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WENN DAS LEBEN, DAS MAN KANNTE, PLÖTZLICH UNMÖGLICH WIRD Berlin 1931. Es hat sich ausgetanzt. Die Roaring Twenties sind vorbei. Massenarbeitslosigkeit, soziale Verelendung und politische Radikalisierung bestimmen den bürgerlichen Alltag. Nach dem großen Börsenkrach von 1929 steht auch der angesehene Bankier Ernst von Ufermann kurz vor dem Bankrott. Er muss dringend nach Frankfurt, um einen neuen Kredit zu verhandeln. Auf dem Weg zum Flughafen werden ihm seine Papiere gestohlen. Das Flugzeug fliegt ohne ihn los. Als es kurz nach dem Start abstürzt, glaubt alle Welt, dass auch er unter den Opfern ist. Ufermann packt die Gelegenheit beim Schopf: Im Dienst eines jungen nationalsozialistischen Zirkels nimmt er eine neue Identität an, fährt nach Wien und taucht dort unter neuem Namen unter. Seine Ehefrau, die schon lange eine Affäre mit Ufermanns Kompagnon unterhält, streicht derweil die exorbitante Lebensversicherungssumme ihres Mannes ein. Ein rasantes Katz- und Mausspiel um Täuschung, Verrat und Lüge beginnt, bei dem nur eines sicher zu sein scheint: Für Ernst von Ufermann bleibt das Leben verboten. Im Schatten des Hakenkreuzes scheint die Welt der Kolportage plötzlich grausame Wirklichkeit geworden. „Seit einigen Jahren bemüht sich der kleine Wiener Verlag Das vergessene Buch, das Werk der jüdischen Autorin Maria Lazar wieder zugänglich zu machen. Mit ihrem erstmals auf Deutsch veröffentlichten Hauptwerk, dem Thriller „Leben verboten!“, ist ein Coup gelungen.“ – Magdalena Miedl, ORF.at „Viele Komponenten des Romans könnten heutig sein: Konkursgefahr, rundum bedrohliche Ungewissheiten, die viele Menschen in brodelnde, manchmal berstende Angst versetzen. Aber Maria Lazar hat diese Geschichte in den 1930er Jahren erzählt.“ – Hedwig Kainberger, Salzburger Nachrichten „Der in den Wirren des Exils verloren gegangene […] Roman ist eine Entdeckung. Ob man ihn als spannende Kolportage liest, als zeitgeschichtliches Dokument oder als Ausdruck der literarischen Moderne der 1930er Jahre: Er kann auf allen Ebenen zufrieden stellen.“ – Thomas Miessgang, DIE ZEIT
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Seitenzahl: 488
Maria Lazar Leben verboten!
Inhalt
Hingeweht wie ein Blatt im Wind
Zwischenbemerkungen
Dritter Klasse durch ein fremdes Land
... du sollst die Stadt meiner Träume sein
Zwischenbemerkungen
Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen
Zwischenbemerkungen
Ach! töten könnt ihr, aber nicht lebendig machen
Unbefugten ist der Eintritt verboten!
Wohin fliehst du, arbeitslose Seele?
„Entartete Jugend“
Schlussbemerkungen
Johann Sonnleitner Kolportage und Wirklichkeit. Zu Maria Lazars Roman Leben verboten!
Maria Lazar
Leben verboten!
Ein Roman
Mit einem Nachwort herausgegeben von Johann Sonnleitner
des vergessene buch
Leben verboten! ist bislang nur in einer gekürzten englischen Exilausgabe 1934 bei Wishart & Co in London erschienen.
Das vorliegende Buch stellt die zum ersten Mal veröffentlichte deutsche Erstausgabe des Romans dar – in der Originalfassung von 1932.
Alle Rechte Vorbehalten Copyright ® 2020 by DVB Verlag GmbH, Wien Umschlaggestaltung: Gianluca Coscarelli, Hamburg ISBN (eBook) 978-3-903244-07-8ISBN (Print) 978-3-903244-03-0
www.dvb-verlag.at
Ach! töten könnt ihr, aber nicht lebendig machen, wenn es die Liebe nicht tut, die nicht von euch ist, die ihr nicht erfunden.Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland
Auf, auf und aus dem Bett heraus! Es muß doch gleich halb sieben sein. Keine Zeit mehr, in das Badezimmer zu stürzen, wo sind die Strümpfe, wo ist die Mappe mit den Schulbüchern, der Tee ist zu heiß, verbrennt die Lippen, nein, der Kakao, es klingelt schon, das Flugzeug steigt auf, schöner, schimmernder Aeroplan, es klingelt und die Klassenzimmertür schließt sich, nun hilft nichts mehr, es ist zu spät, nun ist man wieder einmal zu spät gekommen –
Ein Knabe Ernst fährt aus der Decke, starrt um sich. Die Radiumzeiger der Weckuhr strahlen auf dem Nachttisch: halb drei. Über dem Stuhl hängt eine entsetzlich lange erwachsene Männerhose, deutlich zu sehen, man muß sich nur an das Dunkel gewöhnen.
Ein Herr von Ufermann, Chef der Firma E. Ufermann & Co, streckt sich wieder aus und zieht die Decke über den Kopf so wie Kinder, die des nachts sich fürchten. Und dabei hat er noch so viel Zeit, darf stundenlang weiterschlafen. Diese ewige Nervosität vor jeder Abreise, ganz wie vor aufregenden Schultagen. Warum sollte er auch zu spät kommen. Katinka wird ihn wecken, sie ist ein sehr verläßliches Mädchen, und Gierke hält zur Minute mit dem Auto vor dem Haus. Es wäre also selbst dann noch Zeit, gesetzt den Fall, daß Katinka verschliefe. Was gar nicht zu erwarten ist. Abfahrt sieben Uhr fünfundvierzig. Tempelhofer Flugplatz. Mit Watte in den Ohren. Nicht zu vergessen. Watte in den Ohren ist nicht angenehm.
So eine Decke, in die man sich verkriecht, ganz allein in der Nacht, wird zu einem Riesenbeutel. Warm und stickig ist es in diesem Beutel. Herrgott, wenn man doch schlafen könnte. Vor spannenden Unterredungen sollte man wenigstens eine vernünftige Nachtruhe hinter sich haben. Schlafmittel? Die verdummen ja nur. Und morgen heißt es helle sein, morgen gilt es, den Herrschaften in Frankfurt zu beweisen, daß ihr eigenes, jawohl, ihr eigenes Schicksal daran hängt, wenn die Firma Ufermann ins Wackeln gerät, ach gar nicht nur ins Wackeln, ins Rutschen, und zwar in die Katastrophe hinein. Dann rutscht ihr alle mit, verstanden! Wir brauchen kein Mitleid, keine Güte, keine Wohltätigkeit, sondern einzig und allein ein bißchen Solidarität. Die Anleihe ist lächerlich gering, ihr denkt doch nicht ernstlich, daß –Ja, wenn der Alte ihn nur verstehen wird. Mit den jungen Leuten ließe sich eher reden. Aber der würdige Hebenberth stammt noch aus den achtziger Jahren, der weiß überhaupt nicht, worum es heute geht, in der Wirtschaft, der gesamten Wirtschaft, der Weltwirtschaft nämlich. Stockungen, Krisen hat es schon immer gegeben, meint er. Aber daß die Wirtschaft sich inzwischen entwickelt hat, ins Kolossale, und mit ihr die Krisen, davon ahnt er nichts. Mein Herr, muß man ihm sagen, Sie leben nicht mehr 1887 oder 1888, Sie leben im Jahr 1931, falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten. Aber er hört nie zu. Nur Mut, lieber Freund, sagt er und schickt einen nachhause und sieht ganz ruhig zu, wie man in einen Sumpf hineingeht, nur Mut, lieber Freund und ersauf. Sein Bart ist weiß und weich wie der des Rektors, der einem vor dem Examen auf die Schulter zu klopfen pflegte. Nur Mut.
Es wird schon gehen, es wird auch dann noch weiter gehen mit der Firma, wenn alles schiefgeht. Paul sagt es auch, denn Paul ist fest davon überzeugt, daß nie etwas ganz schiefgehen kann, wo er dabei ist, und insofern ist es nicht schlecht, ihn zum Teilhaber zu haben, er hat ein sicheres Auftreten, auch gegenüber dem Personal. Und wenn es trotzdem schiefgehen sollte, muß man eben aus der Villa fort, in eine Etagenwohnung, heutzutage ist das keine Schande mehr, wie viele müssen das, obwohl es für Mama ganz furchtbar sein wird, alt wie sie ist, und Irmgard sollte im Winter nach Davos. Den Wagen müßte man aufgeben und eines von den Mädchen entlassen, vielleicht sogar beide, schad um Katinka, und wer weiß, ob man nicht in ein Hinterhaus muß, Irmgard im Hinterhaus, seine Frau, Frau von Ufermann –
Vor solchen Gedanken schützt auch der warme Riesenbeutel der Decke nichts, obwohl genau genommen nichts passieren kann, solange Herr von Ufermann, Chef der Firma Ufermann & Co, in ihm steckt mit beiden Fäusten vor den Augen und den Rücken gekrümmt. Heute Nacht darf er sich jedenfalls noch sicher fühlen. Das Haus schläft tief und fest. Irmgard wohl auch. Sie hatte wieder ihre 37, 4 am Nachmittag. Wenn er doch auch nur 37, 4 haben könnte, oder 38, 4, 39, 4. Kein Mensch könnte dann von ihm verlangen, nach Frankfurt zu fliegen, um eine unlösbare Aufgabe zu lösen, die Firma zu retten, die Ehre des Hauses, des Namens oder wie es sonst noch heißt. Einen kranken Jungen schickt man auch nicht zur Schule. Aspirin, kalte Wickel, Ärzte, immer mehr Ärzte, Lebensgefahr. Nun spricht niemand mehr von Geschäften, Irmgard weint und vergißt sogar ihre eigenen 37, 4, und wenn er stirbt, so trägt sie einen
schwarzen Schleier, steht gut zu blond, und außerdem, du lieber Himmel, daß ihm das jetzt erst einfällt, außerdem bekommt sie dann auch noch seine verrückte Lebensversicherung, sie wird reich, die Firma gerettet, das Auto, die Villa, die Mädchen. Ist das nicht einfach, unverschämt einfach?
