieren.

Plötzlich hört Klaus lautes Rufen und das Schreien eines Kindes. Er zuckt zusammen und fährt auf. Ich muss wohl kurz eingeschlafen sein, denkt er und schaut erschrocken nach seinen Kindern. Doch an der Stelle, wo sie vor kurzem noch gespielt haben, ist niemand mehr zu sehen. Ein paar Meter weiter jedoch laufen Menschen zusammen, bilden einen Kreis um eine Person, die sich um irgendjemand bemüht, der auf dem Sand liegt.

Um wen es sich handelt, kann er nicht erkennen, doch eine furchtbare Ahnung steigt in ihm auf. Das Kinderheulen ist immer noch zu hören. Er rennt zu der Menschenmenge und schiebt sich hindurch. Klara stürzt sich in seine Arme. Klaus sieht, wie sich der Rettungsschwimmer um die leblose Lea bemüht.

Klaus’ Schrei wird vom Wind auf das Meer hinausgetragen und die Möwen tragen seinen Schmerz und seine Schuld in die kommende Zeit.

APRIL 2013

Sie steht am Ufer eines mächtig dahinströmenden Flusses. Ihr gegenüber auf der anderen Seite befindet sich ein kleines, dreijähriges Mädchen. Es hüpft und schwenkt die Arme und winkt ihr zu. Sie soll zu ihm hinüberkommen. Seine roten Haare wippen bei jeder Bewegung und sein lindgrünes Kleidchen bauscht sich und zeigt seine nackten Füße. Das Gesicht kann sie nicht erkennen, was sie jedoch nicht weiter beeindruckt, denn sie kennt das Kind. Sie möchte zu ihm auf die andere Seite, doch das kalte, glasklare Wasser, das sich gurgelnd und schäumend, mit lautem Rauschen seinen Weg bahnt, trennt sie. Die einzige Möglichkeit, um hinüber zu gelangen, bietet eine alte, morsche Holzbrücke. Allerdings gibt es kein seitliches Geländer und in ihrer Mitte klafft ein großes Loch, das wie ein Auge auf den reißenden Fluss starrt. Sie atmet schnell, um den Druck in ihrer Brust zu lockern und um ihren raschen Herzschlag zu beruhigen. Sie hat schreckliche Angst, doch dieses Mal will sie es über die Brücke schaffen! Dieses Mal? Ihr kommt es so vor, als würde sie es nicht zum ersten Mal versuchen. Überhaupt kommt ihr die ganze Situation irgendwie bekannt vor. In dem Moment, als sie die schaukelnden Holzbretter betritt, steigt, wie jedes Mal, dichter, weißer Nebel auf und hüllt sie und das andere Ufer in einen grauen Schleier. Das Kind verschwindet in seiner Undurchsichtigkeit.

Sie schreit. Tief aus ihrer Seele steigt der Schmerz auf und bahnt sich seinen Weg in ihr Bewusstsein, ins Erwachen. Ruckartig setzt sich Klara in ihrem Bett auf und tastet nach der Nachttischlampe. Ihr mildes Licht, das nun den Raum erhellt, beruhigt sie. Sie atmet tief ein und aus. Noch immer spürt sie den Schmerz in sich. Fremd und doch so bekannt! Ihr Blick fällt auf den Wecker. Mitternacht ist gerade vorbei. Die Nacht liegt in ihrer langen Dunkelheit noch vor ihr. Aus Angst, wieder in das Traumgeschehen hineingezogen zu werden, zögert sie das Wiedereinschlafen hinaus, indem sie in die Küche geht und langsam ein Glas heißes Wasser trinkt. Sunny, ihre kleine, spanische Mischlingshündin, kommt erwartungsvoll aus ihrem Körbchen und hofft auf einen Hundekuchen.

»Ach Sunny, geh wieder schlafen, es gibt jetzt nichts zu fressen. Ich komm auch gleich.«

Ein bisschen enttäuscht trottet Sunny in Richtung Schlafzimmer. Klara nimmt einen Schluck Wasser aus ihrem Glas. Schon wieder dieser Traum! Seit dem plötzlichen Tod ihrer Mutter vor einem halben Jahr sucht er sie immer wieder heim, manchmal mehrere Male pro Woche. Aber jetzt möchte sie nicht weiter darüber nachdenken. Sie muss irgendwie zur Ruhe kommen und weiterschlafen, denn sie hat morgen einen anstrengen, arbeitsreichen Tag vor sich. Um halb zwei dreht sie das Licht aus.

Sie steht wieder am Fluss, doch jetzt ist das Kind nicht da. Sie schaut auf die andere Seite und bemerkt einen großen, schwarzen Vogel, der auf sie zugeflogen kommt. Er hat die Größe eines Adlers, sein Gefieder schimmert blauschwarz und seine Augen leuchten so grün wie Smaragde. Eigenartiger Weise hat sie keine Angst vor ihm, denn auch er kommt ihr irgendwie bekannt vor. Er trägt eine schwarze Feder in seinem Schnabel und lässt sie über ihr fallen. Leise segelt die Feder nieder. Bevor sie auf dem Boden landet, streift sie sachte ihr Gesicht.

