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Barbara Sichtermanns Standardwerk hat nichts von seiner Aktualität verloren: Ihre Kritik an den überkommenen Methoden des Umgangs mit Säuglingen und ihre praxisbezogene Sichtweise, wie man sich Neugeborenen gegenüber verhalten soll, sind heute wichtiger denn je. Ihr »Gegen-Leitfaden« hilft Erwachsenen, Unsicherheiten, Ängste und Vorurteile abzulegen und statt dessen vor allem eine Körperbeziehung zu dem Baby herzustellen: mit ihm zu leben, anstatt es lediglich zu versorgen.
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Seitenzahl: 427
Barbara Sichtermann
Leben mit einem Neugeborenen
Ein Buch über das erste halbe Jahr
FISCHER E-Books
Für Simon, geboren 1978
Als es noch selbstverständlich war, dass Erwachsene und Kinder, Alte und Neugeborene unter einem Dach wohnten, als die Nachbarschaften noch eng waren, so dass Anteilnahme am familialen Leben über die eigene Verwandtschaft hinausreichte – da hatte jeder Einzelne eine Fülle von Gelegenheiten, zu sehen, zu erleben, zu lernen, wie man mit einem Neugeborenen umgeht. Die Ratgeber saßen in der eigenen Familie oder nebenan, und man musste nicht lesen können, um sie zu verstehen. Der Anschauungsunterricht geschah nebenbei und kostenlos, und statt der Puppen gab es echte Wickelkinder.
Diese Zustände, die übrigens auch nicht das Paradies auf Erden waren – man denke nur an die verbreitete barbarische Strafpraxis –, sind im vorigen Jahrhundert untergegangen. Die Generationen haben sich entmischt, ebenso Arbeits- und Wohnschauplätze, eine Bedingung für die Verflüchtigung der nachbarschaftlichen Kommunikation. Die Kleinfamilie von heute ist relativ isoliert, aber auch selbstverantwortlich und etwas freier von der Bevormundung durch überlieferte Vorurteile und Moralen. Sie ist auf sich selbst gestellt und betrachtet den guten Rat der (entfernt wohnenden) Eltern eher als Einmischung denn als Hilfe. Aber da die jungen Eltern, erfahrungs- und ahnungslos wie sie sind, nicht von selbst wissen können, wie und wozu sie’s machen sollen, da sie, unterwegs zum Leben mit einem Kind, zunächst mal unsicher sind, muss eine neue Instanz die Autoritäten der Vergangenheit: Religion und Herkommen, Sitte und Gewohnheit, begründet ersetzen. Diese Instanz ist die Wissenschaft bzw. in unserem Fall die für den Endverbraucher aufbereitete Form, die populärwissenschaftliche Aufklärungsliteratur: der Leitfaden für den Umgang mit einem Säugling. Neben der Erziehungswissenschaft und der Sozialisationsforschung spielen Säuglingsmedizin, vorgeburtliche Medizin und Kinderpsychologie eine Rolle bei der Konzeption und Formulierung der modernen Lebenshilfe; ihre Forschungsergebnisse werden von Leitfadenautoren berücksichtigt, damit den jungen Eltern schließlich ein Kompendium von Leitideen, Regeln, Vorschriften in die Hände gelegt werde, das sie befähigt, nach objektiven Kriterien zu handeln, d.h. möglichst alles ›richtig‹ zu machen.
Es sieht also so aus, als hätten Eltern heute, sofern sie sich nur um Aufklärung bemühen, alle Chancen, die Verhältnisse für sich und ihr Kind aufs beste zu gestalten. Aber es sieht nur so aus. Bei genauerem Hinschauen wird deutlich, dass nach wie vor Unsicherheit und Angst vor Fehlern verbreitet sind, dass, wenn das Kind geboren ist, Betriebsamkeit, Sorge und Nervosität den Alltag stärker prägen als Selbstbewusstsein und Zufriedenheit. Irgendwas kann an der neuen Form, in der der Elterngeneration das nötige Wissen für die Aufzucht ihres Nachwuchses beigebracht wird, nicht stimmen, irgend etwas stimmt auch bei Form und Inhalt dieses Wissens, dieser Aufklärung selbst nicht.
1. Die modernen, von der Wissenschaft inspirierten Ratgeber sind untereinander, oft auch in sich selbst, widersprüchlich. Denn in der Wissenschaft gibt es stets verschiedene Schulen, die miteinander im Streit liegen – für die Streitenden selbst mag das ganz anregend sein, für das Publikum aber ist es eher verwirrend, wenn es an jedem ›trial‹ und jedem ›error‹ teilnehmen muss.
Moral: Hören Sie auf, zu glauben, dass alles, was von höherer Stelle, von offizieller Seite mit dem Gestus einer Offenbarung verkündet wird, der Weisheit letzter Schluss sei. Fürchten Sie nicht, Sie seien als Laie dumm; was von der Wissenschaft zu lernen ist, das haben wir oft schon gelernt, manchmal ohne es zu wissen. Vertrauen Sie Ihren eigenen Erfahrungen, d.h. trauen Sie sich erstmal, welche zu machen. Es wäre falsch, von der Wissenschaft zu verlangen, sie solle sich zur Eindeutigkeit zwingen, denn dass sie das nicht immer tut, ist eine ihrer letzten Stärken. Was Sie hier und jetzt machen können, ist, Ihrer eigenen Wissenschafts- und Autoritätsgläubigkeit zu misstrauen.
2. In alle populärwissenschaftlichen Anweisungen spielen stets politische Interessen hinein – ob es nun darum geht, wie man sich als Deutscher im Ausland verhalten, welchen Beruf ein Jugendlicher ergreifen soll oder wie ein Baby zu behandeln ist –, die offiziellen Ratgeber wollen, dass Sie es in ihrem Sinn richtig machen, ob Sie persönlich damit zurechtkommen oder nicht. Die Objektivität der Wissenschaft ist Schein.
Moral: Fragen Sie warum. Wenn Sie sich zu Verrichtungen aufgefordert finden, die Ihnen nicht liegen oder die Sie nicht verstehen, so fragen Sie auf der Mütterberatungsstelle nach Gründen. Wenn die Gründe Sie nicht überzeugen, machen Sie es lieber so, wie Sie selbst es wollen und wie es Ihrem Kind gefällt. Denken Sie immer daran, dass jeder Leitfadenautor (auch ich) nicht einfach nur das Beste für Sie und Ihr Kind will – auch wenn er das selbst glaubt –, sondern dass er zugleich Sie (und andere) zu einem bestimmten Verhalten auffordert, zu einem Verhalten, das den einen oder anderen sozialen Trend stützt oder gerade nicht stützt.
3. Als Besserwisser sind Leitfadenautoren im Allgemeinen nicht imstande, ihre Ratschläge so zu formulieren, dass für den Leser Alternativen sichtbar werden und Raum frei bleibt für eigenes Ausprobieren, eigene Erfahrung. Die gängigen Leitfäden für den Umgang mit Säuglingen lesen sich als Schulen eines normierten Handelns. Da werden peinlich alle Prozeduren zusammengetragen, die gerade generationentypisch sind, und gewissenhafteste Ausführung wird mit der dräuenden Intensität eines Orchesterdirigenten gefordert. Die moderneren Ratgeber sind manchmal weicher im Ton, auffällig ist aber auch bei ihnen der rituelle Charakter der empfohlenen Handlungen.
Moral: Das A und O im Leben mit einem Neugeborenen ist die Bereitschaft der Erwachsenen, zu experimentieren, Probehandeln zu wagen. Gerade diese Bereitschaft wird von den meisten Leitfäden systematisch erstickt. Fürchten Sie sich nicht vor neuen Wegen. Verleihen Sie nicht den Regeln und Verfahrensvorschriften, sondern Phantasie und Spontaneität die Macht über den Tagesablauf. Ein Recht dazu gibt Ihnen die vollkommene Neuheit des Geborenen: So eins war noch nie da – weiß man, was es wollen, was es zurückweisen, wie es reagieren wird? Die Individualität des Neugeborenen ist (oder: könnte sein) selbst ein einziges experimentelles Verhalten, geben Sie ihr Gelegenheit, zum Vorschein zu kommen.
Um Ihnen zu helfen, die Angst vorm Experimentieren abzubauen, möchte ich Ihnen in kurzen Worten eine kleine wissenschaftliche Kontroverse zu diesem Punkt referieren, damit Sie sehen, dass es auch Autoritäten gibt, die der Verregelung des menschlichen Zusammenlebens misstrauen.