Die Radiumzeiger der Weckuhr haben etwas Mahnendes an sich. Gegen Morgen werden sie langsam verblassen.
***
Verfluchtes Biest, reißt einen aus dem besten Schlaf heraus!
Katinka greift nach dem blauen Küchenwecker und steckt ihn unter das Kopfkissen, damit Grete nicht aufwacht, sie hat ihr ja so fest versprochen, alles allein zu machen, auch den Tee für den Herrn. Grete liegt mit offenem Mund, es ist zum Ersticken heiß in der Mansarde, das Fenster geschlossen, Grete tut es nicht anders, weil sie eben eine Bauerntochter ist und gewohnt, den ganzen Tag in der Küche zu stehen. Keine Spur von Kultur. Die gnädige Frau schläft überhaupt nur bei offenen Fenstern Tag und Nacht, bei der duftet es ordentlich nach frischer Luft. Während es auch hier duftet, aber nach Hühneraugen und zerlassener Butter, da kann man noch so viel Maiglöckchenparfum in die Bettwäsche spritzen. Ein Leben ist das!
Katinka spuckt sich vor dem Toilettespiegel auf die Fingerspitzen und streicht die Brauen glatt. Mit dem Taschenkamm noch rasch durch das Haar, etwas Puder auf die Nase, Häubchen, Schürzchen, fertig, Schluß, schön genug für diese Tageszeit. Der Herr sieht einen ohnehin kaum an. Was der wohl immer in seinem Kopf hat. Gierke meint, bei dem klappt auch nicht alles. Heutzutage haben eben auch die feinen Leute ihre Sorgen.
Und Ufermanns sind feine Leute, da gibt es wirklich nichts zu klagen. Tadelloses Zimmer, eingebaute Schränke sogar für die Mädchen, anständiger Gehalt, höfliche Behandlung und die freien Nachmittage ordentlich geregelt. Hin und wieder noch ein Abendkleid von der Frau oder ein Handtäschchen und mit dem Chauffeur gibt es auch manchmal Spaß. Was kann man mehr verlangen, wo andere auf dem Pflaster liegen.
***
Was fällt Ihnen denn ein, Katinka? Was bringen Sie mir da für eine Henkersmahlzeit.
– Es ist doch bitte nur das gewöhnliche Frühstück.
– Schon gut. Den Speck da nehmen Sie gleich wieder fort. Ich kann den Geruch nicht vertragen. Und wozu noch der heiße Toast. Der Tee ist zu schwach.
– Soll ich vielleicht –
– Nein, nein, lassen Sie nur. Ist Gierke schon da?
– Gierke frühstückt in der Küche.
Was hat denn das Mädchen? Was sieht sie ihn so neugierig an? Und hat sich dabei nicht einmal gekämmt, die Haare nur so unter das Häubchen gestopft. Wie blond sie ist. Beinahe wie Irmgard.
– Meine Frau noch nicht auf?
Katinka streicht sich die Schürze glatt. Bei ihrem Herrn rappelt es wohl. – Soll ich die gnädige Frau wecken?
– Was fällt Ihnen ein. Sorgen Sie, daß mein Gepäck ins Auto kommt. Es ist nicht schwer. Sie können es selbst holen.
Katinka läuft die Treppe in sein Schlafzimmer hinauf. Wie komisch er sie angesehen hat. Sollte er gemerkt haben, daß sie nicht mal gewaschen ist. Peinlich. Denn er ist wirklich kein so übler Mensch. Immer tiptop, wenn auch nicht eben schön, Nase zu lang, Mund verkniffen. Und die gnädige Frau – ja freilich, die wird aufstehen. Männer sind doch wirklich zu naiv. Die Handtasche wiegt so gut wie nichts, da wird er wohl kaum lange fortbleiben. Gierke hupt ungeduldig. Es ist Zeit. Herr von Ufermann tritt auf die weiße nebelnasse Straße. Die Ranken am Gartengitter sind dunkelrot, eigentlich hübsche Ranken, beinahe hätte er nach ihnen gegriffen. In der Villa schläft noch alles hinter den glatten verhangenen Fenstern, lohnt nicht, sich umzuwenden. Es winkt einem ja doch niemand nach.
***
Aus den Alleen ist das Herbstlaub weggefegt, nicht ein Papierschnitzel verunreinigt den Asphalt. Der ganze Villenvorort gleicht einer großen und bequemen Wohnung, frühmorgens aufgeräumt von einer wohlgeschulten Dienerschaft. Gierke schießt um Haaresbreite an einem Milchwagen vorbei, das tut er gerne, und schielt nachher auf seinen Herrn. Der aber merkt gar nichts, der merkt nicht mal, daß ihm die Zigarettenasche gleich auf die Hose fallen wird. Was ist mit ihm? Schläft er noch immer?
– Verdammt und zugenäht! Keine Augen im Kopf, alter Esel!
Gierke reißt den Wagen herum. Da hätte er beinahe jemand überfahren. Und der alte Mann, weißhaarig, ohne Hut, taumelt zurück, lehnt an einem Baumstamm, starrt dem langen blauen Auto nach. Also nicht mal um diese Tageszeit kann einer ruhig über die Straße gehen, auch der friedliche Gottesmorgen wird schon gefährlich. Wohin so eilig? Der Herr kommt sicher von seiner Puppe oder er fährt an die Bahn, um dann im Speisewagen zu sitzen und an der Riviera spazieren zu gehen. Die Leute habens ja. Da kann das Land verrecken und krepieren, die habens immer. Und was ein ehrbarer alter Oberpostrat ist mit Pension und Karlsbader Kur, den fahren sie ganz einfach übern Haufen. So sind sie eben, dieses reiche Pack. Und dazu hat man Revolution gemacht und den Krieg verloren. Eine schöne Revolution. Aber wartet nur, es wird noch anders kommen, es gärt im Volk, es gärt überall, und auch ein alter Oberpostrat weiß, daß das so gar nicht weitergehen kann, wenn sie ihm seine Pension noch einmal kürzen – Abzüge nennt man das, Ersparungsmaßnahmen, ja, fangt doch selber mal zu sparen an, mit euern Autos, unverschämte Bande.
Und das Auto schießt inzwischen vorbei an Stoppelfeldern und Siedlungsbauten. Eine Mühle taucht auf und verschwindet. Nun hängen sich die Häuser aneinander, werden zu unabsehbar langen steifen Reihen. Eine leere Straßenbahn. Ein einsames Paar auf der Bank neben der Haltestelle. Dem Mädchen guckt das hellblaue Kleid unter dem Mantel hervor. Der Nebel teilt sich, laue Sonne fällt auf einen Karren Äpfel. Im Fensterrahmen räkelt sich ein Mann im Nachthemd. Die schwimmend breite Straße saugt den Wagen ein, in langen Strahlen führen unzählige solcher saugender Straßen einem Mittelpunkt
zu. Was für einem Mittelpunkt? Der müde Herr im Auto setzt sich auf mit einem Ruck. Geschäftshäuser, Radfahrer, der ferne Donner der Hochbahn, der Schutzmann steht in seinem Turm, unbeirrbar, rot grün, rot grün, man öffnet die Läden, Berlin ist fleißig, Berlin ist früh auf, Berlin schläft nie, Berlin ist unverwüstlich, Berlin verschlingt seine eigene Zeit, Stillstand? Stumme Verzweiflung? Arbeitslosigkeit? Es gibt Leute, die spüren ein Beben tief unter dem steinernen Häusermeer, unter den Kanälen, unter den Maulwurfsgängen der Untergrundbahn. Ihre Nervosität kann ansteckend wirken. Pessimisten. Wenn man aber auf weichen Pneus über den weichen schmeichlerischen Asphalt im weichen Herbstlicht durch die schaufensterspiegelnden Straßen fährt, so nimm doch nur, es ist ja alles da, greif zu, sei ein Kerl, hier sind die unbegrenzten Möglichkeiten, alles für dich, der du da tief in deinem Wagen lehnst und zuhause bist, zuhause in dieser hastenden, dieser jagenden, dieser sich selbst verzehrenden Millionenstadt – wenn man so durch die Straßen fährt, dann verschwinden alle die Schrecken einer kaum vergangenen Nacht wie ferner Spuk aus der Kinderzeit. Der alte Hebenberth wird selbstverständlich mit sich reden lassen. Die Firma Ufermann, gegründet 1863, wird nicht gerade 1931 untergehen, vorübergehende Verlegenheiten, wie jedes große alte Haus sie kennt, usw. usw. Was kann geschehen, was kann schon einem Herrn von Ufermann geschehen? Es wird ihm keiner seinen Kopf abreißen. Wie gut, daß es so windstill ist. Das wird bestimmt ein herrlicher Flug.