Von diesem sanften Kitzeln auf ihrer Wange und dem schrillen Ton des Weckers wacht Klara nun endgültig auf. Schnell stellt sie den aufdringlichen Wecker ab, setzt sich im Bett auf und schaut aus dem geöffneten Fenster. Die rosa gemusterten Gardinen sind zur Seite gezogen. Sie liebt es, mit einem Blick auf die Sterne einzuschlafen und von den ersten Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht geweckt zu werden.

Das war für sie auch der Grund, sich für die Wohnung im sechsten Stock zu entscheiden. Die großen Fenster bieten einen wunderschönen Blick auf den nahegelegenen Wald. Den Ausblick kann sie zwar im Moment nicht genießen, doch hilft er ihr jetzt, sich zu orientieren, um endgültig aus der Traumwelt zurück in die Tagesrealität zu kommen. Die Sonne verbirgt sich noch im blauen Morgendunst, leichter Nebel liegt über dem Wald, doch die Vögel singen schon in den höchsten Frühlingstönen. Es scheint ein schöner Tag zu werden.

Ihr zweiter Blick fällt auf das Hundekörbchen, das gegenüber an der Wand steht, doch es ist leer. Sunny liegt entspannt zusammengerollt am Fußende ihres Bettes, halb unter der zerwühlten Wolldecke vergraben und blinzelt mit einem Auge zu ihr hinüber, macht aber keinerlei Anstalten aufzustehen.

Müde und schwerfällig schält sich Klara aus dem Bett. Obwohl sie sich unausgeschlafen fühlt, ist sie doch froh, dass die Nacht mit ihren unheimlichen Träumen vorbei ist. Eigentlich ist es schon lange her, dass ich, nach einem tiefen Schlaf, am anderen Morgen voller Tatendrang aufstehe, stellt sie seufzend fest und schleppt sich in das Badezimmer. Unter dem warmen Strahl der Dusche kommen langsam ihre Lebensgeister zurück.

Schnell zieht sie ihre alten Jeans, ihre bequemen Laufschuhe und eine leichte Kapuzenjacke an und verlässt mit einer freudig bellenden Sunny das Haus.

Als sie die Wohnung damals besichtigte, hatte sie diese, ohne lange Bedenkzeit, sofort gekauft und ihren raschen Entschluss nie bereut. Sie hat das Wohnzimmer mit einer geräumigen Couchecke, einem kleinen Tisch und einem weißen Sideboard gemütlich eingerichtet. Die großen Fenster lassen die Tageshelligkeit ungehindert durch alle Räume fluten, so dass sie oft das Gefühl hat, sich im Freien zu befinden. Die kleine, moderne Holzküche bietet zwar keinen Platz für eine Essecke, aber da sie sowieso keine begeisterte Köchin ist, genügt ihr die einfache Küchenzeile mit einem Geschirrschrank und einem Regal. Vor allem aber ist sie von der Umgebung begeistert. Weit außerhalb der Stadt, direkt am Waldrand gelegen, bietet die Wohnung genau das, was sich Klara immer gewünscht hat. Der Supermarkt ist genau gegenüber und ein paar Straßen weiter liegt das kleine Dorfzentrum mit einem Café, einer Bäckerei, einem Naturkostladen und einem Schreibwarengeschäft. Sie kennt die Leute im Quartier und fühlt sich hier geborgen. Eine kleine, enge Welt am Rande einer Großstadt. Genau das, was sie möchte.

Sie überqueren die kleine Straße und Klara lässt Sunny von der Leine. Sie scheint irgendeinen interessanten Duft mit ihrer braunen Nase zu wittern, denn sie springt sofort los. Der Wald erwacht langsam und die Vögel singen ihre Lieder, während die Sonne mit ihren ersten Strahlen den Pfad vor ihr erhellt und die noch kühle Luft ein wenig erwärmt. Gedankenverloren, den Blick auf den Boden gesenkt, geht Klara den Weg entlang. Sie ist nicht empfänglich für die malerische Stimmung um sie herum, auch den triumphierenden Blick, den Sunny ihr zuwirft, als sie zwei Krähen verjagt, die ärgerlich auf den nächsten Baum flattern, nimmt sie nicht auf. Enttäuscht läuft der Hund voraus und sucht nach irgendwelchen Schätzen, die im Gebüsch verborgen sind.

