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Elin ist einundzwanzig, als sie den Pferdehof ihrer Eltern im Norden Islands fluchtartig verlässt und jeglichen Kontakt zu ihrer Familie abbricht. Was ist damals auf Island geschehen? Elin gelingt es, die traumatischen Ereignisse zu verdrängen und sich in Konstanz ein neues Leben aufzubauen. Dreißig Jahre später wird Elin allerdings von der Vergangenheit eingeholt. Ihre Tochter Julia bucht eine Rundreise nach Island. Der Vulkan der Vergangenheit speit seine Lava aus und Elin sieht sich plötzlich mit den damaligen Geschehnissen konfrontiert. Ein spannender Familienroman, der auf der kleinen, geheimnisvollen Insel im Nordatlantik spielt, auf der Elfen und Vulkane regieren.
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Seitenzahl: 338
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Susanne Zeitz
STURMZEITAUF ISLAND
Roman
Engelsdorfer VerlagLeipzig2019
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2019) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei der Autorin
Titelfotografie © Susanne Zeitz
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
COVER
TITEL
IMPRESSUM
FAMILIENTAFEL
PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
EPILOG
ANMERKUNG DER AUTORIN
ÜBER DIE AUTORIN
Sigrúns Linie
Sigrún (1917-1963) ~ Gustav (1907-1937)
Tochter Steinunn (1937)
Steinunn ~ John O’Sullivan (?)
Tochter Elin (1960)
Steinunn ~ Magnus (1930 – 2007)
Tochter Soley (1965)
Elin ~ Einar (1950-1982)
Tochter Julia (1982)
Elin ~ Michael (1955)
Sohn David (1985)
Sagas Linie
Saga (1917-1997) ~ Carlson (1917-1976)
Tochter Katla (1938)
Tochter Hekla (1939-1963)
Hekla ~ Magnus
Tochter Kristin (1956)
Sohn Olaf (1963)
Kristin ~ Carl (1954)
Sohn Leifur (1980)
Akureyri 1937
Das Schiff verlässt die Bucht. Ein weißer Fleck, der immer mehr zum kleinen, hellen Punkt wird, bis er sich in der weiten Ferne des Atlantischen Ozeans auflöst.
Ob Gustav an der Reling gestanden und an sie gedacht hat?
Saga kauert auf dem Felsvorsprung zwischen Gräsern und Moos überzogenen Lavasteinen. Sie kneift die Augen zusammen und wischt sich ungeduldig die Tränen weg, die ihr der raue Wind in die Augen treibt.
Nein, Saga macht sich nichts vor. Er stand zwar dort, doch er winkte nicht ihr, sondern seiner frischvermählten Frau zu. Seine Gedanken wanderten sicher noch einmal zurück zu dem Tag, an dem er Sigrún in der kleinen Holzkirche in Akureyri sein Jawort gegeben hatte.
Warum nur hat er Sigrún und nicht sie geheiratet? Saga presst ihre Hand auf ihr wild klopfendes Herz.
Wenn er sich für sie entschieden hätte, dann müsste er jetzt nicht allein übers Meer fahren, dann würde sie neben ihm stehen, würde ohne jegliches Bedauern einen letzten Blick auf Hafen und Stadt werfen. Saga wäre mit ihm nach Dänemark gereist, hätte seine Heimat kennen und lieben gelernt. Einmal dort angekommen, hätte es sie nicht mehr zurück in die Kargheit der Heimat gezogen. Kleider aus edlen Seidenstoffen, zierliche Stiefelchen aus glänzendem Leder, Theater, Museen und Tanztees. Das wäre schnell Sagas Welt geworden. Doch die da unten war seine Frau geworden. Die, die ihn nun nicht einmal begleiten kann, weil sie, wie erzählt wird, schwanger sei und die lange Schifffahrt nicht vertragen würde.
Saga schickt einen hasserfüllten Gedanken zu der Frau am Hafen, ihrer ehemaligen Busenfreundin, die ihr den Mann gestohlen hat.
Der Wind zerrt stärker an ihren Haaren und beißt ihr kalt ins Gesicht. Sie erhebt sich, seufzt tief und begibt sich auf den Heimweg. Es macht keinen Sinn mehr, noch länger hier zu stehen und auf das Meer zu starren.
Die Liebe ihres jungen Lebens ist weg. Geblieben sind Traurigkeit, Wut und Hass.
Was sie nicht weiß: Das Schiff wird seinen Heimathafen in Dänemark nie erreichen, wird ihre Liebe mit sich auf den Meeresgrund ziehen, wird die junge Sigrún als Witwe und das ungeborene Kind als Halbwaise zurücklassen.
Einzig Sagas Eifersucht und Hass werden fortbestehen und Früchte tragen.
Elin 2017
Der Alptraum ist zurückgekehrt.
Ausgerechnet ihre Tochter Julia hat ihm die Tür geöffnet.
Elin schlägt die Bettdecke zurück, steht leise auf, um Michael nicht zu wecken, und tritt ans offene Fenster.
Es ist eine dunkle Nacht, ohne das tröstliche Funkeln der Sterne und das milde Licht des Mondes. Aus dem Garten ertönt das heisere Rufen eines Käuzchens, von Ferne sind zwölf dumpfe Schläge der Kirchturmuhr zu hören, ansonsten Stille.
Sie seufzt unwillkürlich laut auf, hält sich jedoch sofort die Hand vor den Mund und horcht auf Michaels tiefe Atemzüge.
Jahrzehntelang war es ihr gelungen, die Erinnerungen auf dem Grund ihrer Seele verborgen zu halten, gleich einem festverschnürten Paket. Nun hat ihre Tochter begonnen, die Paketschnur durchzuschneiden und das Packpapier zu entfernen.
Elin wischt sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Zu den dunklen Gedanken gesellt sich eine drückende Schwüle, die das Schwere, das auf ihrer Seele lastet, verstärkt. Ein gleißender Blitz durchtrennt plötzlich die Dunkelheit und taucht für einen Moment Bäume und Sträucher in ein fahles, grünliches Licht.
Kurz darauf ein ohrenbetäubender Donnerschlag.
Elin zuckt erschrocken zusammen und tritt hastig vom offenen Fenster zurück.
„Kannst du auch nicht schlafen?“ Michael tritt hinter sie.
„Mir gehen so viele Dinge durch den Kopf“, erwidert sie, lehnt sich an ihn und legt ihren Kopf an seine Brust. Der kräftige, gleichmäßige Schlag seines Herzens beruhigt sie.
Mittlerweile folgt Blitz auf Donner. Ein böig auffrischender Wind bläht die weiße Gardine wie ein Segel.