In den ersten zwei, drei Jahrzehnten unseres Jahrhunderts entdeckten Psychologen – in ihrer eigenen Wissenschaft! – die heimliche Ein- und Mitwirkung einer unausgesprochenen (und falschen) Grundannahme. Sie lautete: Geschehen, das man ›frei‹ sich selbst überlasse, sei keiner überdauernden Ordnung fähig – es werde über kurz oder lang in chaotische Zustände übergehen. Wo immer ein Maß an (lebensnotwendiger) Ordnung im Leben anzutreffen sei, könne es nur von außen aufgezwungen sein. Entweder durch einen Verkehrsschutzmann oder Schleusenwärter, der alles, was geschieht, fortwährend überwacht, kontrolliert und durch Eingriffe autoritär regelt, oder durch starre und tote Gebilde wie: Kanäle, Röhren, Schienen, Verbotstafeln und Tabus.
Dagegen behaupteten nun Kritiker, dass ein gerade ›frei‹ sich gestaltendes, ein sich sozusagen selbst überlassenes Geschehen nicht nur keineswegs chaotisch wird (und schließlich zugrunde geht), sondern sogar zu einer besseren Ordnung gelangen kann – wobei ›besser‹ nicht nur heißt: menschlicher, entwicklungsfreudiger, sondern sich auch auf die Chance bezieht, dass sich die ›Ordnung‹ im Fall von Störungen und Krisen selbst wiederherstellt, also mit auftretenden Schwierigkeiten schlicht besser fertig wird – ohne Zwang, ohne Tabu, ohne Regelkanon.
Allerdings bedarf es für diese ›frei‹ sich gestaltende Lebensordnung einiger Voraussetzungen. Zu deren wichtigster gehört das ›Eindringen in den Sachverhalt‹, auf unser Thema angewendet: das neugierige und sorgfältige Sich-Einlassen auf das Neugeborene und unsere Beziehung zu ihm. Erwachsene sollten sich einem Säugling zuwenden, »nicht selbst formend, sondern suchend«, »ohne ein vorher fest bestimmtes Ordnungsprinzip«, sich einfühlen in die Bedürfnisse des Kindes, in seine Lage und die eigene mit ihm.[1]
4. Leitfäden sind, so trefflich sie auch verfasst sein mögen, immer nur aus Papier. Seit junge Eltern ihre Informationen nicht mehr aus der Auseinandersetzung mit den Alten und aus dem Wiegen des Nachbarkinds oder Geschwisterchens beziehen, sondern aus einer Broschüre des Bundesgesundheitsministeriums oder aus dem Fernsehen, hat sich die Form der Kenntnisvermittlung entsinnlicht. Sie ist anonym und grau-theoretisch geworden. Das bleibt nicht ohne Auswirkung auf die Beziehung zum Kind. Diese Beziehung büßt etliche Grade an Selbstverständlichkeit und Direktheit ein. Hinterm rationalen Informationsgewinn ist ein Erfahrungsverlust verborgen, der durch noch so viele Lektionen und Traktate nicht aufzuholen ist, ja der durch die Aufklärung selbst immer wieder neu erzeugt wird. Auch dann, wenn diese Aufklärung in vielem besser und umfassender ist als das Wissen, das sie ersetzt hat.
Moral: Wir haben doch alle schon so viel gelernt. Viele von uns können besser lesen und schreiben oder wenigstens per Film gebotene Information verarbeiten als mit anderen reden. Es wäre auch heute durchaus möglich, Kenntnisse, Informationen, Ideen von Mund zu Mund zu tauschen, unter Betroffenen Probleme zu bereden, Fragen zu stellen, Lösungen und Antworten zu erörtern. Ein kritischer Leitfaden, so einer wie der, den sie jetzt in der Hand halten, sollte immer versuchen, sich ein Stück weit überflüssig zu machen. Warum also nicht Schwangeren-Gruppen bilden, Zirkel von werdenden, jungen und erfahrenen Eltern und von anderen Betroffenen und Interessierten (auch größeren Kindern), die sich untereinander beraten, Wünsche und Ängste besprechen können? Und gemeinsame Erfahrungen machen?
5. Die Inhalte der zur Säuglingspflege empfohlenen Prozeduren setzen die Körperfremdheit, ja -feindlichkeit der Aufklärungsform fort. Die Regeln und Verfahrensvorschriften, die unsere Leitfäden aufstellen, sind in ihrer großen Mehrzahl Vermeidungsrituale (ob die Autoren das nun wollen und wissen oder nicht), sie unterbinden eine spontane Körperbeziehung zwischen Neugeborenem und Erwachsenen. Eine scheinbar notwendige Verrichtung reiht sich da an die andere, ein Ritual ans nächste. Es sieht fast so aus, als dürfe man nicht zur Besinnung kommen, als dürfe kein freier Raum, keine freie Zeit entstehen zwischen Kind und Erwachsenem: Die beiden könnten einander kennenlernen. Jedes Luftloch, jede offene Sekunde wird sofort mit einer Prozedur gestopft.
Die Folgen: Die Beziehung zwischen Erwachsenen und Säugling beginnt, sich zu entkörperlichen, zu versachlichen, zu mechanisieren. Aufgeklärte Eltern, die Kurse besucht, Literatur studiert und Ausstattungen besorgt haben – sie nähern sich dem Baby gut informiert, sie wissen, wie man es richtig macht, aber sie wissen gar nicht mehr, was ›es‹ eigentlich ist. ›Es‹, das neugeborene Kind und die mögliche Beziehung der Erwachsenen zu ihm.
Moral: Sie sollten vorab wissen, dass die Körperbeziehung zu Ihrem Kind wichtiger ist als die Einhaltung sämtlicher Regeln. Bieten Sie – das gilt für Frauen und Männer, auch für größere Kinder – dem Neugeborenen Ihren Körper als Wohnung an. Wenn das Kind eingezogen ist, lösen sich viele der auftretenden Probleme auf verstehbare, individuelle, manchmal spielerische Weise. Dieser ›Gegen-Leitfaden‹ soll Sie dazu befähigen, die Körperbeziehung zum Baby aus dem ganzen Wust von überflüssigen Prozeduren und nebensächlichen Verrichtungen, aus dem nach Leitfaden-Vorstellung Ihr Alltag mit dem Kind zu bestehen hätte, wieder freizulegen.
Ich möchte noch ein wenig mehr zu Punkt 5 sagen, denn er liegt mir besonders am Herzen. Sicher werden Sie, wenn Sie in einem normalen Leitfaden blättern, lesen, dass ein neugeborenes Kind Liebe und Zuwendung brauche, dass Sie es zärtlich streicheln und freundlich anreden sollen usf. Ich habe, wenn ich solche Sätze lese, immer das Gefühl, als sollten die Aufforderungen zu Zärtlichkeit und Freundlichkeit zugleich eine Schranke setzen, als stünde zwischen den Zeilen der Satz: Bis hierher und nicht weiter. Ginge es denn weiter? Ja, es geht weiter: Aber dieses Weitergehen berührt eines der strengsten Tabus der modernen Gesellschaft: das Sexualtabu zwischen Erwachsenen und Kindern.
Kindern werden sexuelle Wünsche und Handlungen nicht zugestanden, Säuglingen schon gar nicht. In Leitfäden werden Erwachsene, die es zu »sexuell getönten Zärtlichkeiten« mit einem Baby kommen lassen, unter der Rubrik ›Fehlhaltungen der Eltern‹ abgehandelt. Wenn (ältere) Säuglinge an ihrem Penis oder ihrer Vulva spielen, so rät man Eltern »darüber hinwegzusehen« oder das Kind abzulenken. Mit einem Wort: Die Sexualangst und -feindschaft der Leitfadenverfasser ist ebenso blind wie durchgängig.
Was würde es nun bedeuten, wenn wir nicht nur ›bis hierher‹, also bis zu Güte und Pflege, sondern ›weiter‹ gingen? Worin würde sich ein ›sexualfreundlicher‹ Ratgeber vom üblichen unterscheiden, wie soll eine Beziehung zum Säugling ohne Sexualangst aussehen?