Der Morgen im Oktober, als Andreas vor ihrer Tür stand, zieht plötzlich wie ein Film an ihrem geistigen Auge vorbei: Der Tag hatte harmonisch und friedlich begonnen und es versprach ein warmer, goldener Oktobertag zu werden. Als Klara aus dem Fenster blickte, sah sie, dass noch ein leichter Nebelflor über den roten und gelben Baumspitzen lag, welche die Sonne mit ihrem Licht schon zart beleuchtete. Sie freute sich auf einen ruhigen Sonntag, den sie und Sunny bei einem ausgedehnten Spaziergang genießen würden. Sie sieht sich beim Frühstück sitzen. Sie hatte eine Kerze angezündet, Sunny lag zufrieden auf dem Teppich und nagte an einem Kauknochen, während sie in ihrem Gedichtband las. Sie erinnert sich, dass es sich um ein Herbstgedicht von Hermann Hesse handelte, denn das Büchlein liegt bis heute, an dieser Stelle aufgeschlagen, auf ihrem Wohnzimmertisch. Eine liegengelassene Erinnerung! Sie spürt den Frieden dieses damaligen Morgens immer noch in sich. Sie schenkte sich gerade eine zweite Tasse grünen Tee ein, als es klingelte. Die schrille Unterbrechung ihrer Sonntagmorgenidylle ließ sie zusammenzucken. Wer war das? Sie erwartete keinen Besuch und wollte auch keinen, deshalb wartete sie erst einmal ab, bevor sie zur Tür ging. Vielleicht hatte irgendjemand aus Versehen auf ihre Klingel gedrückt. Doch es klingelte wieder, dieses Mal hartnäckiger und länger. Seufzend stand sie auf, ging zur Tür und öffnete sie. Sunny sprang laut bellend an ihr vorbei und begrüßte Andreas, ihren kleinen Bruder.

Er ist zwar mit seinen ein Meter neunzig wesentlich größer und auch nur drei Jahre jünger als sie, doch für Klara ist er bis heute der kleine Bruder geblieben, den sie beschützen möchte. Das war schon in ihrer Kindheit so. Klara hatte immer das Gefühl, für ihren Bruder verantwortlich zu sein. Wenn er sich beim Spielen verletzte oder wenn er krank war, machte sich in ihr sofort die Angst breit, ihn zu verlieren und ohne ihn zurückbleiben zu müssen.

Klara kann sich bis heute nicht damit anfreunden, dass Andreas ausgerechnet den Beruf des Auslandskorrespondenten gewählt hat. Er lässt sich mit Vorliebe in Krisengebiete und in Kriegsländer schicken. Er brauche den Kick und auch den Stress, der mit der Angst aufsteige, wenn er mitten in Kampfgebieten als Berichterstatter tätig sei, hatte er ihr einmal gestanden. Als sie vorsichtig gefragt hatte, ob er nicht als Redakteur in einer hiesigen Zeitung arbeiten wolle, hatte er lachend abgewinkt. Er sei absolut kein Mann für den Schreibtisch, meinte er.

»Andreas, was machst denn du hier? Ich dachte, du sitzt schon längst im Flieger nach Teheran? Komm herein.« Andreas folgte ihr in den Flur. Dort blieb er mit hängenden Schultern stehen. Er wirkte wie ein alter Mann.

»Was ist los, du schaust so ernst, geht es dir nicht gut?« Irgendetwas Beunruhigendes ging von Andreas aus. Klara war es, als legte sich ihr ein Stein auf die Brust. Schweigend folgten sie der schwanzwedelnden Sunny ins Wohnzimmer. »Klara«, sagte Andreas mit belegter Stimme. »Ich muss dir was sagen.« Er machte eine Pause und räusperte sich. »Mama ist tot! Sie ist vor zwei Stunden mit dem Auto verunglückt.«

Dieser Satz stand mit einem Mal in seiner ganzen Schwere und Grausamkeit zwischen ihnen im Raum. Klara starrte ihren Bruder mit verständnislosem Blick an. Irgendwie drang das Gesagte nicht in ihr Verstehen. Auch jetzt, nach einem halben Jahr, spürt sie immer noch das Entsetzen, das von ihr Besitz ergriffen hatte, als sie endlich verstand, was Andreas ihr da mitteilte. Ihre Mutter war tot!

Ohne Vorwarnung, einfach nicht mehr da!

Lautes Bellen reißt Klara aus ihren Erinnerungen. Sie zuckt zusammen und schaut sich um. Sunny hat ihren Hundefreund Jogi getroffen. Freudig tollen sie miteinander den Waldweg entlang.

»Guten Morgen, Frau Winter, ist das nicht ein schöner Morgen?« Das Frauchen von Jogi steht mit einem Lächeln vor ihr. Klara ist froh für die Unterbrechung ihrer trüben Gedanken.

»Hallo, Frau Solda. Es ist wirklich ein schöner Morgen«, erwidert sie und lächelt halbherzig.

Eine kleine Weile stehen sie zusammen und beobachten die übermütig spielenden Hunde. Für Klara wird es nun Zeit umzukehren. In einer halben Stunde muss sie sich auf den Weg in die Galerie machen. Mit einem Lächeln verabschieden sich die beiden Hundebesitzerinnen voneinander.

Klara ist wieder allein mit ihren Gedanken, doch sie möchte sich nicht weiter mit den traurigen Erinnerungen beschäftigen, deshalb lenkt sie diese nun bewusst auf ihre Arbeit.