„Der Disput mit Julia?“
Elin nickt und seufzt.
„Du solltest endlich mit ihr reden.“
„Ich kann nicht!“
„Wie willst du ihr sonst deine heftige Reaktion von gestern Mittag erklären?“
Elin schüttelt eigensinnig den Kopf und tritt wieder ans Fenster. Das Gewitter hat sich entfernt und einem leichten Sommerregen Platz gemacht. Eine Windböe fährt ihr ins Gesicht. Sie atmet tief die gereinigte, kühle, nach Ozon riechende Luft ein.
„Ich kann nicht darüber sprechen, schon gar nicht mit Julia.“
„Meinst du nicht, dass gerade sie ein Recht auf die Wahrheit hätte? Es ist schließlich auch ihre Geschichte. Du könntest sie aufschreiben, vielleicht fällt es dir auf diese Art leichter.“
„Lass mich, bitte!“ Elin nimmt das breite Wolltuch, das über der Stuhllehne hängt, und wirft es sich über die Schultern. Sie streift mit einer sanften Berührung seine Hand ab und verlässt das Schlafzimmer.
„Es tut mir leid“, murmelt sie.
Michael weiß aus Erfahrung, dass es jetzt keinen Wert hat, weiter mit ihr zu diskutieren. Jetzt verkriecht sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus und verwehrt jedem den Eintritt.
Michael lauscht ihren leichten Schritten, mit denen sie die Treppe hinuntereilt. Seine schöne, geheimnisvolle Frau. Mit einem Seufzer kehrt er ins Bett zurück.
Elin geht ins Wohnzimmer und kauert sich in den großen Ohrensessel, der vor dem Kamin steht. Ihr Lieblingsort, wenn sie nachdenken oder sich entspannen möchte.
Stille und Dunkelheit, die nur durch sanftes Rauschen des Sommerregens und fernes Wetterleuchten durchbrochen werden.
Sie weiß, dass sie endlich mit ihrer Tochter sprechen muss, doch sie kann nicht. Sie hat Angst vor dem grauen Schleier, der sich sofort wieder auf ihrer Seele niederlässt, sobald sie der Vergangenheit die Tür öffnet.
Doch vielleicht hat Michael recht, und es wäre leichter, die Geschichte niederzuschreiben? Vielleicht könnte sie auf diese Weise das Vergangene verarbeiten und dann endgültig hinter sich lassen?
Doch wann beginnt ihre Geschichte eigentlich?
Hat sie nicht bereits ihren Ursprung viel, viel früher, als die kleine Elin noch gar nicht geboren war? Gibt es nicht immer Geschichten vor den Geschichten? Schicksalsfäden, die von früheren Generationen bis ins jetzige Leben hineingesponnen sind? Großmutter, Mutter, Kind und Enkelin?
Elin fröstelt und zieht den Schal enger um die Schultern. Sie kennt den roten Faden, der die Frauen ihrer Familie miteinander verbindet, hat in ihrer Kindheit immer wieder Bruchstücke aufgeschnappt, die ihr wie vergiftete Brotstückchen hingeworfen wurden. Von Saga, Katla, den Nachbarn. Als Kind die Bedeutung noch nicht verstehend, doch die Seele verletzend.
Trollenkind.
Sie lacht schmerzhaft auf. Wie weh das tat.
„Trollenkind“, spricht sie mit brüchiger Stimme leise vor sich hin. „Trollenkind.“
Julia
Mit gehetztem Blick dreht sie sich einmal um sich selbst. Hier muss es doch eine Straße, Häuser oder wenigstens einen erkennbaren Pfad geben. Doch soweit ihr Auge reicht, nur braune Lavasteine zu bizarren Formationen aufgehäuft.
Wo ist sie?
Wie ist sie bloß hierhergekommen?
Ein eisiger Wind beißt sie ins Gesicht und wirbelt Schneeflocken in einem wilden Tanz durcheinander.
Plötzlich sieht sie in der Ferne eine Bewegung. Sie wischt sich über die tränenden Augen und starrt in das undurchsichtige Blaugrau, das sich über die Landschaft gelegt hat.
Tatsächlich. Drei Gestalten mit wehenden Gewändern kommen direkt auf sie zu.
Ihr Herz schlägt wie verrückt. Sie presst die Hand darauf. Jetzt wird alles gut. Sie ist nicht mehr allein.
Als sie vor ihr stehen, erkennt sie, dass es sich um Frauen handelt. Schlank, groß, in weiße Tücher gehüllt.
Sie lächelt ihnen zu, möchte sie grüßen, doch die Worte bleiben ihr im Hals stecken, als sie in kristallblaue Augen blickt, aus denen ihr kein Lächeln, kein Wohlwollen entgegenkommen.
Eine arktische Kälte geht von ihnen aus und trifft sie bis ins Mark.
Voller Entsetzen wird ihr bewusst, dass sie von ihnen keine Hilfe erwarten kann. Im Gegenteil. Sie rennt los.
Julia wird durch ihr eigenes Keuchen geweckt. Ruckartig setzt sie sich im Bett auf, für einen Moment orientierungslos.
Sie knipst die Nachttischlampe an. Helligkeit erfüllt den Raum und löst die bedrohliche Situation auf.
Ihr Blick fällt auf den Wecker. Vier Uhr.
Erste zaghafte Amselgesänge klingen durch das offene Schlafzimmerfenster.
Was war denn das für ein furchtbarer Traum?
Aus Angst, wieder in das Geschehen zurückzugleiten, verlässt sie das Bett, geht in die Küche und füllt ein Glas mit kaltem Wasser. Das eben Erlebte hinunterspülen, doch die Traumbilder wollen nicht weichen. Sie sieht die Frauengestalten immer noch so deutlich vor sich, als hätten sie den Traum verlassen und befänden sich ganz in der Nähe.
Julia schüttelt unwillig den Kopf. So ein Quatsch! Weg mit diesen unguten Gefühlen.
Sie hat noch nie an Traumdeutung und unsichtbare Phänomene geglaubt und wird jetzt mit fünfunddreißig auch nicht damit anfangen.
Sie geht zurück ins Schlafzimmer und stellt das Wasserglas auf den Nachttisch. Noch ein wenig schlafen wäre schön. Sie kuschelt sich unter die Decke, doch es gelingt ihr nicht, zur Ruhe zu kommen.
Der gestrige Besuch bei ihren Eltern kommt ihr in den Sinn. Die übersteigerte Reaktion ihrer Mutter, als sie von ihrer geplanten Reise nach Island erzählte.
„Nein, nicht nach Island“, rief ihre Mutter entsetzt aus.