***
Schon recht, lieber Gierke. Das Köfferchen trage ich mir selbst. Sie können gleich nachhause fahren.
– Jawohl, Herr von Ufermann.
– Und melden Sie sich um halb elf bei meiner Frau.
– Jawohl, Herr von Ufermann.
– Und sehen Sie ein bißchen nach den Hunden. Katinka gibt ihnen sonst nichts als Brei.
– Jawohl, Herr von Ufermann.
– Und (ja, was denn noch, jetzt kommt er nochmals zurück, was will er seinem Chauffeur nur noch sagen?) –und, na lassen wir, und weiter nichts. Auf Wiedersehen!
Gierke steht stramm, legt die Hand an die Mütze. Und wäre wohl nachhause gefahren, wenn es nicht plötzlich vor dem Flugplatz ein solches Gedränge gegeben hätte. Erstens kommt man da nicht so rasch durch und zweitens ist man auch neugierig.
Was denn los? Was geschehen? Ach gar nichts. Wird irgend so ein Filmstar sein oder ein Boxer, der ankommt ... Mich gehts nichts an ... Was stehen Sie dann hier? ... Und Sie? Haben Sie vielleicht ein Flugbillet? Was machen Sie da? Um eine Tageszeit, wo ein anständiger Mensch an die Arbeit geht ... Arbeit! Habt Ihr gehört, von Arbeit redet der ... Räumen Sie mal Ihren Ellbogen weg ... Entschuldigen Sie, man wird wohl auch noch auf der Welt sein dürfen ... Das ist gar nicht immer gesagt ... Wenn Sie frech werden wollen ...
Hier wird es ungemütlich. Gierke verzichtet darauf, den Filmstar zu sehen oder den Boxer oder wer sonst noch ankommen sollte, umso mehr, als Herr von Ufermann immer noch in der Eingangstür steht und plötzlich den Kopf wendet. Und er wundert sich auch. Was will denn sein Chauffeur noch hier?
Im selben Augenblick fällt jemand mit vollem Gewicht gegen seine Brust. – Pardon, Pardon. – Aber bitte sehr.
Es war ein blasser Herr mit einem Knebelbart.
In den weißen stillen Räumen, die immer an die Wartezimmer eines Sanatoriums erinnern, zerstreuen sich die Menschen. Frankfurt? Ja, dort. Nun aber rasch. Ufermann greift in die Brusttasche, greift nochmals in die Brusttasche. Leer. Paß, Geld, Papiere – das ist doch zum Lachen, kann überhaupt nicht möglich sein, gibt es ja gar nicht, so was darf einem nicht wirklich passieren.
– Wünschen Sie nicht einzusteigen? Ein livriertes Gesicht sieht ihn fragend an.
Gierke, Gierke war doch eben noch da. Vielleicht hat er Geld bei sich, vielleicht kann er bezeugen, daß –
Und dann steht er allein auf der Straße. Gierke ist fort, das Auto ist fort, die Leute ringsum sehen ihn so sonderbar an, sogar der Schutzmann. Ihm ist, als wäre er ganz nackt. Der blasse Herr mit dem Knebelbart steigt eben rasch in eine Autodroschke. Vielleicht, daß man ihn daran hindern sollte, daß man schreien sollte, haltet den Dieb, der Mensch hat meine Brieftasche, aber er muß es doch nicht unbedingt gewesen sein, wie soll man so was je beweisen. Und die Autodroschke verschwindet inzwischen. Es ist kalt. Am besten, man knöpft den Mantel zu. Aufsteigt ein schöner, schimmernder Aeroplan, der Himmel hängt in dünnen blauen Schleiern.
Ach was, der alte Hebenberth hätte ja doch bestimmt nicht nachgegeben.
***
Ufermann geht langsam ein paar Schritte. Wohin? Er geht ganz einfach, so wie Spaziergänger gehen. Der Vormittag gehört jetzt ihm, nicht dem Geschäft, da mögen noch so viele Leute im Kontor anklingeln, er ist verreist, bitte, er ist nicht da. Er muß sich nicht nach Irmgards Befinden erkundigen, er muß dem emsigen Fräulein Preisel keine Briefe diktieren, er muß dem alten Boß nicht ins Gesicht sehen, der alles weiß, was ein Prokurist nur wissen kann, und sich doch nichts zu sagen getraut. Er muß auch nicht darüber nachdenken, wann und wohin er Gierke bestellen soll, er braucht kein Auto, er geht ganz einfach spazieren so wie die Müßiggänger und die Arbeitslosen. Die Sonne scheint beinahe hell und warm. Es wäre schön, jetzt auf das Land hinaus zu fahren, an einen kleinen und versteckten See, wo ein paar Wildenten vorbeischnattern und die Kiefernadeln noch trocken nach dem Sommer duften.
Ein einziges Mal nur hat er die Schule geschwänzt und das an einem strahlend heißen Junitag. Auf ihren Rädern waren sie plötzlich durchgebrannt an so einen kleinen See, er und Paul, und spät abends erst nachhause gekommen, förmlich ausgelaugt von Sonne und Wasser. Die Folgen waren peinlich gewesen, Paul hatte nicht dichtgehalten und dann noch alle Schuld auf ihn geschoben. Nicht ganz mit Unrecht, denn von selbst wäre Paul niemals auf solch einen Einfall gekommen. Aber schön war es nicht von einem Freund. Einem Freund? War Paul denn je sein Freund? Ist Paul sein Freund? Paul ist sein Teilhaber und sein Berater, er muß ihm jedenfalls von seinem Mißgeschick erzählen. Und Paul wird große runde Augen machen: – Wo warst du denn den ganzen Vormittag?
Da winkt Ufermann einer Autodroschke. Denn man kann schließlich nicht nur spazieren gehen, wenn alles auf dem Spiel steht, Geld, Ehre, Firma und Frau. Wieso denn Frau? Ach, das hängt irgendwie zusammen.
Der Chauffeur fragt, wohin. Ins Zentrum einstweilen, sagen wir Potsdamer Platz. Für zuhause ist es unbedingt zu früh. Irmgard schläft noch. Es wird nicht leicht sein, ihr begreiflich zu machen, was heute passiert ist, sie ist so ordentlich, daß sie nie was verliert oder auch nur verlegt, sie wird entsetzt sein, ganz abgesehen davon, daß in der Brieftasche neunhundert Mark steckten – Herrgott, hat er denn überhaupt noch Geld bei sich, Geld genug für die Autodroschke?
Ja, in der Geldbörse ist einiges. Ein Zehnmarkschein, ein Dreimarkstück, eine Mark, noch eine Mark, zwanzig, vierzig, sechzig, nein achtzig, nein, doch nur sechzig Pfennig. Wenn man sie noch einmal zählt –
Da hält das Auto auf dem Potsdamer Platz vor einem Stand mit Blumen: Astern, Georginen und knallrot geschminktes Laub. Am klügsten wäre es, weiter zu fahren, zum Beispiel zu Paul, aber man könnte ihn auch erst anklingeln. Vielleicht aus einem Café. Wer weiß, ob er jetzt noch zuhause ist. Und außerdem wäre es gut, etwas Warmes und Ausgiebiges in den Magen zu bekommen, nach dem jämmerlichen dünnen Tee, den Katinka serviert hat.
In der Telefonzelle riecht es nach kaltem Rauch von vorvorgestern.
An die Wand gekritzelt ist ein windschiefes Herz, darin steht: Bavaria 2709. Ufermann verbindet sich erst einmal mit dem Amt Bavaria. Aber das ist ja Unsinn, was geht Bavaria ihn an, was geht das Herz ihn an. Nein, Paul hat ganz ein anderes Amt. Und jetzt stimmt die Verbindung.
– Hallo, Tag Frau Köhler. Herr Hennings noch zuhause?
– Nein, Herr Hennings ist eben fortgegangen.
– Ach, das ist aber schade. Da ist er wohl noch nicht im Kontor?
– Nein, sicher nicht. Wer spricht denn? Ist das Herr von Ufermann?
Knax. Ufermann hat abgehängt. Fehlte nur noch, daß er sich mit Frau Köhler in ein Gespräch einläßt. Am Ende weiß sie gar von seinem Frankfurter Flug und was damit zusammenhängt. Hausdamen wissen immer alles.
– Herr Ober, Kaffee und Rührei mit Schinken. Und Zeitungen.
Die großen Spiegelscheiben des Cafés gehen hinaus auf den Potsdamer Platz. Der Polizist im Verkehrsturm scheint durch sie herein zu sehen. Ufermann setzt sich mit dem Gesicht zu der karminroten Wand.