Heute Mittag werde ich den neuen Maler besuchen und mir seine Bilder anschauen. Ich bin gespannt, was er mir zeigen wird. In seiner Mappe waren ein paar interessante Arbeiten. Mit ihren Gedanken ist sie bereits in der Galerie. Das ist ihre Welt! In ihr kennt sie sich aus. Die nächtlichen Träume sind ihr unheimlich und die Trauer mit ihrer Schwere und ihrer Undurchsichtigkeit macht ihr Angst. Sie will ihr keinen Raum geben.

Nach einer Weile kehrt sie nach Hause zurück. Jetzt muss es schnell gehen, denn sie hat nicht mehr viel Zeit. Sie entscheidet sich für dunkelblaue Jeans, dazu einen hellgrünen Baumwollpulli, darüber einen leger geschnittenen, schwarz karierten Blazer und einen beigen Wollschal, den sie sich locker um den Hals legt. Frühstücken wird sie in der Galerie.

So wie ich Margo kenne, hat sie mir sicher wieder ein Vollkornbrötchen und eine Schale Müesli von daheim mitgebracht. Dankbarkeit erfüllt sie, als sie an Margo denkt.

Sie ist der gute Geist in der Galerie und gleichzeitig ihre beste und einzige Freundin. Sie hatten sich während ihres Kunststudiums kennengelernt und sind seitdem eng befreundet.

Margo, die Liebe, die Verlässliche. So wurde sie früher immer genannt. Sie passte damals so gar nicht in die ausgeflippte Kunstszene. Ihre Bilder, meist Landschaftsmotive, die sie durchaus gekonnt in Öl- oder Acrylfarben auf die Leinwand brachte, waren in der damaligen Zeit als altmodisch verpönt. Oft war sie den liebevollen Spötteleien ihrer Kommilitonen ausgesetzt und doch fanden gerade ihre Bilder immer wieder ihre Käufer. Anscheinend besaß Margo ein geschicktes Händchen für den Verkauf.

Als Klara vor Jahren von Köln wieder in ihre Heimatstadt Stuttgart zurückkehrte, um dort ihre erste Galerie zu eröffnen, schlug sie Margo vor, sie zu begleiten und mit ihr in der Galerie zu arbeiten. Zu zweit würde sich eine Galerie sicher einfacher aufbauen und führen lassen. Margo war froh über das Angebot, denn nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes war sie mit ihrer kleinen Tochter in einem viel zu großen Haus in Köln allein zurückgeblieben. Sie besaß dort zwar viele Freunde und Bekannte, doch ein Neuanfang in Stuttgart mit einer neuen Aufgabe reizte sie, zumal auch ihre Mutter und weitere Familienmitglieder in der näheren Umgebung leben. Nach kurzer Überlegungszeit nahm sie Klaras Angebot an und zog mit ihrer kleinen Tochter nach Stuttgart. Sie hat bis heute diesen Schritt nicht bereut. Ihre Tochter hatte sich überraschend schnell mit der neuen Situation abgefunden und viele Freundinnen gefunden. Margo stürzte sich zusammen mit Klara in den Aufbau der Galerie. Ihre Freundschaft vertiefte sich und auch beruflich wuchsen sie zu einem guten Team zusammen.

Margos Arbeitsbereich umfasst das Geschäftliche, wie das Festsetzen der Ausstellungstermine, Kataloge und Zeitungsartikel in Auftrag geben, mit Käufern zu verhandeln und Galeriebesucher durch die jeweiligen Ausstellungen zu führen. Sie liebt es, die Besucher durch die großen, eleganten Räume zu führen, die mit jeder neuen Ausstellung ihr Gesicht und ihre Ausstrahlung verändern. Die Galerie sei für sie ein leerer, weißer Raum, der darauf warte, mit Leben erfüllt zu werden, erklärte sie einmal begeistert, als sie nach ihrer Arbeit als Galeristin gefragt wurde. Ihre Aufgabe sei es, dafür zu sorgen, dass die Kunstwerke, durch die richtige Hängung und die optimale Beleuchtung, ihre Farben und ihre Leuchtkraft ideal zur Geltung bringen können. Erst dann würden die Bilder ihre Geschichten erzählen und ihre Botschaften vermitteln. Schlussendlich seien es natürlich die Besucher, die den Raum mit Leben erfüllten, wenn sie mit den Kunstwerken in Verbindung treten würden. Sie erlebe die Zeit von der Aufhängung der Bilder bis zur Vernissage und anschließender Ausstellungszeit stets als eine Bereicherung ihres eigenen Lebens.