Am Kaffeetisch wurde es mit einem Mal still, die Bewegungen wirkten plötzlich wie eingefroren. Ihr Vater, ihr Bruder David und Julia starrten erschrocken Elin an, die von ihrem Stuhl aufgesprungen war und mit blassem Gesicht ihre Tochter anstarrte.
„Nein, überallhin, nur nicht nach Island“, wiederholte sie leise. Sie wirkte wie zerbrochen.
„Was hast du gegen Island? Schließlich bist du dort geboren.“ Julia sah ihre Mutter fragend an.
„Du darfst nicht dorthin! Mehr kann ich dazu nicht sagen“, antwortete Elin, drehte ihr den Rücken zu und flüchtete ins Haus.
„Ich habe bereits gebucht. Übermorgen fliege ich nach Reykjavik, mache eine Rundreise durch den Südwesten und fahre im Anschluss nach Nordisland auf einen Reiterhof. Ich freue mich darauf und lasse mir das von ihr nicht vermiesen“, warf Julia ärgerlich in die erstaunte, schweigsame Runde. Unwirsch zwirbelte sie an ihrem Zopf.
„Warum erzählt sie nicht endlich, was los ist? Weißt du, warum sie so heftig reagiert hat?“ David blickte seinen Vater fragend an.
Dieser seufzte. „Ich weiß auch nicht viel mehr als ihr.“ Michael wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Aber irgendetwas Schweres trägt sie mit sich herum, das spürt man. Hat es mit ihrer Familie zu tun?“, fragte David.
„Ich dachte, alle aus ihrer Familie seien tot. Hat sie auf jeden Fall immer behauptet“, warf Julia ein.
„Wenn eure Mutter nicht darüber reden will, dann müssen wir das respektieren. Lasst uns reingehen, hier draußen wird es langsam unerträglich heiß.“ Michael blickte in den Himmel. „Ich glaube, es gibt heute noch ein Gewitter.“ Er zeigte auf die ersten Wolkentürme, die von Westen heranzogen.
„Kommst du mit schwimmen? Ich brauche jetzt eine Abkühlung.“
„Gute Idee, Schwesterherz. Ich bin dabei.“ David grinste Julia beschwichtigend an. „Komm, mach wieder ein freundliches Gesicht. Sie wird sich schon wieder beruhigen. Du weißt ja, wie Mam ist. Ein kleiner, harmloser Vulkan.“
Julia musste lachen, als sie in das mit Sommersprossen übersäte Gesicht ihres Bruders blickte. Mit seinen wirren, blonden Locken und seinen blitzenden, blauen Augen sah er aus wie ein Wikinger.
„Ein isländischer Vulkan. Toller Vergleich“, ergänzte sie, „und manchmal hat sie was von einem kleinen Troll, wenn sie so ärgerlich und stur ist.“
„Kinder, nun lasst es gut sein! Ab in den See mit euch! Ich kümmere mich derweil um eure Mutter.“ Michael seufzte noch einmal, nahm seine Tochter kurz in den Arm und gab seinem Sohn einen liebevollen Klaps auf den Rücken.
Wieder staunte er über die außerordentliche Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter. Beide klein und zierlich. Lange auffallend rote Haare, die sie meistens zu einem dicken Zopf flochten. Lebhafte, grüne Augen in einem schmalen Gesicht, das jetzt im Sommer mit Sommersprossen übersät war. Seine Elfenfrauen.
Julia und David gingen durch den Garten. Das schlappe Grün schien ebenfalls nach einer Erfrischung zu lechzen. Sie öffneten das kleine Holztor, das ihr Grundstück vom Uferweg trennte. Gleich darauf stürzten sie sich kreischend und prustend in das erfrischende Blau des Bodensees.
„Wer zuerst an der Boje ist“, rief David und begann mit ausholenden Armbewegungen zu kraulen.
„Gewonnen!“ Ihr Bruder hielt sich kurz darauf an der Boje fest und blickte seiner älteren Schwester triumphierend entgegen.
„Bin momentan nicht so in Form“, japste Julia und hielt sich hustend an seiner Schulter fest.
„Momentan? Ich gewinne doch immer“, entgegnete er frech.
Julia schnitt eine Grimasse und patschte mit der Hand ins Wasser.
„Was für ein Geheimnis Mam wohl mit sich herumträgt? Komisch, dass nicht einmal Paps davon weiß. Ob es was mit meinem leiblichen Vater zu tun hat?“ Julia blickte ihren Bruder fragend an.
„Keine Ahnung, aber lass uns zurückschwimmen. Es wird langsam kühl. Schau, der See beginnt sich bereits zu kräuseln und große Sturmwarnung haben wir auch.“
Heftiger Wind und Donnergrollen trieben die Geschwister ans Ufer und ins Haus zurück.
Ihr Vater erwartete sie bereits. „Gut, dass ihr wieder zurück seid.“
Als die Geschwister nach kurzer Zeit wieder ins Gartenzimmer kamen, stand ihr Vater an der offenen Verandatür und beobachtete das Naturgeschehen.
Der Wind fuhr in die Bäume, zauste die Hortensien, Rosenblätter wirbelten durch die Luft und die Taglilien wiegten sich im wilden Tanz. Blitze erhellten den dunklen Himmel, grollender Donner folgte. Doch der Regen blieb aus. Das Gewitter verzog sich so schnell, wie es gekommen war. Die Windböen verloren an Kraft. Die Sonne brach durch die Wolken und brachte die Schwüle zurück. Eine Amsel ließ sich auf dem Kirschbaum nieder und begann voller Inbrunst, ein frühes Abendlied zu singen.
„Wo ist Mam?“, fragte Julia ihren Vater.
„Sie hat sich in ihr Atelier zurückgezogen.“
„Kommt sie nicht runter? Und unser gemeinsames Abendessen?“
„Ich soll euch ausrichten, vor allem dir Julia, dass sie ihre heftige Reaktion bedauere. Sie möchte jetzt allerdings allein sein“, sagte Michael.
„Am liebsten würde ich hochgehen und ihr die Meinung sagen“, grollte Julia und machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen.
„Julia! Lass sie in Ruhe!“ Ihr Vater hielt sie am Arm fest.
„Komm, lass uns zum Italiener gehen“, schlug David vor.
Julia nickte resigniert. „Tut mir leid, Paps. Richte ihr einen Gruß aus. Doch ich fliege trotzdem!“
Michael begleitete seine Kinder zur Haustür und blickte ihnen hinterher, als sie in ihre Autos stiegen.
Julia hatte die Sturheit ihrer Mutter geerbt und David das Verbindende und Versöhnende von ihm.