Dem Ober fällt es auf, daß der Herr mit der Handtasche (er kommt wohl von einer Reise, obwohl die Handtasche sehr klein ist) besonders nervös ist. Er liest gar nicht in den Zeitungen, durchblättert sie nur. Um dann plötzlich zusammen zu zucken. Was ist denn los? Er wird ja grün und gelb. Wenn er nur nicht gleich der Länge nach auf der Erde liegt, das gibt Betrieb und so was mögen die Frühstückstammkunden nicht gern. Der Ober tritt jedenfalls einmal hinter den Stuhl des auffälligen Herrn und sieht ihm über die Schulter in die Zeitung hinein.
Industrieller erschießt sich und Frau. Das steht fett und groß als Überschrift. Und darunter – der Ober streckt den Hals vor: Zusammenbruch der Firma Ebel.
Oder heißt es Abel? Wenn das alles ist? So was passiert doch jeden Tag. Vielleicht ein Bekannter oder ein Geschäftsfreund, das geht einem dann immer etwas nahe, obwohl man sich in diesen Zeiten auch schon daran gewöhnt haben müßte. Oder sollte der Herr ein Angestellter von der Firma sein? Die großen Chefs erschießen sich gern, während ihre Angestellten eher unauffällig zu verrecken pflegen.
Ufermann starrt in den Teller mit Rührei. Wie Ebel wohl ausgesehen haben mochte, als er sich in den Mund hineingeschossen hatte, der große, der mächtige, der selbstbewußte Albert Ebel. Da springt ja der Kopf auseinander, da spritzt das Hirn heraus, Hirn und Blut, grauenhaft verstümmelte Leichen, steht gedruckt, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und Alice, die kleine Alice mit ihrem lustigen krausen Haar, aus Angst vor Not, steht gedruckt, ob sie wohl einverstanden war, aber natürlich, Doppelselbstmord steht gedruckt, Bankrott steht gedruckt, vollständiger Bankrott. Wenn einmal Ebel sich nicht mehr zu helfen wußte –
Und dabei war es vielleicht das Klügste gewesen. Alice hätte bestimmt nicht arm werden können, das hätte sie zu schlecht gekleidet. So hatte er ihr drei Kugeln durch die Schläfe geschossen.
Muß das denn sein? Kann man nicht in einen See gehen, einen kleinen Waldsee und so lange schwimmen, bis man nicht weiterkommt. Hinterläßt man keine Abschiedsbriefe, so braucht es gar kein Selbstmord gewesen zu sein, es gibt doch auch Unfälle, Herzschlag im Wasser oder dergleichen, und damit wäre alles erledigt, in Ordnung sozusagen. Ist das nicht einfach, unverschämt einfach? Er müßte Irmgard gar nicht mit sich nehmen, so wie Ebel Alice, sie bliebe zurück als eine wahnsinnig reiche Frau, denn die Lebensversicherung –
– Ober, zahlen!
– Bitte sehr.
***
Und da er doch nicht allzu viel in der Geldbörse hat und deshalb sparen muß (sparen ist allerdings ein grässliches Wort), geht Ufermann einstweilen zu Fuß. Natürlich nicht nachhause, aber Lilos Atelier liegt um die Ecke. Und warum sollte er seine kleine Freundin nicht auch einmal am Vormittag besuchen.
Sie wird platt sein. Um diese Tageszeit hat sie ihn kaum je zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich schläft sie noch, nur gut, daß er die Schlüssel hat, da braucht er nicht zu klingeln.
Merkwürdig, wie grau und abgegriffen dieses Haus heut aussieht. Der Treppenläufer ist zerfetzt, abends war das nie zu bemerken. Es riecht nach Kraut und Sellerie, er bekommt förmlich Lust auf Lilos impertinentes Parfum, das sie sich absolut nicht abgewöhnen will, obwohl es ihm oft auf die Nerven geht. Dabei ist sie sonst ein wirklich nachgiebiges Mädchen, immer sanft und geduldig und zwitschernd vergnügt, niemals vorwurfsvoll oder gar schlecht gelaunt. Ihr kann er in Ruhe alles erzählen, sie wird ihn streicheln und sie wird ihn trösten, wenn er bei ihr ist, kennt er keine Angst und Anstrengung. Dabei ist sie ja selbst so unordentlich, daß sie imstande ist, den eigenen Strumpfbandgürtel zu verlieren. Sie wird sich auch nicht wundern, daß er nicht die Geistesgegenwart hatte, den blassen Herrn mit Knebelbart rechtzeitig hopp nehmen zu lassen, um sich nur ja nicht vor dem Schutzmann zu blamieren. Vielleicht war der blasse Herr gar nicht der Dieb, vielleicht war die Brieftasche gar nicht gestohlen, obwohl er sie doch ganz bestimmt auf der Fahrt in die Stadt bei sich gehabt hatte, er erinnert sich ganz genau, dreimal nach ihr gegriffen zu haben. Das Ganze war ja nur passiert, weil er auf keinen Fall nach Frankfurt wollte, und Lilo wird es auch verstehen oder zumindest tun, als ob sie es verstünde.
Ganz leise öffnet er die Tür. Auf dem Kleiderhaken hängt ein lachsrosa Schlafrock, im Badezimmer liegen Strümpfe und Handtücher herum und die Wanne ist voll mit grünlichem Wasser. Im Atelier hockt Nöcke, der Kater, zwischen ein paar verstreuten Kissen auf dem Sofa. Sonst ist niemand zuhause.
Ufermann hebt einen Augenblick den Kopf, als erwartete er, Lilo hinter dem geblümten Vorhang hervorspringen zu sehen. Dann setzt er sich neben den Kater und ist sehr müde. Der Vorhang hat ein Loch, auch ist das Muster viel zu grell, und auf dem Fußboden liegen Zigarettenstummel. Das Schüsselchen mit Milch ist wohl für Nöcke bestimmt, und Nöcke ist zu faul, sich bis dahin zu begeben, er rührt sich überhaupt kaum mehr, seit Lilo ihn kastrieren ließ. Wie abscheulich von ihr. Nun ist das Tier nichts anderes als ein Kissen, ein schwarzes Kissen mit grünen Augen.
Ufermann streckt sich aus auf dem Sofa und schiebt die Füße in die Ecke, um den armen Nöcke nicht zu stören. Dann zieht er noch die schottische Reisedecke heran, die er Lilo zum Geburtstag geschenkt hat. Das Tuch riecht nach ihrem impertinenten Parfüm. Wo sie wohl steckt? Wozu viel fragen, sie lügt ja immer. Solche Mädchen mit
Schlitzaugen und nassen Negerlippen lügen. Aber wenn sie sonst nett, freundlich und gefällig sind und einen vielbeschäftigten und sorgenvollen Mann nicht auch noch mit Verantwortung beladen, darf man nicht allzu viel von ihnen verlangen. Wie hätte denn die kleine Lilo ahnen sollen, daß er plötzlich an einem Vormittag in ihr kaltes und unaufgeräumtes Atelier kommen wird, voll Sehnsucht nach einer warmen und zärtlichen Hand. Es ist nicht ihre Schuld, daß sie jetzt nicht zuhause ist, wohl auch die Nacht durch nicht zuhause war, sie steht sonst nicht so zeitig auf, sie dachte wohl, wenn er nach Frankfurt fliegt –
Der Himmel hinter den verstaubten schiefen Fensterscheiben ist trüb und wollig. Ufermann zieht die Reisedecke über den Kopf trotz Lilos impertinentem Parfüm. Nun darf er schlafen ohne die Schrecken der vergangenen Nacht, niemand erwartet ihn, niemand verlangt etwas von ihm, er muß nicht auf sein zur Minute, auf dem Flugplatz Frankfurt werden sie sich allerdings wundern. Aber auch das ist jetzt einerlei.
Er läßt sich versinken in eine dumpfe gleichgiltige Bewußtlosigkeit und wäre wohl noch lang in ihr verblieben, wenn nicht ein wahres Trommelfeuer ihn plötzlich geweckt hätte. Gegen die schiefen Fensterscheiben prasselt der Herbstregen. Nöcke sitzt vor seinem Milchschüsselchen mitten im Zimmer. Es dämmert schon, es muß recht spät geworden sein, Lilo kommt wohl gar nicht nachhause. Vielleicht, daß es in ihrer Küche was zu essen gibt.
Ein Topf Marmelade, kein Brot, kein Zwieback, zwei Eier und eine halb verschimmelte Tomate. Sollte das alles sein? Ufermann zieht die Tischlade heraus, aber da liegen nur Bestecke (was Lilo doch für alte Blechlöffel besitzt), zwischen ihnen schwimmt ein Federstiel und hinten in der Ecke steht ein Fläschchen Tinte. Unter diesem Fläschchen liegt Geld. Vier Zwanzigmarkscheine. Ist das eine Art, sein Geld aufzubewahren. Lilo ist wirklich schon verboten unordentlich.
Es bleibt wohl nichts übrig, als nachhause zu fahren, um zu einer anständigen Mahlzeit zu kommen. Und dann ins Bett, sofort ins Bett, er fühlt sich elend, hungrig und erfroren, sein Anzug ist vermuddelt, als hätte er nicht auf einem Sofa gelegen, sondern auf einer Bank im Park, alle seine Glieder scheinen irgendwie zerbröckelt, und so soll er in den Regen hinaus, Schirm hat er auch keinen, vielleicht, daß er doch noch ein Taxi bestellt, so viel Geld hat er sicher noch, wo ist der Mantel, und wenn er ohnehin nachhause fährt –
Er greift nach dem Hörer. Da klingelt das Telefon.