Für Klara bedeutet die Galerie ebenfalls Bewegung und Veränderung, aber nur im Außen. Fremde Städte und Länder zu bereisen, die Künstler in ihren Ateliers zu besuchen und neue Bilder für eine Ausstellung zusammenzustellen, das ist ihre Welt. Im Außen zusammenzutragen, was im Inneren zur Entfaltung kommt, dafür ist Klara zuständig und da sie ein gutes Händchen für das Entdecken von neuen Künstlern hat, eröffnete sie vor zwei Jahren eine zweite Galerie in München, die ebenfalls mit großem Erfolg läuft. Sie haben sich mittlerweile in den Kunstkreisen einen guten Namen gemacht, der weit über die Landesgrenze hinaus bekannt ist. Zurzeit zählen sie Japaner, Russen und vor allem Schweizer zu ihren Hauptkunden. Während sich Klara fertig anzieht, sind ihre Gedanken bereits in der Galerie und bei Margo. Ein warmes Gefühl breitet sich in ihr aus. Vertrauen, Verlässlichkeit, sich angenommen fühlen, das alles findet sie bei Margo. Sie ist wie ein Hauptgewinn im Lotto für mich, denkt sie. Immer kann ich mich auf sie verlassen. Wenn sie sich nur nicht ständig so viele Sorgen um mich machen würde! Sie scheint Tentakeln zu besitzen, mit denen sie genau spürt, wie es mir gerade geht. Klara muss bei ihrem Vergleich lachen. Bin ich wirklich so dünn und blass, wie sie immer meint? Zur Sicherheit betrachtet sie sich noch kurz im Flurspiegel. Sie hat schon Recht, ich habe ziemlich an Gewicht verloren. Im Gegensatz zu ihr sehe ich aus wie eine Bohnenstange. Was ich an Kilos zu wenig habe, hat Margo stets zu viel. Ständig findet sie in irgendwelchen Frauenmagazinen neue Diätvorschläge, durch die sie, scheinbar jedes Mal mit hundertprozentiger Sicherheit, ihre Traumfigur erreichen kann. Dabei ist sie so eine hübsche Frau mit ihren strahlenden, blauen Augen und ihrem blonden Lockenkopf. Die Rundungen gehören einfach zu ihr, betonen das Mütterliche und Gemütliche, findet Klara. Sie schüttelt den Kopf und wendet sich wieder ihrem Spiegelbild zu. Die dunklen Schatten, die sich unter meinen Augen angesiedelt haben, wird sie sicher wieder als erstes bemerken! Ich sollte ein wenig braunen Gesichtspuder und einen Tupfer Rouge auflegen. Mit einem dunklen Lidstrich und schwarzer Wimperntusche untermalt sie ihre grünen Augen, die durch das dunkle Brillengestell in ihrer Ausdrucksfähigkeit betont werden. Sie betrachtet sich noch einmal im Spiegel. Ja, jetzt sehe ich ganz gut aus, findet sie und bindet ihre langen, roten Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen. Auf jeden Fall kann ich mich jetzt sehen lassen und meine fast achtundvierzig Jahre bleiben, zurzeit wenigstens noch, mein Geheimnis.

Sie wirft ihrem Spiegelbild noch ein schiefes Lächeln zu, begibt sich auf die Suche nach ihrem Autoschlüssel, der zum Glück sehr schnell in ihrer geräumigen, schwarzen Ledertasche auftaucht, und verlässt das Haus.

Sie fährt zuerst in die Galerie, die sich in der Innenstadt befindet. Da sie zwei Parkplätze direkt vor dem Haus besitzen und ihre Öffnungszeiten sich nicht mit dem Berufsverkehr überschneiden, der sich jeden Tag wie eine träge, vollgefressene Schlange seinen Weg in die Innenstadt bahnt, erreicht sie bereits nach kurzer Zeit ohne Stress und Parkplatzsuche ihr Geschäft.

Momentan stellen sie sehr interessante, zeitkritische Schwarz-Weiß-Fotografien eines Londoner Fotografen aus. Klara hatte seine Bilder in einem unscheinbaren Londoner Café entdeckt und ihm eine Ausstellung in ihrer Galerie angeboten. Der Fotograf konnte sein Glück kaum fassen. Klara hatte mit ihrer Entdeckung Recht behalten. Die Vernissage war sehr gut besucht gewesen, einige Bilder sind bereits verkauft.

»Guten Morgen Margo«, ruft Klara in den Ausstellungsraum.

Diese streckt den Kopf aus dem Büroraum, den Telefonhörer am Ohr und winkt ihr zu. Wie sich Klara schon gedacht hat, steht ein komplettes Frühstück auf ihrem Schreibtisch.