Er seufzte und schloss die Tür. Irgendetwas bedrückte ihn. Nicht nur heute, sondern schon seit längerer Zeit. Lag es an ihrer Beziehung? Manchmal war er sich nicht sicher, ob er Elin überhaupt richtig kannte. Nun waren sie seit über dreißig Jahren verheiratet und er wusste nicht, ob ihre Familie auf Island noch lebte oder nicht. Warum vertraute sie ihm nicht?
Er seufzte wieder und ließ sich schwer in den Sessel fallen. Er fühlte sich mit einem Mal alt.
Julia steht auf, stößt das Schlafzimmerfenster weit auf und legt sich wieder aufs Bett.
Draußen ist es mittlerweile hell und der Vogelchor hat sich vergrößert. Doch sie hat kein Ohr für den betörenden Gesang. Ihre Gedanken, die um ihre Mutter kreisen, sind lauter. Warum nur reagiert sie jedes Mal fast hysterisch, wenn die Sprache auf Island kommt? Hat es etwas mit ihrem Vater zu tun?
Julia weiß nur, dass er Einar hieß und bereits vor ihrer Geburt gestorben ist. Mehr hat ihre Mutter in all den Jahren nicht preisgegeben. Es gibt keine Fotos, keine Erinnerungsstücke, gar nichts.
„Du hast einen guten Vater, was willst du mehr“, lautet jedes Mal Elins Antwort, wenn Julia Näheres erfahren will. Was ja auch stimmt. Michael hat sie adoptiert, als sie zwei Jahre alt war. Er liebt sie wie sein eigenes Kind und macht keine Unterschiede zwischen David und ihr. Trotzdem möchte sie endlich mehr über ihren leiblichen Vater erfahren. Ist das zu viel verlangt?
Wie sah er aus? Hat sie Ähnlichkeit mit ihm? Was war er von Beruf? Wie ist er gestorben? Ihre Mutter muss es ihr endlich erzählen. Sie hat ein Recht darauf!
Doch jetzt kommt erst einmal ihre Reise nach Island. Zwei Wochen Freiheit. Auf dem Rücken eines Islandpferdes durch wilde Landschaften reiten, kristallklare Flüsse durchqueren, vorbei an Vulkanen und Geysiren. Der weite Himmel des Nordens über ihr und Nächte, die nicht dunkel werden.
Sie kann es kaum mehr erwarten.
Morgen um diese Zeit wird sie bereits im Flieger nach Keflavik sitzen.
Julia wird von einem vorwitzigen Sonnenstrahl im Gesicht geweckt.
Als sie sich aus dem Fenster lehnt, lacht ihr ein freundlicher Sommertag entgegen. Im Kastanienbaum gegenüber unterhält sich lautstark ein Krähenpaar und in der Rotbuche gurrt ein Täuberich.
Julia streckt sich und nimmt einen tiefen Atemzug. Die Luft ist durch das gestrige Gewitter gereinigt. Der See liegt ruhig und glitzernd in der Morgensonne. Weit draußen Fischerboote und ein weißes Ausflugsschiff, das elegant über seine blaue Oberfläche gleitet und eine weiße Spur hinter sich herzieht.
Das Telefon reißt sie aus ihrem meditativen Schauen.
„Julia, möchtest du zum Frühstück kommen?“ Die Stimme ihrer Mutter klingt bittend an ihr Ohr.
„Ich bin gerade erst aufgestanden“, entgegnet sie zögerlich. Sie hat keine Lust, das Streitgespräch von gestern fortzusetzen, außerdem muss sie noch ihren Koffer packen und ihre Wohnung einigermaßen aufräumen.
„Bitte Julia.“
„Also gut, aber keine Diskussion mehr über meinen Urlaub. Ich fliege morgen und damit basta.“
„Einverstanden.“ Ihre Mutter seufzt.
„Kommt sie zum Frühstück?“ Michael blickt seine Frau fragend an.
Elin nickt. „Aber sie lässt sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen. Ich musste ihr versprechen, nicht wieder davon anzufangen.“
Michael nimmt seine Frau liebevoll in den Arm. „Hast du über meine Idee, deine Geschichte niederzuschreiben, nachgedacht?“
Elin nickt. „Ich glaube, das werde ich tun, auch wenn ich Angst davor habe.“
„Aber die Vergangenheit kann dir heute nichts mehr anhaben. Und ich bin ja schließlich auch noch da. Ich werde dich gegen Wikinger, Vulkane und alte Geister verteidigen“, lacht Michael und lässt seine Armmuskeln spielen.
„Woher weißt du?“ Elin schaut ihren Mann entsetzt an.
„Weiß ich was?“, fragt Michael erstaunt.
„Von den Unsichtbaren?“ Elin lässt sich erschöpft aufs Sofa fallen. Ein Häufchen Elend.
„Wovon redest du?“ Michael kniet sich neben sie und greift nach ihrer Hand. „Du bist ja ganz bleich. Elin, was ist denn los?“ Er schüttelt sie sanft, als sie nicht reagiert.
Elin zuckt zusammen. „Ich wusste, dass sie mich nicht in Ruhe lassen würden“, sagt sie leise. „Irgendwann musste es soweit kommen.“
„Wer? Was?“, fragt Michael beunruhigt.
Die melodische Klingel der Haustür unterbricht sie.
Elin steht auf. „Lass jetzt. Du wirst es erfahren, aber du kannst mir nicht helfen. Die Unsichtbaren muss ich selbst versöhnen.“
Michael erhebt sich ebenfalls. „Die Unsichtbaren? Du sprichst in Rätseln.“ Er schüttelt den Kopf.
Elin zuckt mit den Schultern und eilt zur Tür.
„Julia, mein Schatz, schön, dass du gekommen bist.“ Sie nimmt ihre Tochter in den Arm. „Es ist so warm, dass wir im Garten frühstücken können.“
Julia hält ihrer Mutter eine Bäckertüte unter die Nase. „Versöhnungsbrötchen“, meint sie lächelnd und folgt ihr in die Küche, wo ihr Vater gerade dabei ist, ein vollbeladenes Tablett in den Garten zu tragen.
„Paps, soll ich dir was abnehmen?“ Bevor er etwas erwidern kann, greift Julia die Kaffeekanne und bringt sie in Sicherheit.
Michael zwinkert seiner Tochter schelmisch zu. „Ich kann so was“, meint er und geht in den Garten.
„Dein Vater ist unmöglich! Erst kürzlich sind ihm zwei Teetassen vom Tablett gerutscht“, sagt Elin leicht ärgerlich. „Meine Lieblingstassen aus England.“
Kurz darauf treten sie auf die Holzveranda, wo Michael sonnengelbe Teller und Tassen auf den hellgrün gestrichenen Holztisch stellt.