– Hallo!
– Hallo! (Ach, das ist Lilos Stimme) Hallo, Harry, Gott sein Dank, daß Du da bist. Ich komme gleich, wollt es nur jedenfalls wissen. Du hast noch nicht davon gehört. Hallo, Harry, mir zittern die Beine, wart einen Augenblick, ich brauche einen Stuhl beim Apparat, ach Gott, ich kann kaum noch den Hörer halten. Es ist zu schauderhaft und zu entsetzlich. Hallo! Es ist ja gar nicht auszudenken. Hallo! Nicht wahr, du weißt es nicht. Also stell dir vor, Ufermann, du erinnerst dich, er wollte heute nach Frankfurt fliegen, Ufermann, stell dir vor, Ufermann ist abgestürzt, mit dem Flugzeug natürlich, das ganze Flugzeug ist abgestürzt und verbrannt. Ufermann ist tot, du, der ist noch viel mehr als tot, der ist nicht einmal eine Leiche mehr, alle Insassen verkohlt, steht in den Zeitungen. Hallo! Harry, hörst du mich noch?
– Ja.
– Also was sagst du. Hat man schon so was erlebt. Und ich sah ihn doch erst vor zwei Tagen, da war er wie immer, kein Mensch hätte auf die Idee kommen können. Hallo! Ich versichere dir, mir klappern die Zähne, daß du mir nie in so ein gräßliches Flugzeug steigst. Ich komme gleich, ich muß ja noch so viel mit dir besprechen, denn das beste, Harry, das beste kommt erst. Hallo!
– Hallo!
– Stell dir vor, Harry, der Mensch war reich, viel, viel reicher, als er je zugab. Es ist unerhört. Seine Frau hat eine Lebensversicherung in Dollar, Millionen, Harry, Millionen. Die ist jetzt fein raus. Was sagst du. Hallo! Was meinst du Harry, daß ich jetzt tun soll. Ich werde mich vielleicht an Hennings wenden, du weißt doch, Harry, Paul Hennings, sein Teilhaber. Oder was anderes. Es steht schon alles in den Zeitungen. Extraausgaben, selbstverständlich. Ich bring sie dir mit. Und sein Bild haben sie auch. Ich begreife gar nicht, wie die Leute so rasch – Hallo! Harry, Harry! Hallo!
– Bedaure Fräulein, Sie sind falsch verbunden.
Ufermann legt den Hörer auf. Er steht still. Jetzt ist er
ganz allein auf der Welt. Das Atelier wird zu einer Schachtel ohne Luft, die sich loslöst und hinaus schwebt über das Häusermeer der Stadt in einen dunklen und unendlichen Raum. Langsam greift er mit der rechten Hand nach seinem linken Arm, er spürt diesen seinen Arm, er spürt sich selber, seinen Atem, sein Blut. Wie wunderbar das ist. Es ist nicht abgestürzt und er ist nicht verbrannt. Er lebt.
Das Telefon klingelt wieder, klingelt mehrmals. Nein, meine Liebe, hier ist niemand zuhaus. Ich bin ja tot, nicht einmal eine Leiche mehr. Läut du nur, bis dein Harry kommt.
Er wendet sich zur Tür, kehrt aber nochmals zurück, geht in die Küche, holt die vier Zwanzigmarkscheine aus der Lade (besser ein Dieb als ein verbranntes Knochenhäuflein) und läuft dann rasch die knarrenden Treppen hinunter. Im Haustor stößt er mit einem Mann zusammen. Ob das vielleicht Herr Harry ist?
***
Er muß nur um die nächste Ecke biegen durch Wind und Regen, da schreien schon die Kolporteure auf der Straße: Furchtbares Unglück bei Höflingen! Das Flugzeug Berlin–Frankfurt abgestürzt! Acht Passagiere verbrannt! Furchtbares Unglück –
Ufermann reißt dem nächsten Verkäufer beinahe das Blatt aus der Hand. – Furchtbares Unglück bei Höflingen! Zehn Pfennig, mein Herr! Das Flugzeug Berlin-Frankfurt abgestürzt! Acht Passagiere –
Die Stimme des jungen Burschen schnappt ab. Aber von der anderen Straßenecke grölt ein Bierbaß herüber: – Aeroplan verbrannt! Aeroplan verbrannt!
Diese Zeitungsverkäufer sollten nicht so tun, als ob sie sich Gott weiß wie aufregten. Doch das gehört wohl zu ihrem Geschäft, das heut nicht gut zu gehen scheint, die meisten Vorübergehenden stutzen nur einen Augenblick lang und eilen dann weiter. Am besten ist es, sich möglichst unauffällig zu benehmen, Ufermann faltet das Blatt unter der nächsten Laterne auseinander.
Da guckt ihm jemand über die Schulter: – Sie gestatten doch? Und ein anderer zupft ihn am Ärmel: – Nur einen
Blick, wenn Sie nichts dagegen haben. Ein Paar tiefliegende Augen sehen ihn aufmerksam an: – Ist es wirklich wahr, daß acht Passagiere –? Und eine Frauenstimme lispelt: – Man kann die Leichen gar nicht zählen.
Der kleine Menschenhaufen stiebt plötzlich wieder auseinander, denn der Herr mit der Extraausgabe hat sich losgerissen, rennt davon wie ein Besessener, die Schultern hoch, den Kopf gesenkt. Was ist mit ihm? Man sollte es nicht für möglich halten. Hat ihm doch keiner was getan. Um eine Gefälligkeit wird man noch bitten dürfen. So wie die Zeiten heute sind, hat nicht ein jeder gleich zehn Pfennige, um sie fürs nächste beste Flugzeugunglück auszugeben. Es passiert auch noch anderes auf der Welt. Schlimmeres. Aber die Leute sind eben so, keine Spur von sozialem Empfinden, jeder hält nur fest, was er gerade hat, und wenns nichts anderes ist als ein schäbiges Zeitungsblatt.
Ufermann drückt es an sich, dieses Zeitungsblatt, während er auf den nächstbesten Autobus springt. Man wird ihn doch nicht schon erkannt haben, sein Bild soll ja bereits veröffentlicht sein. Das alte Mütterchen, das ihm gegenüber mit einer großen Einkaufstasche sitzt, nickt ihm zu wie einem Bekannten. – Ja, ja, haben Sie es auch schon gelesen. Das kommt von den verrückten Erfindungen. Müssen gleich durch die Luft fliegen, die Leute, können nicht mehr auf ihren zwei Beinen gehen. Ja, ja. Nun sind sie kaputt, alle miteinander. Wie mein Mann immer sagt: hinterher kommt es sauer. Nun kann man nicht mal mehr die Knochen begraben. Und waren lauter feine Herrschaften dabei. Unsereiner kommt natürlich nicht zu solchen Späßen. Nun sind sie kaputt.
Spricht denn die ganze Stadt von nichts anderem?
Ufermann steigt nach einigen Haltestellen aus, er wendet sich gezwungen langsam, mit gemessenen Schritten einer dunklen Seitenstraße zu. Niemand soll ihm anmerken, daß er verbotenerweise hier geht. Wieso übrigens verbotenerweise? Er kann doch jederzeit hervortreten und sagen: Mein Name ist Ufermann. Ernst von Ufermann. Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle? Gestatten Sie, daß ich noch lebe. Jawohl, noch lebe. Das ist nämlich mein gutes Recht. Die Leute würden Augen machen. Nicht acht Passagiere, sondern nur sieben? Jawohl, nur sieben. Hurra, ich lebe. Was, Sie leben?
Und da er fest entschlossen ist, sich das Leben nicht verbieten zu lassen, umso mehr, als er einen ganz infamen, einen mörderischen Hunger verspürt, tritt er wieder zurück auf die strahlend beleuchtete breite Straße. Der Regen hat ausgesetzt, im nassen Asphalt schwimmen rote und blaue Reflexe. Von weitem hört er: Furchtbares Unglück – Berlin – Frankfurt –Aeroplan – Passagiere...
Und an ein besonders helles Schaufenster gelehnt, liest er nun endlich seine Zeitung mit einem Gesicht, als überflöge er die neuesten Devisenkurse.
Ja, da steht es: es ist Schluß mit ihm, aus und vorbei. Beinah zum Lachen. Aber die anderen alle sind wirklich tot und wirklich verbrannt. Der Direktor der I. G. Farben, der belgische Ingenieur, die beiden älteren Damen aus Philadelphia, Herr Kauder aus Frankfurt, ein junger Mann mit slawischem Namen und ein Fräulein Melzel. Zu denen allen gehört er und ihnen allen ist er entwischt.