Unsere Vorstellungen von Sexualität sind im Allgemeinen so sehr zentriert auf die genitale Sexualität, auf das, was in der Sprache der Polizei und der Aufklärungsliteratur ›Geschlechtsverkehr‹ heißt, dass wir empfindungsblind zu werden drohen für alle Formen, die jenseits davon möglich und wirklich sind. Natürlich ist die Sexualität mit einem Baby keine genitale, sie bezieht sich überhaupt nicht spezifisch auf die Geschlechtsorgane des Säuglings, aber sie hat doch in vielem Ähnlichkeit mit Liebemachen.
Eltern, sagte ich oben, wollen es richtig machen, aber sie wissen gar nicht, was ›es‹ eigentlich ist. ›Es‹: das Baby und die Beziehung der Erwachsenen zu ihm. Diese Beziehung hat eine bestimmte Qualität, die wir sonst nur aus der Sexualität kennen, und deshalb sollten wir sie ruhig eine sexuelle Beziehung nennen. Der Anblick eines Neugeborenen löst in Erwachsenen – übrigens beiderlei Geschlechts – und auch in größeren Kindern ein spontanes physisches Verlangen aus, das Kind an ihren Körper zu nehmen, es mit Hals, Kinn, Armen, Brust und Händen so zu halten, zu stützen und zu umschlingen, dass es ganz von ihrer Körperhaut, von deren Wärme und Feuchtigkeit umgeben ist. Obwohl die meisten Erwachsenen dieses Verlangen verdrängt und verlernt haben, ist es doch, als erotischer Ausdruck des ›Brutpflegetriebs‹, unterschwellig wirksam. Ein Neugeborenes ist vom komplementären Verlangen, also von dem Bedürfnis, in den Körpern der Erwachsenen eingebettet, geborgen zu werden, während seiner ersten Lebensmonate vollständig erfüllt. Das beiderseitige Bedürfnis nach körperlicher Verschränkung bildet sich bei Kind und Erwachsenen, die zusammen leben, immer wieder neu, solange das Baby sich noch nicht selbst fortbewegt, und es gibt beiden, wenn es befriedigt wird, ein ruhiges leibseelisches Glücksgefühl. Das ist schon alles, aber das ist nicht wenig.
Warum nun, werden Sie vielleicht fragen, kann man diesen Wunsch nach Umarmung nicht einfach als zärtliche Wallung ansehen, warum muss man von Sexualität sprechen? Sicher, die Bezeichnung ist letztlich nicht so wichtig, die Sache soll getroffen werden. Aus zwei Gründen scheinen mir Worte wie Zärtlichkeit und Zuwendung ungeeignet: Einmal sind sie zu schwach, um die Heftigkeit, Unabweisbarkeit und Bewusstseinsferne der Erregungen und Gefühle des Begehrens, die da im Spiel sind, zu bezeichnen, zum anderen erfüllt ja das Körperverschränken einen biologischen Zweck: Es sichert die Entwicklung des Neugeborenen. Diese Art von Verbundenheit mit biologischen Funktionen finden wir in der Sexualität, kaum aber bei der zärtlichen Regung.
›Es‹ ist also ein Stück Sexualität und Spontaneität – der Möglichkeit nach, denn was in der Wirklichkeit von der Körperbeziehung zwischen Erwachsenen und Säuglingen übrigbleibt, ist leider meist kümmerlich. Einen Säugling will man erst mal reinlich halten, bevor man darauf kommt, dass man sich mit ihm ergötzen kann. Man will auf Nummer Sicher gehen, und so quälen viele lieber sich und ihr Kind mit überflüssigen Prozeduren, um nur ja die Sicherheit zu haben, dass sie tun, was alle tun und damit recht tun, anstatt zu tun, wozu sie Lust haben und damit am Ende was anzurichten, und sei es – Lust.
Ein ›sexualfreundlicher‹ Leitfaden müssste die Erwachsenen also aufmerksam machen auf die vielen oft übersehenen und verpassten Möglichkeiten für Körperkontakt, müsste sie auffordern, Regeln zu ignorieren und Prozeduren wegzulassen, deren Zweck darin zu bestehen scheint, Sinnlichkeit und Spontaneität abzutöten.
Ein Leitfaden, der Ihnen ferner in den Punkten 1 bis 3 Probleme ersparen will, müsste
widersprüchliche Resultate in den Wissenschaften, umstrittene Thesen, lediglich vorläufige Schlussfolgerungen, eigene Unkenntnis etc. offenlegen, damit der Leser sich seine eigene Meinung bilden und sich gegebenenfalls woanders informieren kann;
politische, philosophische und andere Überzeugungen des Autors (der Autorin) als solche vortragen und nicht in Gestalt scheinbar ›objektiv richtiger‹ Verhaltensrichtlinien einschmuggeln;
verschiedene Wege aufzeigen, wo immer das möglich ist; den Tagesablauf nicht von oben bis unten vollstellen mit Pflichten, Prozeduren und Verantwortung, sondern freiräumen für Spontaneität, Phantasie, Experiment.
Hierfür ist, hoffe ich, der vorliegende ›Gegen-Leitfaden‹ gut.
Dieser ›Gegen-Leitfaden‹ will Ihr Leben mit einem Neugeborenen entregeln helfen – damit es ein Leben wird anstelle einer Abfolge von Pflichten. Das Kind soll für Sie kein Prüfstein sein, mit dem Sie etwas richtig oder falsch machen können, sondern es soll für Sie ein Gast sein, der – sagen wir es ruhig ein bisschen märchenartig – aus einem anderen Land kommt und Ihnen davon, auf seine Art, erzählt. Hören Sie zu und zeigen Sie ihm – Sie werden bald merken, es will auch von Ihnen viel erfahren –, wie es bei Ihnen zugeht. Die meisten Leute lernen zu viel, wenn sie sich auf das Leben mit einem Kind vorbereiten, und strengen sich zu sehr an dabei. Reden wir nicht vom Lernen, wenn wir den Umgang mit einem Neugeborenen meinen – denn es geht uns um das Loskommen von Mühe und Last. Denken wir an einen Vorgang, der anstrengungslos und passivisch ist, eher das Gegenteil vom Lernen: das Vergessen. Wo immer das Leben mit einem Neugeborenen beginnt, sollten die Prozeduren vergessen werden, die dieses Leben in charakteristischer Weise einzuschnüren drohen, sollten die Pläne vergessen werden, durch die wir gewohnt sind, den Ablauf unserer Tage und Nächte zu strukturieren, sollten die Normen und Gebote vergessen werden, durch deren Befolgung wir uns zur Domestizierung des neuen, noch ungebärdigen Lebens anschicken.
Sicher wird uns ein solches Vergessen nicht leicht. Und so landen wir bei dem paradoxen Ergebnis, dass wir das Vergessen zu lernen hätten. Die Prozedur, die diese Lerntätigkeit ausmacht, scheint einfach: Sie ist negativ und besteht im Weglassen.
Leider ist diese Kunst in unserer megalomanischen Kultur, in der allenthalben das Vorurteil herrscht, dass mehr = besser ist, am allerschwersten auszuüben.
Wir müssen eben doch lernen.
Das beste ist, Sie lernen mit Ihrem Kind gemeinsam das, was für Sie zu lernen ist. Leihen Sie dem Kind Ihr Ohr. Denken Sie nicht, Sie seien so viel schlauer, nur weil Sie ein paar Jährchen länger auf dieser Erde herumgekrebst sind. Jeder von uns hat eben auch viel Falsches gelernt. Nutzen Sie die große Chance, die Ihnen das Baby bietet: in vielen Dingen noch einmal neu zu beginnen. Je weniger Sie schon vorweg das Leben mit dem Baby einrichten, je weniger Sie im Detail planen, desto besser. Pläne sind – entgegen allen Ratschlägen und Gewohnheiten – kein guter Modus der Gegenwartsbewältigung im Leben mit einem Neugeborenen, ja auch im Leben der Erwachsenen wirken sie häufiger als sanfter Terror, denn als Hilfe im Alltagsleben. Dass Kurzzeitpläne erfüllt werden müssen, gehört zu den tagtäglichen Nötigungen, die an uns selbst heranzutragen wir allzu gut gelernt haben. Jetzt mache ich dies, dann das, und schließlich folgt jenes – wie jeden Dienstag. Springen Sie aus der Woche und der Kette Ihrer Verpflichtungen, Sie werden staunen, wie wenig Ihnen fehlt. Das Problem ist, dass wir alle dazu neigen, am Dienstagabend zufrieden zu sein, nicht weil wir dies, das und jenes getan, sondern weil wir unsere Pläne erfüllt haben.