Julia setzt sich auf die mit dicken Kissen ausgestattete Bank und lässt ihren Blick schweifen. Tontöpfe mit rosa und blauen Hortensien, die ihre kugeligen Blütendolden der Morgensonne entgegenstrecken. Der kleine Teich, den Elin liebevoll angelegt hat, glitzert im Morgenlicht und spiegelt das Türkis einer Libelle wider, die um die Seerosen schwirrt. Ein Büschel Schilfgräser wiegt sich beinahe meditativ im lauen Lüftchen. Der süßliche Duft des Geißblattes, das sich an der Hauswand emporrankt, steigt ihr in die Nase und das Summen der Bienen dringt an ihr Ohr.
„Euer Garten ist wirklich ein Traum. Mam, du bist eine richtige Gartenkünstlerin.
„Es macht mir auch großen Spaß, im Garten zu werkeln.“ Elin stellt den Brotkorb auf den Tisch. „Warum schaust du mich eigentlich so prüfend an?“
„Du siehst immer noch so jung aus“, erklärt Julia.
Elin streicht verlegen ihren geblümten Wickelrock gerade. „Ach was. Das täuscht. Zurzeit fühle ich mich wie achtzig.“
„Ich glaube nicht, dass Achtzigjährige ihren Zopf mit einer gelben Blüte schmücken würden“, lacht Julia.
„Deine Mutter ist mit ihren siebenundfünfzig jung und wunderschön“, betont Michael, nimmt seine Frau in den Arm und gibt ihr einen zärtlichen Kuss auf den Mund.
Julia lenkt ihre Aufmerksamkeit rasch auf eine Amsel, die einen fetten Wurm im Schnabel hält. Hätte sie ihrer Beziehung mit Rainer vielleicht doch noch eine Chance geben sollen?
„Wo liegt denn der Reiterhof?“ Elin nippt an ihrem Kaffee. Vielleicht hat sie gestern tatsächlich überreagiert. Was soll schon passieren? Julia weiß von nichts und Island ist groß. „So groß auch wieder nicht, vor allem die besiedelten Gebiete nicht“, kontert ihre Angststimme.
Julia schaut ihre Mutter leicht unwillig an. Es geht doch hoffentlich nicht schon wieder los?
„Ich fliege bis Keflavik. Unser Hotel ist in Hafnarfjördur. Von dort aus unternehmen wir Tagesausflüge. Nach einer Woche fahre ich mit dem Bus in den Norden. Akureyri und andere Orte, die ich mir nicht merken kann. Isländisch scheint eine schwere Sprache zu sein. Warte ich lese es vor.“ Julia kruschtelt in ihrem Rucksack und zieht die zerknitterte Reisebeschreibung des Veranstalters heraus.
Städtenamen und Orte plötzlich ausgesprochen, lassen Szenen aus Elins Vergangenheit lebendig werden. Das Kaleidoskop eines verdrängten Lebens.
Sie entführen Elin auf die Vulkaninsel ihrer Kindheit.
Eine kleine Elin auf dem Pferdehof ihres Stiefvaters in der Nähe von Akureyri, meistens allein und unbeachtet. Einkaufsfahrten mit der Mutter in das nahe Städtchen mit seinen farbenfrohen Holzhäusern, für sie immer ein Ausflug in die moderne, weite Welt. In diesen Stunden hatte sie ihre Mutter für sich allein. Keine eifersüchtige Kristin und keine missbilligenden Blicke der Großmutter. Sie fieberte diesen monatlichen Ausfahrten regelrecht entgegen.
Dann eine ältere Elin, schon fast erwachsen, in einem Café in Reykjavik. Ihr gegenüber Einar, ihr Geliebter, den sie bald heiraten wird.
Elin zieht hörbar die Luft ein.
„Mam, hörst du mir überhaupt zu?“
Elin fällt aus ihrer Erinnerungsreise. „Ja, ich habe zugehört. Du fährst nach Nordisland.“ Ihre Stimme klingt sehnsuchtsvoll. „Nach Akureyri“, setzt sie leise hinzu und ihre Augen füllen sich mit Tränen.
„Ach Mam.“ Julia greift über den Tisch nach den Händen ihrer Mutter und drückt sie fest. Was soll sie sagen?
Elin schüttelt den Kopf und wischt sich mit einem Taschentuch über die Augen. „Ist schon gut. Mach dir keine Gedanken. Wer möchte noch eine Tasse Kaffee?“ Sie setzt ein Lächeln auf und versucht, Gelassenheit zu vermitteln, doch ihr dunkler, weiter Blick und ihre zitternden Hände, mit denen sie die Kaffeekanne hält, sprechen eine andere Sprache.
„Geht Rainer eigentlich mit?“, fragt Michael.
„Ja, habt ihr euch wieder versöhnt?“, will Elin wissen.
Julia schluckt und zupft an ihrem Zopf, der ihr über die linke Schulter hängt.
„Nein, wir haben uns vor kurzem endgültig getrennt“, gibt sie zu und spürt, wie ihr die Röte ins Gesicht steigt.
„Ach Julia, das tut mir aber leid. Was ist denn passiert?“ Elin blickt ihre Tochter mitleidig an.
„Ich möchte jetzt nicht darüber reden“, erwidert Julia barsch und schenkt sich einen Kaffee ein. Allerdings mit zu viel Schwung, denn die Hälfte landet auf dem weißen Tischtuch.
„Oh, sorry.“ Julia, erleichtert, der lästigen Fragerei zu entkommen, eilt ins Haus und kommt mit einem nassen Lappen zurück. Hektisch beginnt sie, den Fleck zu bearbeiten.
„Lass sein. Du machst es nur noch schlimmer. Ich steck sie später in die Waschmaschine. Sag mal, wie lange bleibst du eigentlich weg?“
„Zwei Wochen, habe ich doch gesagt. Aber wer weiß? Vielleicht gefällt es mir ja so gut auf Island, dass ich gar nicht mehr zurückkomme.“
Elin blickt ihre Tochter entsetzt an.
„Mam, das war nur ein Scherz.“
„Ich kann mich aber schon darauf verlassen, dass du in vier Wochen bei uns im Büro anfängst?“ Auch Michael klingt leicht beunruhigt.
„Klar doch, wollte nur Mam ein bisschen ärgern. Drei Wochen sind geplant. Schade übrigens, dass du keine Verwandten auf Island hast“, lenkt Julia vom Thema ab, „die hätte ich besuchen können.“
Elin zuckt zusammen, als hätte sie einen Schlag bekommen. Sie senkt rasch den Kopf und nestelt an einem herunterhängenden Zipfel des Tischtuchs. Michael wirft ihr einen prüfenden Blick zu. „Schatz, alles in Ordnung?“
„Oder gibt’s doch Verwandte dort oben, die ich besuchen könnte?“
Elin schüttelt verneinend den Kopf. Ihre Augen glänzen verräterisch, ihr Blick irrt unstet zwischen ihrem Mann und ihrer Tochter hin und her.
