Leben heißt anfangen - Ruth Pfau - E-Book

Leben heißt anfangen E-Book

Ruth Pfau

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Beschreibung

Eine große Frau unserer Zeit, deren Kampf für die Würde der Menschen, deren Einsatz für andere viele fasziniert. Einfach war ihr Leben nicht. Ein Vorbild für viele ist sie jedoch mehr denn je. Die Botschaft dieser Mystikerin und Powerfrau an der Seite der Ärmsten ist einfach. Aber folgenreich: Engagiert euch! Lasst euch nicht einlullen. Es lohnt sich, aufzubrechen. Jeden Tag. Nur wer diesen Weg geht, findet zum Sinn.

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Ruth Pfau

Leben heißt anfangen

Worauf es ankommt

Mit einem Nachwort von Rupert Neudeck

Herausgegeben von Rudolf Walter

Ein einfach-leben-Buch

© Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2018

www.herder.de

© Nachwort: Dr. Rupert Neudeck

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagkonzeption und Gestaltung: Designbüro/Gestaltungssaal

Umschlagfoto: © Bernd Hartung

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN Print 978-3-451-00769-9

ISBN E-Book 978-3-451-81480-8

Inhalt

Vorwort

1. So ist mein Leben

2. Die Sinnfrage

3. Warum? Das Drama des Leidens

4. Helfen – warum und wie?

5. Der Tod und die Liebe

6. Im Horizont der Liebe

7. Geheimnisvolles DU

8. Die große Freiheit

9. Trotzige Hoffnung

10. Einfach anfangen!

Nachwort von Rupert Neudeck

Quellenverzeichnis

Vorwort

Von Rudolf Walter

„Wenn mein Lepraprogramm schiefgegangen wäre wie die Welt, die Gott geschaffen hat, dann hätte ich mir einen Experten bestellt.“ – Dass die Welt so ist, wie sie ist, blieb für Ruth Pfau lebenslang die große Herausforderung. Experten, die mit ihrem Knowhow alles lösen könnten, gibt es nicht. Es gilt also, sich dem auszusetzen, was ist: Erdbeben und Flutkatastrophen, Seuchen und Krankheiten – auch dem von Menschen verursachten Leiden, Unrecht, Terror. Das Böse, das Menschen einander antun, die Fähigkeit zum Schrecklichen, das ist für sie die andere, dunkle Seite unserer Freiheit. Einer Freiheit, zu der freilich auch die Fähigkeit zum Lieben gehört. Und die Freiheit, etwas zu tun – und Wunder nicht nur zu sehen, sondern auch möglich zu machen. Ihre Devise: nicht irgendwann damit anfangen, wenn die Umstände vielleicht erfolgversprechender sein werden. Sondern jetzt. Sich nicht nur darauf verlassen, dass anderes es schon richten werden. Sondern sich ansprechen lassen, von dem, was einem in den konkreten Menschen begegnet. Mitfühlen – und handeln.

Als sie 1960 in einem Slum der Millionenstadt Karachi, in der McLeod Road hinter dem Hauptbahnhof, auf ein Lepracamp aussätziger Bettler trifft und Mohammed Hassan begegnet, einem 30jährigen, der auf allen Vieren in den Bretterverschlag kriecht und der sein Elend in dumpfer Resignation akzeptiert, da sind Empörung und Entschiedenheit die Konsequenz ihres Mitleids: „Ich wusste plötzlich: Hier, hier musste es geschehen. Wie? – Gleichgültig. Jetzt! … Es war, wie wenn man seine große Liebe trifft: ein und für allemal.“

Hinsehen, nicht gleichgültig bleiben gegenüber der offensichtlichen Not eines anderen. Helfen, Leiden verhindern, die Ursachen angehen, sich in die Pflicht nehmen lassen, Leben ermöglichen und fördern: Darum geht es Ruth Pfau. Liebe – als bedingungslose Zuwendung, als Bejahung des anderen ohne jeden Vorbehalt, eintreten aus der Zentriertheit auf das eigene Ich: das bleibt dabei freilich die entscheidende Tatsache.