Erwachsene mit einem Neugeborenen werden ein ums andre Mal erleben, dass es ihre Pläne durchkreuzt. Obwohl das, was unplanmäßig dann geschieht, schöner sein könnte als das Geplante, sind die Erwachsenen unzufrieden, denn die Erfüllung eines Planes begeistert sie. Auch dann, wenn das, was sie dafür tun müssen, unangenehm ist. Dem Götzen Plan (Stundenplan, Terminplan, Fahrplan, Dienstplan) opfern wir tage- und nächtelang, ohne es überhaupt zu merken. Wir opfern ihm aber nichts weniger als unsere Fähigkeit, das Hier und Jetzt anders wahrzunehmen als in Gestalt eines abzuhakenden Punktes auf der Tagesordnung. Mit anderen Worten: Wir opfern ihm das Hier und Jetzt. Darin aber lebt ein Baby ganz und gar. (Moral: Verzichten Sie unbedingt auf die Aufstellung eines Tagesplans für den Alltag mit dem Kind.)
Ein Leitfaden kann Ihnen hierfür schwerlich im Einzelnen etwas raten. Es wäre sinnlos, Sie aufzufordern: Seien Sie spontan, entwickeln Sie Phantasie! Da bleibt nur das Negative: Ich kann Ihnen hin und wieder sagen, was Sie alles nicht machen sollen, was Sie vergessen und was Sie weglassen können. Und mit Ihnen zusammen hoffen, dass das, was in dem frei gewordenen Raum sich herstellt, ein Stück Kontakt und Kennenlernen zwischen Ihnen und dem Baby, den beiden Reisenden aus den füreinander unbekannten Ländern, sein wird.
Aber jetzt doch rasch zum Positiven, damit Sie keine Angst kriegen, ich wollte den Umgang mit dem Säugling ganz und gar Ihrer Intuition überlassen. Sie finden in diesem ›Gegen-Leitfaden‹ die meisten jener Informationen, die Ihnen auch andere Leitfäden bieten, also z.B. welche Arten von Wickeltechniken es gibt, wieviel Gramm Milch ein Säugling in den ersten Wochen trinkt und was beim Baby eine gesunde Verdauung ist. Aber diese Art von Information ist mir nicht das Wichtigste. Der ›Gegen-Leitfaden‹ hat eine Art Leitmotiv, das die meisten Kapitel und Abschnitte strukturiert, ich erwähnte dieses Leitmotiv schon im ersten Teil der Einführung: Es geht um das Wiederentdecken und Wiederermöglichen der Körperbeziehung zwischen Erwachsenen und Neugeborenem. Meine Kritik an herkömmlichen Ratgebern, die Ideen, Anregungen und Vorschläge, die ich Ihnen unterbreite, zentrieren sich um die für diese Beziehung nötigen und wichtigen Tätigkeiten, Einstellungen, Gegenstände und Gefühlsbereitschaften. Ich glaube, dass, wenn die Herstellung der Körperbeziehung geglückt ist, alle weiteren Probleme an Schärfe verlieren und sich leichter lösen lassen. Die Existenz des Leitmotivs beschränkt nun die Gültigkeit des ›Gegen-Leitfadens‹ im Wesentlichen auf das erste halbe Lebensjahr des Säuglings, wobei wiederum den ersten drei Lebensmonaten besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. In dieser Zeit entscheidet es sich, ob Kind und Erwachsene mit ihren Leibern und Sinnen zusammenfinden – alle weiteren Aspekte des Zusammenlebens sind dann von dieser Basis aus erklärbar, überschaubar, gestaltbar.
Im zweiten Lebenshalbjahr des Kindes ändert sich das Verhältnis Erwachsene–Baby in diesem wesentlichen Punkt: die Körperbeziehung lockert sich. Das Kind greift nach Gegenständen, es lernt zu kriechen und bewegt sich aus eigenem Antrieb von den Erwachsenen weg. Meist spielt auch in diesem Alter das Stillen, also die Ernährung durch den Körper der Frau, wenn überhaupt noch eine, so eine untergeordnete Rolle. Jetzt müssen die Erwachsenen bereit sein, das Baby gehen zu lassen, ihre Körper müssen es hergeben, loslassen. Obwohl auch ein älterer Säugling (und selbst das Kleinkind) immer noch häufig auf den Arm oder auf den Schoß will, obwohl die Erwachsenen es auch jetzt noch gern hochnehmen, tragen und an sich drücken, ist doch bei beiden, Erwachsenen und Kind, der Impuls zur Körperverschränkung schwächer geworden. Die Umarmung wird zärtlicher, bewusster, spielerischer, ich würde sagen: sie verliert ihren vorwiegend sexuellen Charakter.
Das zweite halbe Jahr brauchte also ein anderes Leitmotiv: weg vom Körper, hin zu den Dingen und der Welt, aber dann, zwischendurch, doch immer wieder zurück zum Erwachsenenkörper. Eine bewegtere Melodie, mit ganz anderem Rhythmus, anderer Tonart. Sie würde aber die eine oder andere Dissonanz einschließen, wenn nicht das Leitmotiv der ersten Monate noch gut in Erinnerung, d.h. wenn es nicht gut ›gelernt‹ und gelebt worden wäre. Die besondere Bedeutung, die die Körperbeziehung Neugeborenes–Erwachsene in den ersten sechs Monaten für alle folgenden Monate und Entwicklungsabschnitte hat, rechtfertigt, meine ich, die Konzeption eines Leitfadens nur für diese Zeit. Sie finden dennoch im vorliegenden Buch vieles, was für die gesamte Säuglingszeit gültig ist.
Bei aller Konzentration auf das Leitmotiv ist, hoffe ich, der ›Gegen-Leitfaden‹ realistisch. Er berücksichtigt die Lebensumstände der meisten Erwachsenen, die heute Kinder kriegen, und unterscheidet zwischen dem Ideal einer engen Körperverschränkung und dem Machbaren, Zweitbesten, mit dem viele von uns sich trotz besserer Absichten und Einsichten begnügen müssen. Wo es sich anbot, habe ich indessen darauf hingewiesen, dass das Sich-Begnügen nicht immer der richtige Weg ist, dass der Zwang der Verhältnisse manchmal auch den Umstand quittiert, dass wir es nicht wagen, die Verhältnisse zu zwingen.
Zum Aufbau des ›Gegen-Leitfadens‹: Ich beginne mit einem kleinen Kapitel zur Erziehung der Erzieher. Die verbreitete Überzeugung von Erwachsenen (von Leitfadenschreibern und -lesern), sie sollten und könnten Entwicklung und Zukunft eines Kindes nach eigenem Gutdünken ausgestalten, wird darin kritisch angesehen.
Es folgt ein Kapitel über das Schreien, jenes Phänomen, das die meisten Leute in unserer Zeit assoziieren, wenn sie an einen Säugling denken. Ein Kind, das ist eine Störung, weil es lärmt, ein Baby ist erst recht eine, weil es schreit. Es lärmt mit einer menschlichen Stimme, es wagt, sich zu beklagen, auszudrücken, dass die Welt, auf die es kam, ihm nicht geheuer ist. Und die Welt hält sich die Ohren zu.
Kein Wunder, dass ein so empfangener Säugling Grund zum Schreien hat. Welche Gründe es nun im Einzelnen noch gibt und was Sie tun können, um die Kette von Geschrei der Kinder und Abwehr der Erwachsenen zu durchbrechen, das lesen Sie im zweiten Kapitel.
Das dritte Kapitel behandelt das Stillen, eine der tröstlichsten Antworten, die die Erwachsenen dem schreienden Kind geben können. Dieses Kapitel geht zugleich auf die obligatorischen Ernährungsfragen ein. Es ist besonders ausführlich, u.a. deshalb, weil ein Nachholbedarf an Informationen übers Stillen existiert und weil die umlaufenden Ratschläge und Anweisungen nahezu sämtlich unvollständig oder irreführend, manchmal auch direkt zum Abgewöhnen sind.