Und da er der einzige Passagier aus Berlin ist, ein Mann, in seinen besten Jahren, Chef einer alten und hochangesehenen Firma (oder zweifelt jemand daran, daß die Firma alt ist, hoch angesehen, und als solche feststeht,
unerschütterlich fest), da er ein Mensch nicht ohne Bedeutung im Finanzleben und auch im Gesellschaftsleben ist, bekommt er einen Zweispalter als Nachruf. Er ist zwar nicht am 22. Februar geboren, sondern am 23. und er hat nicht in Heidelberg studiert, sondern in Bonn, aber das sind Kleinigkeiten. Und sein Bruder Gerhard ist wirklich in Flandern gefallen. Was diese Journalisten alles wissen und noch dazu alles zusammenschreiben. Energisch, hochbegabt und zielbewußt, eine Persönlichkeit, wie man sie heute in der Wirtschaft braucht etc. etc. Über Albert Ebel hatte man sich anders ausgedrückt. Der war aber auch erst zugrunde gegangen. Und die gebrochene junge Witwe. Das soll wohl Irmgard sein. Die arme kleine Alice Ebel wurde zu keiner Witwe. Und das Photo rechts in der Ecke. Das soll er selber sein. Wie ein Falschmünzer sieht er aus. Und dann natürlich noch zum Schluß die Geschichte von der Lebensversicherung. Des Langen und Breiten. Wie, was, was steht da gedruckt? „In weiser Vorsorge...“
Ufermann steckt die Zeitung in die Tasche und blickt in das Schaufenster vor sich. Pelzmäntel.
Wenn er jetzt nachhause kommt, so wird Irmgard natürlich sehr glücklich sein, sie kann ja gar nicht anders, sie wird nicht einmal was über die gestohlene Brieftasche sagen, heute nicht, vielleicht auch morgen nicht. Aber in einer Woche oder in zehn Tagen kommt es ja doch zum großen Krach. Da hilft kein Hebenberth, da hilft kein Herrgott mehr. Und Irmgards bester Pelz läßt auch schon Haare. Der graue dort würde ihr nicht schlecht stehen oder sogar noch besser der braune. Aber sie ist ja in Trauer, sie kann höchstens einen schwarzen haben, den Breitschwanz links, der ist gewiß ganz unermesslich teuer, auf dem steht überhaupt kein Preis, aber das macht jetzt nichts.
Irmgard in Trauer. Ist sie denn in Trauer?
Er hat sie einmal sehr geliebt und er liebt sie auch heute noch. Sie ist so zart, so schutzbedürftig und so mädchenhaft, und wenn sie fiebert, muß sie nach Davos, man kann sie nicht in eine Etagenwohnung bringen oder gar in ein Hinterhaus. Man müßte sich das alles zumindest erst rechtzeitig und ganz langsam überlegen, in weiser Vorsorge vernünftig überlegen, obwohl das nicht so einfach ist, wenn man frierend vor Nässe auf der Straße steht, die Pelzmäntel hängen plötzlich alle schief, die Lichter schwanken, ein Vorübergehender blickt erstaunt auf den Herrn, der an dem Schaufenster lehnt, und dieser erinnert sich eben noch, daß er hungrig ist.
***
In der nächsten Kneipe bestellt er Beefsteak und Bratkartoffeln und Reis und Kompott und Butter und Käse und Bier. Auf dem fleckigen Tischtuch liegt ein zerbrochener Zahnstocher, die Uhr tickt auffällig, noch sind nicht viele Gäste gekommen und das Eisenöfchen strahlt eine brütende Wärme aus. Er verschlingt die ersten Bissen, kaut nicht einmal, mit solcher Gier hat er noch nie gegessen, solche Gier gibt es eben nicht, wo das Tischtuch sauber ist und das Besteck aus Silber, wo Katinka ganz selbstverständlich zur Tür hereingetrippelt kommt mit vollen Schüsseln, die man nie beachtet hat. Ob sie auch heute Abend –
Ach, heute abend denkt in seinem Haus niemand an Essen. Gott weiß, ob überhaupt gekocht wurde. Katinka hat ihm auch das Bett nicht gerichtet, sie traut sich gar nicht in sein Zimmer, es steht leer wie eine Grabkammer. Alle sind um Irmgard bemüht und wohl auch um Mama. Sanitätsrat Jaksch ist da, der alte treue Freund der Familie, und Paul und irgendwelche überflüssige Verwandte, ganz so wie damals, als Gerhard gefallen war. Arme Mutter. Sie hat ja Gerhards Tod bis heut nicht überwunden, das Leben bedeutete ihr seitdem nichts mehr, sie hat es oft genug gesagt. Beinahe beleidigt war sie gewesen, als der andere Sohn dann später heil aus dem Kriege zurückkam. Gerhard war aber auch der Ältere und viel, viel tüchtiger, unter seiner Leitung wäre die Firma niemals zugrunde gegangen, er hätte immer Auswege gefunden trotz Krise, Überproduktion und Zwangswirtschaft, er hätte längst ein Bankguthaben in der Schweiz beschafft und schlimmstenfalls den alten Hebenberth um seinen kleinen Finger gewickelt. Wogegen er selbst, der jüngere Sohn, der unfähige, in „weiser Vorsorge“ an nichts anderes gedacht hatte als an die amerikanische Lebensversicherung, und auch das nur, weil Paul so sehr dafür gewesen war. Die allerdings ist keine Kleinigkeit, zumindest jetzt, in diesem Augenblick, nun sind sie alle fein raus, um mit Lilos Mundwerk zu sprechen, nun sitzen sie alle in seiner schönen und behaglichen Villa und trauern, nun haben sie es alle einfach, unverschämt einfach.
Während er merkt, daß die stickige Kneipe sich füllt und der Kellner ungeduldig in seiner Nähe herumstreicht. Man kann nicht ewig in so einer Kneipe bleiben, auch andere Gäste wollen hier was essen, es ist zwar nicht gerade verboten, sich allzu lange aufzuhalten, aber da der Herr gegenüber nun auch eine Zeitung aus der Rocktasche zieht, in der vielleicht ein Photo abgebildet ist –
Also wieder hinaus in die dunkle und triefende Nässe. Aber wohin nur die Schritte wenden? Es ist ja ganz gleichgiltig, ob man nach rechts geht oder nach links, den Fahrdamm überquert oder um den kleinen Platz herumschlendert. Und es gibt viele solche Plätze, von denen ringsum schnurgerade Straßen ausstrahlen, sie sind sich alle gleich, diese Plätze, diese Straßen, so entsetzlich gleich, daß sie einen Dschungel bilden, in dem man sich verirren kann, ein geordnetes, einen geometrisches Dschungel, ohne Mittelpunkt und ohne Ziel. Wo ist der Herr, der sich heut Morgen in lauer Herbstsonne auf weichen Pneus von seinem Chauffeur der Millionenstadt zuführen ließ, tief in seinem Wagen lehnte und zuhause war im Trubel unbegrenzter Möglichkeiten – hier geht ein Ausgestoßener, ein Fremder, der sich bemüht, die Straßenschilder zu lesen, als ob er dadurch sich zurechtfinden könnte.
Heißt das jetzt Nolden– oder Neldenstraße? Den Namen hat er jedenfalls noch nie gehört. Da legt sich eine Hand auf seine Schulter.
– Wo wollen Sie hin?
Sicher ein Schutzmann. Nur um Gotteswillen das Gesicht nicht zeigen.
– Lassen Sie mich.
– Drehen Sie sich doch erst einmal um.
– Lassen Sie mich.
Die Hand drückt. Das ist eben eine feste, eine schwere Polizeihand.
– Sie haben kein Recht, mich zu belästigen.
– Sachte, sachte. Vielleicht wenden Sie mir endlich einmal Ihr edles Antlitz zu. Ich sah Sie schon an der Ecke dort drüben. Und da kam es mir gleich vor, als ob –
Ufermann fährt herum. Vor ihm steht ein hagerer Herr mit Vogelaugen und sehr roten Lippen.
– Was wünschen Sie von mir?
– Ich bin allein, ein einsamer Spaziergänger wie Sie. Das hat man in Berlin nicht notwendig. Sie sind wohl noch nicht lange in der Stadt mit Ihrem Köfferchen? Kommen vielleicht soeben von der Bahn?
Und der Herr blickt auf das Köfferchen.
– Wenn Sie mich vielleicht ein wenig jetzt begleiten wollten. Sehen Sie, wo das grüne Licht scheint, ist eine Weinstube, es gibt dort auch noch anderes als Wein.
Und der Herr verzieht seine roten Lippen, die sind ja geschminkt, die Zähne hinter ihnen stehen durcheinander wie dunkle Zaunpfähle, während die Wangen gepudert scheinen wie bei einem Clown.
– Falls Sie sich in einer augenblicklichen Verlegenheit befinden sollten, es kommt ja vor, besonders heutzutage –
Hat man schon je zu einem Herrn von Ufermann in solchem Ton gesprochen. Und dabei wagt der Kerl, ihm seine Spinnenhand vertraulich auf den Arm zu legen. Das ist ein Schwuler, wie sie jetzt zu Tausenden herumlaufen, an jeder Straßenecke finden sie ihr Opfer, man kennt sie auch aus den gewissen Lokalen, die man aus Neugier aufsucht, zwischendurch, zum Spaß. Man weiß von ihnen, aber man begegnet ihnen nicht, man verbittet sich jede Berührung.
– Darf ich Sie fragen, wo die nächste Untergrundbahn ist?
– Selbstverständlich, ich zeige Ihnen gern den Weg.