Aber es gibt auch andere existentielle Erfahrungen. Es bleiben ungelöste Fragen, auch Dunkelheiten, die bis ins Gottesbild hineinreichen, die aber doch die erste Überzeugung nicht auslöschen können: Liebe ist das letzte Wort im Leben.

Der Glaube, dass Gott sich nach der Schöpfung nicht aus der Welt zurückgezogen, im Gegenteil: sich in sie hineinbegeben und sich selbst als Liebe zu erkennen gegeben hat, macht es nicht einfacher. Gott ist nicht mit den Mitteln unseres kleinen Verstandes begreifbar. Er wäre nicht Gott, wenn wir ihn verstehen würden. Die Frage nach dem Sinn des Ganzen steht auf der „eschatologischen Liste“. Und die Liste ist im Verlauf des Lebens länger geworden. Sie hofft, dass die Rätsel sich auflösen werden, eines Tages, nach dem Tod.

Die andere Reaktion ist: Gott suchen in allen Dingen. Eben auch im Leiden, im Meer der Hilflosigkeit, im verunstalteten Gesicht des Leprakranken. Gott ist nicht die Idee der Perfektion, nicht der unbewegte Beweger. Er ist mitten im Leben. „Gott ist der Gott des Heute. Der Lebenssinn ergibt sich, indem ich dieses Heute annehme. Das hat mir eingeleuchtet. Aber dann habe ich gedacht, das ist nicht ganz richtig, Gott ist viel konkreter, er füllt wohl das ganze Heute aus, mit besonderer Intensität aber erfüllt er den Augenblick. Er ist wirklich der Gott des Jetzt. Wer den gegenwärtigen Augenblick verpasst, verfehlt sich selbst, weil er Seinen Plan verfehlt.“

Leben ist jetzt. Und jeder Tag hat Gewicht, jeder ist eine neue Herausforderung. Wo anfangen? Da wo wir sind! „Das ganze Leben ist eine Folge von Anfängen, von immer wieder neuen Anfängen und Anfängen und Anfängen.“ Ob in Karachi oder hierzulande. Ruth Pfaus Überzeugung: Wo wir sind, nicht wo wir sein möchten, ist der Ort, an dem wir anfangen müssen.

„Ich bin zu jung.“ „Ich bin zu alt.“ Diese Ausreden ließ sie nie gelten. Damals nicht, als sie als junge Ärztin in Karachi vor einem unüberwindlich scheinenden Berg von Problemen stand. Und auch dann nicht, wenn ihr Menschen entgegenhielten: Was Sie tun, das ist doch alles nur ein Tropfen auf dem heißen Stein …

Wer sich als Junger nicht auf die Herausforderungen einlässt, an dem geht das Leben vorbei. Und alt werden, sagt Ruth Pfau, heißt einen neuen Weg gehen und neue Erfahrungen machen. „Gemessen an der Ewigkeit sind ja auch 80 Jahre erst der Anfang.“ Vielleicht ist es das, was – wenn schon nicht jung, so doch lebendig hält.

„Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht ich?“ Eine Weisheit, die einem jüdischen Weisen zugeschrieben wird. Ruth Pfau würde das unterschreiben, nicht als Frage, sondern als Feststellung: Leben heißt anfangen. Jetzt. Worauf warten wir noch?

1. SO IST MEIN LEBEN

So ist mein Leben. Bisweilen schwierig

und zuzeiten leicht. Ein Weg mit vielen

Kehren. Meine Erfahrung sagt mir:

Leben ist immer vielschichtig, bunt,

widersprüchlich, unvorhersehbar

und nie eindeutig.

1, 207

Fassungslos

In der Schulzeit waren wir alle im BDM. Ich verachtete das primitiv Proletenhafte an den Nazis. „Bizeps-Kultur“ nannten wir das. Aber angesprochen waren wir von dem Elitebewusstsein, das in der Führergruppe gepflegt wurde. Das war verführerisch. Mit dreizehn war mein schwärmerisch verehrtes Ideal die Leiterin unserer „Führergruppe“. Ich war in dieser Kader-Gruppe und gewohnt seit meiner Kindheit, die „Nummer Eins“ zu spielen. (Außer im Sport. Sport habe ich immer gehasst.) Ich hatte das Gefühl, dass diese Führerin mich besonders behandelte – und dass es mir zustand. An einem der „Heimabende“ redeten wir über Nietzsche. Dann kam der Satz: „Die größte Tapferkeit ist, unberührt zuzusehen, wenn ein anderer leidet.“ Das war das Ende. Da war es bei mir plötzlich aus. Ich rannte hinaus. Sie mir nach, sie wollte über die Sache noch einmal sprechen. Ich blieb beim Nein, ging nach Hause und heulte fassungslos.