Während die erste Tätigkeit, die Erwachsene, ängstlich-abwehrend, einem Baby zuordnen, das Schreien ist, ist die zweite dann das Schlafen. Etwa nach dem Muster: Das unartige Kind schreit, das brave (trinkt und) schläft. Das sehr brave Kind schläft in einem fort und des nachts sowieso. In Wirklichkeit aber sind schon Neugeborene recht ausschweifend und machen gern mal die Nächte durch. Im Kapitel übers Schlafen und Wachen geht es um physiologische Rhythmen und um die Möglichkeiten, Wach- und Schlafphasen für Kind und Erwachsene so einzurichten, dass Geborgenheit, Erholung und Anregung jeweils zu ihrem Recht kommen.
Im Kapitel über Pflege finden Sie neben einer kleinen Lektion über die Gefahren der Hygiene eine Fülle von Hinweisen für die alltägliche Praxis.
Die Fragen der täglichen Praxis sind ja nicht alles – es gibt auch eine Reihe von psychischen Problemen, mit denen sich Erwachsene mit einem Säugling konfrontiert sehen: Keineswegs sind die Gefühle zum Kind immer so rosig wie Babyhaut, und gerade die besten Absichten führen manchmal zu entmutigenden Resultaten. Ich habe im Kapitel Krisen und Probleme versucht, nüchtern und behutsam einige der typischen Konflikte zwischen Erwachsenen und neugeborenem Kind anzusprechen – in der Absicht, Illusionen zu vertreiben, verstiegenen Ansprüchen den Boden der Realität zu zeigen und in Ängsten und Schuldgefühlen festsitzende Emotionen ein Stück weit aus ihrer Verstrickung zu lösen.
Der ›Gegen-Leitfaden‹ ist eine Diskussion. Alle kritische Literatur entsteht in Auseinandersetzung mit dem, was man die etablierte Literatur nennt, nicht nur mit der Literatur natürlich, sondern auch und vor allem mit der Praxis, auf die die Literatur sich bezieht. Als Fragende, als Leserin und Lernende, als Ausprobierende, Scheiternde, Skeptische, Erfinderische, als jemand, die die Wut gekriegt hat, als jemand, die es ganz anders versucht hat, habe ich den Stoff für den ›Gegen-Leitfaden‹ zusammengewebt, -gelebt, -geschlussfolgert, abgeguckt und weitergedacht. Die praktischen Erlebnisse und Erfahrungen, aus denen heraus der ›Gegen-Leitfaden‹ zustande kam, tauchen im Text ab und an auf, treten aber zurück hinter den ›theoretischen‹ Erlebnissen, hinter der kritischen Arbeit also an der ›etablierten Literatur‹. Das liegt in der Natur der Sache, hätte ich es andersrum machen wollen, hätte ich eine Erzählung schreiben müssen. Die Lektüre der ›etablierten Literatur‹ oder sagen wir es herzhafter: der Ärger beim Lesen der Handbücher und Broschüren und das leichte Grausen bei der Vorstellung, dass viele Erwachsene tatsächlich alles so machen, wie es in diesen Büchern steht – die haben mich sehr stark motiviert bei dem Versuch, eine Anleitung zum Andersmachen zu schreiben. Ich will nicht verschweigen, dass ich auch wertvolle Information und interessante Anregungen fand, im Großen und Ganzen jedoch war ich von der ›etablierten Literatur‹ enttäuscht, ja sogar ein wenig alarmiert.
Ich teile Ihnen das mit als Auftakt für eine Einladung: Ich möchte gern, dass Sie die ›Auseinandersetzung‹ nachvollziehen, dass Sie sich, zunächst rezeptiv, zuhörend, an der Diskussion beteiligen. Dafür müssen Sie natürlich wissen, von welcher ›etablierten Literatur‹ die Rede ist, wie also das Material aussieht, dem der ›Gegen-Leitfaden‹ entgegensteht.
Ich habe fünf Broschüren und Handbücher zur Säuglingspflege zusammengestellt, aus denen ich im folgenden immer wieder zitieren werde. Meistens um zu zeigen, wie man es nicht machen soll, manchmal auch, um auf erfreuliche und unterstützenswerte Umorientierungen in der öffentlichen Meinung, der Kindermedizin und Säuglingspädagogik hinzuweisen. Ich habe mich bemüht, eine repräsentative Auswahl zusammenzustellen. Es handelt sich bei den fünf Quellen um eine Literatur, die verbreitet ist, also viel gelesen wird, teils wird sie kostenlos von den gesetzlichen Krankenkassen verschickt oder in Geburtskliniken verteilt, teils erfreut sie sich im Buchhandel hoher Verkaufszahlen. Ich habe ferner darauf geachtet, dass Stimmen aus verschiedenen ›Lagern‹, verschiedene Meinungen und Trends vertreten sind.
Dies sind meine fünf Quellen:
›Ärztlicher Ratgeber für werdende und junge Mütter‹ von Prof. Dr.med. S. Häussler (wenn ich aus dieser Quelle zitiere, kürze ich ab mit ›Ärztlicher Ratgeber‹)[2];
›Mutter und Kind‹, Ärztlicher Ratgeber für werdende und junge Mütter. Redaktion: H.-L. Werner (in Zitaten abgekürzt mit ›Mutter und Kind‹)[3];
›Das Baby‹. Ein Leitfaden für junge Eltern. Herausgeber: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln (abgekürzt: ›Das Baby‹)[4];
›Das Elternbuch‹ von U. Diekmeyer[5];
›Baby-Lexikon für Mütter‹ von Prof. Dr.med. B. Leiber und Prof. Dr.med. H. Schlack (abgekürzt: ›Babylexikon‹)[6].
Wir können unsere Quellen grob einteilen in konventionelle Ratgeber, deren Inhalte vorwiegend inspiriert sind von konservativen, teils recht bezopften, aber immer noch weit verbreiteten Prinzipien der Säuglingspflege und -erziehung, und in moderne Aufklärungsbücher bzw. -broschüren, auf die schon mal das eine oder andere Resultat kritischer Forschung, auch Ideen aus der Psychoanalyse, Einfluss genommen haben. Zur ersten Gruppe gehören der ›Ärztliche Ratgeber‹, ›Mutter und Kind‹ und das ›Baby-Lexikon‹, zur zweiten Gruppe das ›Elternbuch‹ und ›Das Baby‹.
Ich möchte den Unterschied zwischen den beiden Gruppen und die Position des ›Gegen-Leitfadens‹ verdeutlichen an der Frage, an wen sich denn so ein Leitfaden eigentlich richtet. An die Mutter? An die Eltern? Oder an wen sonst? Das ist keineswegs eine nebensächliche Frage, sie umschließt, wie wir sehen werden, ein ganzes Programm, einen ganzen Entwurf vom Leben mit einem Säugling.
Den Ratgebern der konservativen Richtung kommt es nicht in den Sinn, dass eine andere Person als just ›die Mutter‹ Umgang mit einem Säugling haben könnte – oder haben sollte. Sie wenden sich deshalb – schon im Titel, das ist bei allen drei konservativen Leitfäden auffällig – nur an Frauen, und sie reden, wenn sie im Text Pflegepersonen auftreten lassen, immer nur von ›Müttern‹. Dies auch in Fällen, in denen es der Kontext – wie er es z.B. bei der Schilderung einer Geburt tut – nicht unbedingt nahelegt. Z.B.:
»Krampfanfälle infolge Zahnens, sog. ›Zahnkrämpfe‹, gibt es trotz der unausrottbaren Meinung vieler Mütter nicht.« (Ärztlicher Ratgeber S.65)
Im ›Baby-Lexikon‹ lesen wir auf S.158 zum Stichwort ›Kinderbett‹:
»Eines der Gitter sollte nach Möglichkeit herunterklappbar sein, damit die Mutter besser an das Kind herankommt und alle notwendigen Pflegemaßnahmen erleichtert werden.«
Und in ›Mutter und Kind‹ (S.34) heißt es unter der Überschrift: ›Geduld ist wichtig!‹:
»Es kann nicht alles glatt gehen in den ersten Lebensmonaten. […] Es ist wichtig, daß die Mutter immer ruhig und gelassen bleibt, denn Zorn und Ärger sind schlechte Erziehungsfaktoren.«
Hätte man in diesen Fällen nicht auch als konservativer Autor mit breiterer Gültigkeit zumindest ›die Eltern‹ schreiben können? Aber nein, es muss die Mutter sein (wenn die auch manchmal ein bisschen blöd ist und z.B. an Zahnkrämpfe glaubt). Nun werden zwar Babys in der großen Mehrzahl aller Fälle tatsächlich von ihren Müttern zu Bett gebracht usw., das ist die rauhe Wirklichkeit – aber dass es auch in vielen Ratgebern immer nur ›die Mutter‹ ist, die da umgeht mit dem Kind, die abergläubisch oder ärgerlich ist, das liegt nicht einfach daran, dass diese Ratgeber eben anknüpfen an die Verhältnisse, so wie sie wirklich sind. Wie kaum eine andere will ja die populärwissenschaftliche Literatur Einfluss auf die Wirklichkeit nehmen, sie verändern oder, im Gegenteil, sie gerade vor Veränderung bewahren. Sie will Normen setzen, alte stabilisieren oder neuen vorarbeiten. Dadurch, dass sie das Leben mit einem Neugeborenen zu einem Zwei-Personen-Stück macht, in dem immer nur das Kind und ›die Mutter‹ auftreten, macht sie uns glauben, dass es so sein soll und nicht anders sein kann und darf. Wenn das ›Baby-Lexikon‹ davon spricht, dass ein Säugling die Bauchlage »nur in Anwesenheit der Mutter« (S.280) einnehmen dürfe, so ist dies inhaltlich streng genommen falsch, zumindest inexakt, denn nicht Anwesenheit ›der Mutter‹ ist Voraussetzung, sondern die Anwesenheit irgendeiner Person, die das Kind gegebenenfalls umzudrehen in der Lage ist. Aber als ideologische ist diese Wendung richtig und exakt, sie fördert, ohne großen Aufwand, ganz beiläufig, die Mutterschaftsideologie.