»Danke«, flüstert sie ihr zu und versucht ihrem kritischen Blick auszuweichen. Sie lacht und gibt sich betont locker und fröhlich, obwohl das nicht ganz der Realität entspricht. Sie fühlt sich müde und ausgelaugt. Die schlaflosen Nächte, in denen sie ihren kreisenden Gedanken und den sich stets wiederholenden Träumen ausgesetzt ist, rauben ihr immer mehr Kraft und Energie. Mit wenig Appetit fängt sie an, das Müesli zu essen. Seit ihrer Kindheit erlebt sie die nächtlichen Begegnungen mit dem kleinen Mädchen. Mit dem Beginn der Pubertät wurden sie seltener. Komisch, dass sie in letzter Zeit wieder vermehrt auftauchen. Eigentlich seit Mutters Tod! Jedes Mal dieselbe Situation. Ich möchte zu dem Kind gelangen und schaffe es nicht. Warum nicht? Was bedeutet das und wer ist das Kind? Seit Jahren stellt sich Klara immer wieder diese Fragen. Und nun kommt auch noch der schwarze Vogel mit der Feder dazu. Unbewusst streicht sich Klara über die Wange.

Margo beendet ihr Telefongespräch und holt Klara aus ihrer Grübelei.

»Ein neuer Interessent für die Fotografien. Er kommt morgen vorbei. Na, und du Schätzchen, wie geht es Dir?« Sie sieht Klara forschend an. »Du siehst müde aus, wieder dieser Traum?«

Klara nickt und versucht das Thema auf etwas Anderes zu lenken, aber Margo lässt sich nicht so einfach ablenken.

»Ich finde, du müsstest dringend Urlaub machen, dir eine Auszeit gönnen. Fahr doch irgendwo hin, wo du eine Weile für dich sein kannst. Du hast die Trauer um deine Mutter und den Schock noch gar nicht richtig verarbeiten können. Wann war denn dein letzter Urlaub?«

Klara muss nachdenken. Auf die Schnelle fällt es ihr nicht ein. Nach dem Unfall ihrer Mutter hatte sie sich eine Woche frei genommen, um die Beerdigung zu organisieren und alles andere zu erledigen. Danach hatte sie sich sofort wieder in die Arbeit gestürzt.

»Ich brauche keinen Urlaub! Mir macht meine Arbeit Spaß. Wie du weißt, bin ich ein kleiner Workaholic.« Sie grinst sie beschwichtigend an, aber Margo lässt sich nicht erweichen.

»Eben und das tut dir nicht gut. Du solltest auch mal wieder etwas für dein Privatleben tun. Du bist in deiner freien Zeit viel zu viel allein. Das tut dir auf die Dauer nicht gut. Glücklich und ausgeglichen wirkst du auf mich jedenfalls nicht! Ich kann mir übrigens gut vorstellen, dass dir die Träume etwas mitteilen möchten.« Margo seufzt. Sie weiß genau, dass ihre Ermahnungen bei Klara nichts fruchten. Sie ist sehr gut im Verdrängen, denkt sie. Ungutes, Belastendes oder wie jetzt die Trauer um die Mutter schiebt sie beiseite, möchte sich damit nicht auseinandersetzen. Schade, dass sie sich von mir nicht helfen lassen möchte. Ich bin gespannt, wie lange das gutgeht!

»Komm Margo, lass uns von etwas Erfreulicherem reden. Später besuche ich den jungen Maler, der sich vor einer Woche bei uns vorgestellt hat und uns seine Mappe dagelassen hat. Ich bin gespannt auf seine Bilder. Seine Landschaftsbilder sind eher konservativ, aber er arbeitet viel mit Licht und das gefällt mir. Ich habe ein gutes Gefühl. Wir treffen uns direkt in seinem Atelier.«

Sie schaut auf die Uhr.

»Ich muss auch gleich los. Gibt es bei dir noch was Wichtiges?«

»Nein«, meint Margo.

»Heute Mittag kommen einige japanische Geschäftsleute vorbei. Sie haben sich gestern telefonisch angemeldet und wünschen eine separate Führung durch die Galerie. Ich werde den Laden schließen, so dass ich mich ganz ihnen widmen kann. Es könnte lukrativ werden. Mehr steht für heute nicht auf dem Programm.«

»Kann ich Sunny wieder bei dir lassen? Ich hole sie dann bei dir daheim ab. Ich denke nicht, dass es bei mir sehr spät werden wird. Ich habe Fressen für sie dabei.«

Klara reicht Margo das Tütchen.

»Mache ich gerne, ich gehe mit ihr heute Mittag in den Park. Wir machen es uns schön, nicht wahr Sunny?« Margo streichelt den Hund, der freudig an ihr hochspringt.

»Gut, dann starte ich. Vielen Dank fürs Frühstück.«

»Du hast ja kaum etwas gegessen! Kein Wunder, dass du so dünn bist!« Margo schüttelt den Kopf.

Doch bevor sie weiter insistieren kann, nimmt Klara sie kurz in den Arm und drückt sie fest. Was täte ich nur ohne sie und ihre Fürsorge! Mein Leben wäre um so vieles ärmer. Noch ärmer? Meine Güte, was habe ich heute nur für Gedanken! Das Treffen mit dem Maler wird mir sicher guttun und mich ablenken. Klara schnappt ihre Tasche und ihren Autoschlüssel, streichelt Sunny kurz über den Kopf, winkt Margo noch einmal zu und macht sich auf den Weg.