5, 27

Nicht zuschauen

Wie ist es möglich gewesen, dass ein ganzes Volk wie die Deutschen, gebildet und mit einer Kultur, in die tausend Jahre von christlichen Werten eingeflossen waren bis in den Umgang in der Familie, in die Rechtssprechung hinein, wie war es möglich, dass dieses Volk sich als Handlangergruppe für eine Verbrecherbande, missbrauchen ließ?

Mein Leben war nie normal, meine Kindheit unter den Nazis, dann der Krieg, und auch nicht während der Nachkriegszeit. Noch ehe das Wirtschaftswunder voll ausgebrochen war, bin ich nach Pakistan gegangen. Und dort wieder dasselbe: Hunger, Not, Folter in den Polizeistationen.

Ich gehöre offensichtlich zu der Generation, in der sich viele geweigert haben, ein „normales Leben“ zu führen, ehe nicht die Welt normal geworden ist. Für die, die so fühlen, ist „dabei sein“ immer noch einfacher als zuschauen. Immer wenn ich nicht „vor Ort“, sondern in Deutschland bin, fühle ich mich unwohl, weil ich mich in die Rolle einer fern stehenden Zuschauerin gezwungen sehe. Das ist nicht mein Stil, ich habe nie so gelebt und will es auch nicht anfangen.

3, 207

Mein Schlüsselerlebnis

Als wir damals, 1960, anfingen, war das ganz handgestrickt, ganz primitiv, eine fast jähzornige Reaktion auf die Entwürdigung einer Handvoll Menschen, die unter unvorstellbaren Bedingungen in den Bretterverschlägen und Slums von Karachi lebten. Das Medikament, das Lepra heilbar machte, war schon seit 1947 entdeckt. Aber das hatte sich noch nicht durchgesprochen bis Karachi. Man wurde nicht behandelt, man endete schließlich verkrüppelt, verstümmelt, entstellt auf den Straßen einer unbarmherzigen Großstadt als Bettler und in diesem unvorstellbaren Lepra-Getto. Die Bettler wurden von der Polizei aufgegriffen und auf Lastwagen zwei bis drei Stunden in die Wüste gekarrt, dort buchstäblich ausgekippt. Sie mussten sich dann in langen, qualvollen Fußmärschen hungrig und durstig wieder nach Karachi durchschlagen, und als wir kamen, hatten sie Angst, wir seien nur eingeschleust, um ihr Getto zu „knacken“. Wir konnten noch nicht einmal eine Garage mieten, um mit unserer Arbeit anzufangen. Eine Bretterbude diente uns als Empfangs-Verschlag, und ich erinnere mich immer wieder an diesen schwerkranken jungen Mann, den uns seine Mitpatienten am zweiten Tag brachten. Schon vorher hatte ich das Misstrauen dieser Kranken als belastend erlebt. Sie waren nicht mal froh, dass eine junge Ärztin kam, voller Schwung, und etwas „machen“ wollte. Und nun brachten sie diesen jungen Mann, halb bewusstlos, ich konnte keine Vorgeschichte erheben, wir hatten auch kein Labor, um herauszufinden, was er hatte. Wir konnten Urin kochen, und ich wusste also, dass er Eiweiß im Urin hatte, ein Nierenproblem also. Aber darüber hinaus kamen wir nicht. Wir haben uns bemüht, sehr bemüht. Der Mann starb am dritten Tag. Wir lebten damals außerhalb des Gettos, und ich sagte zu Berenice, meiner Mitschwester: „Du, ich möchte nicht mehr zurück, ich kann nicht mehr. Wenn ich in all dem Misstrauen nicht fertigbringe, einem Mann das Leben zu retten, was soll ich dann noch? Die werden uns nie annehmen.“

Und dann sagte Berenice: „Also, du willst aufgeben, wenn ich dich recht verstehe?“

Da sagte ich: „Das natürlich auch nicht …“

„Dann bleibt nur eins …“

Und dann sind wir trotzdem gegangen.