Dass es auch anders geht, zeigt die progressive Aufklärungsliteratur, zu der wir ›Das Baby‹ und ›Das Elternbuch‹ zählen. Schon im Titel wenden sie sich an die Eltern. Auf Photos sind mehrfach Männer mit Säuglingen im Arm zu sehen. Und wir lesen: »Die Zeiten sind vorbei, als man der Meinung war, Babypflege sei ausschließlich Frauensache« (›Das Baby‹ S.23). Das ›Elternbuch‹ teilt mit: »Gegenwärtig versuchen vor allem jüngere Leute, wieder in größeren Gruppen zusammenzuleben. Sie wollen auf diese Weise günstigere soziale Bedingungen schaffen […], sich in späteren Jahren durch die gemeinsame Kindererziehung gegenseitig entlasten und einander dadurch bei der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit unterstützen.« (S.78) Diese Mitteilung ist durchaus als Empfehlung gemeint. Beide Quellen gehen so weit, statt ›Vater‹ oder ›Mann‹ auch mal ›Partner‹ zu sagen, womit unverheiratet Zusammenlebende (und damit auch nichteheliche Kinder) indirekt hoffähig gemacht werden.
Gleichwohl ist der Versuch, den Vater oder sogar nicht verwandte Dritte ›miteinzubeziehen‹, bei den fortschrittlichen Aufklärern nicht viel mehr als eine Geste. Keiner der ›etablierten‹ Leitfäden, die ich durchgesehen habe, macht sich die Mühe, über die problematische Mutter-Kind-Zweiheit, über den Konflikt Mutterschaft/Berufstätigkeit und Frauenemanzipation öffentlich nachzudenken. Dabei kann, meine ich, ein ›Baby-Buch‹, das auch nur einen bescheidenen Teil der aktuell wirkenden und verwirrenden Probleme aufgreifen will, dieses Thema eigentlich nicht außer Acht lassen. Ich möchte kurz und schroff sagen, dass ich das ausschließliche Aufeinanderverwiesensein von Mutter und Kind für die Quelle von Unglück in den Beziehungen zwischen den Generationen halte; alle Reformen, Umstürze und Alternativen, die Kindern ein besseres Leben verschaffen und die Chancen der Frauen erhöhen wollen, am öffentlichen Leben teilzunehmen, müssen hier ansetzen: die Frauen von der Fesselung an die (kleinen) Kinder befreien und die Kinder von der Fesselung an die Mutter. Es ist ja nicht wahr, dass es ›schon immer so war‹, dass nur die Mütter die unmittelbare Verantwortung für die nachwachsende Generation innehatten; die Großfamilie und die intakten Nachbarschaften früher mit ihrer Personen- und Beziehungsvielfalt boten eine Fülle gleichsam natürlicher Möglichkeiten, die Kinderaufzucht und -aufsicht auf viele zu verteilen. Erst die Kleinfamilie hat die Mutter-Kind-Zweiheit ausschließlich und damit höchst problematisch gemacht.
Falls Sie, liebe Leserin, eine Frau sind, die keine Probleme mit der Mutterschaft hat bzw. keine auf sich zukommen sieht, dann, herzlichen Glückwunsch, bedenken Sie bitte, dass Sie eine Ausnahme sind und seien Sie versichert, dass es mir fernliegt, zu fordern, Mütter und Kinder sollten getrennt und alle Kinder in Heime gebracht werden oder Ähnliches. Ganz im Gegenteil: Mütter und Kinder sollen zusammengebracht werden dadurch, dass das Belastende und Bedrückende aus ihrer Beziehung verschwindet. Das Belastende liegt im Prinzip ›ständig‹. Wenn andere Erwachsene – hochmotiviert und kontinuierlich – da wären, die sich auch dem Kind widmen, mindestens der Vater, am besten noch zwei, drei weitere, ob verwandt oder nicht, ob männlich oder weiblich, ob noch unmündig oder schon alt, das wäre was. Dann könnte die Mutter ein eigenes, nicht ganz vom Kind aufgefressenes Leben führen, was die Voraussetzung dafür ist, dass sie eine selbstbestimmte, freiwillige und so womöglich glückliche Beziehung zu ihrem Kind fände.
Damit wären wir wieder beim Ausgangspunkt dieser Überlegungen angelangt: An wen richtet sich der ›Gegen-Leitfaden‹? Er richtet sich an Leute, die mit einem Neugeborenen leben wollen und werden, ob das nun die biologischen Eltern des Kindes oder Verwandte oder einfach Freunde, Wohngemeinschaftsmitglieder oder Nachbarn sind, Leute, die sich mit den Eltern bzw. mit der Mutter gemeinsam auf die Ankunft des Kindes einstellen und vorbereiten und es später in ihren Kreis, ihre Gruppe oder Gemeinschaft aufnehmen werden, es genauso hegen, tragen, lehren und von ihm lernen werden wie seine Erzeuger. Für das Neugeborene ist es nicht notwendig, dass es mit seinen biologischen Eltern aufwächst, und für die Erwachsenen, die mit einem Kind leben und leben wollen, ist es nicht notwendig, dass dieses Kind von ihnen gezeugt und geboren wurde. Wenn auch die Fälle, in denen ein Säugling und nicht verwandte Erwachsene ein gemeinsames Leben beginnen, selten sind, so sollten sie doch sprachlich miteingeschlossen sein, wo die Rede ist vom Leben mit einem Neugeborenen. Und mehr noch: Diese Fälle sollten stärker normsetzend wirken, als sie es jetzt tun, einmal in dem Sinn, dass mehr größere, breitere Erwachsenengruppen von Eltern oder Elternteilen und Nichteltern (siehe obiges Zitat aus dem ›Elternbuch‹) sich um ein Kind kümmern sollten, zum anderen in dem Sinn, dass es vielen leiblichen Eltern und ihren Kindern guttäte, wenn die Eltern eine respektvollere, weniger besitzergreifende Haltung dem Kind gegenüber einnähmen. Dazu gehört, dass es eine geringere Rolle spielen sollte, ob bzw. dass das Kind, mit dem Erwachsene umgehen, (im biologischen Sinn) ›ihres‹ ist. Wie sagte der amerikanische Autor J. D. Salinger: »Ein Kind ist ein Gast im Haus, den die Erwachsenen lieben und ehren, aber niemals besitzen sollten.«[7]
So ist es gemeint, wenn ich im folgenden nicht vom Kind und seinen Eltern (geschweige von ›der Mutter‹) spreche, sondern vom Kind und seinen Erwachsenen.
Sie erwarten ein Kind, oder Sie haben gerade eins bekommen – und nun müssen Sie es, meinen Sie, erziehen. Müssen Sie wirklich? Vielleicht sollten Sie sich lieber überlegen, was für eine Erziehung zum Erzieher Sie selbst durchgemacht haben und wie die Normen und Leitideen aussehen, mit denen man uns Erwachsene pädagogisch beeinflusst.