Und der hagere Herr geht neben Ufermann mit schleichenden Schritten. „Wenn dich ein fremder Mann anspricht, so folg ihm nie.“ Wie lange ist es her, daß man ihm das zu sagen pflegte. „Nie, nie, nie. Und wenn er dir auch noch so viel verspricht.“ Sollten die Gouvernanten so etwas gemeint haben, während sie den Knaben im gepflegten Park behüteten. Gott weiß, was dieser fremde Mann im Schilde führt, wohin er ihn jetzt bringen will –
– Na, na, mein Junge, laufen Sie nicht so.
Der Hagere stützt sich auf seinen Stock und starrt hinter dem Fliehenden drein. So ein Dussel. Sicher ein Provinzler. Dabei ein hübscher Mensch. Schneidig. Mit Rasse. Man sollt nicht glauben, was es heutzutag für Männer gibt. Schlappschwänze sind sie, alle miteinander.
***
Dort leuchtet wirklich das blaue U der Untergrundbahn. Nur hinein in den nächsten Zug. Nach dem geometrischen Dschungel der Straßen und Plätze ist es angenehm hell zwischen dampfenden Mänteln, Regenschirmen, Aktentaschen und den dazugehörigen gleichgiltigen Gesichtern. Keiner hat hier Zeit für den andern, jeder denkt nur an sich, wie er am besten noch Platz finden könnte. – Das ist mein Fuß, mein Herr ... Verzeihen Sie ... Herrgott, ich muß heraus. Könnt ihr mich denn nicht durchlassen ... Nur nicht so eilig ... Unverschämt ... Drängen Sie nicht ... Was wollen Sie von mir. Ich habe mein Billet so gut wie Sie bezahlt...
Eigentlich sind sie alle böse aufeinander, weil sie es eilig haben, abgehetzt und müde sind, nachhause kommen wollen, überarbeitet oder voll Sorgen, daß sie am nächsten Morgen keine Arbeit haben. Sie gönnen ja einander kaum die Luft zu atmen. Man darf sie nicht reizen und so lange man nur nicht beachtet wird –
nd zupft Ufermann an seinem Ärmel), fahre ich hier recht zum Bahnhof Friedrichstraße?
– Das weiß ich nicht.
– Erlauben Sie – Sie wissen nicht, wohin Sie fahren?
Viele Augen sehen plötzlich auf ihn.
– Ich fahre nach Zehlendorf.
– Da sind Sie aber ganz falsch eingestiegen. Hören Sie nicht, falsch eingestiegen, hören Sie nicht, da fahren Sie ja ganz verkehrt. Sie müssen raus bei der nächsten Station, und dann die Treppe hinauf rechts. Der Herr fährt richtig, der Zug hier geht zum Bahnhof Friedrichstraße, der Herr kann bleiben, aber Sie müssen raus. Sie fahren falsch, so passen Sie doch auf ... Der Zug hier kommt von Zehlendorf. Sie müssen raus, die Treppe rechts...
Alle reden sie jetzt durcheinander, sie sind bemüht um ihn, sie meinen es nicht schlecht, gewiß, er zieht den Hut, er dankt und er verbeugt sich, so gut es geht in dem Gedränge. Der Teufel soll sie alle holen, er kennt sie nicht, und wenn er zwischen ihnen jetzt verblutet wäre, sie hätten es wohl kaum bemerkt. Aber daß er in eine falsche Richtung fährt, das kümmert sie, weil das nun einmal nicht in Ordnung ist, da mengen sie sich ein, wegen der Ordnung, da werfen sie ihn gleich hinaus aus seiner letzten warmen Sicherheit, denn wohin soll er nun? Ach, danach wird ihn keiner fragen.
Er steht auf dem Perron, die Bahn fährt weiter und von den Überzähligen bekommt wenigstens einer seinen leeren Platz.
Kein Recht auf diesen Platz, er ist ja tot, verbrannt und abgestürzt, nicht einmal eine Leiche mehr, kein noch so armseliges Knochenhäuflein. Er hat kein Recht mehr auf sein gutes Bett, das unberührt in seinem Zimmer steht als wie in einer Grabkammer. Er hat kein Recht mehr auf sein Haus, sein Heim, was gibt es da noch viel zu überlegen, kein Recht auf seine Frau und auf sich selbst. Wie ein Eindringling irrt er herum in einer ihm plötzlich fremd gewordenen Stadt, wie einer, der hier nichts zu suchen hat. Hinaus mit dir, fort, weg, verschwinde, man braucht dich nicht.
So einsam können nur die Toten sein, die Vogelfreien und die Flüchtigen, die einst, in längst vergangenen grausamen Zeiten von Land zu Land gejagt wurden. Für solche gab es hin und wieder noch eine Klosterpforte, ein Asyl. Während er an düsteren Haustoren vorbei geht in Straßen, die er nie betreten hat, die er dem Namen nach nicht kennt, er weiß ja nicht einmal, wie die Untergrundstation hieß, an der auszusteigen er gezwungen war. Er weiß nur, daß es wieder zu regnen beginnt und daß er ein Dach suchen muß über seinem Kopf. Und da er ein moderner Mensch ist (sofern er überhaupt noch ein Mensch ist), ein Sohn des zwanzigsten Jahrhunderts, des Zeitalters der Technik und der Zivilisation, geht er in seinem Drang nach einem dunklen schützenden Versteck ins nächste Kino.
***
Natürlich kommt er mitten ins Programm hinein und das wirkt störend. Auch kann er seinen Platz nicht finden. Auch stößt er mit seiner Handtasche gegen ein empfindliches Knie.
– Möchten Sie sich nicht einmal setzen ... Ihr Rücken ist nicht gar so interessant ... daß die Leute nie zurechtkommen können ... rücksichtslos.
Eine schmale Hand (eine Kinderhand?) zieht ihn an sich heran. – Hier, neben mich ... Mensch, bist du ungeschickt...
Endlich jemand, der sich seiner annimmt. Eine Frau, ein Mädchen, ein Kind? Die Leinwand flimmert in einer Sonne, die wohl südlich sein soll, halbnackte kostbare Frauenkörper wälzen sich an einem windigen Strand. Das Geschöpf neben ihm hat blondes Haar und riecht nach Pfefferminz und Seife. – Willst du auch? Ein Säckchen Bonbons wird ihm unter die Nase gehalten, während die Heldin des Films, ebenfalls blond, aber sicher ganz anders duftend, im Luxusauto zwischen Wolkenkratzern chauffiert. Ein kleiner Schuh stemmt sich gegen sein Bein. Das Auto hält vor einem Bankpalast. Der vornehme Herr ist wohl der Vater der Heldin. Runzelt die Stirn (Großaufnahme), scheint bedrückt. Er ist nicht einverstanden mit der Tochter, die vor ihm auf dem Schreibtisch sitzt und mit den Beinen baumelt, wunderbaren langen Beinen. Aber sonst kennt er wohl keine Sorgen, seine Bank steht fest, seine Firma, sein Haus, sollte es vielleicht gar eine Versicherungsgesellschaft sein, die Versicherungsgesellschaft, welche –
Ein blonder Kopf lehnt sich an seine Schulter: – Du, das wird spannend. Meinst du nicht? Er streichelt diesen Kopf, weil sich das so gehört, hier in diesem kleinen schmierigen Kino, wo die armen Mädchen mit den Reichen träumen und dabei nach Kavalieren suchen, wo hin und wieder in dem dumpfen Dunkel ein Seufzer laut wird oder unterdrücktes Kichern. Während der vornehme Herr, der Amerikaner mit seiner Tochter an der prunkvollen Brüstung einer Opernloge lehnt und es nicht der Mühe wert findet, auch nur einen Blick auf die
Bühne zu werfen. Sein Haar glänzt wie mit einer Drahtbürste gebürstet, er hat breite und selbstgefällige Achseln, er braucht sich nicht zu verstecken, sein Haus steht fest, seine Versicherungsgesellschaft, täglich strömen neue Prämien ein, irrsinnige Prämien, wer diese Prämien weiterzahlen kann, darf weiter leben, wer aber seinen Verpflichtungen weiter nicht nachkommen kann, der Frau, der Familie, den Gläubigern, der Firma gegenüber, der hat das Leben verwirkt, der hat es herzugeben. Dann kriegen die anderen sogar noch etwas, Millionen, das ist nicht so wenig, ein Ochse, der geschlachtet werden soll, ist billiger –
– Ja schläfst du denn? Das Mädchen hat ihm einen Puff gegeben, ihr Atem haucht ihm ins Gesicht. – Mensch, bist du doof.
Hat man schon je in solchem Ton zu einem Herrn von Ufermann gesprochen? Was will denn diese kleine Nutte? Ach, sie weiß sehr genau, was sie will, wohin sie will, sie führt ihn mit sich, so wie der Film zu Ende ist, auf die Straße hinaus, sie hängt sich ein in ihn. Ihm ist es recht, denn er weiß nicht, wohin er will. Und es regnet.
– Ich heiße Hede. Wie heißt denn du? ... Na, einen Namen wirst du wohl noch haben. Sie macht halt unter einer Laterne und sieht ihn aufmerksam an. Da lächelt er voll Anstrengung. Sie wird ihn jetzt doch nicht im Stich lassen, sie ist zwar um vieles kleiner als er, reicht ihm kaum über die Schulter und ihr verschmitztes Kindergesicht wäre traurig, wenn es nicht so neugierig wäre. Aber sie ist zuhause hier in der Gegend, sie kennt sich aus in dieser Wildnis düsterer und feindseliger Straßen. Und da er ihr seinen Namen doch nicht sagen kann (hat er denn überhaupt noch einen Namen?), legt er den Arm um sie und fragt beinahe zärtlich: – Was brauchst du das zu wissen? Hast du Angst?