Michael bemerkt es mit Staunen. Was sie wohl vor uns, vor mir verbirgt? Er schluckt einen bitteren Geschmack hinunter. Nicht einmal ihm vertraut sie. Das schmerzt.
„Naja, wie du meinst. Ich sollte jetzt langsam aufbrechen. Morgen geht’s in aller Frühe los und ich muss noch meine Sachen packen.“ Julia nimmt ihre Mutter in den Arm. „Wenn ich wieder zurück bin, dann müssen wir reden“, sagt sie leise.
„Wir werden sehen. Aber bitte versprich mir, dass du auf dich aufpasst. Wenn was ist, dann ruf sofort an.“
Julia blickt ihre Mutter irritiert an. „Was soll denn sein? Denkst du an was Bestimmtes?“
Michael streicht Julia über die Haare. „Deine Mutter hat das nur so gesagt. Wir wünschen dir eine schöne Zeit“, betont er und legt beschützend den Arm um seine kleine Frau.
„Ich habe das nicht nur so daher gesagt“, murmelt Elin.
Julia dreht sich am Gartentor noch einmal um, winkt ihren Eltern zu, dann steigt sie in ihr Auto. Im Rückspiegel sieht sie ihre Mutter, die auf die Straße getreten ist und winkt. Ein verzweifeltes Winken, so als wäre es ein Abschied für immer. Julia schluckt. Sie ist froh, wegzukommen.
Ihr ist, als würde sie plötzlich einen schweren Mantel tragen, gewebt aus Schicksal und Leid. Auf ihrer Brust lastet ein Gewicht und ihr Herz pocht dumpf. So kann sie nicht nach Hause fahren. Kurz entschlossen biegt sie in die Straße ein, die zum See hinunterführt. Wenig später schlendert sie die Seestraße entlang. Langsam entspannt sie sich und es gelingt ihr, den schweren Mantel wieder abzustreifen.
Die Terrasse des Seehotels Riva wirkt so einladend, dass sie sich entschließt, dort einzukehren. Sie findet einen freien Tisch unter einem cremefarbenen Sonnenschirm. Während sie genüsslich an ihrem Eiskaffee nippt, lässt sie ihren Blick über die blühenden Rhododendrenhecken des Hotelgartens und über die dahinter vorbeiführende Seestraße schweifen. Es herrscht ein buntes, sonntägliches Treiben. Spaziergänger, Hunde, Kinder, Badende mischen sich mit Radfahrern und Joggern.
Der blaue See, auf dem Segelboote dahingleiten, im Hintergrund die Schweizer Alpen, die sich in einen leichten Dunst hüllen, das alles erfüllt Julias Seele mit Frieden und gibt ihr nach und nach die Leichtigkeit zurück, die ihr die Mutter genommen hat.
Beschwingt kehrt sie nach Hause zurück.
Elin greift nach Michaels Hand. „Komm mit mir, ich möchte dir etwas zeigen.“
Sie zieht ihn mit sich die Treppe hinauf und öffnet die Tür zu ihrem Atelier.
Ein großer, ausgebauter Raum unter dem Dach ihres Einfamilienhauses mit einer breiten Fensterfront. Das späte Morgenlicht fällt in schräger Bahn durch das Glas und zeichnet helle Streifen auf den dunklen Holzboden.
Elin blickt zum Fenster hinaus. Ein traumhafter Blick über den See, bis hin zu den Schweizer Alpen.
Michael überreichte ihr zu ihrem dreißigsten Geburtstag ein Kuvert. Als sie es aufriss, fand sie eine Skizze ihres zukünftigen Ateliers darin. Ein paar Wochen später begann er mit dem Dachausbau. Seitdem ist hier ihr Rückzugsort, wo sie in all den Jahren mit Pinsel, Farben und Kreiden in ihre Heimat gereist ist.
Elin dreht sich zu ihrem Mann um, geht an ihm vorbei und öffnet eine Schublade ihrer Zeichenkommode.
„Schau Michael, das ist meine Heimat, mein Island, wie ich es in Erinnerung habe“, sagt sie leise und entnimmt einer Mappe große bemalte Papierbögen.
Bunte Holzhäuser vor grünen Vulkanbergen und schneebedeckten Gletschern, mächtige Lavafelsen im aufgewühlten Meer, Wasserfälle und blühende Wiesen sind zu sehen.
„Sie sind wunderschön“, sagt er leise und räuspert sich.
Elin kniet sich zu ihm auf den Boden und schaut ihn erwartungsvoll an. „Ich habe meine Heimat nie vergessen, auch wenn es auf euch so wirken muss. Manchmal ist das Heimweh so stark, dass ich die Bilder, die in mir aufsteigen, malen muss, sonst würde ich es nicht ertragen“, flüstert sie und wischt sich die aufsteigenden Tränen aus den Augen.
„Michael nickt und greift nach ihrer Hand. „Danke, dass du sie mir gezeigt hast.“
„Ich werde die Geschichte aufschreiben. „Ich muss mich endlich mit der Vergangenheit auseinandersetzen und Frieden schließen.“
„Und dann gehen wir zusammen nach Island“, schlägt Michael begeistert vor. Ich möchte deine Heimat gern kennenlernen.“
Elin schüttelt traurig den Kopf. „Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder zurückkehren kann. Die Unsichtbaren werden es nicht erlauben.“
„Schatz, was hat es mit diesen Unsichtbaren auf sich? Wer sind sie?“ Michael spürt, dass ihm trotz der Hitze ein kalter Schauer den Rücken hinunterläuft.
„Du wirst es erfahren. Aber gib mir noch ein wenig Zeit. Bitte!“
Michael nickt und erhebt sich mühsam. „Die alten Knochen“, stöhnt er lächelnd.
Elin legt die Bilder vorsichtig in die Kommode zurück.
„Lass uns einen Seespaziergang machen. Ich brauche jetzt Bewegung“, schlägt Elin vor und greift nach Michaels Hand.
Sie bleiben stehen und blicken auf den See mit seinen glitzernden Lichtpunkten. Warmer Wind streichelt ihre Gesichter, Wellen plätschern halbherzig ans Ufer und ein Schwarm flatternder, kreischender Möwen streitet um ein aufgeweichtes Stückchen Brot, das ans steinige Ufer geschwemmt wurde.