Wer erzieht denn die Erzieher? Da gibt es konkurrierende Instanzen, wir interessieren uns vor allem für die populäre Aufklärungsliteratur. Berater, Leitfadenautoren, die wollen ja, indem sie Ihnen Ratschläge für den Umgang mit Kindern geben, auch Sie erziehen, die Beeinflussung der Erwachsenen ist sogar das Vordringliche, denn aus ihr folgen alle weiteren, das Kind erreichenden, es anleitenden und formenden Handlungen. Ich glaube, dass es nur eine einzige berufene Instanz zur Erziehung der Erzieher gibt: das Kind, und ich möchte mit diesem ›Gegen-Leitfaden‹ dazu beitragen, dass es Ihnen gelingt, von Ihrem Kind zu lernen.
Wäre denn eine Erziehung der Erzieher durch die Kinder noch – Erziehung? Sicher nicht, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn: Als Projektion der Erwachsenen-Absichten und -Vorstellungen auf das Kind, als Zurichtung und Dressur, ist sie wohl ohnehin am Ende ihrer Weisheit – falls sie je eine besaß. Auch die moderne Leitfadenliteratur spricht im Erwachsenen nicht mehr in erster Linie den ›Erziehungsberechtigten‹ an; sie hat von der modernen Kinderpsychologie viel gelernt und ruft nun Eltern auf, weniger für die Erziehung als für die Entwicklung ihres Kindes Sorge zu tragen, sie fordert von ihnen weniger Autorität und Konsequenz als Einfühlung und Toleranz. Das ist eine begrüßenswerte Umorientierung, die sich hoffentlich behaupten und ausweiten lassen kann. Die Form, in der diese Umorientierung vor sich ging (und geht), hat indessen eine Reihe von Problemen erzeugt, die die Erreichung der neuen Ziele ernstlich in Frage stellen. Von diesen Problemen – ich beschränke mich auf zwei, die allerdings besonders schwer wiegen – ist in diesem Kapitel die Rede.
1. Seit die Entwicklungspsychologie nachweisen konnte, dass Begabung, Temperament, Charakter eines Kindes sehr viel stärker von Umweltfaktoren geprägt und ausgestaltet werden, als man vorher geahnt hatte (und als auch die meisten Eltern, Laien, die sie sind, heute ahnen), und dass unter allen Umweltfaktoren das elterliche Verhalten, insbesondere während der ersten Lebensmonate und Jahre, eine herausragende Rolle spielt – seitdem nimmt die moderne Aufklärungsliteratur Eltern, vor allem junge und werdende Eltern, so ins Gebet: Sie gibt ihnen zu verstehen, dass das, was aus dem Kind mal wird, zum allergrößten Teil von dem abhängt, was die Eltern tun und lassen (und nicht, wie man früher angenommen hatte, von Erbfaktoren oder von göttlicher Fügung). Sie belädt die Eltern – in sanftem Ton und ernster Rede – mit einer ungeheuren Verantwortung.
Die Theorie von den Umweltfaktoren ist im Großen und Ganzen richtig, aber der Schluss, den die populären Aufklärer aus ihr ziehen, die Eltern hätten sozusagen die freie Auswahl unter Schicksalen für ihr Kind, ist falsch.
Die Erwachsenen sind ja ihrerseits von ›Umweltfaktoren‹ abhängig, die sie nur zum geringen Teil direkt beeinflussen können, sie verfügen über eine ›Innenwelt‹, deren Kontrolle ihnen manchmal entgleitet oder vorab unmöglich ist; sie sind in dem, was sie tun und lassen, also auch in der Herstellung von Entwicklungsbedingungen für ein Kind, frei nur in Grenzen, manchmal in recht engen Grenzen.
Das sagen die Leitfäden aber nicht dazu. Sie teilen Ihnen, den Eltern, mit, dass Wohl und Wehe des Kindes von Ihnen abhängt, und lassen Sie damit allein. Was folgt? Erwachsene, sofern sie ihren Ratgebern glauben, müssen sich einerseits allmächtig fühlen, da ja alles in ihrer Hand liegen soll, andrerseits unter Schuldgefühlen leiden, wenn sie von der Realität ihrer begrenzten Möglichkeiten dann doch eingeholt werden. Um ›Allmachtsphantasien und Schuldgefühle‹ geht es im nächstfolgenden Teilkapitel.
2. Danach komme ich zu einem verwandten Problem: Was bedeutet eigentlich die gute Absicht der Entwicklungsförderung für das alltägliche Verhalten der Erwachsenen, die mit einem Säugling leben? Sie können in den meisten modernen Leitfäden nachlesen, dass Talente und Neigungen durch entsprechende Stimuli früh, ja frühest zu wecken sind: Kinder entwickeln Vertrauen zur Welt, wenn man sie gleich nach der Geburt auf den Leib ihrer Mutter legt, sie entwickeln Musikalität, wenn man ihnen schon im Alter von drei Monaten Musikstücke mit bestimmten prägnanten Rhythmen und Instrumenten vorspielt, sie entwickeln körperlichen Mut, Ökonomie und Eleganz der Bewegungen, wenn man ihnen die Chance gibt, mit vier Monaten das Schwimmen zu erlernen. Usw. usf. Diese Entwicklungsprogrammatik, die sich phantastisch anhört und einem direkt Mitleid einflößt für Babys vergangener Generationen, denen eine solche frühe Förderung nicht zuteil geworden ist, die hat, so wie sie begründet u. praktiziert wird, ihr außerordentlich Bedenkliches. Sie fixiert die Erwachsenen an die Zukunft ihrer Kinder, sie zwingt sie dazu, ihre Förderungsbemühungen als Investitionen zu betrachten, die später Früchte tragen werden. Alles – oder doch vieles, zu viel – geschieht um eines Zweckes willen, geschieht ›um … zu‹, und nicht um seiner selbst und des Kindes willen, wie es jetzt, im Alter von wenigen Minuten, von drei oder vier Monaten, da ist und leben will. Auf der Strecke bleibt der Augenblick, die einzige Form von Zeiterfahrung, die einem Säugling zugänglich ist.
Das zweite Teilkapitel behandelt das ›Um … zu‹.
Unsere etablierte Leitfaden-Literatur ruft die Erwachsenen auf, für die Entwicklung eines Kindes durch entsprechend gesteuerte und kontrollierte Einwirkung optimale Bedingungen bereitzustellen.
»Ihr Kind ist Ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Es steht in Ihrer Macht, aus ihm einen frohen, glücklichen Menschen zu machen oder es in seinen Entwicklungsmöglichkeiten zu hemmen. Durch Ihr Verhalten in den ersten Lebensjahren Ihres Kindes legen Sie den Grundstein zu seinem Charakter.«[8]
Im Kampf gegen zuviel Biologie (»Mein Kind lügt – das hat es vom Großvater«) und gegen die eng gewordene Religion war dieser Appell gewiss bedeutsam. Aber er fällt ins andere Extrem. Die Erwachsenen werden aufgefordert, ihr Kind glücklich zu machen. Wie es aber um ihre Freiheit beim Herstellen von Entwicklungsbedingungen fürs Kind wirklich bestellt ist, wo deren Grenzen liegen, ob und wie diese Grenzen sprengbar sind – dazu findet man wenig. Ich rede hier nicht von Anlage und Konstitution des Kindes. Wir sollten dieses ›Mitgebrachte‹ lieber nicht als Grenze unserer Freiheit sehen, sondern als – Geschenk: Wäre das Neugeborene nichts als ein ›weißes Blatt‹, eine leere Wachstafel, so wären wir und das Kind schlecht dran. Wir leben mit einem Säugling, weil er ein Mensch ist, ein eigenartiger sogar, und nur deshalb kann unser Neugeborenes sich entwickeln.
Nein, die Grenzen, über die wir nachdenken müssen, liegen woanders. Entwicklungsbedingungen werden ja entscheidend gestaltet vom ›nichtgewussten‹ Verhalten der Erwachsenen – also von Verhaltensweisen im Umgang mit dem Kind, von denen die Erwachsenen selbst nicht wissen, dass sie sie haben; auch von Gefühlen, Stimmungen, ›seelischen‹ Haltungen, die ihnen unbewusst sind, und schließlich von inneren Einstellungen, die ihnen zwar bekannt sind, von denen sie aber nicht ahnen, dass das Kind sie ›mitkriegt‹ und gar stark beeinflusst.