Dieser Empfang im Getto war völlig unerwartet, die entspannte Atmosphäre und die Patienten, die sagten: „So schön wie Allam ist noch nie jemand gestorben.“ Und da ging mir, da ging uns auf – eine Einsicht die blieb: Es kam gar nicht so sehr darauf an, dass wir nicht die westlichen Möglichkeiten hatten, keinen Operationssaal, kein Labor, nur eine Bretterbude und eine Handvoll Medikamente. Wichtig war nur, dass wir den Menschen nahe waren, dass sie merkten: da war jemand, dem es weh tat, dass jemand mit dreiundzwanzig Jahren sterben musste. Und damit begann sich das Leben der Betroffenen zu verändern.

6, 182

Klarheit

Es gibt Momente im Leben, in denen – nach einer langen Vorgeschichte – die bewussten und die unbewussten Elemente plötzlich zusammenschießen. Wenn der letzte Kristall in die gesättigte Lösung fällt, dann schießt die ganze Lösung zum Kristall zusammen. Irgendwann wusste ich mit genügender Klarheit: Ich werde es in meiner Endlichkeit nicht aushalten, ich werde nie ein rein naturwissenschaftlich bestimmter Mensch sein können, der schon glücklich ist und sich damit zufrieden gibt, wenn er etwas messen und in diesem Sinne verstehen kann. Als sich das Transzendentale als Möglichkeit und damit auch das Christentum für mich öffnete, war ich schon von einem Outsider zu einem Insider geworden. Das endgültige Geschenk, das es mir ermöglichte zu entscheiden, wie ich mein Leben konkret leben wollte, habe ich als Insider empfangen. Oder vielleicht hat es mich auch erst endgültig zum Insider gemacht.

3, 219

Was sich lohnt

Zu sagen „es lohnt sich“, sein Leben einzusetzen, es ist nicht umsonst, auch wenn man in äußeren Kategorien „nichts erreicht“, das ist eine Entscheidung. Eine bewusste Willensentscheidung. Wenn ich nicht überzeugt wäre, dass das Leben letztlich getragen wäre von einer größeren Liebe – es würde sich für mich nicht lohnen. Ich habe mich für diese Sicht entschieden. Es ist eine bewusste Entscheidung. Eine Entscheidung, die ich durchtrage. Nicht nur für mich, sondern auch für andere. Sonst hätte ich längst die Konsequenzen gezogen. Denn ein Leben, das sich nicht lohnt, lohnt sich auch nicht, gelebt zu werden.

9, 239

Der Weg

Es war der 13. Mai, 20 Kilometer lagen vor uns. Mindestens 20 Kilometer, vor denen wir zitterten. Dann hatte es aber in dieser Nacht ein wenig getröpfelt. Als wir losfuhren, war ein Jeep vor uns gefahren. Der hatte Radspuren hinterlassen. Wenn man im Wagen sitzt, sieht man nur den Abgrund. Der Jeep ist ja ein wenig breiter als die Radspuren. Da aber vor uns ein Wagen gefahren war, konnte man sehen, dass selbst an den engsten Stellen die Straße breit genug war. Zumindest so breit, dass er gerade noch mit den Rädern durchgekommen war. Ich starrte 20 Kilometer fasziniert auf diese Radspuren und dachte: Der ist ja auch durchgekommen.

Dann kommt man um die Ecke und sieht die Hängebrücke vor sich und eine ganz enge Schlucht, durch die der Wind ständig faucht. Die Brücke bewegt sich infolgedessen, und man muss davorstehen, bis sie kommt, und den richtigen Augenblick abwarten, um mit den Rädern draufzufahren, damit sie stabilisiert wird. Aber auf der anderen Seite, da weitet sich alles, da ist das Abenteuer vorbei.