Wenn der Verkehr nicht zu dicht ist, könnte sie bereits in zwei Stunden in Konstanz sein. Sie hat Glück und schafft es ohne Stau auf die Autobahn in Richtung Singen. Das Radio läuft, der SWR3 Sender dudelt halblaut vor sich hin. Sie muss noch einmal an ihr Gespräch mit Margo denken. Margo hat gut reden. Sie hat ihre Tochter und ihren Enkel, bei denen sie oft zu Besuch ist. Sie ist ein ausgeprägter Familienmensch, dauernd kümmert sie sich um irgendeine Tante oder eine Kusine. Ihre Mutter, mit der sie sich sehr gut versteht, wohnt in ihrer Nähe und sie kann auf eine glückliche Ehe zurückschauen. Das habe ich alles nicht und ich brauche es auch nicht! Ich bin gerne für mich allein, außerdem habe ich Sunny. Das genügt mir. Sie stellt das Radio lauter. Gerade wird ihr Lieblingssong gespielt. Sie singt laut mit. Es geht mir doch gut, denkt sie. Für was brauche ich eine Auszeit oder eine Beziehung? Ihre letzte Partnerschaft ist vier Jahre her. Es war für sie eine mittelmäßige Liebe gewesen, für Markus allerdings nicht. Er vergötterte sie regelrecht, trug sie auf Händen und war immer bestrebt, ihre Wünsche zu erfüllen. Für Klara war es eine anstrengende, einengende Zeit. Und als Markus ihr einen Heiratsantrag machte, war für sie der Zeitpunkt der Trennung gekommen. Ich bin jetzt unabhängig, habe meine Freiheit, muss auf niemanden Rücksicht nehmen und führe zwei gutgehende Galerien, was will ich denn noch mehr? Wieder einen Mann an meiner Seite, der meine gesamte Aufmerksamkeit und Liebe fordert? Das kann ich nicht geben. Und warum soll ich mich ewig mit einer Trauer auseinandersetzen, die ich eigentlich gar nicht empfinde? Sie erschrickt über diesen Gedanken, möchte ihn wegschicken, ihn nicht gedacht haben, doch das ist nicht so einfach, denn er schwebt jetzt im Raum.

Ihr Verhältnis zu ihrer Mutter war nicht schlecht, aber auch nicht gut gewesen. Sie waren sich immer fremd geblieben. Nie konnte Klara ihrer Mutter etwas recht machen. Alles, was sie tat, reichte nicht aus, um ihre Mutter für sich zu gewinnen. Es war immer, als stünde eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen. Als Kind hatte sie sehr darunter gelitten, vor allem, wenn sie miterlebte, wie Andreas ihr vorgezogen wurde und das war ständig der Fall. Andreas hier, Andreas da.

Klara spürt wieder den Druck in ihrer Brust. Schnell dreht sie das Radio lauter. Die Nachrichten werden gerade durchgegeben: Ein neuer Terroranschlag in Afghanistan. Anscheinend ist auch ein Auslandsreporter dabei verletzt worden. Klara atmet tief ein und hält kurz die Luft an. Oh, lieber Gott, lass es nicht Andreas sein!

Als ihm seine Nachrichtenagentur den Auftrag erteilte, über die Mission der Blauhelme in Kundus Bericht zu erstatten, hatte er sofort zugesagt. Vor drei Wochen hatte er sie in der Galerie angerufen und ihr voller Begeisterung von seinem neuen Arbeitseinsatz berichtet.

Schnell dreht sie das Radio leiser. Ihr Herz schlägt schnell und ihre Handflächen fühlen sich feucht und klebrig an. Sie lässt das Fenster einen Spalt hinunter. Die frische Luft, die ihr seitlich ins Gesicht weht, tut gut. Sie atmet ein paarmal tief ein und aus. Ganz ruhig, Klara, alles ist gut, gleich bist du bei dem Maler. Seine Bilder sind vielversprechend. Sie versucht, sich selbst zu beruhigen. Langsam lässt der Druck nach und die Angst verwandelt sich in ein diffuses Gefühl, das tief in ihrem Inneren zurückbleibt.

Auf der rechten Seite taucht nun der Hohentwiel auf, ein kleiner Vulkan, der sich mit seiner Höhe über den Hegau mit seinen sanften Hügeln erhebt. Das Friedvolle dieser Landschaft erreicht ihre Seele und sie entspannt sich nach und nach. Ein paar Minuten später sieht sie in der Ferne den Bodensee im Sonnenlicht dieses Frühlingstages glitzern. Im Hintergrund erhebt sich der noch schneebedeckte Säntis. Nun dauert es nicht mehr lange und sie ist in Konstanz. Sie stellt ihr Navy ein und erreicht schnell und ohne große Umwege ihr Ziel.