„Weißt du, Island besitzt nicht diese Lieblichkeit. Seine Schönheit ist rau und kraftvoll. Nicht jeder fühlt sich dort wohl, doch ich habe die Insel immer geliebt.“
Michael sieht den Schmerz in ihren Augen. „Jetzt lade ich dich ins Strandcafé ein.“ Er legt den Arm um sie und zieht sie an sich.
Auf der Badewiese herrscht munteres Treiben. Beachvolleyballspieler, Sonnenhungrige auf ihren Handtüchern und planschende, juchzende Kinder. Das Sonntagsprogramm an einem Sommertag am Bodensee.
Elin löffelt genüsslich ihren Eiskaffee, während Michael sich mit einem kühlen Weizen erfrischt.
„Geht’s dir wieder besser?“, fragt er seine Frau.
Elin nickt und deutet lächelnd auf seinen Mund. „Bierschaum.“
Michael wischt sich grinsend über den Mund, dann wird er ernst. „Ich werde irgendwann mit dir nach Island fahren, das schwör ich dir.“
Elin blickt ihn erstaunt an. „Das wäre schön“, flüstert sie, „aber …“
„Kein Aber. Wir werden uns doch nicht von irgendwelchen Geistern einschüchtern lassen.“
Elin zuckt mit den Schultern. Vielleicht hat er recht. Sie wünscht es sich so sehr.
Julia
Julia wird vom Rauschen des Regens geweckt. Schwungvoll verlässt sie das Bett. Nach einer erfrischenden Dusche kehrt sie ins Schlafzimmer zurück, schlüpft in die bereitgelegte hellblaue Jeans und einen dunkelblauen Baumwollpulli.
Nach einem hastig eingenommenen Frühstück verlässt sie mit ihrem Gepäck die Wohnung und steigt in das wartende Taxi.
Ihr Islandabenteuer beginnt.
Das Flugzeug verliert an Höhe und bereitet sich auf die Landung vor. Kurz darauf setzt es mit einem harten Ruck auf der Landebahn auf.
Julia blickt durch das kleine Fenster. Der Flughafen von Keflavik. Regennasser Asphalt unter einem trüben, wolkenverhangenen Himmel.
Sie zupft aufgeregt an ihrem Zopf. Die Frage, die sie sich schon während des Fluges gestellt hat, drängt sich wieder in den Vordergrund. Wie wird sie sich hier fühlen, im Land ihrer Eltern und Vorfahren? Wird sie überhaupt etwas spüren? Vielleicht ist es einfach nur eine Urlaubsinsel?
Julia schließt den obersten Knopf ihres Anoraks und stülpt die Kapuze über den Kopf. Kalter Wind und Nieselregen. Sie schluckt die aufkommende Enttäuschung hinunter. Sie ist schließlich auf Island und nicht auf Mallorca. Wenig später bringt sie der Bus in ihr Hotel nach Hafnarfjördur.
Lavafelder entlang der Straße, karge Vulkanberge, im Norden das Meer im blaugrauen Dunst, fast eins mit dem Himmel. Julia kann sich nicht sattsehen. Das ist also das Land ihrer Eltern.
Der Bus hält vor einem modernen Touristenhotel in leuchtend grüner Farbe. Nicht romantisch, eher zweckmäßig.
Nachdem Julia eingecheckt und sich in ihrem Zimmer eingerichtet hat, fährt sie mit dem Bus nach Reykjavik.
Das Wetter hat sich zum Positiven verändert. Der graublaue Himmel reißt immer mehr auf und gibt einer milden Sonne die Möglichkeit, die feuchte Luft zu erwärmen.
Reykjavik ist eine moderne, pulsierende Stadt. International und jung. Julia fühlt sich sofort wohl, doch sie vermisst ein wenig das Alte und Romantische der südlichen Städte.
Sie besichtigt die bekannte Hallgrims-Kirche und fährt mit dem Aufzug auf die Aussichtsplattform des Turms. Der Blick über die roten, blauen und grünen Wellblechdächer der kleinen Häuser, die sich an das Ufer des Stadtsees schmiegen, ist wunderschön.
Gemächlich schlendert sie durch die Altstadt und fotografiert die kleinen, bunten Holz- und Wellblechhäuser, die sie an Norwegen erinnern. Nicht weit entfernt, im alten Hafen, schaukeln Fischerboote und kleine Segeljachten. Daneben das Konzerthaus Harpa, ein architektonisches Meisterwerk aus Hunderten von Glasbausteinen.
Julia geht ein Stück an der Uferpromenade entlang. Steine zu Figuren aufgetürmt, erinnern sie an den Bodensee, und sie fühlt sich nicht mehr so fremd.
Sie dreht dem Hafen den Rücken zu und lässt sich durch die Einkaufsstraßen treiben. Imbissbuden, Restaurants, Bäckereien und Cafés bieten kulinarische Stärkung an, um für Buchläden, schrille Boutiquen und Souvenirläden gerüstet zu sein. Isländische Wollpullover, Schmuckstücke aus geschliffenen Lavasteinen, bunte recycelte Designerklamotten und originelle Handtaschen reizen zum Kauf, doch als Julia die Preisschilder sieht, verflüchtigen sich die Gedanken an Mitbringsel schnell.
Als ihr der verführerische Kaffeeduft aus dem Inneren eines Cafés in die Nase steigt, kann sie nicht widerstehen. Sie braucht jetzt eine Stärkung, denn ein Blick auf die Uhr zeigt, dass sie bereits seit drei Stunden durch die Stadt marschiert.
Sie hat Glück und findet einen freien Platz an einem kleinen Tisch vor dem Café. Aufatmend lässt sie sich auf den Stuhl fallen. Als Erstes raus aus den Schuhen. Während Julia auf ihren Kaffee wartet, dringen Wortfetzen verschiedener Sprachen an ihr Ohr. Englisch, Französisch, mitunter auch Deutsch. Am Tisch gegenüber unterhält sich eine Gruppe Japaner in ihrem für sie eigenen Singsang.
Entspannt streckt sie ihr Gesicht einem milden Sonnenstrahl entgegen und öffnet den Reißverschluss ihrer Jacke. Dann nimmt sie ihr Smartphone aus dem Rucksack, macht ein Selfie und schickt es ihrer Mutter mit einer kurzen Nachricht:
Bin in Reykjavik. Es ist wunderschön hier. Auch das Wetter! Fühle mich sehr wohl.
In dieser entspannten, freudigen Stimmung trifft sie plötzlich ein Blick, der sich wie ein Messerstich anfühlt. Spitz und schmerzhaft. Julia zuckt zusammen. Ein graugrünes Augenpaar scheint Laserstrahlen in ihre Richtung zu schleudern. Was ist denn los? Ist sie gemeint? Aber warum?