Wir müssen außerdem über die ›Kinderstube‹ hinausblicken. Entwicklungsbedingungen des Neugeborenen werden mitgestaltet von Ereignissen auf Realitätsebenen, die ich, ein bisschen allgemein, ›Gesellschaftsstrukturen‹ nennen möchte, werden mitgestaltet von ›äußeren‹ Sphären, in die einzugreifen den Einzelnen nicht beliebig möglich ist. Ich nenne als Beispiele: Kinderkrippe, Spielplatz, Ärzte, TV, aber auch: Familienstruktur, Art des Wohnens und Lebens in Städten usw.
Wenn Erwachsene also Entwicklungsbedingungen für ein Kind beeinflussen wollen, so müssten sie eigene Abhängigkeiten verschiedener Qualität zunächst durchschauen und dann, womöglich mit anderen Betroffenen gemeinsam, bearbeiten können – das wären Prozesse, die Anstrengung, Mut zum Andersmachen und zur Selbstkritik erforderten. Fehlt aber die Einsicht in Existenz und Qualität der genannten Grenzen – und kaum ein Leitfaden vermittelt solche Einsicht –, halten also Eltern sich wirklich für fähig, dem Kind ganz unmittelbar eine Welt zu schmieden mit eingebauter Garantie auf Glück (»Es liegt in Ihrer Hand, aus Ihrem Kind einen glücklichen Menschen zu machen …«), so können sie gar nicht anders, als eine gefährlich wirklichkeitsferne und von der Wirklichkeit entfernende Allmachtsphantasie zu entwickeln.
Allmachtsphantasien der Erwachsenen, ihre Überzeugung, sie könnten Schicksal für ihre Kinder spielen, das bedeutet eine Vertiefung des Grabens zwischen dem Leben der Erwachsenen und dem der Kinder. Was dabei herauskommt, ist meist, dass die Eltern für ihre Kinder zum Schicksal werden, nicht aber, dass das Schicksal der Kinder sich so gestaltet, wie die Eltern sich das gedacht haben.
Wenn z.B. Eltern sich mit der guten Absicht rüsten, ihrem neugeborenen Kind negative Erfahrungen zu ersparen und alles dafür zu tun, dass das Kind ›es später mal besser hat‹ – was geschieht dann? Wird das Kind sich selbst just das ersparen wollen, was seine Eltern ihm zu ersparen gedenken? Und: Was kostet die Eltern das ›Ersparen‹, was kosten die Zurüstungen für ein späteres ›Besser-Haben‹? Werden die Eltern nicht, bewusst oder unbewusst, Kosten abzuwälzen trachten auf das Kind, das dann zu bezahlen hätte für etwas, das es gar nicht bestellt hat?
Denken wir uns die Allmachtsphantasie als einen schweren Mantel, der nach außen glänzt und prangt, so hätten wir drinnen einen lausigen Futterstoff aus Schuldgefühlen. Jedesmal, wenn etwas danebengeht, wenn das künstliche Glück bröckelt, quälen sich die Eltern mit Selbstvorwürfen, oder, verbreiteter noch, schieben sich gegenseitig ›Schuld‹ zu: Jetzt schreit das Kind. Musstest du die Tür so zuschlagen? Jetzt hustet es. Musstest du es deinem erkälteten Freund vorführen? Jetzt stockt seine Entwicklung. Das kommt, weil du ihm zu viel (zu wenig) abverlangst. Hätten wir ihm das nicht ersparen können?
Der Futterstoff kann außen getragen werden – dann sieht der schwere Mantel grau und hässlich aus, als bestünde er nur aus Schuldgefühl. Der Alltag gerade vieler Mütter mit dem Kind, mit Kindern war – und ist oft noch – bestimmt vom Schuldgefühl. Tue ich denn wirklich genug für mein Kind? Leidet es nicht, weil ich nicht immer für es da bin? Zeigt es mir mit seiner Erkältung nicht, dass ich zu sorglos war? Aber die verborgene Innenseite dieses Mantels ist dann wieder das prangende Allmachtsgefühl: die Phantasie also, Erwachsene seien wirklich allmächtig und hätten Leben wie Schicksal eines Neugeborenen in ihrer Hand.
Wie finden wir uns in solchen unübersichtlichen Lebensgeländen zurecht? Erscheint das Leben mit dem Neugeborenen nun nicht doch als arg kompliziert, wenn Ungewusstes, Unbewusstes, Allmachtsphantasie und Schuldgefühl und sogar ›Gesellschaftliches‹ unerkannt mitspielen?
Das Leben mit dem Baby ist so leicht und so kompliziert wie das Zusammenleben der Erwachsenen. Ist das erst akzeptiert, und damit Glück wie Unglück, Freiheit wie Unfreiheit aller unserer menschlichen Beziehungen erkannt als ›Normallage‹, der auch das Verhältnis von Kind und Erwachsenem nicht entrinnt – also: kein Garten Eden, kein ›Paradies der Kindheit‹! –, können wir uns beruhigen und prüfen, ob es nicht doch einige einfache Überlegungen gibt, die anzustellen hilfreich ist.
Fürs Erste: Überlegt, wie Liebe zusammengehen kann mit Leichtigkeit. Ob eine ›heitere Sorge‹ denkbar wäre und dass unser Grimm über unsere Unzulänglichkeit oft schwerere Folgen hat für uns und unsere Kinder, als es die Fehler haben, die wir – unzulänglich – machen.
Was sollen wir als Erwachsene einem Baby auf jeden Fall ersparen? Unseren Anspruch, ihm alles Mögliche ersparen zu wollen. Das heißt natürlich nicht, dass es den Erwachsenen egal sein sollte, wie es dem Baby geht; die Alternative, alles oder nichts für das Kind zu tun, ist falsch gestellt. Was die Erwachsenen versuchen müssten ist, alles (bzw. vieles) mit dem Kind zu tun. So wie Sie sich auf das Kind einlassen, sollten Sie dem Kind Gelegenheit geben, sich auf Sie einzulassen, sollten es selbstverständlich teilnehmen lassen an Ihrem Leben, Ihren Verrichtungen und Entspannungen und sollten da, wo die Umstände für einen Säugling ungünstig sind, auf Veränderung dieser Umstände drängen.
Erwachsene, die meinen, es sei möglich oder gar nötig, einem Neugeborenen jede unangenehme Erfahrung zu ersparen, die ständig Anstrengungen unternehmen, um Harmonie zu produzieren, die unter persönlichen Opfern eine Art Reservat von Dauer-Heiterkeit und Schein-Stabilität schaffen, Erwachsene, die sich in Selbstvorwürfen verzehren, wenn sie das Kind Zeuge eines Zornesausbruchs haben werden lassen, und die alle normal lebende und sich abmühende Welt mit der Existenz des Babys erpressen, solche Erwachsenen betrügen sich und ihr Kind um etwas Wesentliches: um eine Realitätsdimension ihres Daseins. Ihr Leben wird unwirklicher und deshalb unverständlicher und belasteter.
Letztlich können die Erwachsenen dem Baby nicht mehr und nicht bessere Bedingungen für Befriedigung von Bedürfnissen, Entwicklungschancen, emotionale Stabilität gewährleisten, als der soziale Verband, von dem das Kind ein Teil ist, insgesamt zur Verfügung stellt. Wenn sie befürchten, dass das Kind keine ausreichenden Entwicklungsbedingungen erhält, so müssen sie damit anfangen, sich selbst bessere zu erstreiten. Umverteilungen des Mangels ›zugunsten‹ des Kindes werden in aller Regel von den Erwachsenen – im Wege unbewusster Mechanismen – mit hohem Zins zurückgefordert.
Je künstlicher, separater die Babywelt, je weiter entfernt die Gefühle und Aktivitäten, die die Erwachsenen für ein Kind aufbringen, von ihrem sonstigen Leben sind, desto lückenloser ist zugleich die Kontrolle, die die Erwachsenen über das Kind ausüben. Die Kontrolle ist sozusagen das System von Nähten, das den Wendemantel aus Allmachtsgefühlen und Schuldkomplexen zusammenhält. Sie ist immer gut gemeint und oft schwer zu unterscheiden von Für- und Vorsorge. Zwischen Anteilnahme und Kontrolle zum Zwecke der Bevormundung ist die Grenze im sozialen Leben fließend. Ein neugeborenes Kind, das wäre ein guter Anlass, um soziales Zutrauen