– Ich? Nicht die Bohne. Aber du, du hast was ausgefressen?
– Was ausgefressen?
– Tu nur nicht so. Das merkt man gleich. Wie du dich duckst. Und im Kino hast du dir ja gar nichts angesehen. Wo kommst du her? Und was für feine Handschuhe du hast.
Sie nimmt die Handschuhe an sich und streichelt sie.
– Bringst du mir keine Grünen ins Quartier? Das fehlte noch. Kannst du mir schwören –
Was soll er ihr denn schwören?
– Na meinethalben, komm. Aber ich sag dir, wenn sie dich dann bei mir erwischen –
Sie schüttelt sich in ihrem armseligen Mäntelchen, der Wind peitscht ihnen aber auch eine wahre Regenwelle entgegen, sie geht voran und sucht nach ihrem Haustorschlüssel. Gott sei Dank.
Das Zimmer, das ihn bergen soll, riecht nach Schimmel. Auf dem Bett liegt eine gelbe Spitzendecke und in der Glasschüssel auf dem Buffet schwillt eine große künstliche Traube. Er sinkt in einen der roten Plüschsessel und betrachtet vor sich die riesige Photographie an der Wand: Ein junger Mann mit stierem Blick und eingequetschter Nase.
– Das ist nämlich mein Bräutigam, sagt Hede, während sie das Köfferchen öffnet und ganz ungeniert darin zu wühlen beginnt. – Na hör einmal, die Hemden sind ja prima. Ich versteh was davon, war auch mal bei der Konfektion, bis sie mich raussetzten. Wer bleibt heut schon bei seiner Arbeit. Und der Rasierapparat. Donnerwetter! Die
Seife ist auch nicht von schlechten Eltern. Die schenkst du mir. Wenn ich dich darum bitte. Du hast ja Geld?
Sie sieht ihn lauernd von der Seite an. Da legt er einen Zehnmarkschein auf den Tisch.
Schon hat sie den Pullover über den Kopf gezogen und auf den nächsten Stuhl geworfen. Das dünne rosa Hemd–chen schimmert blau unter den Achselhöhlen. Nun fällt auch noch der Rock –
– Ich möchte eigentlich nur schlafen.
– Na hör einmal, was gehst du dann nicht gleich in ein Hotel. Oder bist du so einer, der Angst hat. Ich bin gesund. Oder kannst du nicht. Was liegt schon daran?
Sie schlägt die gelbe Spitzendecke zurück.
– Ich möchte lieber auf der Ottomane –
– Ja, willst du denn die Nacht durch bleiben. Das geht doch nicht. In einer Stunde kommt mein Bräutigam. (Sie weist auf die Photographie an der Wand.) Kennst du ihn nicht? Noch nie von ihm gehört? Der große Boxer. Sieh doch nur die Nase. Der schmeißt dich raus.
Der schmeißt ihn raus, der schmeißt den Herrn von Ufermann ganz einfach raus. Herrgott im Himmel, kann er nirgends bleiben, nicht einmal bei diesem bleichsüchtigen Straßenmädchen, nicht einmal diese eine kurze Nacht. Alles Übrige wird sich dann finden, später kann man noch Entschlüsse fassen, nur nicht gleich jetzt, in diesem Augenblick, aber wie soll man so etwas erklären –
Hede hat inzwischen den Zehnmarkschein an sich genommen und streicht ihn nachdenklich glatt. – Du scheinst ja schön im Dreck zu stecken. Ich will dich nicht gleich auf die Straße setzen. Leg dich einstweilen auf die Ottomane. Wenn mein Bräutigam kommt, vielleicht weiß der Rat.
Und sie wirft ihm eines ihrer Kissen hin, auf dem schon viele fremde Köpfe gelegen haben.
– Bist du auch sicher, daß sie dich bei mir nicht suchen werden?
– Wer soll mich suchen?
– Die Polente. Schwörst du es mir –
Nun ist es schon fünf nach halb acht und Boß kommt immer noch nicht nachhause. So was kann einen rasend machen, wenn man auch noch so geduldig ist, man kriegt es satt, nach dreiundzwanzig Jahren glücklicher Ehe kriegt man es auch einmal satt. Nicht daß sie dächte – Gott bewahre, Boß ist nicht so, war nie so einer, er nicht, nicht mal, als er noch jung war und nach was aussah. Aber da ist was los, da stimmt was nicht, da geht was vor. In der Nacht wirft er sich rum, daß die Betten krachen, man schrickt förmlich auf aus dem besten Schlaf, aber fragt man ihn was, so schnarcht er gleich künstlich. Sie kann sein Schnarchen unterscheiden – nach dreiundzwanzig Jahren glücklicher Ehe. Und er ißt ja nichts, der Mensch nimmt fast nichts mehr zu sich, stochert nur so herum in den Speisen, nichts will ihm schmecken. Heut Abend gibt es Schmorbraten, trotz aller Sparsamkeit, die Kartoffeln hier sind schon weich, sie hat es rausgewirtschaftet aus dem Wochengeld, ihn geht das nichts an, Schmorbraten ist sein Leibgericht, und das Bier steht auch schon unter der Wasserleitung. Den Tisch kann man einstweilen decken. Wo bleibt der Mensch? Daß einer auf seine alten Tage noch in die Nacht hinein arbeiten muß und nicht einmal Überstunden bekommt. Überstunden – Gott bewahre, sie braucht das Wort nur auszusprechen, da kriegt er seine blauen Adern und geht zur Tür hinaus, hast du nicht gesehen. Wenn er nur nichts mit dem Herzen hat. Oder mit der Galle, er ist jetzt immer so gelb. Oder ein Gewächs im Leib. Oder am Ende – das wäre das schlimmste, am Ende hat er seine Kündigung schon in der Tasche, er ist ja alt und heutzutage fliegen auch jüngere auf das Pflaster, jüngere und viel, viel tüchtigere. Aber vielleicht ist es doch was mit seiner Gesundheit. Jedenfalls, es stimmt was nicht. Sogar Lenchen hat das schon bemerkt. Ein Glück, daß sie heute in ihrer Tanzstunde ist. Hätte ohnehin nicht auf den Vater warten können. Und sah so süß aus in ihrem Grünen, obwohl das schon zum viertenmal geändert wurde und gar nicht mehr die rechte Farbe hat, weil sies doch auch im Sommer tragen mußte. Vielleicht, daß man zu Weihnachten – aber mit Boß ist ja von so was überhaupt nicht zu reden, der merkt es nicht und wenn die eigene Tochter splitternackt über die Straße läuft. Frau Raspe sagt immer, wenn die Männer erst in ein gewisses Alter kommen – Herrgott, da steht er ja!
– Tag. (Das ist alles.)
– Nun kann ich wohl mit dem Kochen beginnen.
– Brauchst du nicht. (Und er wirft Hut und Mantel auf das Kanapee. Man denke!)
– Wenn du schon wieder gar nicht essen willst –
– Schwatz nicht, Auguste. (Ganz gelb und klein und alt steht er vor ihr.) Hast denn noch keine Zeitung gelesen?
– Ich les sie nie, wenn du sie nicht nachhause bringst. Was ist denn los? So sprich doch schon. Putsch? Umsturz? Revolution? Ist die Mark kaputt? Haben sie schon wieder einen abgeschossen? Oder was in die Luft gesprengt? Oder ist bei euch was passiert? In der Firma? Seid ihr pleitegegangen? (Jetzt ist es raus, sie hat ihn ja schon immer fragen wollen, hat es sich kaum zu denken getraut) Mensch, so japp doch nicht wie ein Fisch. Das hält man nicht aus. Bist du abgebaut?
– Ufermann ist tot. Verbrannt. Abgestürzt mit dem Flugzeug.
– Herr, du Allmächtiger!
Frauenzimmer sind immer unmöglich bei Todesfällen. Daß sie jetzt nur nicht zu flennen beginnt. Man geniert sich dann so. Und die vielen Fragen.
Nun, abgestürzt, da verbrennt man gewöhnlich. Was gibt es da so viel zu reden. Es würgt einen, wenn man nur daran denkt.
– Schon gut, Auguste. (Schon gut ist auch nicht das richtige Wort) Wenn sie nur nicht gar so viel quasseln wollte und herumlaufen und die Türen zuschlagen und sich ein frisches Taschentuch holen. Warum deckt sie denn den Tisch nicht fertig? Die Gabeln fehlen. Und wo ist das Bier? Warum bringt sie es nicht? Warum kann sie nicht auf den Einfall kommen? „Und so ein netter Mensch und so ein lieber Mensch.“ Hat ihn ja gar nicht gekannt, diese Ente. Das hält man nicht aus, wenn man täglich mit einem zusammen war –
– Nun bringst du mir aber gleich was zu essen!
Männer haben wirklich kein Gefühl. Da denkt er an
Essen.
– Sag mal, Boß, was macht denn nun die arme Frau?
– Die kriegt eine Million Dollar auf die Hand, Lebensversicherung.
– Arme Frau.