Julia wendet sich ab, tut so, als ob sie in ihrem Reiseführer lese und mustert die Frau verstohlen aus den Augenwinkeln. Das Klischeebild einer Gouvernante Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts. Graubraune Klamotten, streng aus dem Gesicht gekämmte graue Haare, sicher als Dutt am Hinterkopf zusammengedreht. So Anfang siebzig, schätzt Julia, obwohl, sie könnte auch erst um die sechzig sein.
Die Frau wendet ihr hageres Gesicht nun ihrer Begleiterin zu, sagt irgendetwas, worauf auch diese nun zu Julia herüberschaut.
Julia spürt, wie Ärger in ihr aufsteigt.
So ein unmögliches Benehmen. Wenn es um ihre auffallende Erscheinung geht, dann soll sie halt wegschauen. Julia ist daran gewöhnt, die Blicke wegen ihrer leuchtend roten Haare auf sich zu ziehen, doch sind diese meist bewundernd, wohlwollend, nicht ablehnend, fast hasserfüllt, wie jetzt.
Herausfordernd erwidert Julia den Blick, doch die Frau schaut sofort weg.
Kurz darauf steht sie abrupt auf, schleudert Julia noch einen wütenden Blick zu, legt Geld auf den Tisch, verabschiedet sich von ihrer Begleiterin und verlässt mit gehetzten Schritten das Café.
Als ob sie vor mir auf der Flucht wäre, denkt Julia und schaut der hageren Peron hinterher. Hoffentlich kein schlechtes Omen für meinen Islandaufenthalt! Julia läuft ein kalter Schauer den Rücken hinab. Nervös zupft sie an ihrem Zopf.
Sie greift zum Smartphone und schreibt ihrer Mutter eine WhatsApp:
Gerade eine merkwürdige Begegnung mit einer Frau gehabt. Hat mich entsetzt angeschaut, so als ob sie einen bösen Geist gesehen hätte.
Julia wartet, doch ihre Mutter antwortet nicht. Schade. Enttäuscht steckt sie ihr Handy in die Tasche.
Wolken bedecken mit einem Mal den Himmel. Woher sie so plötzlich gekommen sind? Das Wetter scheint hier schnell zu wechseln und mit dem Verschwinden der Sonnenstrahlen ist auch die laue Wärme weg. Julia schließt den Anorak, nimmt ihren Schal aus dem Rucksack und kuschelt sich hinein. Ein bisschen Geborgenheit. Ein Blick auf die Uhr. Es wird Zeit, langsam ins Hotel zurückzukehren. Bald gibt es Abendessen. Julia verlässt schnell das Café. Das leere Gefühl und ein Anflug von Heimweh drängen sie in die Sicherheit der Reisegruppe und des Hotels.
In ihrem Zimmer angekommen, fällt ihr Blick in den Spiegel. Eine bleiche Julia mit ängstlichen Augen schaut sie hilfesuchend an. Sie schüttelt bei ihrem Anblick ärgerlich den Kopf.
„Was ist denn los mit dir? Du wirst dich doch nicht von dieser unsympathischen Frau einschüchtern lassen?“, fragt sie ihr Spiegelbild streng. Sie ist schließlich hier, um Urlaub zu machen und sich wohlzufühlen. Sie wird sich ihre Ferien nicht von den dunklen Vorahnungen ihrer Mutter und erst recht nicht von dieser unfreundlichen Person vermiesen lassen! Punkt.
Sie begibt sich unter die Dusche. Das warme, nach Lavendel duftende Geriesel spült die dummen Gefühle weg.
Erfrischt, die Haare hochgesteckt, die Augen mit ein wenig Lidschatten und Mascara betont, schlüpft sie in hellgrüne Jeans und zieht eine weiße Spitzenbluse an. Wieder einen Blick in den Spiegel. Schon besser, findet sie, legt sich ein goldgrün gemustertes Plaid um die Schultern und verlässt beschwingt das Zimmer in Richtung Speisesaal. Ihr Magen knurrt erwartungsvoll. Sie ist gespannt auf ihre Reisegruppe. Hoffentlich sitzt sie mit netten Leuten an einem Tisch.
Kristin
Kristin hastet zu ihrem Auto. Ihre zittrigen Hände haben Mühe, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken. Kurz darauf fährt sie mit quietschenden Reifen los. Ihr Blick fällt auf den Tacho. Schnell nimmt sie den Fuß vom Gaspedal.
Der Schreck sitzt ihr in den Knochen.
Den ganzen Morgen hatte sie bereits gespürt, dass etwas passieren würde. Etwas Schicksalsträchtiges schwebte schon beim Aufwachen wie ein dunkler Schleier über ihr.
Nachdem der Sozialdienst Carl bei der Morgentoilette geholfen hatte, frühstückten sie zusammen. Wie immer schweigsam, von ein paar kurzen, nichtssagenden Sätzen abgesehen. Anschließend, wie jeden Morgen, lenkte Carl seinen Rollstuhl geschickt durch die geräumige Küche in sein Arbeitszimmer, wo er die nächsten Stunden verbringen würde. Als bekannter isländischer Schriftsteller schrieb er an seinem neuen Roman.
Kristin hätte ihm gern von ihrer dunklen Ahnung erzählt, doch so nahe standen sie sich schon lange nicht mehr, dass sie ihm Einblick in ihr Innenleben gewährt hätte.
Kristin blickte ihm schweigend hinterher. Er sah immer noch gut aus mit seinen lockigen, silbergrauen Haaren.
Sie hatten sich bei einer Vernissage kennengelernt. Kristin erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen.
Riesige Leinwände mit düsteren Farben und wirren Motiven hatten die kleinen Räume der Galerie in eine Höhle verwandelt. Entsprechend war die Luft dumpfig und warm. Die Gäste drängten sich um den Laudator, der mit seinen Lobeshymnen auf den Künstler kein Ende zu finden schien.
Kristin trat unruhig von einem Bein auf das andere und schielte immer öfter zum Ausgang. Warum war sie nur mitgegangen, fragte sie sich, krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch und fächerte sich mit der Einladungskarte frische Luft ins Gesicht.
„Ach komm doch mit. Du kannst nicht jeden Abend deine Nase in irgendwelche Kitschromane stecken. Du versauerst ja langsam. Draußen spielt sich das wahre Leben ab“, hatte ihre Freundin Eva auf Kristins Absage geantwortet. Womit sie Recht hatte. Kristin verbrachte ihre Wochenenden gewöhnlich auf dem Sofa, las und träumte von ihrem Traummann.