Das Haus des Malers steht am Waldrand in einer kleinen Wohnsiedlung. Wunderbar, denkt sie, dann muss ich nicht an den See. Sie hält sich nicht gerne am Wasser auf. Schon als Kind hatte sie sich am Meer oder an einem großen See unwohl gefühlt. Warum weiß sie nicht. Es gibt keine ungute Situation, an die sie sich erinnern kann. Aber auch ihre Mutter wollte die Ferien nicht am Meer verbringen. Sie zog immer die Berge vor. Klara parkt ihr Auto vor dem Haus und steigt aus.

Als sie klingelt, erscheint ein mittelgroßer, schlanker, noch recht junger Mann an der Tür. Bevor es ihm gelingt, sie zu begrüßen, stürzt ein kleiner, laut bellender, strubbeliger Hund mit wild wedelndem Schwanz an ihm vorbei auf sie zu. Micky, so wird er vorgestellt, springt begeistert an ihr hoch.

»Lassen sie ihn nur, er riecht bestimmt meinen Hund«, beschwichtig Klara den Besitzer, der erfolglos versucht, den Hund zu sich zu rufen. Sie beugt sich hinunter und streichelt ihn, wobei es ihm immer wieder gelingt, mit seiner feuchten Schnauze ihr Gesicht zu berühren. Schließlich legt sich die Freude des Hundes und die verzögerte Begrüßung findet statt.

Der Hausherr lacht und bittet sie herein. Er führt sie zuerst in das Wohnzimmer, wo sie freundlich von seiner Frau begrüßt wird. Sie hat liebevoll den Kaffeetisch gedeckt. Auf einem Tischtuch mit zart gestickten, gelben Rosen stehen Teller und Tassen aus dünnem, weißem Porzellan. Hellgelbe Servietten liegen, kunstvoll gefaltet, neben goldenen Kuchengabeln. Beleuchtet wird das Gesamtkunstwerk von zwei gelben Kerzen, die in blankpolierten, goldenen Kerzenhaltern leicht flackernd ihr Licht über den Tisch verbreiten. In der Mitte der Tafel steht auf einer goldenen Kuchenplatte ein selbstgebackener Apfelkuchen mit Schlagsahne. Klara muss bei diesem Anblick an ein Stillleben aus alter Zeit denken, was das wuchtige, blaue Sofa und die großen, rotgold gestreiften Sessel verstärken. Sie nimmt auf dem Sofa Platz, was gleichbedeutend mit einem Hineinsinken einhergeht, denn die Sprungfedern und die Spannkraft der Sitzfläche verraten das betagte Alter des Möbelstückes. Beinahe zeitgleich platziert sich auch Micky neben ihr und äugt äußerst interessiert auf den Kaffeetisch. Der Hausherr lächelt verlegen. Ihm scheint das Verhalten seines Hundes peinlich zu sein. Seine Frau reagiert durchgreifender. Mit leicht erhobener Stimme dirigiert sie den Hund in sein Körbchen. »Sofort jetzt!« Klara muss lachen. Diese Szene kommt ihr bekannt vor. Wahrscheinlich reagieren fast alle Hunde gleich, wenn es um Kuchen geht. Sie nimmt einen großen Schluck Kaffee. Langsam kehren ihre Lebensgeister zurück und die Anspannung lässt merklich nach. Der Kuchen schmeckt sehr gut, das Gespräch über Malerei plätschert leicht vor sich hin und Klara fühlt sich von Minute zu Minute wohler. »Der Kuchen schmeckt sehr gut«, lobt sie ihre Gastgeberin.

»Das freut mich. Darf ich ihnen noch ein Stück geben?« Klara kann nicht widerstehen.

Nach einer halben Stunde führt sie der Maler in sein Atelier. Es ist ein großer Raum unter dem Dach, der auf seiner Breitseite von einer durchgehenden Fensterfront erhellt wird. Zwei Staffeleien stehen im Raum. Auf der einen lehnt ein angefangenes Landschaftsbild und auf der anderen sind zwei kleine Mädchen zu sehen, die am Strand nach Muscheln suchen. Sie haben die gleiche Größe und tragen dieselben roten Kleidchen, die sich im Wind um ihre nackten, pummeligen Beinchen bauschen. Beide tragen kleine, rote Eimer in den Händen, ihre Köpfe sind geneigt und ihre roten Locken sind leicht zerzaust. Der Maler hat diese Szene so gekonnt herausgearbeitet, hat mit lichtvollen Farben eine solche Lebendigkeit geschaffen, dass Klara das Gefühl hat, sie selbst stehe mit den Kindern am Strand. Fast meint sie, das sanfte Plätschern der kleinen, auslaufenden Wellen zu hören und den würzigen Duft des Seetangs zu riechen.

Klara weicht vor dem Bild zurück, als wäre sie geschlagen worden. Ein kurzer, tiefer Schmerz durchfährt sie. Sie kann es sich nicht erklären.

»Frau Winter, geht es ihnen nicht gut? Sie sind ja ganz weiß im Gesicht. Möchten sie sich für einen Moment dort auf das Sofa setzen?« Der Maler berührt sie sanft am Ellenbogen.

Klara schüttelt den Kopf.